Der Sog – ein tödliches Ultimatum - Jan Flieger - E-Book

Der Sog – ein tödliches Ultimatum E-Book

Jan Flieger

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Beschreibung

Nie gehörte Karl Bennewitz zu den Erfolgreichen, denen irgendetwas in den Schoß fällt. Bis er eines Tages seinen alten Freund Röbel wieder trifft und der ihm einen Job als Abteilungsleiter in »seinem« Maschinenbaubetrieb verschafft, wo noch ein »zuverlässiger« Mann fehle. Was Röbel damit meinte, begreift Bennewitz bald. Die staatlichen Subventionen für Rationalisierungsprogramme, in der DDR »Neuererwesen« genannt, erweisen sich als unerschöpfliche Quelle für den privaten Wohlstand einiger Betriebsangehöriger. Lange Zeit läuft alles gut, doch dann lernt Bennewitz die junge Karin März kennen und will sich von seiner Frau trennen. Franziska denkt nicht daran, ihn aufzugeben - und mit ihm das angenehme Leben im Wohlstand. Sie stellt ihm ein Ultimatum: Entweder du bleibst bei mir - oder ich lasse dich »hochgehen«. In Bennewitz reift ein verzweifelter Mordplan ... Das Buch wurde in der Reihe „Der Staatsanwalt hat das Wort“ unter dem Titel „Alles umsonst“ verfilmt.

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Impressum

Jan Flieger

Der Sog – ein tödliches Ultimatum

ISBN 978-3-95655-797-2 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1985 unter dem Titel „Der Sog“ im Mitteldeutschen Verlag Halle/Leipzig und 1989 unter dem Titel „Ein tödliches Ultimatum“ im Fischer-Taschenbuch-Verlag Frankfurt am Main. Dem E-Book liegt die überarbeitete, 2015 im fhl Verlag Leipzig erschienene Auflage zugrunde.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2017 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern

Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

О feig Gewissen, wie du mich bedrängst! - Das Licht brennt blau. Ist's nicht um Mitternacht?

Richard Shakespeare

Kapitel I

Das Meer funkelt seltsam grün, seine Farbe ähnelt der des Wassers nach einem Zusatz von Fichtennadeln. Der Himmel ist grau und die wenigen Wolken treibt der Wind auseinander wie ein wildernder Hund die Schafherde, wenn er den Hirten weit genug entfernt weiß und auch seinen vierbeinigen Helfer.

Bennewitz schwimmt in die offene See, er schont seine Kräfte, denn wenn er zurückschwimmt, muss er gegen den Sog kämpfen, der versuchen wird, ihn wieder hinauszuziehen.

Ringsum sind nur die Wellen und ein großes Rauschen.

Bennewitz schwimmt, bis er kein Ufer mehr sieht und die Wellen stärker werden. Er liebt diese Kraftproben mit dem Meer.

Bennewitz schwimmt ruhig, mit gleichmäßigen Bewegungen der Arme und Beine, er genießt ihre Kraft, er genießt die Wildheit des Wassers und die des Windes.

Die Sturmbälle sind längst aufgezogen an den hohen Stangen über den weißen Türmen in den Dünen, und die Rettungsschwimmer verjagen jeden Badenden aus dem Wasser.

Bennewitz aber schwimmt dort, wo ihn kein Ruf mehr erreicht.

Das salzige Wasser peitscht sein Gesicht. Einmal berührt sein Mund ein Bündel Tang.

Nun ist es ihm, als ob die Wellen höher werden.

Er wendet sich endlich, um zurückzuschwimmen, doch er kommt nicht voran.

Er schwimmt und schwimmt, aber das Wasser zieht ihn hinaus. Der Sog ist unendlich stark, er packt den Schwimmer mit einer gewaltigen Kraft.

Bennewitz lässt sich treiben, er atmet tief durch, lockert die Arme und die Beine, schwimmt dann wieder mit kräftigen Stößen in Richtung des Strandes.

Aber er sieht ihn nicht, auch wenn ihn die Wellen emporheben wie einen Ball und er aus dem Wasser schnellt, um Ausschau zu halten.

Die Wellen tragen ihn nicht dem Strand entgegen, sie werfen ihn sich gegenseitig zu, er spürt es nun ganz deutlich, und in ihm wächst Unruhe. Oder ist es schon die Angst ...

Es ist nachmittags, aber mit einem Male scheint der Himmel die Helligkeit des Tages aufzusaugen.

Grau breitet sich aus, als wolle die Dunkelheit schon anbrechen. Das Wasser wird allmählich schwarz, als sei eine riesige Teerwoge aus einem Tanker geflossen und treibe nun dem Strande zu.

Die Wellen heben Bennewitz, werfen ihn in ihre Täler hinab, sie wachsen, werden höher und höher, reißen ihn vorwärts, doch der Sog zurück ist heftiger, stärker als Arme und Beine.

Bennewitz atmet hastiger, er spürt, wie ihn die Kraft verlässt, er schluckt Wasser und hustet den salzigen Trunk wieder aus.

Möwen fliegen über ihn hinweg, dem Ufer entgegen, ihre Schreie gellen ihm in den Ohren, so schrill, dass seine Trommelfelle schmerzen.

Allmählich klingen die Schreie dumpfer, seine Arme und Beine werden schwer wie Blei. Doch er versinkt nicht.

Er empfindet das Wasser als eine dicke, zähe Masse, die ihn hinausträgt, er hört keine Möwen mehr, nur eine seltsame Stille ist um ihn, und als er um Hilfe ruft, vernimmt er nicht einmal seine eigene Stimme.

Allein der Sog ist geblieben, unerbittlich zieht er Bennewitz mit.

Dann durchfährt ihn der Schreck, als er die Plattform sieht und das Gebäude auf ihr, drohend sieht er sie beide vor sich.

Das Haus besitzt keine Fenster, nur schmale Schlitze, und das Wasser wirbelt zwischen den dicken Pfeilern wie ein ungebändigter Mahlstrom.

Angst packt Bennewitz, eine rasende, eine schmerzhafte Angst, die ihm die Luft nimmt.

Er wehrt sich gegen den Sog, aber es gibt keine Hoffnung, das Wasser trägt ihn den Pfeilern entgegen.

Er schreit, aber aus seiner Kehle kommt kein Laut.

Kapitel II

Eine Wand aus Licht zuckt vor Bennewitz auf.

Er erwacht und blickt in Franziskas Augen, die sich über ihn beugt.

»Was ist mit dir, Karl, du fantasierst ja. Ich kann nicht schlafen, wenn du immer sprichst.«

Bennewitz sagt nichts. Er starrt Franziska an. Sein Herz schlägt heftig weiter und er spürt den Schweiß im Nacken und unter den Achselhöhlen, kalten Schweiß.

Er will, dass Franziska ihn in Ruhe lässt. Sie aber setzt sich auf die Bettkante.

»Was faselst du von einem Prozess?«, hört er sie fragen, »von Linke, von Wetzig?« Und nach einer kurzen Pause sagt sie noch: »Du musst etwas vom Ertrinken geträumt haben.«

Er reibt sich die Stirn, die am Haaransatz feucht ist. Diese verfluchte Angst!

»Du siehst blass aus«, hört er Franziska sagen.

Er winkt ab.

»Welchen Prozess meinst du denn?« Franziska lässt nicht locker. »Ist etwa das Urteil gegen Linke und Wetzig schon gefällt?«

Bennewitz zuckt zusammen, als sie diese Fragen stellt.

Woher weiß Franziska von diesem Prozess? Aber dann erinnert er sich, dass er selbst ja von Linke gesprochen hatte und von Wetzig, als sie verhaftet worden waren.

»Wie viel haben die beiden bekommen?«, fragt Franziska mit sanfter Stimme, als spräche sie mit einem Kranken.

»Ich weiß nicht«, weicht Bennewitz ihrer Frage aus.

»Du weißt es nicht?«, fährt Franziska ungläubig fort, »es würde mich aber interessieren, Karl, wirklich.«

»Ich glaube, zehn Jahre«, antwortet Bennewitz nun.

»Warum regt dich das Urteil so auf? Weil ihr so etwas Ähnliches tut wie Linke und Wetzig?«

Bennewitz schweigt und die stählerne Klammer um seinen Kopf schmerzt heftiger.

Die Angst ...

Diese noch nie vorher gekannte Angst ...

Er spürt leichte Stiche in der Herzgegend.

»Franziska«, sagt er keuchend, »weißt du, was das heißt: zehn Jahre im Gefängnis? Zehn Jahre eingesperrt sein in einer Zelle? Und den Schaden zurückzahlen? Ein ganzes Leben nur Schulden, für nichts und wieder nichts?«

»Was geht dich das an?«, sagt Franziska, und sie lächelt sogar.

»Begreifst du denn nicht, Franziska? Wenn auch bei uns eine Untersuchung anläuft! Der Hauptbuchhalter kann sie gerufen haben, dieser Schrader. Dann kommen sie auch zu mir! Und sie bekommen alles heraus, alles.«

Franziska winkt ab. »Ach was! Das macht der Schrader nicht. Glaub mir, Karl, niemand holt die Revision in den eigenen Betrieb! Kommt was heraus, fällt es ja auch auf den Hauptbuchhalter zurück. Schrader wird sich hüten ...«

Wenn es nur wahr wäre! denkt Bennewitz. Aber was hatte Kretzschmar erzählt? Es gebe eine hohe Dunkelziffer an Gesetzesverstößen in den Betrieben, denen man nachgehen und die man mit aller Strenge ahnden würde. Und was kam dann? Das Gefängnis: ein langer Gang mit Türen zu beiden Seiten, eine öffnet sich und schließt sich hinter ihm, bleibt geschlossen für zehn Jahre! Die besten Jahre eines Mannes. Arbeiten in den Werkstätten des Gefängnisses, stupide Arbeiten, für einen Hungerlohn, für Zigaretten. Bautzen, Waldheim - eine Zelle mit zwölf Mann, auf engem Raum zwölf Menschen, primitive dabei, die nicht einmal taugen für ein Gespräch. Tage, Wochen, Monate, Jahre ... Keine Reise, kein Tanz, keine Frau - nichts. Ein Mann vertrocknet wie ein Baum in der Wüste, ist ein Krüppel, wenn er das Gefängnis verlässt. Für je zehntausend Mark, die sie einem nachweisen können, sitzt man ein Jahr in einer Zelle.

Bennewitz überfällt ein Schüttelfrost, er zieht die Bettdecke bis zum Kinn.

Wenn sie mich schon beobachten, denkt er, wenn Greiner für sie arbeitet? Greiner mit seinem schiefen Blick, Greiner, der in letzter Zeit so seltsam grinst, wenn er mich sieht, so hintergründig. Solange ich gesund bin, solange ich nicht freiwillig gehe, kommt er nicht auf meinen Sessel.

Aber ein anonymer Anruf bei der Kripo könnte genügen, und schon ...

Bennewitz schlägt das Deckbett zurück und geht ziellos im Zimmer auf und ab.

Franziskas mitleidiges Lächeln regt ihn auf. Sie nimmt meine Angst nicht ernst, denkt er.

Die Nägel seiner Finger brennen in seinen Handflächen.

»Hör auf, herumzurennen wie ein Tier im Käfig«, sagt Franziska. »Was haben denn die anderen zu der Sache gesagt? Was meint Pittwein? Was sagt Röbel? Hast du mit ihnen gesprochen nach dem Urteil?«

Bennewitz nickt.

»Nichts haben sie gesagt. Es scheint ihnen nicht unter die Haut zu gehen.«

»Na also«, antwortet Franziska. »Pittwein ist schließlich Technischer Direktor eures Betriebes. Ihn würde es am schwersten treffen, er müsste Angst haben, nicht du!«

Bennewitz reibt sich nervös sein Kinn. Er ist nicht zu beruhigen.

»Denk doch mal, Karl«, hört er Franziska wieder. »Über Jahre macht ihr das schon, über viele Jahre. Ihr kennt euch, keiner von euch würde ein Wort zu irgendjemandem sagen, weil er dann selbst am Angelhaken hängt. Ihr seid eine verschworene Gemeinschaft und die müsst ihr bleiben. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass bei euch etwas entdeckt wird, dafür seid ihr zu clever, und wenn, dann wäre es schon geschehen.«

Sie erhebt sich, geht in das Wohnzimmer und kommt schon nach wenigen Augenblicken mit einem Glas zurück, gefüllt bis zum Rand.

»Trink, Karl! Der Kognak wird dir guttun.«

Sie sieht zu, wie hastig er trinkt und wie das Glas in seinen Fingern zittert.

»Wenn man es so gut macht wie ihr, Karl, und wenn ihr auch im privaten Leben aufpasst, kann nichts geschehen. Keiner darf sprechen«, ergänzt sie leise, aber betont jedes Wort.

»Wir zwei sind immer vorsichtig gewesen«, fährt sie fort. »Wir haben nie mit unserem Besitz geprahlt, zahlen keine hohen Summen ein, legen das Geld in Antiquitäten an, in teuren Reisen. Wenn jemand fragt, ist vieles vom Geld meiner Eltern, die Antiquitäten haben sie uns geschenkt. Du weißt, dass sie uns decken, wenn es nötig sein sollte.«

Bennewitz setzt sich auf die Kante des Bettes und noch immer hält er das Glas in seiner Hand. Franziska setzt sich neben ihn und sieht ihm in die Augen. Sie hat ihn schon schwach gesehen und unsicher, aber so durcheinander noch nie. Sie weiß, wenn sie ihn fest an sich ziehen will, ehe er ihr entgleitet, dann muss sie jetzt auf ihn einwirken.

»Wetzig«, sagt Franziska plötzlich leise, »soll durch eine anonyme Anzeige gestellt worden sein.«

»Wer sollte das getan haben?«

»Wetzigs Frau«, sagt Franziska. »Sie ist dahintergekommen, dass er das Geld mit einer Jüngeren verjubeln wollte. So wird es erzählt. Ein Akt der Selbstjustiz.«

Franziska sieht, dass seine Unsicherheit wächst. Sie sagt unvermittelt hart: »Auch dich könnte so eine Anzeige treffen, Karl.«

»Mich?«

»Ja, dich.«

»Wer sollte mich auffliegen lassen?«

»Ich.«

»Warum?«

»Das weißt du genau, Karl!«

»Aber Franziska, ich verstehe wirklich nicht ...«

»Es ist wegen dieser Frau!«

»Wegen welcher Frau, Franziska?«

»Mach mir nichts vor, Karl. Ich weiß, wie sie aussieht, ich weiß, wo sie arbeitet, ich weiß, wo sie wohnt.«

Sie lacht plötzlich auf, aber es ist ein bitteres Lachen.

»Ich weiß auch, wann du dich mit ihr triffst. Ich weiß alles. Alles!«

Er nimmt das Kalte in ihren Augen wahr, das nichts Gutes verheißt, als sie weiterspricht.

»Sei wenigstens ein Mal ehrlich, Karl! Ich habe ein Recht darauf. Ich habe dir genug Jahre meines Lebens geopfert.«

Bennewitz verspürt ein Gefühl, als glitte der Boden unter ihm weg. Er kann keinen klaren Gedanken fassen.

Völlig unvorbereitet trifft sie ihn.

»Du willst mich loswerden«, sagt Franziska, »weil irgend so eine Junge kommt, die es im Bett besser macht als ich. Bist du schon so alt? Muss dir eine Junge bestätigen, dass du als Liebhaber noch gut bist?«

Bennewitz schweigt.

Er presst die Hand auf das Herz und ringt nach Luft. Er erhebt sich und geht in die Küche, nimmt eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, aber das Bier schmeckt ihm nicht, er stellt das gefüllte Glas auf den Tisch zurück. Franziska beobachtet ihn. Sie weiß, dass sie jetzt nicht lockerlassen darf.

Karl ist angeschlagen, aber nicht k. o. Sie muss weitere Schläge austeilen.

»Andere Frauen mögen zusehen, wie man ihnen den Mann wegnimmt«, sagt sie drohend. »Ich werde es nicht tun. Mich wirst du nicht los, mein Lieber, mich nicht! Ich lasse mich nicht wegwerfen. Ich werde kämpfen und es wäre gelacht, wenn ich nicht stärker bin als diese blasse Karin.«

Bennewitz steht da, er weiß nicht, was er Franziska antworten soll, und einen Augenblick lang wünscht er sogar, dass er Karin nie begegnet wäre. Aber er will Karin doch und er will sie nicht nur als Geliebte, die er dann und wann besucht.

Sie gehen ins Wohnzimmer, er setzt sich in einen Sessel, Franziska auf die schwarze Couch.

Wie er sie hasst, diese Franziska!

Franziska blickt auf ihre Hände, als sie spricht.

»Seit zwei Tagen, Karl, seitdem ich weiß, wer diese Frau ist, liege ich ohne Schlaf und denke nach. Ich habe an alles gedacht, auch daran, dich zu verlassen. Aber ich brauche dich.«

Sie sieht ihn an.

»Und du brauchst mich«, fährt sie fort. »Ohne mich wärst du nicht geworden, was du bist, ohne mich gehst du unter. Du brauchst keine Frau, die dich anhimmelt, und schon gar kein gebildetes Schäfchen mit künstlerischen Ambitionen. Du brauchst eine Frau mit starkem Willen, eine, die dich lenkt, glaub es mir. Ich kenne dich genau.«

Bennewitz weicht ihren Augen aus. Er weiß zu gut, wie viel Wahrheit in ihren Worten steckt.

»Du hast dich nie über mich beklagt, Karl, und nun, wo du eine andere Frau kennenlernst, lebst du mit mir weiter, als wäre nichts geschehen. Du willst sie wohl in aller Ruhe testen und wenn dir sicher zu sein scheint, dass es mit ihr besser geht als mit mir, willst du mich verlassen. So nicht, Karl!«

Sie atmet hastiger.

Bennewitz spürt sein Herz rasen. Franziska sieht ihn unverwandt an. Sie erwartet eine Antwort, jetzt, in dieser Minute. Er weicht ihren Augen aus, blickt aber dann doch wieder zu ihr hin.

»Sag endlich was«, hört er Franziskas Stimme.

Doch er schweigt noch immer.

»Meine Anzeige«, sagt Franziska, »wird nicht nötig sein, nehme ich an. Dazu bist du zu klug. Oder täusche ich mich?«

Bennewitz spürt eine lähmende Schwäche in seinen Armen und in seinen Beinen, die ihn beinahe willenlos macht. Sie verdrängt aber nicht den Hass auf diese Frau, die ihn in die Enge treibt, weil sie ahnt, dass sie ihn in der Hand hat.

»Nun, Karl? Ich warte auf deine Antwort.«

Ich könnte sie erschlagen, denkt Bennewitz. Ich könnte es wirklich tun ...

Er blickt Franziska nicht an, als er spricht, leise und gepresst.

»Wenn ich dir achtzig Prozent von allem gebe, was wir besitzen, willigst du dann in eine Trennung ein, Franziska?«

Franziska schnellt hoch, sie steht vor Bennewitz und blickt kalt auf ihn herab.

»Ich mach es nicht einmal für hundert Prozent! Die bekommt dich nie! Nie!«

Sie stehen sich gegenüber, Franziska und Bennewitz. Franziskas Stimme ist unerbittlich.

»In zwei Tagen«, sagt sie, »hast du alles geklärt. Ich warte keinen Tag länger. Du brichst mit dieser Frau, oder ich« - sie zögert etwas, ehe sie ihren Satz schnell beendet - »oder ich zeige dich an.«

Bennewitz erstarrt. Wie eine Glutwelle durchflutet der Hass alle Adern in seinem Körper und einen Moment lang verliert er seine Beherrschung, krallt die Finger um Franziskas Hals.

»Du!«

»Tu dir keinen Zwang an«, sagt Franziska kalt.

Bennewitz löst seine Finger, wendet sich keuchend von ihr ab, stürzt aus dem Schlafzimmer und in das Bad. Im Spiegel sieht er sein Gesicht, bleich und fremd. Ich bringe sie um, hört er sich flüstern, als ob ein anderer die Worte spräche.

»Ich bringe sie um, ich bringe sie um ...«

Franziska muss sein Flüstern gehört haben.

»Für eine solche Tat, Karl, bist du zu schwach. Du hast immer jemanden gebraucht, der dich schiebt. Immer! Allein bist du ein Nichts! Ein Nichts!«

Kapitel III

Bennewitz sitzt im Auto, aber er startet nicht. Da ist noch immer Franziskas Stimme ...

Ein Nichts!

Allein bist du ein Nichts!

Ein Nichts!

Ein Nichts!

Ist er immer ein Nichts gewesen? Hat man ihn immer gelenkt und geschoben?

Schon als Kind?

Er schließt die Augen ...

Er betrat die Klasse und er trug die Klemme im Haar, die er nicht mochte und auch nicht der Klassenleiter Speck, nicht die Mitschüler, er trug die Klemme, seine Mutter bestand darauf, auch wenn alle lachten. Die Mutter wollte die Klemme behaupten gegen den Willen des Lehrers Speck.

Bennewitz konnte sie nicht herausziehen, die Mutter hätte es bemerkt, sie schob die Klemme in sein Haar auf eine unnachahmliche Weise und befreite ihn erst von ihr, wenn er die Wohnung betrat.

Im Leben muss man sich durchsetzen, sagte die Mutter, wer sich nicht durchsetzt, der geht unter.

Er setzte sich still in die dritte Reihe auf seinen Stuhl an der Fensterseite und das Gelächter der anderen tat ihm weh. Er war still, als entschuldigte er sich für seine Anwesenheit, er war kleiner, jünger, aber der Ehrgeiz der Mutter war gestillt: ihr Sohn ging in die Schule und war noch nicht sechs!

Der Kleinste, der Schwächste, der später am Barren versagte und am Reck und an der Tafel in den Mathestunden, bei den Mädchen, denen er zu klein war, weil er zu langsam wuchs. Er duckte sich unter den Schlägen, den Worten, dem Lachen. Er duckte sich und dachte, einmal schlage ich zurück.

Er schlug nicht zurück, auch nicht in der Oberschule, der grauen mit dem kleinen Hof, die er hasste, aber der er nicht entrinnen konnte: eine feindliche Welt.

Bennewitz duckte sich unter dem Spott und den Streichen, die man ihm spielte, nur im Traum war er der strahlende Held, im Nachttraum zu Hause, im Tagtraum in der Klasse.

Aber für Träume gab es keinen Dank, keine Zensuren, wer träumte, verlor den Faden, verirrte sich im Dickicht, das Latein hieß oder Mathematik, wer träumte, verträumte den Erfolg.

Bennewitz werde ein Versager bleiben, ein Leben lang, das sagten sie alle. Versager wurden geboren, um zu versagen.

Aber einmal, träumte Bennewitz, fände ein Klassentreffen statt und die Gesichter würden bleich vor Neid, auch das von Vogel, das von Kleinschmidt, denn er, der Werkdirektor Bennewitz, würde in einem schwarzen Tatra vorfahren, dem eigenen. Einen solchen Wagen fuhr in der kleinen Stadt nur der Fleischermeister Schmidtchen. Und wer war mehr als ein Fleischer? Höchstens Winzer, der Meister der Klempner.

Bennewitz träumte, er sei ein Mann wie Bauchstedt, der Werkleiter vom Waggonwerk, in dem die Klasse ihre polytechnische Ausbildung erhielt.

Vor Bauchstedt erbebten alle. Er war klein und hager und doch kräftig, seine Lippen waren meist schmal zusammengepresst.

Schritt Bauchstedt durch das Werk, so nahm die Emsigkeit zu, jeder arbeitete rascher, niemand stand herum und plauderte, jeder tat, als kenne er nur ein Ziel: die Arbeit.

Auch Bennewitz trieben diese Augen an. Näherte sich Bauchstedt, wuchs sein Ehrgeiz, schneller zu arbeiten, schneller als die anderen, auch besser. An einer Hobel-Fräsmaschine stand er und er wünschte sich, dass die Maschinen der Klassenkameraden falsch liefen, ja dass ihre Werkstücke fehlerhaft waren, nicht verwendbar, Ausschuss. Das Geräusch der Maschine, wenn sie sich in das Metall fraß, weckte in Bennewitz das Gefühl, als verfüge er über eine gewaltige Kraft, als sei er stark und unbesiegbar.

Und einmal geschah es, dass Bauchstedt bei Bennewitz stehenblieb, dass seine Augen auf Karls Händen ruhten und jeden Griff verfolgten. Endlich nickte Bauchstedt, legte die Hand auf Karls Schulter und ging weiter.

Bennewitz glühte vor Stolz, denn bei Rietschel nickte er nicht, dieser Bauchstedt, auch nicht bei Vogel, nicht bei Kleinschmidt. Nur bei ihm! Bei Karl Bennewitz!

Von diesem Tag an stand es fest: Er wollte, er musste ein Bauchstedt werden. Wie das zu schaffen war, blieb unklar, auch in den Träumen. Klar war nur, er würde ein Bauchstedt, zu dem man aufblickte, dessen Wort im Werk als Gesetz galt, der Achtung, Respekt, Ehrfurcht, Autorität genoss. Warum war er, Bennewitz, so anders als die anderen, warum waren sie besser, die anderen, klüger, tüchtiger, schöner, größer? Warum?

Die Mutter konnte durch nichts und niemanden gehindert werden, ihren Willen durchzusetzen. Sie fürchtete niemanden und die Lehrer erblassten, wenn sie die Schule betrat. Man ließ einen Schüler nicht sitzen, der eine solche Mutter besaß, auch wenn das Wissen eigentlich nicht ganz ausreichte in Mathematik, Chemie, Physik und Latein. Die Mutter hatte nur diesen Sohn, den einen, denn ihre Ehe lief nicht gut mit dem Mann, der zwar eine angesehene Position in der Gesellschaft einnahm, die Familie aber vernachlässigte. So wurde Karl ihr Halt, auf ihn konzentrierten sich ihre Wünsche und ihre Fürsorge.

Also blieb ihm als Ziel nur das Abitur, obwohl er hinauswollte aus dieser Schule, in eine Lehre, irgendwohin, nur weg aus der Stadt. Der Weg war abgesteckt, die Hürden aus lateinischer Grammatik, aus Integralen und Vokabeln stieß die Mutter um. Und die Lehrer wussten: das kleinere Übel war Bennewitz, der Abiturient.

Bennewitz hasste die Klasse, die sein Versagen kannte, aber er sah auf zu Schimaneck, dem Primus, zu dem alle aufsahen, auch die Mädchen. Und er beneidete Feigel, der alle Arbeiten abschrieb von Schimaneck und so ganz oben stand in der Gunst der Lehrer, die wohl blind waren oder nicht begriffen, wie Feigel wirklich zu seinen Erfolgen kam.

Bennewitz blieb ein mittelmäßiger Schüler, er war fleißig, doch er lernte schwer. Nicht nur die chemischen Formeln und die lateinische Grammatik waren ihm ein Grauen.

Bennewitz wuchs zu langsam, Bennewitz verließ der Mut, wenn er über den Kasten springen sollte, Bennewitz schlug die Augen nieder, wenn sie über ihn lächelten, die Kleinschmidts, Vogels, Rietschels oder die Mädchen der Klasse.

Er saß in der ersten Reihe im Chemiezimmer, in dem die Bänke anstiegen wie in einer Arena, durch einen Mittelgang getrennt. Er saß zwischen Rietschel und Vogel, sie schrieben eine Klassenarbeit, die nur aus Formeln bestand. Sie wollten nicht in seinen Kopf, die Formeln, er begriff sie nicht und er vergaß sie schnell wieder, wenn er sie sich mit viel Mühe eingepaukt hatte.

Witternd wie ein Wiesel stand sie vor ihnen, die Klassenlehrerin, die eiserne Jungfrau Stürmer, die alle Schliche kannte, die Schülergehirne ersannen, um ihre gefürchteten Arbeiten zu überstehen. Die schnellsten Augen besaß sie, die man sich denken konnte, die wachsamsten - die Augen eines Adlers.

Sie mochte Bennewitz nicht, weil er schlecht war in ihren Fächern.

Ruhig saß er vor ihr, kaute auf dem Füllfederhalter. Sicher dachte sie, er würde wieder eine Fünf schreiben und nur um Haaresbreite dem Sitzenbleiben entgehen am Ende dieses Schuljahres.

Und doch standen die Formeln heute auf seinem Blatt, und richtig, und eine folgte der anderen, immer, wenn die Unerbittliche ihren Blick von ihm weg und durch die Klasse schweifen ließ.

Sie blickte auf die Blätter Rietschels und Vogels. Bei ihnen waren die Formeln falsch. Aber bei ihm entdeckte sie keinen Fehler.

Bennewitz saß vor ihr mit unbewegtem Gesicht, schrieb, unterstrich, indem er das kleine Holzlineal auf sein Blatt legte. Sauber und ordentlich schrieb er die Formeln. Nicht eine fehlte. Vogel schmierte, zog Linien mit der Hand.

Und immer, wenn die Lehrerin den Blick schweifen ließ, klappte es um, das kleine Lineal, sah Bennewitz hinab auf die Formeln, die, sorgsam und sehr klein und mit spitzem Bleistift, auf das Holz geschrieben, auf der Rückseite standen. Nicht eine fehlte aus dem Stoffgebiet, das die Unerbittliche gelehrt hatte.

Und die Hände hielt er so, dass sie nicht abschreiben konnten, nicht Vogel, nicht Rietschel, zwischen denen er saß.

Deutlich nahm er bald wahr, wie sein Ansehen stieg, mit jeder guten Zensur, langsam, aber sicher.