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„Nomen est omen“ - was soll schon aus drei Mädels werden, denen die Mütter ausgerechnet die Namen - männlicher! - Erzengel beschert haben? Micki, Raffa und Gabo versuchen auf höchst irdische Weise, das Beste daraus zu machen. Sie verbringen ihre Tage mit manchmal recht skurrilen Aktivitäten. Die Nächte aber gehören den „wilden Engeln“: mit Spritztouren in „geborgten“ Autos, Philosophieren auf Grabsteinen, Begegnungen mit heißen Kerlen und dem Träumen von der eigenen Band. Bis die drei Erzengelinnen wider Willen eines Nachts auf Luzy treffen, die ihnen gerade noch gefehlt hat …
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Seitenzahl: 218
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Brigitte Riebe
Wilde Engel
Frauenroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Gmeiner Digital
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© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlagbild: © Cattari Pons – photocase.com
Umschlaggestaltung: Matthias Schatz
ISBN 978-3-7349-9214-8
Für meine Angelika
Was machen Sie?
Nichts.
Ich lasse das Leben auf mich regnen.
RahelVarnhagen,
Tagebuch 11. März 1810
Das mit den Namen war einfach Scheiße und hing ihnen am Bein wie ein extraschwerer Klotz. Ja, nicht Pech oder Mist, wie die Zarin in ihrer beschönigenden Art unter Garantie sofort korrigiert hätte, sondern schlicht und einfach Scheiße. Aber was konnte auch schon dabei herauskommen, wenn drei Erzeugerinnen im absoluten Hormontief ausgerechnet in der Raucherecke der Wöchnerinnenstation auf die Schnapsidee verfielen, ihren neugeborenen Töchtern die Namen dreier – und dazu auch noch männlicher! – Erzengel zu verpassen?
Im Nachhinein ließ sich nicht mehr exakt feststellen, wer als erste damit angefangen hatte, Ruby, Illo oder Tosca, die Zarin, wie die mittlerweile erwachsenen Töchter sie gern halb spöttisch, halb respektvoll nannten. Typischer Fall von Mythenbildung, der das eigentliche Ereignis überhöhte und die Anfänge in gnädigem Dunkel verschwimmen ließ. Außerdem gab es drei Dutzend verschiedener Versionen. Mindestens. Ziemlich praktisch, nachdem eine der Zeuginnen nicht mehr am Leben war und von der zweiten aufgrund bedauerlicher Umstände schon längst keine brauchbaren Aussagen zum Tatbestand zu erwarten waren.
Die einzige, die zu diesem Sachverhalt noch vernehmbar gewesen wäre, war Tosca Wunder. Und die log bekanntlich, sobald sie den Mund auftat. Zudem machte sie ihre Tochter traurig. Mit Methode. An manchen Tagen sogar ganz besonders.
Heute war eindeutig ein solcher Tag.
Raffa sah es sofort, als sie die Tür zu Mickis Laden aufstieß. Es hatte genieselt, den ganzen Montagvormittag schon, und ihr ausrangierter Bundeswehrparka war mit Wasser vollgesogen. Rostrote Haare standen von einem schmalen Kopf ab wie elektrisierter Kupferdraht; auf langen Beinen strebte sie in den überweiten Schlosserhosen zielstrebig auf die Theke zu. Eigentlich war Raffa immer irgendwie in Bewegung, jetzt aber brauchte sie unbedingt Wärme, ein paar Augenblicke Ruhe, vor allem jedoch die heiße Schokolade mit einem extra großzügigen Schuss Rum, die niemand auf der Welt so köstlich zubereiten konnte wie ihre beste Freundin, wenn sie in der rechten Stimmung dazu war. Von den legendären Schaumrollen der Bäckerei gegenüber ganz zu schweigen, zu denen Micki sich manchmal hinreißen ließ.
Der erste Blick der Freundin allerdings hatte bereits Gefahr in Verzug signalisiert. Der zweite tat es nicht minder. Da waren sie, diese untrüglichen Anzeichen! Raphaela Köttenhuber machte sich nichts aus Klamotten und war meist froh, wenn sie in ihrem Chaos überhaupt etwas Frisches zum Anziehen entdeckte, das zudem auch noch den Anforderungen der jeweils herrschenden Witterung genügte.
Anders Micki. Durchaus eitel, hatte sie sich in puncto weiblicher Optik als Versagerin gefühlt, seitdem sie denken konnte. Und wie die meisten übergewichtigen Menschen stellte sie schon lange keine großen Erwartungen mehr an ihr Aussehen. Heute versteckte sie sich wieder in diesem scheußlichen kackbraunen Sackkleid, das die blonden Haare aschig aussehen ließ und ihrer frischen Haut einen ungesunden Grünstich verlieh. Sie war in einer großen Blechschachtel am Kramen, die Gummiringe und alte Wundertüten enthielt, und hatte das traurige Kindergesicht mit den trüben Augen, dem bitteren Mund und der geschwollenen Nase aufgesetzt, das bereits die Fotos zu ihrem dritten Geburtstag dokumentierten.
»Nicht gerade das, was man einen Höllenandrang nennen würde, was?« Raffa machte eine weite Geste und schniefte ungeniert, natürlich wie immer ohne Taschentuch.
»Kann man wohl sagen. Meine letzte ernsthafte Kundin war Freitagvormittag da. Und weißt du, was sie gekauft hat? Zwei Schnittbögen für Kinder-Teddymäntel zum stolzen Preis von Vierfuffzig. Wenn das so weitergeht, sollte ich lieber heute als morgen zumachen.«
»Genau«, erwiderte Raffa, die diese Idee schon länger umwerfend fand, aber null Bock hatte, sich ständig zu wiederholen. »Aber wenigstens bist du hier in deinem Spinnwebparadies trocken und entspannt. Ich dagegen strampele mir schon seit sieben Uhr früh die Beine aus dem Leib. Einem mittlerweile sehr feuchten Leib, um präzise zu sein. Keine Angst, ich fang’ nicht zu jammern an, ich doch nicht! Kennst mich doch, oder? Allerdings kann ich ohne größere Anstrengung buchstäblich fühlen, wie meine Eierstöcke zu schimmeln beginnen. Scheißgefühl, kann ich dir verraten. Echt ätzend.«
Sie liebte raue Sprüche, je drastischer, desto besser. Manchmal träumte sie von einer eigenen Radiosendung, in die sie selbstredend nur Leute einladen würde, die kein Blatt vor den Mund nahmen. Reine Illusion natürlich, wie sie in realistischeren Augenblicken wusste, und nichts weiter. Beruflich kam sie trotz unzähliger Ideen einfach nicht richtig in Gang, was ihr mal weniger, mal mehr zu schaffen machte. Ihr aktueller Job als Fahrradbotin war der x-te in einer endlosen Reihe verschiedenartigster Tätigkeiten, die sie alle früher oder später entnervt an den Nagel hängte. Trotzdem hinterließ sie meistens einen fröhlichen Eindruck, und der großen Klappe, die ihr über so ziemlich alle Untiefen half, verdankte sie jede Menge überraschender Bekanntschaften. Man musste Raffa nur ein paar Minuten allein in einem Raum mit lauter unbekannten Menschen lassen – und schon hatte sie eine neue Freundschaft geschlossen. Oft allerdings nur für einige Stunden. Dann konnte alles wieder ganz anders sein. Woraus sie sich nicht das geringste machte. Beständigkeit war ein Fremdwort für sie. Und das Wort Sesshaftigkeit hätte sie bei ihren mindestens zwei Umzügen pro Jahr nicht einmal buchstabieren wollen.
Micki dagegen hockte seit Urzeiten in der gleichen Wohnung und führte den dezent vergammelten Laden ihrer seligen Großtante Lu mehr schlecht als recht bereits im siebten Jahr. Manchmal allerdings schien selbst sie es leid zu sein. So bedient wie heute hatte sie lange nicht mehr geklungen.
»Trocken schon. Aber pleite dazu«, entgegnete sie. »In der Kasse sind noch genau sechsunddreißig Euro siebzehn. Kannst du mir mal verraten, wie ich damit die Woche überstehen soll?«
»Tja, ich könnte über mich hinauswachsen und dich beispielsweise zum Essen einladen«, schlug Raffa vor, stellte das Funkgerät ab, das sie mit der Zentrale verband, und verabschiedete sich innerlich endgültig von der überwältigenden Vorstellung einer Mischung aus kühler Sahne und heißer Schokolade. »Ich bin nämlich zufällig so hungrig, dass ich einen ganzen Ochsen schaffen würde – spielend!«
»Essen? Was soll das denn sein?« Micki schaute Raffa so pikiert an, als wüchsen der seit neuestem Hörner aus den Ohren. »Ich esse nicht mehr.«
»Du isst nicht mehr?«
»Genau. Reine Willensfrage. Spart schon mal jede Menge Aufwand. Von dem leidigen Theater hinterher ganz zu schweigen.«
Micki hatte wieder jenen speziellen Blick. In Wahrheit gierte sie wahrscheinlich mehr denn je nach dieser speziellen Art von Nahrung, die den Mund mit warmem Fett füllte, extrem süß oder extrem salzig war und so schwer im Magen lag, dass kein Tropfen Blut mehr für den Kopf und seine verdammten Gedanken übrig war.
»Das kann nur eines bedeuten: Die Zarin war da und hat dich wieder ins Gebet genommen.« Raffa war sich ganz sicher. »Noch keine halbe Stunde her, würde ich tippen. Stimmt’s? Ist ja zum Knochenkotzen! Sag mal, kann sich deine Mutter nicht endlich mal auf sich selber konzentrieren? Alt genug dazu wäre sie ja.«
Micki stellte einen blassblauen Plüschelefanten zurück ins Regal. Raritäten, Kuriositäten, Sammlerstücke & mehr stand in verblasster Goldschrift auf den beiden beschlagenen Schaufenstern. Als sie sich umdrehte, schimmerten ihre Katzenaugen verdächtig.
»Sie macht doch nichts anderes von früh bis abends«, sagte sie. »Genau das ist Teil unseres Problems.«
»Vielleicht sollte man der guten alten Tosca mal einen Bildband über Meerasseln schenken«, sagte eine Stimme im Hintergrund.
Seit die Ladenglocke kaputt war, konnte man Mickis wildes Sammelsurium auch lautlos betreten. So wie Gabo eben, die dritte im Bunde. Wie immer ganz in Schwarz, mit Lederjacke und Samtschal die perfekte Augenweide, eine Baskenmütze schräg auf dem Kopf, die ihr hübsches, klar gezeichnetes Feengesicht akzentuierte.
»Meerasseln? Wieso das denn?« Raffa und Micki riefen es wie aus einem Mund.
»Na, weil die so ziemlich die wildesten Verhaltensmuster im Tierreich entwickelt haben. Wenn man so will, treiben diese kuriosen Biester das karmische Gefiepsel zwischen Müttern und ihrer Brut auf eine einsame Spitze.« Gabo ließ eine effektvolle Pause folgen, ihre besondere Spezialität, mit der sie so gut wie jeden Gesprächspartner mürbe bekam, und redete erst weiter, als sie sicher sein konnte, dass sie nun die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der beiden besaß. »Ihre sich im Körper entwickelnden Jungen zehren den Leib der Mutter von innen auf, bis er schließlich platzt und die Kleinen freilässt.«
Damenhaftes Schneuzen. Sie liebte düstere Hollywood-Dramen der vierziger und die mondäne Art und Weise, in der sich weibliche Stars in ihnen bewegten. Irgendwann würden Gabos Modeentwürfe auf den Markt kommen, die stark von dieser Zeit inspiriert, zugleich aber sehr modern waren, und sie mit einem Schlag steinreich machen. Bis dahin blieb ihr leider nichts anderes übrig, als wie bisher in ihrem erlernten Beruf an drei Tagen der Woche Bücher an nervige, oftmals reichlich desinteressierte Kunden zu verkaufen, um einigermaßen über die Runden zu kommen.
»Nicht gerade die feinste Methode, dafür aber ziemlich endgültig«, rief Raffa hingerissen.
»Sie würde ausflippen!« Micki, die atemlos zugehört hatte, begann, verschmitzt zu lächeln. »Und sich zum mindestens millionsten mal fragen, wieso ich angesichts ihrer fantastischen Erbanlagen derart danebengeraten konnte.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Außerdem ist nicht einmal sie perfekt. Ihre Ohren sind größer geworden. Hundert pro. Ich hab’s vorhin genau gesehen.«
Im strengen Fehlerkatalog von Tosca Wunder signalisierte schon eine struppige Haarsträhne Schwäche und war ein moralisches Minus. Man tuschelte, dass sie neuerdings den BH sogar zum Schlafen anbehalte, um schon im Vorfeld energisch gegen Hängebrüste anzugehen, aber nicht einmal Micki wusste, ob das der Wahrheit entsprach. Was jedoch feststand, waren ihre strengen Anforderungen an sich und andere. Für Menschen, die sich in irgendeiner Weise »gehen ließen« – ein kühles, desinteressiertes Achselzucken, in dem sie unschlagbar war –, konnte sie nun wirklich kein Verständnis aufbringen. Umso grausamer das unaufhaltsame Fortschreiten des Alters, das sie mit dem eigenen Verfallsdatum konfrontierte, sie jedoch ihrer Umgebung gegenüber um keinen Deut gnädiger stimmte, sondern eher noch unerbittlicher machte. Manchmal fühlte sie sich so gereizt und erschöpft vom Kampf gegen das fortschreitende Leben, dass sie am liebsten nur noch geschrien hätte. Oder wie wild um sich geschlagen.
Aber natürlich tat sie nichts davon. Haltung, Haltung und noch einmal Haltung – so lautete ihre Lebensdevise. »Dabei ist das erst der Anfang vom Ende.« Gabos Stimme klang dumpf. »Denn die Ohren wachsen unaufhörlich weiter, werden größer und immer größer. In Einzelfallen sogar riesenhaft. Ich meine, falls man besonderes Pech hat, genetisch sozusagen. Das ist eine wissenschaftlich bewiesene Tatsache, an der es nichts zu rütteln gibt.«
»Sicher?«, hauchte Micki.
»Todsicher.«
»Vielleicht sollte ich dann diese Tatsache Tosca bei unserem nächsten Treffen an den Kopf pfeffern. Und zwar, bevor sie wieder ihren Röntgenblick aufsetzen und hässliche Bemerkungen über reizlose Tarnkleidung und ganz und gar überflüssige Kilos loslassen kann. Obwohl doch in ihrem Stundenbuch ganz genau vermerkt ist, wie viel sie in mich investiert hat.«
»Spitze!« Raffa lachte schrill. »Wozu sind Töchter denn überhaupt da, wenn nicht, um ihre Mütter wütend zu machen?«
Stammte unzweifelhaft aus dem neuesten Roman von Erica Jong, »Seliges Angedenken«, mit dessen Zitatenschatz sie Micki und Gabo schon seit Wochen quälte. Sie las nicht mehr als maximal ein Buch pro Jahr, aber das mit fast schon quälender Besessenheit. Beinahe, als ob es das letzte ihres Lebens wäre.
Die anderen beiden stimmten in ihr Lachen ein. Für Augenblicke waren sie wieder so etwas wie eine Familie – jedenfalls kam es einer Familie so nahe, wie es bei drei Einzelkindern mit je einer entrückten, einer toten und einer egozentrischen Mutter überhaupt möglich war.
Mit einem tiefen Seufzer legte Gabriele Merlin den Stift aus der Hand und schichtete das knappe Dutzend Kohleskizzen zu einem lockeren Stapel. Mäntel, Kostüme, ein paar dieser Zipfelkleider, auf die sie in letzter Zeit besonders abfuhr. Hatte zunächst gar nicht schlecht angefangen, heute Nachmittag, jetzt aber war der Spannungsbogen irgendwie erschlafft. Spröde, nicht ganz saubere Soprantöne drangen durch die Wände wie Nadelstiche. Wieder einmal verfluchte sie die Hellhörigkeit dieses verbauten Hauses und ihr vorschnelle Entscheidung, sich auf eine Lösung eingelassen zu haben, die nicht nur auf Dauer schlicht und einfach idiotisch war.
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