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Pest und Inquisition können nur noch Mut und Hoffnung entgegenstehen: Der Historien-Sammelband »Der Schwur der Hexe« jetzt als eBook bei dotbooks. Drei mutige Frauen in finsteren Zeiten … 1485 breitet sich der Hexenwahn durch den fanatischen Inquisitor Heinrich Kramer immer weiter in Innsbruck aus. In dieser stürmischen Zeit verschlägt es die Magd Lena an den Hof des Herzogs – doch als sie die Aufmerksamkeit des Herrschers auf sich zieht, droht die Zwietracht ihrer Neider Lena schon bald zum Verhängnis zu werden … Auch Mitte des 16. Jahrhunderts herrscht in Tübingen noch dunkler Aberglaube: Die junge Anne wird angeklagt, eine Frau mit einem Hexenstab getötet zu haben. Einzig Lukas, die rechte Hand des Obervogts, scheint an ihre Unschuld zu glauben … Im 17. Jahrhundert sind im friesischen Tondern die Schrecken des 30-jährigen Krieges noch allgegenwärtig. Als die Pest ausbricht, schlagen Elend und Todesangst in brennenden Hass um: Verzweifelt kämpft die junge Inken um ihr Leben, während die ersten Scheiterhaufen schon entzündet werden … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Sammelband »Der Schwur der Hexe« vereint die historischen Roman »Die Hexe und der Herzog« von Bestsellerautorin Brigitte Riebe, »Die Hexe von Tübingen« von Andreas Liebert und »Die Hexe von Tondern« von Kari Köster-Lösche. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 1505
Über dieses Buch:
Drei mutige Frauen in finsteren Zeiten … 1485 breitet sich der Hexenwahn durch den fanatischen Inquisitor Heinrich Kramer immer weiter in Innsbruck aus. In dieser stürmischen Zeit verschlägt es die Magd Lena an den Hof des Herzogs – doch als sie die Aufmerksamkeit des Herrschers auf sich zieht, droht die Zwietracht ihrer Neider Lena schon bald zum Verhängnis zu werden … Auch Mitte des 16. Jahrhunderts herrscht in Tübingen noch dunkler Aberglaube: Die junge Anne wird angeklagt, eine Frau mit einem Hexenstab getötet zu haben. Einzig Lukas, die rechte Hand des Obervogts, scheint an ihre Unschuld zu glauben … Im 17. Jahrhundert sind im friesischen Tondern die Schrecken des 30-jährigen Krieges noch allgegenwärtig. Als die Pest ausbricht, schlagen Elend und Todesangst in brennenden Hass um: Verzweifelt kämpft die junge Inken um ihr Leben, während die ersten Scheiterhaufen schon entzündet werden …
Eine Übersicht über die Autorinnen finden Sie am Ende dieses eBooks.
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Sammelband-Originalausgabe Dezember 2022
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2022 dotbooks GmbH, München
Copyright © der Originalausgabe von »Die Hexe und der Herzog« 2008 Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion; Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Copyright © der Originalausgabe von »Die Hexe von Tübingen« 2007 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, wo der Roman unter dem Titel »Die Tochter des Hexenmeisters« und dem Autorennamen Kay Cordes erschien; Copyright © der Neuausgabe 2016 und 2021 dotbooks GmbH, München
Copyright © der Originalausgabe von »Die Hexe von Tondern« 1999 by Econ Verlag München – Düsseldorf GmbH; Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Nadezhda Manakhova, in_colors
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-98690-129-5
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Der Schwur der Hexe
Drei Romane in einem eBook
dotbooks.
Innsbruck im Jahre 1485: Wie Gift schleicht sich der Hexenwahn in die Herzen der Menschen, angefacht von dem fanatischen Inquisitor Heinrich Kramer. Inmitten dieser aufgewühlten Zeit verschlägt es die junge Lena an den Hof des Herzogs, wo sie auf eine Anstellung hofft. Als der mächtige Herrscher jedoch ausgerechnet ihr seine Aufmerksamkeit schenkt, wird Lena in ein gefährliches Spiel verwickelt: Eifersüchtigen Hofdamen ist die schöne Magd ein Dorn im Auge – und schon bald wispert man hinter vorgehaltener Hand von Hexerei! Verzweifelt versucht Lena, ihre Unschuld zu beweisen, doch so verstrickt sie sich immer mehr in dem Spinnennetz aus Aberglauben, Rachsucht und teuflischer Gier. Einzig der junge Rechtsgelehrte Johannes Merwais scheint ihr zu glauben – aber wird er ihr auch noch helfen wollen, wenn er das Geheimnis ihrer Vergangenheit erfährt?
Wenn die Nächte hell und klar sind, dann kommen die Elfen auf die Erden und schauen sich die Kinder der Menschen an. In das schönste dieser Nacht verlieben sie sich so sehr, dass sie es mitnehmen in ihre Welt. In die leere Wiege legen sie dann ein Kind von sich, ein Elfenkind …
Alpensage
Der Mensch ist das einzige nicht vorherbestimmte Wesen, nicht himmlisch, nicht irdisch, nicht sterblich, nicht unsterblich, nicht Tier und nicht Engel.
Pico de Mirandola (1463–1494)
Für meine liebe Angelika, die den Stein ins Rollen brachte
»Sie kommen, Lena, sie kommen!«
Das steife Wolltuch rutschte ihr vom Kopf, so aufgeregt reckte Lena den Hals. Sie löste es mit klammen Fingern, um es neu zu binden, und spürte dabei Hellas heftigen Atemstoß im Nacken. Deren Ruhe war nur gespielt, das wurde ihr plötzlich klar, die Freundin war ebenso angespannt wie sie selbst.
»Mach schon!« Hellas Stimme klang vor Anspannung schrill. »Auf den Boden mit dir und zwar flugs! Den Kopf wird er dir schon nicht abreißen, wo doch alle Welt weiß, wie groß seine Schwäche für junges Fleisch ist …«
Wie im Fiebertraum hörte Lena Schellengeläut, dann glitten die Prunkschlitten auf sie zu, von Apfelschimmeln gezogen, deren Fell bläulich gegen das blendende Weiß des frisch gefallenen Schnees schimmerte. Die beiden hinteren Schlitten waren silbrig gestrichen und mit einem Adler und einem Schwan geschmückt. Am Bug des ersten und prächtigsten der Schlitten aber bäumte sich ein furchterregendes Wesen mit einem schwarzen Schlangenleib auf, dem man dicke goldene Schuppen aufgemalt hatte; der Kopf war der eines riesigen Hahnes. Sein Schnabel war blutrot, die Augen leuchteten in giftigem Grün. Der Basilisk, dessen Blick man meiden musste, wollte man nicht für alle Zeiten sein Augenlicht verlieren.
Es war nicht nur die beißende Kälte des Februarmorgens, die Lena in die Glieder fuhr, sondern auch eine nie zuvor gekannte Bangigkeit. Els wird mich für alle Zeiten hassen, dachte sie. Und Bibianas Koboldgesicht wieder jenen wehmütigen Ausdruck annehmen wie immer, wenn wir beide in ihrer Gegenwart streiten. Aber ich muss es doch tun! So lange schon kann ich an nichts anderes mehr denken.
Sie machte einen Schritt nach vorn, zögerte aber plötzlich, als habe sie erneut der Mut verlassen. Die Straße war weiß und bis auf die Schlitten leer; ringsum erhoben sich die Berge in ihrem eisigen Winterkleid. Hella und sie schienen die Einzigen, die sich zu dieser frühen Stunde aus den Bürgerhäusern gewagt hatten. Inzwischen waren die Schlitten so nah, dass sie Einzelheiten erkennen konnte: im ersten das rote Barett des Herzogs mit dem hellen Federschmuck, das seinen Kopf noch kantiger wirken ließ, neben ihm eine winzige Person, die eine bunte Narrenkappe trug und unter der üppigen Fuchsdecke beinahe verschwand.
»Spring!«, zischte Hella und versetzte der Freundin, als Lena sich noch immer nicht rühren wollte, einen kräftigen Stoß in den Rücken.
Lena kippte nach vorn. Dabei rutschte sie auf dem glatten Grund aus und verfing sich beim Versuch, mit den Armen rudernd das Gleichgewicht zurückzugewinnen, mit dem Absatz im Kleidersaum. Hella wollte ihr zu Hilfe kommen, doch es war zu spät.
Im Fallen bemerkte Lena die längliche Brandwunde auf Hellas Handrücken, der doch gestern noch gänzlich unversehrt gewesen war. Dann schoss bereits der Schnabel des Ungetüms auf sie zu. Sie spürte einen harten Schlag und kniff in wilder Angst die Lider zu. Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken.
Bewusstlos sank Lena in den Schnee.
***
Als sie wieder zu sich kam, fand sie ein winziges Faltengesicht über sich gebeugt. Einer von Bibianas Elfenmännern oder Baumgeistern, von denen zu erzählen sie niemals müde wurde?
Lena fühlte sich zu schwach, um klar denken zu können. Nah an ihrem Ohr bimmelte es zart, dann lauter. Waren die Rösser des Herzogs zurückgekommen?
»Sie lebt! Sie war lediglich ohnmächtig. Ich hab es Euch ja gleich gesagt, solch dreckiges Bauernpack ist nun mal robuster als unsereins. Und das bisschen Blut über der Braue heißt anscheinend gar nichts.«
»Wo … bin ich?« Lenas Schädel dröhnte, die Zunge lag dick und pelzig im Mund. Nach jedem einzelnen Wort musste sie kramen, als hätten sich alle mutwillig in einer Lade versteckt, die sich nur mit Mühe aufziehen ließ. »Was ist … geschehen?«
»Wie eine Schlafwandlerin hat du dich unter die Rösser des Herzogs fallen lassen, das ist geschehen.« Das kleine Faltengesicht war jetzt so nah, dass ihr der säuerliche Atem in die Nase stieg. Und noch etwas roch Lena: alten Schweiß, über dem ein schwerer, fremdartiger Duft schwebte. Angewidert wandte sie den Kopf zur Seite, was den Schmerz freilich nur noch heftiger pochen ließ. »Oder warst du bereits in aller Herrgottsfrüh stockbetrunken? Wie auch immer, eines der Pferde hat dich offenbar mit dem Huf am Kopf gestreift. Aber du hast bei allem noch einmal verdammtes Glück gehabt, weißt du das eigentlich? Denn es hätte auch ganz anders ausgehen können. Hofmeister, wenn Ihr nun freundlicherweise einen Blick …«
Eine große Hand schob das Faltengesicht zur Seite.
»Gaffer kann ich bei meiner Arbeit nun mal nicht gebrauchen. Begebt Euch doch bitte schön mit dem verehrten Herrn Hofmeister nach nebenan, damit ich in aller Ruhe nach der Patientin sehen kann.«
Mühsam schielte Lena nach oben. Da war eine große Gestalt in einem blauen Mantel, daneben wuselte um einiges tiefer buntes Lumpengewirr, offenbar auch für das unaufhörliche Gebimmel verantwortlich, das ihren Kopfschmerz nur noch ärger machte. Sie vernahm empörtes Palavern, schließlich schwere und sehr leichte Schritte.
Dann war es still.
»Beweg dich nicht!«, hörte sie jemanden sagen. »Nicht, bevor ich dich gründlich untersucht habe. Uns solch einen Schrecken einzujagen!«
»Wo bin ich?«, flüsterte Lena. »Und wer seid Ihr?«
»In der Hofburg«, lautete die Antwort. »Und vor dir steht Cornelius van Halen, Medicus Seiner erzherzoglichen Hoheit, der herauszufinden hat, ob und inwieweit du verletzt bist. Hast du Schmerzen, Mädchen?«
»Mein Schädel brummt«, flüsterte sie. »Und ziemlich übel ist mir auch, wenn Ihr mich schon so fragt.« Ihre Hand fuhr zum Kopf. »Da ist ja lauter Blut!«, rief sie erschrocken. »Muss ich jetzt sterben?«
»Davon stirbt man nicht, ganz im Gegenteil, denn Blut reinigt die Wunde und verhindert, dass übel riechender Eiter sich einnisten kann. Leider wissen wir Heilkundigen noch nicht allzu viel über den menschlichen Körper, doch zumindest das wissen wir genau.«
Der erste Medicus ihres Lebens!
Wenn bisher jemandem in ihrer kleinen Familie etwas gefehlt hatte, war es stets Bibiana gewesen, die das passende Kraut aus ihrem winzigen Küchengarten hinter dem Gasthof zur Hand gehabt hatte, nie aber irgend so ein gelehrter Kerl. Sie hörte ihn ächzen und stöhnen, als sei jede Bewegung eine Anstrengung, und als es Lena schließlich gelang, halbwegs klar nach oben zu spähen, erkannte sie auch, weshalb.
Niemals zuvor war sie einem derart fetten Mann begegnet. Sein Körper war eine unförmige Masse, die den dunkelbraunen, samtbesetzten Talar schier zu sprengen drohte. Ein riesiger Bauch wölbte sich Lena entgegen; kein Hals war zu entdecken, dafür ein mächtiges Dreifachkinn, das in sich erzitterte, sobald er sprach.
»Das da über der Braue ist lediglich ein Kratzer. Um den kümmern wir uns später. Was mich viel mehr interessiert: Wie übel ist dir?« Er betastete ihre Schläfe mit seinen großen Händen, die zu Lenas Erstaunen zart wie Eiderdaunen waren. »Zum Kotzen übel gar?« Der Medicus klang äußerst interessiert. »Und antworte bitte so präzis wie irgend möglich!«
»Nicht ganz«, murmelte sie und versuchte, sich tapfer aufzurichten. Dabei schoss ihr ein ätzender Strahl vom Magen direkt in die Kehle. Lena erbrach sich auf ihr Kleid, und auch das Ruhebett, auf das man sie gelegt hatte, bekam einige Spritzer ab. »Verzeiht! Ich wollte nicht …«
Die großen weichen Hände drückten sie sanft wieder nach unten.
»Scheint mir, als habe dein Schädel doch ordentlich was abbekommen. Damit ist nicht zu spaßen, wenn du keine Schäden für dein junges Leben zurückbehalten willst. Vorsichtshalber hab ich dich hierher bringen lassen, in die Zirbelstube, damit dir zumindest das Atmen leichter fällt, aber ich fürchte, das allein wird nicht genügen.«
Er drückte ein Tuch fest auf ihre Braue und löste es erst nach einer Weile wieder.
»Das wächst schnell zusammen. Dein hübsches Gesicht wird nicht einmal eine Narbe abbekommen. Und jetzt wollen wir sehen, was wir sonst noch für dich tun können.«
Er schien in einer Art Behältnis zu kramen, denn sie hörte das leise Klirren aneinanderstoßender Flaschen. Dann spürte Lena etwas Kühles an ihrer Stirn. Ein frischer Geruch entfaltete sich, der ihr bekannt vorkam.
»Eine Tinktur aus Essig und gestoßener Zitronenmelisse ‒ nach meiner Erfahrung das Beste gegen üble Kopfschmerzen. Zusätzlich werde ich dir meine Spezialmedizin aus Baldrian, Lavendel- und Johannisöl verabreichen. Außerdem musst du ein Weilchen ruhen. Danach sehen wir weiter.«
Sie hörte ihn erneut hantieren, dann half er ihr behutsam, sich ein Stückchen aufzurichten. Sein Blick war fürsorglich.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Lena. Lena Schätzlin. Und ich muss den Herzog sprechen. Unbedingt!«
»Den Herzog, Mädchen?« Er gab einen schmatzenden Ton von sich, der belustigt klang. »Ja, das wollen sie alle. Aber so einfach geht das nun mal nicht. Schließlich gibt es jede Menge Vorschriften, Regeln, Etikette …« Er stieß einen Seufzer aus. »Tagtäglich schlagen wir uns damit herum. Wenn überhaupt, dann kann dir einzig und allein unser verehrter Ritter von Spiess den Weg ebnen, Hofmeister Seiner Hoheit. So ist das nun mal bei Hof, wo alles seine Ordnung braucht.«
»Aber ich muss! Es ist immens wichtig. Ich möchte doch nur …«
»… wieder ganz gesund werden? Dann tust du jetzt am besten genau das, was ich dir sage.«
Gehorsam trank sie den Becher aus, den er ihr reichte, obwohl das Gemisch ranzig roch und unangenehm süßlich schmeckte. Als sie sich wieder zurückgelegt hatte, säuberte er mit feuchten Lappen ihr verschmutztes Kleid, ebenso wie das Ruhebett, so umsichtig und geschickt, als sei es eine Selbstverständlichkeit. Danach breitete van Halen eine Felldecke über sie.
»Warm brauchst du es jetzt«, sagte er. »Wärme und Ruhe. Für den Moment gibt es keine besseren Heilmittel.«
»Wozu dieser Aufwand? Ich meine, wieso tut Ihr das alles?«, fragte sie. »Für solch dreckiges Bauernpack wie mich?«
Sie hörte ihn lachen.
»Zumindest deine Ohren scheinen mir ganz in Ordnung geblieben zu sein, das ist schon mal sehr beruhigend. Musst wissen, unser kleiner Herr Thomele, seines Zeichens Hofzwerg, ist allerorts bekannt für sein loses Mundwerk. Aber glaubst du denn, Herzog Sigmund könnte an Scherereien gelegen sein, ausgerechnet jetzt, wo die Stadt schon bald von hohen ausländischen Gästen nur so wimmeln wird? Sogar der Kaiser hat sich für die anstehende Hochzeit angesagt, dazu jede Menge Herzöge, Grafen, Bischöfe und Ritter ‒ und dann so etwas? Ein junges Leben, das durch seine Schuld zu Schaden käme? Das wäre wohl so ziemlich das Letzte, was er gebrauchen könnte.«
Van Halen stammte nicht von hier, das hatte sie schon nach wenigen Worten erkannt, obwohl er sich so fließend und gewandt ausdrücken konnte wie kaum ein anderer. Doch seiner Sprache fehlten jene hartkehligen Konsonanten, die für das »Land zwischen den Bergen«, wie Tirol allerorts genannt wurde, bezeichnend waren. Der Tonfall des Medicus dagegen war leicht und fröhlich, machte ständig Sprünge und klang in Lenas Ohren wie eine Art Singsang, der sie unwillkürlich zum Lachen reizte. Irgendwann hatte sie schon einmal jemanden genauso reden hören, doch das lag eine ganze Weile zurück. Außerdem waren es viele, die auf ihrer Fahrt nach Süden im Gasthof der schwarzen Els, der seit einiger Zeit auch Poststation war, die Pferde wechselten …
»Wo ist Hella?«, murmelte Lena. Wohlige Müdigkeit hatte sie überkommen, die ihre Zunge immer schwerer machte. »Meine Freundin. Ist sie noch hier?«
»Die kleine Blonde mit dem hungrigen Blick?« Der Medicus schien bereits weit, weit entfernt. »Um die brauchst du dir keine Sorgen zu machen, Lena! Solche wie sie kommen immer zurecht.«
Lena hörte, wie er den Raum verließ.
Irgendwo knackten Zweige, die wohl im Kamin brannten, und die Wärme des großen, weichen Fells, das Lena wie etwas Lebendiges umschmiegte, war tröstlich. Immer noch dröhnte und brummte es in ihrem Kopf, als habe sich ein Stock wilder Bienen darin verirrt, doch die heftige Übelkeit begann sich zu legen.
Sie war in der Hofburg!
Jetzt musste sie nur noch bis zum Herzog gelangen und ihm sagen, dass sie …
Ihre Lider waren bleischwer geworden. Die Augäpfel begannen sich unruhig zu bewegen.
Sein Kopf ist um vieles größer, als sie bislanggeglaubt hat, und er trägt nun kein Barett mehr, sondern einen spitz zulaufenden Hut, wie sie ihn einmal auf dem Jahrmarkt bei einem Jongleur gesehen hat. Anstelle der Lumpenbälle, die jener damals in der Luft zum Tanzen gebracht hatte, sind es nun goldene Kugeln, die um den Herzog fliegen. Fünf, sieben, neun, elf ‒ es scheinen mehr und immer noch mehr zu werden, bis Lena das Zählen entmutigt einstellt. Während sie wie von Zauberhand kreisen und purzeln, bekommen sie kleine Beulen, die sich nach und nach zu scharfen Spitzen formen.
Dann scheinen sie sich anders zu besinnen und rasen plötzlich auf sie zu. Erschrocken beginnt Lena loszurennen, doch sie steckt in einem neuen, schweren Kleid mit langer Schleppe, das ihr viel zu groß ist und das Laufen erschwert. Immer wieder stolpert sie über den Saum, hört das Ächzen und Reißen der Nähte und bekommt Angst, schon im nächsten Augenblick nackt und bloß dazustehen. Voll Panik schaut sie im Laufen über die Schulter, aber die feindlichen Kugeln sind verschwunden. Stattdessen hört sie lautes Poltern, das sich zu ohrenbetäubendem Donnern steigert.
Geht hinter ihr die Welt unter?
Zweige fliegen um ihren Kopf und streifen unsanft ihre Wangen, denn sie ist mit einem Mal in einem undurchdringlichen Wald, der immer dichter und dunkler wird, je weiter sie hineingelangt. Sie spürt Moos unter ihren nackten Sohlen, knotiges Wurzelwerk, Tannennadeln. Es riecht nach Harz, da ist sie sich ganz sicher. Nach verbranntem Harz.
Sie strengt sich an, die Lider zu öffnen, um erkennen zu können, woher diese neuerliche Gefahr kommt, doch sie sind wie zugenäht. Endlich spürt sie, wie eine fremde Macht unsanft ihr rechtes Auge aufreißt. Der Harzgeruch wird stärker. Sie nimmt einen grellen Lichtstrahl wahr, der blendet und schmerzt, als ob jemand ihr …
»Meinst du nicht, es ist allmählich genug mit deinem Herumgefläze?«
Lenas Blick fiel auf den Hofzwerg, der mit einem glimmenden Zapfen vor ihrer Nase hin und her wedelte. Hinter den blanken Fensterscheiben war es inzwischen dunkel geworden, doch auf einem länglichen Tischchen neben ihr brannten in einem Kandelaber Kerzen.
»Wart Ihr es, der sich an meinen Augen zu schaffen gemacht hat? Ihr habt mich zu Tode erschreckt.« Es fiel ihr schwer, in die Wirklichkeit zurückzukehren, so stark wirkten die Traumbilder in ihr nach.
»Es wird bald Nacht, und du liegst noch immer hier herum wie ein Schock fauler Eier. Hast du denn keine Arbeit, an die du dich wieder machen musst?«
»Der Medicus hat gesagt …«
»Medicus van Halen plaudert viel, wenn der Tag lang ist.« Jedes Wort verriet tiefe Abneigung. »Zum Glück ist es bei Licht betrachtet nicht sehr viel, was er hier bei Hof zu sagen hat, wenn du verstehst, was ich damit andeuten will. Da gibt es ganz andere Persönlichkeiten, deren Meinung dem Herzog ungleich mehr bedeutet.« Der Hofzwerg reckte seinen faltigen Hals.
Es gelang Lena, sich aufzusetzen. Vorsichtig bewegte sie den Kopf nach rechts, dann nach links. Das Dröhnen hatte sich in ein schwaches Pochen verwandelt, das von sehr weit her zu kommen schien. Ihre Hand fuhr zur Braue. Die Wunde hatte sich geschlossen. Der fette Medicus hatte recht behalten.
»Wenn Ihr tatsächlich einen so bedeutenden Rang innehabt«, sagte sie, »dann könnt Ihr mich ja sicherlich zum Herzog bringen.«
In die blanken Eidechsenaugen kam ein seltsamer Ausdruck. Sie hatte ihn offenbar überrascht. Würde er tun, worum sie ihn gebeten hatte?
»Wo glaubst du eigentlich, dass du bist? Auf dem Jahrmarkt? Oder in einer billigen Kaschemme mit deinesgleichen?«
»In der Hofburg, soweit ich weiß.« Es gelang ihr, mit fester Stimme zu antworten. »Genau da, wo ich hinwollte.«
»Soll das etwa heißen, du hast es absichtlich getan? Dann musst du entweder von Sinnen sein oder ein ganz und gar durchtriebenes Weibsstück!« Mittlerweile schien sein kleiner Körper von Kopf bis Fuß vor Empörung zu vibrieren. »Und ich wüsste kaum zu entscheiden, was von beidem schlimmer wäre.«
So jedenfalls kam sie nicht weiter.
Vorsichtig setzte Lena einen Fuß auf den Boden, dann den zweiten. Die Beine trugen sie, und ohne fremde Hilfe einigermaßen gerade stehen konnte sie inzwischen auch wieder. Els würde sich längst fragen, wo sie abgeblieben war, und Bibiana wieder ihre »Sorgensuppe« aufsetzen wie immer, wenn sie sich ablenken wollte.
Sie durfte keine weitere Zeit verlieren.
»Ihr wollt mich also nicht zum Herzog bringen?« Sie hatte sich erneut auf das Ruhelager gesetzt, aber nur, um in ihre abgelaufenen Stiefel zu schlüpfen, die irgendjemand offenbar sorgfältig unter das Bett gestellt hatte. Auch Schulter-und Kopftuch lagen bereit, beide akkurat zusammengefaltet. »Das ist Euer letztes Wort?«
»Mach lieber, dass du endlich verschwindest!«, keifte er. »Oder soll ich erst die Wachen rufen lassen, damit sie dir dabei behilflich sind?«
Er meinte es ernst, das verriet ihr seine säuerliche Miene. Humor war offensichtlich nicht die Stärke des Hofzwergs, obwohl er ein buntes Narrengewand trug, an dem Schellen klimperten.
»Wo ist eigentlich meine Freundin?«, fragte Lena. Das Bücken hatte sie erneut schwindelig gemacht, doch gelang es ihr, die Schwäche vor ihm zu verbergen. »Die junge blonde Frau, die mit mir gekommen ist. Ist sie noch hier?«
Jetzt zuckte ein verschlagenes Grinsen um seinen Mund, das rasch wieder erlosch.
»Das musst du besser andere fragen«, sagte er. »Andere, die keine Scheu vor Bauernpack haben.«
Er drehte sich um, als sei die Angelegenheit damit für ihn erledigt, und verschwand so schnell aus der Zirbelstube, als sei er nichts anderes als eines ihrer merkwürdigen Traumbilder gewesen. Ein paar Augenblicke blieb Lena noch sitzen, dann nahm sie ihre Tücher und erhob sich mit einem kleinen Lächeln. Am Hof lebten und arbeiteten so viele Menschen. Da musste doch jemand zu finden sein, der ihr sagen konnte, wie sie zum Herzog kam!
Der Flur, den sie betrat, war lang und schmal, einige Wandlichter erhellten ihn nur mäßig. Im Halbdunkel erkannte sie bunte, ein wenig grob gemalte Jagdszenen, die schon leicht verblichen wirkten, als sei die Farbe nicht mehr ganz frisch. Beherzt ging sie zunächst nach links, um alsbald auf gekreuzte rohe Bretter zu stoßen, die ihr den Weg versperrten. Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit. Dahinter musste sich eine der zahllosen Baustellen verbergen, über die halb Innsbruck tuschelte. Badezimmer sollte es geben, echte Lavoirs. Einen mechanischen Aufzug, um das Essen kochend heiß aus der Küche im Erdgeschoß in die oben gelegenen Speisezimmer zu transportieren. Einen riesigen, getäfelten Tanzsaal. Man munkelte, Herzog Sigmund wolle seiner jungen Braut nicht nur mit seiner allseits gerühmten Männlichkeit imponieren, sondern auch mit einem prächtig ausgestatteten Schloss, für das weder Aufwand noch Kosten zu hoch sein konnten.
Lena wandte sich in die andere Richtung. Eine Reihe geschlossener Türen, die sie abweisend anstarrten. Nicht ein Dienstbote war zu sehen, den sie hätte fragen können, geschweige denn der fette Medicus, der so freundlich zu ihr gewesen war.
Plötzlich glaubte sie Stimmen zu hören, dann ein Lachen. Lena zögerte einen Augenblick, dann klopfte sie an die Tür vor ihr und öffnete sie einen Spaltbreit.
Neben dem Kamin, in dem ein Feuer flackerte, stand ein Mann in einem blauen Mantel, der ihm halb über die Schultern gerutscht war. Vor ihm eine junge Frau in einem schlichten braunen Kleid. Haube und Umschlagtuch lagen auf dem Boden. Er hatte seine Hände in ihrem Haar vergraben, das wie ein Wasserfall aus Gold und Silber über ihren schmalen Rücken floss.
Lena musste das Gesicht nicht sehen, um zu wissen, wer es war. Nur eine Einzige in Innsbruck besaß solches Haar. Seit sie sich kannten, beneidete Lena die Freundin darum.
Die beiden fuhren zu Lena herum. Wie verbrannt zog der Mann seine Hände zurück, und sein blasses Gesicht färbte sich schamrot. Hella dagegen wirkte gelassen, als sei die Situation das Selbstverständlichste von der Welt.
»Lena«, rief sie, »da bist du ja endlich! Und zum Glück munter und fidel wie ein Fisch im Wasser. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, doch der edle Ritter von Spiess war so freundlich, mir zu versichern, dass für dein Wohl bestens gesorgt wird.«
Ihr selbst war es in der Zwischenzeit offenbar auch nicht gerade schlecht ergangen. Auf dem Tisch eine leere Weinkaraffe, Becher sowie Reste eines üppigen Mahls: abgenagte Entenknochen, Karpfengräten, die in gestockter Kräuterbutter schwammen, grobe Wildpastete, halb geleerte Schüsseln mit Schwarzwurzeln, Weinpanzen und süßem Mandelmus. Deftige, aber nicht sonderlich einfallsreiche Kost, wie Lena mit kritischem Blick feststellte.
Schweigend trat sie einen Schritt näher.
Hella hörte offensichtlich nicht auf, sich in Schwierigkeiten zu bringen, und was Lena hier vorfand, machte ganz den Eindruck, als sei die Freundin drauf und dran, alles nur noch brenzliger werden zu lassen. Sie hatte einiges getrunken, das erkannte Lena am Glitzern von Hellas Augen und der sanften Röte, die sich über ihren milchweißen Hals ergoss. Das Mieder stand halb offen und stellte ihre prachtvollen Brüste zur Schau, von deren Üppigkeit Lena nur allzu gern eine Handvoll abgehabt hätte. Aber sie war und blieb nun einmal klein, dünn und beinahe so dunkel wie Els, ihre Tante, und wie es auch Johanna gewesen sein musste, ihre verstorbene Mutter, an die die Erinnerung allerdings von Jahr zu Jahr schwächer wurde.
Doch der Zauber rührte nicht allein von Hellas makellosem Aussehen. Da gab es etwas an ihrem Gang, an der Art, wie sie lächelte, den Kopf bewegte, die Augen niederschlug, etwas Kindliches, beinahe Unschuldiges, das erst recht bezwingend war. Ihre Wirkung auf Männer jedenfalls brachte Lena immer wieder zum Staunen. Kaum betrat Hella einen Raum, hatten alle Anwesenden des anderen Geschlechts nur noch Augen für sie, wenngleich die Reaktionen durchaus unterschiedlich ausfallen konnten. Den einen schoss der Geifer in den Mund, die anderen musterten sie eher verstohlen, dafür jedoch umso hartnäckiger, und selbst, wenn es während der heiligen Messe war. Alle jedoch träumten sie davon, sie zu berühren, zu liebkosen, zu besitzen.
Hella registrierte sehr wohl, was sie auslöste, machte jedoch kein großes Aufheben davon. Für sie schien es ganz natürlich, ähnlich wie Atmen, Essen oder Schlafen. Schließlich war es schon immer so gewesen, seit ihr Körper sich verändert hatte und aus einer mageren Kleinen, die nur aus Haut und Knochen bestanden hatte, eine strahlende Schönheit mit sinnlichen Rundungen geworden war. Mittlerweile hatte sie sogar gelernt, es zu genießen, einer Katze gleich, die sich wohlig in der Sonne räkelt und die Wärme mit jeder Faser in sich aufsaugt. Einer Katze freilich, die eigentlich schon längst nicht mehr frei herumstrolchen und die Werbung brünstiger Kater entgegennehmen durfte.
Denn obwohl sie ihr Haar offen trug wie ein lediges Mädchen, so war sie in Wahrheit doch längst vergeben. Dutzende hatten sich vergeblich um sie bemüht; warum sie unter den vielen Bewerbern allerdings ausgerechnet den Witwer Andres Scheuber erwählt hatte, von dem alle Welt wusste, wie heftig die Eifersucht ihn reiten konnte, war nicht nur Lena ein Rätsel. Dass er achtzehn Winter mehr als seine junge Frau auf dem Buckel hatte, machte die Sache nicht besser. Dazu kam, dass der Herzog ihn im letzten Herbst als Münzschreiber nach Hall berufen hatte, wo er seitdem nahezu unabkömmlich war.
Hella hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt, Andres dorthin zu folgen, hatte bald die kranke Tante vorgeschoben, um die sie sich kümmern müsse, dann wieder ihre eigene labile Gesundheit, was ihr freilich niemand so recht abnahm. Zähneknirschend musste er sich fügen und allein zu seinem neuen Amt aufbrechen. Aber er hatte Vorsorge getroffen und schon bald damit begonnen, zu unangesagten Blitzbesuchen in Innsbruck einzufallen. So war es lediglich eine Frage der Zeit, wann Andres Scheuber seine junge Frau bei irgendeinem Leichtsinn ertappen würde.
Lena wurde ganz bang zumute bei der Vorstellung, was dann geschehen würde. Ihr hartnäckiges Schweigen jedenfalls schien die beabsichtigte Wirkung nicht zu verfehlen. Hellas rosiges Gesicht verriet Anzeichen erster Unsicherheit. Dann jedoch entschloss sie sich offenbar zum Angriff, ihrer bevorzugten Taktik, mit der sie schon manchen Sieg errungen hatte.
»Hast du den Herzog bereits sprechen können, Lena?«, fragte sie. »Denn darum ging es dir doch vor allem.«
Vorsichtig schüttelte Lena den Kopf. »Ein Vorhaben, das sich leider als schwierig erweist, viel schwieriger jedenfalls, als wir beide es uns ausgemalt haben.«
»Ritter von Spiess kann dir gewiss dabei behilflich sein. Das könnt Ihr doch, verehrter Herr Hofmeister?« Das Lächeln, das Hella dem Angesprochenen schenkte, war schmelzend.
»Das wäre in der Tat äußerst freundlich.« Lena nahm den Ball geschickt auf. »Ich würde auch nicht lange stören. Mein Anliegen ist einfacher Natur und in wenigen Sätzen vorgebracht.«
»Ich weiß nicht …« Er nestelte an seinem Mantel. Nicht zu übersehen, wie unangenehm ihm die Situation war.
»Bitte, lieber, lieber Leopold!« Wie ein übermütiges Kind flog Hella ihm an den Hals. »Wo Lena doch meine allerbeste Freundin ist. Helft mir dabei, ich flehe Euch an!«
Unbeholfen schob er sie zurück, verschlang sie dabei allerdings weiterhin mit Blicken. Lena hätte die Freundin am liebsten gepackt und ohne langes Federlesen aus dem Zimmer gezerrt, doch so kurz vor dem ersehnten Ziel konnte und wollte sie nicht aufgeben.
»Was willst du denn von Seiner Hoheit?« Zum ersten Mal sah er Lena direkt an. »Und sei ehrlich, das rat ich dir! Ich kann dich nur zu ihm lassen, wenn ich zuvor detailliert Bescheid weiß.«
»Gebt Euch keine Mühe! Mein Anliegen kann und werde ich nur dem Herzog selbst verraten.«
»Er kennt dich bereits?«
»Das könnte man so sagen.« Die Lüge ging Lena leicht und glatt über die Lippen. Manchmal konnte man nicht ganz bei der Wahrheit bleiben, das hatte Bibiana ihr beigebracht. Vorsichtshalber kreuzte Lena die Finger hinter dem Rücken und hoffte, dass der uralte Abwehrzauber die kleine Sünde noch lässlicher machte.
Der Hofmeister starrte sie an und runzelte die Stirn, dann schien er plötzlich zu verstehen.
»Ein ganz besonderes Anliegen also?«, fragte er. »Eines, bei dem Zeugen unerwünscht sind?«
Lena nickte, obwohl sie zunächst keineswegs begriff, worauf er hinauswollte.
Seine Augen glitten über ihre Gestalt und verharrten ein paar Lidschläge länger als unbedingt notwendig auf ihrer Taille. Plötzlich wusste Lena, was er denken musste: dass sie einen der zahlreichen herzoglichen Bankerte im Leib trug.
Über deren Anzahl wurde in der Stadt viel gemunkelt, mehrere Dutzend Kegel sollten es angeblich sein, die Sigmund außerhalb der Ehe gezeugt hatte, lediglich die männlichen Abkömmlinge gerechnet. Gut, dass sie wegen der klirrenden Kälte ein paar Unterröcke übereinander angezogen hatte, die ihre Hüften ausladender machten! Sonst hätte der Hofmeister gleich erkennen können, wie flach ihr Bauch war.
»Wann ist es denn so weit?« Sein Tonfall war gleich bleibend sachlich, allerdings schwang jetzt ein winziges Quäntchen Wärme mit. Man merkte, dass ihm die Situation alles andere als unvertraut war.
Anstatt zu antworten, legte Lena beide Hände schützend auf ihren Leib, eine Geste, die sie bei Els beobachtet hatte, als diese mit Sebi schwanger gewesen war.
Der Blick des Hofmeisters veränderte sich. Sie hatte ihn überzeugt. Ausgerechnet mit einer der ältesten Lügen der Welt!
»Warte hier!«, sagte er knurrend und zog seinen Mantel zurecht. »Und du auch.« Das klang ungleich freundlicher und war an Hella adressiert. »Greif ungeniert zu, falls du noch hungrig bist! Ich will sehen, was sich machen lässt.«
»Hast du jetzt völlig den Verstand verloren?«, sagte Lena, kaum dass er draußen war und sie beide allein blieben. »Dich mit dem Hofmeister einzulassen, diesem alten Lüstling, der garantiert verheiratet ist? Dein Andres wird dich mit bloßen Hände erwürgen, wenn er es erfährt!«
»Leopold von Spiess ist unglücklich und nicht ganz gesund. Hast du nicht bemerkt, wie schwer er atmet? Und mein Andres muss sich ja nicht sinnlos aufregen, bei der großen Verantwortung, die er ohnehin zu tragen hat.« Hella lächelte. »Außerdem tut er jetzt doch, was du dir so sehr gewünscht hast. Ist das etwa nichts?«
Lena packte Hellas Hand. »Und was ist das hier?«, fragte sie. »Das hast du gestern Nachmittag noch nicht gehabt.«
Die Hand wurde ihr rasch entzogen. Hella zuckte die Achseln und schwieg.
Waren sie nun Freundinnen, die sich alles erzählten, oder nicht? Nicht zum ersten Mal fühlte Lena sich ausgeschlossen, was sie hilflos und gleichzeitig wütend machte.
»Du musst dich keinen fremden Männern an den Hals werfen, um mir zu helfen«, sagte sie scharf. »Und hör damit auf, mich als Ausrede zu benutzen! Du weißt ganz genau, wie wenig ich das mag.«
»Ach, Lena, sei doch nicht gleich wieder so streng! Wem schadet es denn, wenn ich ein bisschen freundlich zu ihm bin …«
Die Tür sprang auf.
»Dann los!«, sagte der Hofmeister. »Seine Hoheit empfängt dich. Aber mach es kurz! Seine Zeit ist äußerst knapp bemessen.«
Jetzt war die ganze Aufregung des Morgens wieder da. Sie war am Ziel ‒ sie würde tatsächlich mit dem Herzog sprechen! Lena schaute zu Hella, die ihr aufmunternd zunickte und sich gelassen ein gebratenes Entenbein von der Zinnplatte nahm, an dem sie zu nagen begann.
Jetzt kommt es einzig und allein auf mich an, dachte Lena.
Mit staksigem Gang folgte sie dem Hofmeister, ohne die Umgebung richtig wahrzunehmen. Es wurde heller, das zumindest fiel ihr auf, die Anzahl der Wandleuchter nahm zu, die der Kerzen ebenfalls. Mit jedem Schritt erschien ihr alles höher und größer, vielleicht, weil sie das Gefühl hatte, gleichzeitig selbst immer mehr zu schrumpfen.
»Eines noch«, sagte Ritter von Spiess, als sie vor einer Tür angelangt waren, die sich von außen in nichts von den vielen anderen unterscheid, an denen sie schon vorbeigegangen waren. »Für dich mag es ein Schrecken gewesen sein, so wie die Dinge nun mal liegen. Für Seine Hoheit, den Herzog, dagegen ist es …« Er räusperte sich mehrfach. »… nun sagen wir, nichts Neues. Du musst dich nicht fürchten. Er zeigt sich in der Regel mehr als großzügig und wird auch dich gewiss mit allem ausstatten, dessen du in deiner besonderen Lage bedarfst. Aber hüte dich davor, in seiner Anwesenheit zu jammern und zu greinen! Das nämlich, mein Kind, kann er bei Gott nicht vertragen.«
Er klopfte, drückte auf die Klinke, schob sie hinein.
Lena war überrascht, wie klein der Raum war. Zusätzlich zum Kachelofen hatte man noch ein glimmendes Kohlebecken aufgestellt. Weiterhin gab es einen breiten Stuhl mit geschnitzter Lehne und einen großen Tisch, über und über mit Papieren bedeckt. Zwischen ihnen ein hoher Pokal und Essensreste auf einer länglichen Zinnplatte. Mindestens fünf Kandelaber mit brennenden Kerzen waren in der gemütlich warmen Stube verteilt, falls sie in der Aufregung richtig gezählt hatte.
Herzog Sigmund sah nicht auf, sondern setzte seine Lektüre unbeirrt fort. Nur seine Hand erhob sich kurz und bedeutete ihr, näher zu treten.
Jetzt, da sie ihn in Ruhe mustern konnte, kam er ihr älter vor, als sie sich ihn vorgestellt hatte. Sein einstmals blondes, inzwischen jedoch stark ergrautes Haar, das er um einiges länger trug, als die herrschende Mode es vorschrieb, wich an den Schläfen stark zurück und entblößte eine hohe, kantige Stirn, die von Falten zerfurcht war. Die Augen lagen tief in den Höhlen; die Nase war fein und gerade, sie hätte auch zu einem hübschen Weib gepasst. Der Mund erschien ihr wie zweigeteilt: die Oberlippe mürrisch und skeptisch, die Unterlippe ausladend sinnlich.
»Da ist sie also, die närrische Kleine von heute Morgen«, sagte er. Noch immer hatte er ihr keinen Blick gegönnt. »Bist du wieder einigermaßen bei Sinnen?«
»Das bin ich, Euer Hoheit.« Sie hatte tatsächlich geantwortet!
Der eigene Mut machte Lena für einen Augenblick stolz. »Mein Kopf brummt zwar immer noch leicht, doch Euer freundlicher Medicus hat gesagt, das vergeht bald wieder.«
»Es lohnt sich nicht, meinetwegen zu sterben, das musst du dir merken. Nicht für einen alten Sünder, wie ich es bin.« Seine Finger fuhren weiterhin über die endlosen Zahlenreihen. In der oberen Ecke des Blattes erkannte sie das Wappen von Tirol, den stolzen roten Adler. Daneben aber waren zwei gekreuzte Haspeln, die sie zum ersten Mal sah. »Schon gar nicht, wenn man wie du ein Kind …«
»Ich bin nicht schwanger, Euer Hoheit«, sagte Lena. »Weder von Euch noch von sonst irgendeinem. Ich habe lediglich dem Hofmeister nicht widersprochen, als er diese Vermutung äußerte, damit er mich auch ja zu Euch bringt.«
Er schob die Papiere zurück, schaute sie an. Jetzt besaß sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Wir sind uns noch nie begegnet«, sagte er nach einer Weile. »Und dennoch habe ich das sichere Gefühl, dich zu kennen. Wie kann das angehen? Wie heißt du, Mädchen?«
»Lena. Und so wie ich sehen viele hier aus«, sagte sie. »Vielleicht liegt es daran.«
Sein Blick wurde schärfer. »Deine Mutter«, sagte er. »Wie lautet ihr Name?«
»Johanna. Aber sie ist tot, seit vielen Jahren schon. Ebenso wie mein Vater Georg Schätzlin, der als Hauer in Eurer Silbermine sein Leben gelassen hat.«
»Dann bist du also eine Waise, und die seltsame Begebenheit heute Morgen war nichts als ein dummer Unfall.« So wie er das sagte, klang es wie eine Frage.
Als Waise hatte sie sich eigentlich nie so richtig gefühlt, denn schließlich gab es ja Els und Bibiana und dazu Sebi, der für sie wie ein kleiner Bruder war. Aber vielleicht lag genau da das Geheimnis begraben, nach dem sie schon so lange suchte …
»Das Erstere ja, das Zweite nein«, sagte Lena. »Ich hab es absichtlich getan. Weil ich nicht wusste, wie ich sonst zu Euch Vordringen sollte.« Nachdem die ersten Hemmungen überwunden waren, erschien es ihr gar nicht mehr schwer, mit dem Herzog zu reden, zumal das Gefühl, sich zu kennen, das er geäußert hatte, auch in ihr wuchs.
Und außerdem ‒ hatte Sebi nicht eine kantige Stirn wie er? Und ebenso helle, fast durchsichtige Augen, obwohl die Augen seiner Mutter Els fast schwarz waren und sein toter Vater Laurin ebenfalls dunkeläugig gewesen war? Je länger sie den Herzog ansah, desto neugieriger wurde sie. Vielleicht erhielt sie ja schon bald Gelegenheit, die Wahrheit wie bei einer Zwiebel Schicht um Schicht bloßzulegen.
»Was willst du, Mädchen?« Der Herzog klang müde, so gar nicht wie ein feuriger Bräutigam, der die Ankunft seiner jungen Verlobten kaum noch erwarten konnte. »Meine Laune ist denkbar schlecht, das musst du wissen. Podagra zwickt mich immer häufiger, und ich weiß kaum, wie ich die anstehenden Feierlichkeiten überstehen soll. Dazu drücken mich Sorgen wegen der Mine …«
»Lasst mich für Euch kochen, ich bitte Euch!«, stieß Lena hervor.
»Du willst ‒ was?«
»Für Euch kochen, Hoheit. Dann würdet Ihr Euch schnell besser fühlen, das weiß ich.«
Verdutzt schüttelte er den Kopf. »Und dafür hast du dein junges Leben aufs Spiel gesetzt? Das kann ich einfach nicht glauben!«
»Meint Ihr nicht, das sei die Mühe wert?«, konterte sie. »Trinken und Essen hält schließlich Leib und Seele zusammen, kann heilen und fröhlich machen, und genau das braucht Ihr doch!«
»Ich fürchte, das stellst du dir alles ein wenig zu einfach vor«, sagte er. »Es gibt schließlich einen Küchenmeister und dazu verschiedenste Köche, Küchenjungen sowie ein wahres Heer von weiteren Gehilfen: Metzger, Zerwirker, Talgbrutzler und viele andere. Jedenfalls fressen sie mir die Haare vom Kopf mit ihren ständig steigenden Ausgaben. Da kann ich doch nicht einfach jemanden von der Straße bestellen …«
»Und all diese vielen Leute, die angeblich so gut für Euch sorgen, setzen Euch das hier vor?« Lena deutete auf die Zinnplatte und packte beherzt das Erste, das ihr in die Quere kam. »Ihr erlaubt doch?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sie sich den Bissen einfach in den Mund und begann zu kauen.
Der Herzog starrte sie an wie eine Erscheinung.
»Bries in Eierteig gewendet«, sagte sie. »Eigentlich etwas Feines, wenn man es richtig zubereitet. Dieses jedoch ist eindeutig zu schwach gewürzt, dafür jedoch zu scharf und viel zu fettig gebraten. Das macht Eure Gicht nur noch ärger. Ihr solltet besser in Weißwein sautierten Fisch zu Euch nehmen, gedünstetes Gemüse oder gesottenes Geflügel mit Kräutern wie Giersch oder Gundelreben. Vielleicht sogar Löwenzahnblüten oder Sauerampfer ‒ aus beidem lassen sich köstliche Saucen und Suppen herstellen. Habt Ihr davon schon einmal probiert?«
»Willst du mich vergiften?«
Lena lachte herzlich. »Ganz im Gegenteil, Euer Hoheit! Genießen sollt Ihr und dabei gesund sein. Genau das vermag nämlich die richtige Kochkunst.«
»Wer hat dich das alles gelehrt?«, wollte er wissen. »Bist du etwa die Tochter einer Hexe?«
Das jedenfalls ging entschieden in die falsche Richtung!
»Natürlich nicht! Aber Großmutter Bibiana«, sagte Lena entschieden, was der Wahrheit ziemlich nah kam, »kennt so gut wie jedes Kraut, das jemals irgendwo seinen Kopf aus der Erde gestreckt hat. Und was sie erst alles daraus zaubern kann! Ihr müsst wissen, weder nördlich noch südlich des Alpenkamms gibt es jemanden, der besser kochen könnte als sie. Und ich bin bei ihr in die Lehre gegangen, seit ich ganz klein war.«
Den Mund hatte sie damit ziemlich voll genommen. Und vermutlich war sie in der Aufregung auch laut geworden, denn nun steckte Ritter von Spiess, der offenbar draußen gelauscht hatte, seinen Kopf durch die Tür.
»Sie inkommodiert Euch doch nicht, Euer Hoheit?«, fragte er. »Sonst lasse ich sie auf der Stelle entfernen.«
»Nein, das tut sie nicht.« Herzog Sigmund erhob sich. Im Stehen sah man erst, wie zartgliedrig er war mit seinen schmalen Schultern und dünnen Armen und Beinen, auch wenn sich ein kleiner Spitzbauch unter seinem schenkellangen Rock aus hellgrünem Brokat zu wölben begann. »Im Gegenteil, sie beginnt mich zu amüsieren. Dabei ist die Kleine hier keineswegs schwanger, wie Ihr vorhin behauptet habt.«
»Aber du hast doch …« Lena empfing einen giftigen Blick. »Sie hat es mich mit allen Mitteln glauben gemacht, Euer Hoheit. Sonst hätte ich doch niemals …«
Eine wegwerfende Geste brachte ihn zum Schweigen. »Schneid besitzt sie und sie weiß, was sie will, das gefällt mir.
Außerdem scheint sie einiges vom Kochen zu verstehen.« Der Herzog versetzte der Zinnplatte einen Stoß. »Soll ich etwa bis zum Lebensende mit diesem Fraß abgefertigt werden? Dann freilich könnte es schneller da sein, als euch allen vielleicht lieb ist.«
»Euren braven Küchenmeister würde auf der Stelle der Schlagfluss treffen, könnte er Euch so reden hören«, rief der Hofmeister entrüstet. »Wo doch Meister Matthias Rainer Tag und Nacht über noch immer ausgefalleneren Rezepten für Euren herzoglichen Gaumen grübelt!«
»Vieles von dem, was auf meine Tafel kommt, schmeckt ausgesprochen widerlich. Kein Wunder, dass ich in letzter Zeit die Lust am Essen nahezu verloren habe. Außerdem kehren neue Besen besser, so sagt man doch, nicht wahr? Rainer soll sie zunächst eine Weile in der Gesindeküche unterbringen. Dort kann sie ihre Geschicklichkeit unter Beweis stellen. Taugt sie etwas, sehen wir weiter. Falls nicht, ist kein großer Schaden entstanden.« Der Herzog seufzte. »Ohnehin kann uns gegenwärtig jede zusätzliche Hand nur von Nutzen sein, wo doch bald schon Hundertschaften zu bewirten sein werden. Gleich morgen früh soll sie sich dort einfinden. Das ist für den Moment alles.«
Er zog sich hinter seine Papiere zurück. Die endlosen Zahlenkolonnen hatten ihn zurück.
Lena versank in eine tiefe, dankbare Verneigung. Dem Hofmeister gönnte sie nicht einen Blick. Das mit Hella würde sie ihm niemals verzeihen. Doch was scherte er sie noch?
Sie war am Ziel ‒ endlich durfte sie bei Hof arbeiten!
»Ihr werdet es nicht bereuen, Euer Hoheit«, sagte sie inbrünstig. »Niemals! Das verspreche ich Euch bei meinem Leben.«
***
»Reicht mir Eure Hand!«
Die Gestalt auf der anderen Seite zögerte, dann streckte sie ihren Arm aus und schob die Rechte über den Tisch. Wilbeth entging nicht, wie sie dabei abermals misstrauisch all die Schüsseln, Näpfe und Töpfchen beäugte, die sich auf den notdürftig angebrachten Brettern stapelten. Besonders unheimlich schienen der Besucherin die getrockneten Kräuterbüschel zu sein, die an einer quer durch die Stube gespannten Schnur hingen.
Hexenkräuter. Teufelszeug. Wilbeth meinte die Gedanken der anderen förmlich zu hören.
»Ich muss zunächst die Linke sehen«, sagte sie. »Denn sie verkörpert Euer Erbe. Das, womit Ihr auf die Welt gekommen seid.«
»Was tut das hier schon zur Sache!« Selbst unter der schwarzen Mumme, die den unteren Teil des Gesichts verhüllte und nur die blassgrünen Augen freigab, war die Empörung spürbar. »Was mich einzig und allein interessiert ist die Zukunft. Dann muss es wohl die Rechte sein? Hier! Und beeil dich gefälligst! Ich hab meine Zeit nicht gestohlen.«
»Ganz, wie Ihr wünscht.« Das bräunliche Gesicht unter dem silbernen Haarkranz blieb unbewegt.
Wilbeth musste nicht lange überlegen, wer ihr zu dieser späten Stunde die Aufwartung machte, denn die aufwendige Kleidung aus Samt, Brokat und Taft verwies mit jedem Rascheln die Besucherin in den Dunstkreis des Hofes. Und dort gab es nur eine Einzige, die so zaundürr und unanständig groß war, dass sie nahezu an alle Männer heranreichte und einige von ihnen sogar überragte: Alma von Spiess, die Gemahlin des Hofmeisters.
»Nun, was siehst du?« Voller Ungeduld begann die Spiessin mit den Füßen auf dem festgestampften Lehmboden zu scharren. »Ich will ihn zurück!« Es war wie ein Schrei.
Die Hand war groß und innen stark gerötet, ein seltsamer Gegensatz zu dem blassen, dünnen Gelenk, an dem sie wie ein Fremdkörper wirkte. Finger, die nach oben breiter wurden. Eine Feuerhand, wie Wilbeth sofort erkannte hatte. Ihre Besitzer waren meist ehrgeizig und wollten ihre Ziele um jeden Preis erreichen. Dazu ein praller, fast schon aufgedunsener Venusberg, der von unstillbarer Gier und der Lust nach Ausschweifungen jeglicher Art kündete. Die Herzlinie dagegen war zum Verschwinden fein; tiefe, echte Gefühle waren ganz offensichtlich nicht die Stärke der Besucherin.
»Es handelt sich nicht um Euren Ehemann?«, fragte Wilbeth, obwohl sie die Antwort schon kannte.
»Wäre ich sonst hier?«, zischte Alma von Spiess. »Und spann mich nicht länger auf die Folter ‒ sonst könntest du es bereuen!«
Wilbeth blieb ruhig. Natürlich hätte sie der anderen prophezeien können, was diese so dringlich hören wollte: dass die Vereinigung mit dem verlorenen Liebsten unmittelbar bevorstehe. Doch davon war nichts zu sehen, gar nichts, so eingehend sie die dargebotene Hand auch betrachtete.
»Schwierigkeiten werden nicht ausbleiben«, sagte sie schließlich. »Da will ich Euch nichts vormachen. Es gibt da eine Konkurrentin, die Euch schwer ins Zeug pfuschen könnte. Sie kommt ganz plötzlich ins Spiel, vielleicht sogar von weiter her. Ihr Schicksal jedenfalls ist mit dem seinen verbunden.«
Die Spiessin starrte sie wortlos an.
»Eine Frau, um einiges jünger, als Ihr es seid«, fuhr Wilbeth fort. »Und ausnehmend schön dazu.«
Sie hatte genau ins Schwarze getroffen! Alma von Spiess sackte in sich zusammen.
»Ich werde im kommenden Mai erst vierunddreißig«, murmelte sie. »Ich kann ihm noch immer den Sohn gebären, nach dem er sich so sehr sehnt. Dann wird er mich zur Frau nehmen! Und dieses unreife Gemüse auf der Stelle nach Hause zurückschicken, zurück in das verdammte Sachsen …«
»Ihr habt Euch böse entzweit«, fuhr Wilbeth fort. »Das kann ich ebenfalls sehen. Schon vor geraumer Zeit.«
»Das ist richtig. Woher weißt du das?«
»Dieser Ast hier zur Schicksalslinie, die er durchkreuzt, bedeutet in der Regel Unglück und Streit. Und leider ist er auch noch ungewöhnlich gut ausgeprägt.«
»Soll ich dir sagen, weshalb? Andere Menschen, hundsgemeine Menschen, haben einen Keil zwischen uns getrieben und dadurch seine Liebe zum Erlöschen gebracht. Doch sie werden nicht siegen, denn unsere Leidenschaft wird neu erglühen …«
»Darauf allein würde ich an Eurer Stelle nicht setzen. Die andere ist stark, von edler Abstammung und besitzt Mut. Und sie verfügt über Talente, von denen Ihr bislang nichts ahnt. Ihr müsst schlau sein, wenn Ihr siegen wollt.«
»Das alles siehst du in meiner Hand?« Die Spiessin starrte auf die Linien, als könne sie es selbst entdecken.
»Das und noch vieles mehr«, bekräftigte Wilbeth, die plötzlich blass geworden war und sich angelehnt hatte, als bedürfe sie eines Halts.
»Dann musst du mir eben behilflich sein!« Alma zog ihre Hand zurück. »Wozu sonst hast du schließlich das alles hier gesammelt, gepresst und zusammengebraut?«
»So einfach ist das nicht mit der Liebe …«
In ihrer wachsenden Erregung schien Alma von Spiess es nicht mehr hinter ihrer Mumme auszuhalten und riss das schwarze, engmaschige Gebilde herunter. Dahinter war ihr flächiges Gesicht schweißnass und fleckig.
»Aus diesem Haus in der Silbergasse hat schon so mancher Liebeszauber seinen Weg in die Stadt und den Neuhof gefunden«, zischte sie. »Das weiß ich aus sicherer Quelle. Du wirst also nicht die Stirn besitzen, ausgerechnet meinen Wunsch abzuschlagen!« Sie nestelte an ihrer Tasche und zog ein paar Münzen heraus, die sie auf den Tisch warf. »Selbst wenn du noch mehr dafür verlangst, am Geld soll es gewiss nicht scheitern.«
»Als Anzahlung mag es angehen«, sagte Wilbeth. »Bringt morgen das Doppelte mit, wenn Ihr den Trank abholt.«
»Wann wird er fertig sein?«
»Sobald die Dämmerung anbricht. Ich kann ihn noch heute ansetzen, um die Kräfte des dunklen Mondes zu nutzen. Aber ich muss Euch warnen: Solch ein Liebeszauber bindet stets beide Parteien, nicht nur denjenigen, der ihn verabreicht bekommt.«
Die Spiessin nickte ungeduldig. »Ich werde also jemanden zu Euch schicken …«
»Ihr kommt allein. Und kein Wort zu niemandem! Jedes Gerede schwächt die Kraft des Mittels.«
»Er muss mir wieder gehören!« Alma von Spiess schien wie im Rausch. »Du kannst dich auf mich verlassen. Meine Lippen sind versiegelt.«
Die Spiessin rauschte hinaus, und für ein paar Augenblicke war es ganz still in der kleinen Stube. Dann bewegte sich der schwere Vorhang, hinter dem die Bettstatt verborgen war, und zwei Frauen stürzten hervor.
»Ich wäre beinahe erstickt«, sagte Barbara, »so schwer fiel es mir, den Mund zu halten. Du verstehst dein Handwerk in der Tat, Wilbeth!«
»Ja, das tust du«, bestätigte auch Rosin. »Sie hing ja förmlich an deinen Lippen wie eine Verdurstende.«
»Man muss seine Arbeit gründlich tun«, entgegnete Wilbeth. »Nicht anders als du, Barbara, wenn du die Neugeborenen auf die Welt holst. Oder du, Rosin, wenn du die Toten wäschst, bevor sie zur ewigen Ruhe ins Grab gelegt werden. Auf meine Weise mache ich nichts anderes.«
»Aber dieses Weib ist gefährlich«, wandte Rosin ein. »Das sagen alle, die einmal mit ihr zu tun gehabt haben. Und sie vergisst nichts, was man ihr einmal angetan hat, keine Schmach, nicht die allerkleinste Niederlage. Wenn die Frau des Hofmeisters nicht bekommt, was sie will, kann sie zur Bestie werden.«
»Diesen Schlag Frau kenne ich nur allzu gut: Sie sind gierig und unzufrieden, egal, wie viel sie auch bekommen, allerbeste Voraussetzungen, um sie lange als Kundinnen zu behalten«, sagte Wilbeth. »Alma von Spiess wird nicht nur einen Zauber brauchen. Und das wiederum füllt meine Truhe mit gutem Silber.«
»Die Hochzeit des Herzogs wird sie aber trotzdem nicht verhindern können!«, rief Barbara. »Nicht einmal mithilfe all deiner Zaubertränke.«
»Wenn das Schicksal es so bestimmt hat, gewiss nicht.«
»Dann verkaufst du ihr also irgendein nutzloses Gebräu?«, fragte Rosin. »Ohne die geringste Wirkung?«
»Nichts von dem, was die Natur uns schenkt, ist nutz- oder wirkungslos. Es kommt nur darauf an, wie viel man davon nimmt, in welchem Verhältnis man es mischt, und wem man es zu welchem Zeitpunkt verabreicht. Darin liegt das eigentliche Geheimnis.« Wilbeth gähnte. »Seid ihr eigentlich auch so müde wie ich? Nach solch einer langen Nacht wie gestern spüre ich jedes Mal, dass ich fast zwanzig Jahre älter bin als ihr.«
»Was soll da erst Bibiana sagen?«, rief Rosin lachend. »Sie ist die Älteste von uns allen und doch immer die Erste und die Letzte in der Sillschlucht!«
»Wir müssen künftig noch vorsichtiger sein.« Barbaras sommersprossiges Fuchsgesicht wirkte plötzlich angespannt. »Ich hab da immer wieder etwas knacken hören. Wetten hätte ich können, dass uns jemand heimlich belauscht, vor allem, als Hella sich so böse verbrannt hat …«
»Du siehst Gespenster«, sagte Rosin. »Hella war bloß unvorsichtig, und das nicht zum ersten Mal. Da war keine Menschenseele. Ich hab schließlich die ganze Umgebung zuvor gründlich mit meiner Fackel abgesucht. Niemand außer uns sechs.«
»Eigentlich sollten wir längst wieder zu siebt sein«, sagte Wilbeth, und die anderen beiden nickten. »Wann wohl Els ihre Nichte endlich einweihen wird?«
»Hoffentlich bald«, erwiderte Barbara. »Lena ist inzwischen erwachsen genug, um auch meine Dienste demnächst einmal in Anspruch zu nehmen.« Sie packte ihren Umhang, und auch Rosin machte sich zum Gehen bereit. »Jetzt muss ich aber nach Hause. Sonst macht Jockel sich noch auf den Weg, um mich zu suchen. Die Leute aus dem Obergeschoss sind schon wieder aufsässig. Wenn das so weitergeht, werden sie sich eine neue Bleibe suchen müssen, ob die Frau nun ständig krank ist oder nicht.«
Wilbeth war es recht, dass die beiden sie verließen. Sie legte Holz im Ofen nach und wartete, bis das Wasser im großen Topf zu blubbern begann. Dann goss sie davon in den Becher, in den sie zuvor getrocknete Kamillenblüten gegeben hatte, ließ den Tee ziehen und trank ihn später in kleinen Schlucken.
Etwas war ihr schwer auf den Magen geschlagen, und bis jetzt hatte sie sich nicht so recht wieder davon erholt.
In der Hand der Spiessin hatte sie den Tod gesehen.
***
»Bella mora!« Er trat von hinten an Els heran und griff ihr mit zwei Fingern in den Nacken. »Wie sehr hab ich mich nach dir gesehnt!«
Sie fuhr herum. Keine Spur von einem Lächeln in ihrem schmalen Gesicht. Die ungebärdigen Locken, die er so liebte, waren zu einem Zopf geflochten, aus dem sich bereits wieder Strähnen gelöst hatten. Aus einiger Entfernung hätte man Els noch immer für ein Mädchen halten können, so klein und schlank war sie geblieben. Doch die schwarze Els, wie man sie in ganz Innsbruck nannte, war Mutter und seit Jahren verwitwet. Aus der Nähe sah man zudem die winzigen Fältchen, die sich um ihre dunklen Augen gebildet hatten.
»Wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst mich nicht so erschrecken! Wie ein Dieb durch den Hintereingang zu schleichen ‒ willst du, dass ich dir demnächst aus Versehen einen Krug überziehe?«
»Vorn war schon … abgesperrt.« Er hatte so lange in Italien gelebt, dass er inzwischen manchmal nach dem passenden deutschen Wort suchen musste. »La vecchia Bibiana hat es offenbar wieder einmal zu gut gemeint. Da bin ich eben so gekommen.«
Antonio de Caballis zog sie an sich.
»Drei endlose Nächte ohne dich. Das ist mehr, als ein armer Fremdling ertragen kann. Schon gestern war es kaum mehr auszuhalten, aber du wolltest mich ja unter keinen Umständen zu dir lassen, obwohl ich drauf und dran war, eifersüchtig zu werden.«
Es ging ihn nichts an, wo sie die vergangene Nacht verbracht hatte. Und in welcher Gesellschaft. Bis jetzt war es Els gelungen, diesen Teil ihres Lebens ganz von ihm fernzuhalten, und so sollte es auch weiterhin bleiben.
Er streckte die Arme aus, lächelte.
Obwohl sie jetzt lieber allein geblieben wäre, konnte sie ihm nicht böse sein. Nicht, wenn er sie mit diesem sehnsuchtsvollen Blick ansah. Els schmiegte sich an ihn, dabei waren ihren Gedanken noch ganz bei Lena. Hella hatte sie nach Hause gebracht, viel zu spät, mit besudeltem Kleid und einer Wunde auf der Stirn. Dazu hatte sie eine seltsam verworrene Geschichte über den Prunkschlitten des Herzogs aufgetischt, der Lena versehentlich überfahren habe. Von Lena selbst war so gut wie nichts herauszubekommen gewesen, sie hatte etwas von Kopfschmerzen und dringender Ruhe gemurmelt und sich schnell nach oben in ihr Bett verzogen.
Und dann war Hella endlich mit dem Wesentlichen herausgerückt: Lena war zum Herzog vorgelassen worden und sollte ab morgen in seiner Gesindeküche arbeiten.
Antonio schien Els’ geistige Abwesenheit zu bemerken. Er schob sie ein Stück von sich weg und musterte sie aufmerksam.
»Wohin sind deine Gedanken geflogen, Elisabetta? Bei mir sind sie jedenfalls nicht.«
»Da hast du recht.« Sie ging zum längsten Tisch, den Bibiana bereits mit der Bürste abgeschrubbt hatte wie auch alle anderen in der Gaststube, obwohl das eigentlich Lenas Aufgabe gewesen wäre, nahm einen Krug und füllte einen Becher mit Wein. »Aber heute sind so seltsame Dinge geschehen. Willst du auch?«
Er nickte, ließ sich von ihr einschenken. Beide tranken.
»Ich sorge mich um Lena«, sagte sie. »Nach dem frühen Tod Johannas hab ich immer nur eines gewollt: sie beschützen. Aber nun will sie am Hof arbeiten. Das Mädchen macht es mir wirklich alles andere als leicht.«
»Mädchen? Lena ist doch keine ragazza mehr, sondern eine junge Frau! Und heißt Erwachsenwerden nicht auch immer Abschied nehmen?«, entgegnete Antonio. »In Venezia hätte deine Nichte bereits einen Mann und würde längst ihr eigenes Leben führen.«
»Das ja ‒ natürlich. Sie soll mit dem Richtigen glücklich werden, das wünsche ich mir so sehr für sie. Aber am Hof arbeiten? Ausgerechnet an diesem Ort, wo sich so schreckliche Dinge abspielen?«
»Herzog Sigmund ist nun mal ein Fürst, der …«
»… seine Finger von keinem Weiberrock lassen kann, ob er nun einer noblen Gräfin oder einem schmutzigen Gänsemädchen gehört. Das weiß ganz Tirol. Und dafür ist meine Lena mir viel zu schade.«
»Meinst du nicht, sie ist alt genug, um selbst auf sich aufzupassen?«
»Nicht bei solch einem Ungeheuer wie ihm. Hat er nicht schon mehr als genug Unglück über unsere Familie gebracht? Erst Lenas Vater Georg, der im Berg verschüttet wurde, und dann auch noch mein Laurin, weil Seine Hoheit sich so lange nicht entscheiden wollte, wer nun die neue Poststation bekommt, bis der Konkurrent Laurin im Rausch einfach abgestochen hat.« Ihre Augen funkelten zornig. »Wir haben doch hier alles, was sie braucht. Eines Tages wird Lena das Ganze sogar gehören: das Haus, die Gastwirtschaft, die Lizenz für die Poststation. Aber nein, sie muss zum Herzog rennen und sich dort als Küchenmagd andienen!«
Er berührte ihren Arm, um sie zu beruhigen. Els aber machte sich los.
»Ich will diese Wut spüren«, rief sie. »Denn sie macht mich stark, verstehst du? Lieber wütend sein, als hilflos in Tränen versinken. Das Mädchen wird nicht gehen. Dafür werde ich sorgen!«
Ihr grimmiger Tonfall hatte Sebi aufgeweckt, der sich neben dem Feuer auf einer alten Decke zusammengerollt hatte. Er fuhr hoch, schaute sie mit weit aufgerissenen Augen an. Seiner Brust entrang sich ein Krächzen. Pippo, der schwarze Kater, dessen Nähe er seltsamerweise ertrug, streckte sich, machte einen hohen Buckel und sprang dann geschmeidig auf den nächsten Stuhl.
Els war sofort bei ihrem Sohn.
»Du musst keine Angst haben«, sagte sie. »Das ist kein Streit. Ich hab mich nur aufgeregt. Das ist alles.«
Der Junge gab ein Grunzen von sich. Sie widerstand der Versuchung, ihn an sich zu reißen, zu streicheln und mit Küssen zu bedecken. Els wusste zu genau, was dann einträte. Sebi würde wegrennen, in irgendeines seiner Verstecke, sogar jetzt, mitten im Winter, und stundenlang in einer Erdhöhle oder einem Verschlag ausharren, bis er sich wieder beruhigt hatte. Niemand konnte sich vorstellen, was sie alles erleiden musste, bis sie endlich begriffen hatte, wie anders er war und dass sie nichts daran ändern konnte. Nicht einmal als er laufen lernte, hatte sie ihn berühren dürfen. Eine der schmerzhaftesten Lektionen, die das Leben ihr zugeteilt hatte. Manchmal hatte Els Angst, daran zu zerbrechen.
»Ich wünschte nur, ich könnte ihn besser verstehen«, sagte Antonio, der den Jungen anstarrte.
»Das wünsche ich mir auch. Aber er kann nun mal nicht heraus aus seiner Welt.«
Sebi schien die beiden längst vergessen zu haben. Er hockte auf dem Boden und öffnete und schloss die kleine Holzkiste, die er immer mit sich herumschleppte. All seine Schätze waren darin, die er ständig weiter vervollständigte. Alles, was glänzte und glitzerte. »Kleine Elster«, neckte Lena ihn deswegen manchmal liebevoll.
»Vielleicht, wenn er eine richtige Familie hätte«, sagte Antonio zögernd. »Einen Vater …«
»Die hat er doch. Und sein Vater ist tot. Den kann nichts und niemand wieder lebendig machen«, sagte Els in scharfem Ton. »Ich glaube, es ist besser, wenn du heute in der Hofburg nächtigst. Mein schönstes Gastzimmer bekommt morgen für ein paar Tage einen neuen Bewohner.«
»Und dein Bett, Elisabetta?«
Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr, warme, weiche Lippen auf ihrer Haut. Sein Duft stieg ihr in die Nase. Beinahe hätte er sie umgestimmt, doch sie entschloss sich, hart zu bleiben.
»Es ist spät, Antonio. Ich brauche meinen Schlaf.«
Als er wortlos gegangen war, fühlte Els sich elend. Sie wusste, dass er es gut mit ihr und dem Jungen meinte, doch seine Art der Fürsorglichkeit brachte sie manchmal schier zum Ersticken. Jetzt war die Müdigkeit von vorhin mit einem Schlag verflogen. Stattdessen spürte sie, wie die altbekannte Angst sich lähmend und kalt in ihr ausbreitete.
Lena am Hof!
Das Schlimmste, das sie seit Jahren immer wieder befürchtet hatte, war eingetroffen. Doch was konnte sie tun, um das Mädchen davon abzuhalten? Els wusste genau, wie halsstarrig Lena sein konnte, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.
Sie hörte, wie Bibiana von oben nach Sebi rief: »Piccolo folletto ‒ ins Bett, komm endlich! Die Elfen warten schon auf dich!«
Die Einzige, auf die der Kleine manchmal hörte, und auch darauf war kein Verlass. Er schloss seine Holzkiste, stand auf und stapfte mit ihr unter dem Arm die Treppe hinauf.
Mit geballten Fäusten schaute Els ihm nach, obwohl sie wusste, dass er sich nicht nach ihr umdrehen würde.