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Lauren Wolk erzählt über eine kluge und starke Protagonistin, die zu sich selbst findet – und über eine ganz besondere Verbindung zur Natur.
Ein mächtiges Sommergewitter wirbelt Annabelles Leben durcheinander. Eigentlich will Annabelle bloß die ersten warmen Ferientage genießen: Erdbeeren pflücken, mit ihren Brüdern durch die Maisfelder streifen und die schattige Stille in der Wolfsschlucht genießen. Da unterbricht ein heftiges Gewitter die Idylle. Annabelle gerät mitten hinein und wird vom Blitz getroffen. Sie überlebt, verfügt jedoch plötzlich über eine ebenso seltsame wie wunderbare Gabe: Sie kann die Tiere um sich herum verstehen, ihre Gefühle und Ängste spüren. Annabelles geschärfte Sinne erweisen sich schon bald als sehr nützlich, denn als in der Umgebung immer mehr Hunde verschwinden, macht sie sich auf die Suche nach ihnen und schließt überraschende neue Freundschaften.
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Seitenzahl: 340
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Ein mächtiges Sommergewitter wirbelt Annabelles Leben durcheinander. Eigentlich will Annabelle bloß die ersten warmen Ferientage genießen: Erdbeeren pflücken, mit ihren Brüdern durch die Maisfelder streifen und die schattige Stille in der Wolfsschlucht genießen. Da unterbricht ein heftiges Gewitter die Idylle. Annabelle gerät mitten hinein und wird vom Blitz getroffen. Sie überlebt, verfügt jedoch plötzlich über eine ebenso seltsame wie wunderbare Gabe: Sie kann die Tiere um sich herum verstehen, ihre Gefühle und Ängste spüren. Annabelles geschärfte Sinne erweisen sich schon bald als sehr nützlich, denn als in der Umgebung immer mehr Hunde verschwinden, macht sie sich auf die Suche nach ihnen und schließt überraschende neue Freundschaften.
Lauren Wolk
Der Sommer, in dem der Blitz mich traf
Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann
Hanser
Für meine Schwestern, Suzanne Jane Wolk und Cally Robyn Wolk,
und für unsere Großeltern,
Ann und Fred McConnell, deren Farm eine so wichtige Rolle in unserem Leben spielte.
1944
Ich wusste nicht, dass ein Gewitter heraufzog.
Hätte ich es gewusst, hätte ich manches vielleicht anders gemacht.
Aber ich hatte meiner Lehrerin, Mrs. Taylor, versprochen, mit ihr zusammen das Schulhaus zu putzen, bevor es für den Sommer seine Pforten schloss.
Also machte ich mich auf den Weg, hinaus aus unserem engen Tal, den Hang hinauf, vorbei an Tobys Grab (wo ich kurz stehen blieb, um eine Hand auf seinen Gedenkstein zu legen) und wieder hinab, durch ein junges Weizenfeld in den Wald von Wolf Hollow.
Die Bäume selbst waren durchaus freundlich, und das Sonnenlicht, das durch ihr Laub gefiltert wurde, tat sein Bestes, um mich aufzuheitern, doch der Weg durch die Wolfsschlucht weckte jedes Mal dunkle Erinnerungen in mir, sooft ich auch versucht hatte, sie zur Ruhe zu bringen. Diese Erinnerungen schliefen niemals tief, wie kleine Vögel schreckten sie bei der leisesten Bewegung hoch und erhoben sich noch im selben Moment in die Luft, während ich tiefer und tiefer in Schwermut versank.
Erst wenige Monate waren vergangen, seit ich versucht hatte, meinen Freund Toby vor einem Mädchen namens Betty zu retten. Betty war durch und durch böse, Toby hingegen ein Mann am Ende seiner Kräfte, ein leichtes Ziel für ein Mädchen, das an seiner Treffsicherheit arbeitete. Von beiden sind heute nur noch die Narben da, die sie an mir hinterlassen haben. Neben solchen, die ich mir selbst zugefügt habe, weil ich helfen wollte.
Seit Tobys Tod war ich oft abgelenkt durch Gedankenspiele, die sehr viel wenn und hätte enthielten, und quälte mich mit Überlegungen, was ich hätte anders machen können. Ich vertraute mir selbst nicht mehr so, wie ich es einmal getan hatte. Das alles lastete schwer auf mir, vor allem, wenn ich durch den Wald lief, der einst Tobys Zuhause gewesen war.
Doch an diesem Tag erwartete mich Mrs. Taylor. Besen und Schrubber, Eimer und Wischmopp standen schon bereit, und ich freute mich auf eine Aufgabe, die mich bestimmt wieder erden, meinen Blick nach vorn richten würde. Dann würden auch meine Erinnerungen ihre Flügel zusammenfalten und sich zurückbegeben in die Nester, in die sie gehörten.
»Nun, Annabelle, wie war dein Sommer bisher?«, fragte Mrs. Taylor, während sie Staub und Ruß von den Fensterscheiben wischte.
Der Juni war ein seltsamer Monat: Die großen Ferien hatten begonnen, sodass ich auf einmal viele freie Stunden gehabt hätte, aber dafür fiel auf der Farm so viel Arbeit an, dass ich mehr als sonst zu tun hatte.
»Gut«, sagte ich und fegte weiter all das zusammen, was aus den Sohlen von Kinderstiefeln gefallen war, Grashälmchen und getrocknete Lehmbröckchen. »Es gab viel zu pflanzen. Und viele Erdbeeren zu pflücken.« Das musste ich ihr eigentlich nicht sagen. Fast alle Familien bei uns im Ort waren Farmer. Jeder wusste, was das mit sich brachte. »Aber ich bin ja gerne draußen.« Sie nickte.
Wir arbeiteten weiter in friedlichem Schweigen. Wie fremd das Schulhaus auf einmal wirkte ohne das Schnattern und Füßescharren der Kinder an ihren Pulten und die gedämpfte Stimme von Mrs. Taylor, die einer kleinen Gruppe nach der anderen etwas an der Tafel erklärte. Und ohne den Geruch, den warme Lunchtüten verströmten, den Duft von Fleischsandwiches, fettem Käse und gekochtem Ei.
Unser Schweigen wurde nur unterbrochen vom Quietschen des mit Essig getränkten Zeitungspapiers, mit dem Mrs. Taylor die Fenster putzte, und dem Wusch, wusch, wusch meines Besens. Und dann, ganz unerwartet, von einem Klopfen an der Tür.
Mrs. Taylor und ich sahen uns überrascht an.
»Wer um alles …?« Sie stieg von ihrer Trittleiter und ging mit schnellen Schritten zur Tür, um herauszufinden, wer da gekommen war und warum.
Ich folgte ihr mit etwas Abstand, aber doch so, dass ich den Mann auf der Türschwelle sehen konnte. Älter als zwanzig, aber noch keine dreißig, schätzte ich. Gesehen hatte ich ihn noch nie.
Man könnte ihn gut aussehend nennen, aber das traf es nicht. Schön war er.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Mrs. Taylor und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.
»Das will ich hoffen«, antwortete er mit einem Lächeln, das den Blick auf zwei Reihen gerader, weißer Zähne freigab.
Der Fremde hatte grüne Augen — meine Lieblingsfarbe, was Augen betraf — und einen adrett geschnittenen Schnauzer, aber keinen Kinnbart, was in unserer Gegend, wo die meisten Männer beides hatten, ungewöhnlich war. Er war breitschultrig, mit einem Brustkorb wie ein Holzfäller. Seiner Erscheinung nach war er allerdings eher ein Stadtmensch, mit sauberer, gepflegter Kleidung und mit geknöpften Manschetten. So trug mein Vater seine Hemden nur zum Kirchgang.
Das Wort Gentleman kam mir in den Kopf, doch seine Augen waren merkwürdig ausdruckslos, und so hatte ich einen vagen Verdacht, dass er nicht ganz das war, was er zu sein schien. Vielleicht war er im Krieg gewesen und suchte noch immer nach einem Weg zurück. Oder —
»Ich suche meinen Hund, Zeus«, sagte er, und ich entspannte mich.
Ich mochte Menschen, die Hunde mochten.
»Mein Name ist Graf. Aus Aliquippa. Vermutlich zu weit, als dass Zeus irgendwo hier auftauchen dürfte. Aber ich suche ihn schon seit fast einer Woche, da greift man vermutlich nach jedem Strohhalm.« Mit einer Hand machte er eine hilflose kleine Geste.
»Was für eine Rasse ist er?«, fragte ich.
»Ein Bullterrier. Braun. Mit einem weißen Fleck auf der Schulter.«
»Tut mir leid«, sagte Mrs. Taylor, »aber so einen Hund habe ich nirgends gesehen. Du vielleicht, Annabelle?«
Ich schüttelte den Kopf. »Hier laufen viele Hunde herum, aber so einer nicht. Daran würde ich mich erinnern.«
»Nun, wenn er auftauchen sollte, geben Sie mir bitte Bescheid.« Mr. Graf zog einen kleinen Zettel aus der Tasche und hielt ihn uns hin. »Hier ist meine Telefonnummer.«
Mrs. Taylor nahm den Zettel und schob ihn in ihre Schürzentasche. »Natürlich.«
Damit schien alles gesagt, und Mrs. Taylor zog die Augenbrauen hoch, als wollte sie sagen: Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?
Aber ich sah keinen Grund zur Eile. Mir war, als würde ich ein Bild oder einen Blumengarten anschauen, und ich hatte noch nicht genug davon.
»Ich werde auch meine Brüder bitten, die Augen offen zu halten, Mr. Graf«, sagte ich.
»Du kannst mich ruhig Drake nennen.« Er lächelte mich an, und ich fühlte mich schlagartig größer. Älter.
Ich wollte gerade antworten, doch Mrs. Taylor schnitt mir das Wort ab. Gleich fühlte ich mich wieder klein. »Wir melden uns bei Ihnen, falls wir Ihren Hund sehen sollten, Mr. Graf.«
»Gut.« Er zögerte. »Aber versuchen Sie besser nicht, ihn an die Leine zu nehmen. Zeus ist Fremden gegenüber zurückhaltend. Rufen Sie mich einfach an, falls er auftaucht.«
Ich machte mir meine Gedanken. Zurückhaltend, das konnte alles Mögliche bedeuten.
Und dann dieser Name, Zeus. Der Name eines griechischen Gottes. Ein Tier mit so einem Namen klang gefährlich.
Andererseits bekamen Hunde ihren Namen, wenn sie noch ganz klein waren, schwach und blind, also sagte der Name wahrscheinlich mehr über Mr. Graf aus als über seinen Hund.
»Noch etwas: Ich biete auch eine Belohnung. Zehn Dollar«, sagte er. Das war damals eine Menge Geld.
Warum wohl hatte er diesen Hinweis bis ganz zum Schluss aufbewahrt, fragte ich mich. Wie einen Keks.
Wenn wir seinen Hund schon gefunden und ihm das gesagt hätten, ohne von der Belohnung zu wissen, hätte er trotzdem bezahlt? Wohl kaum.
Aber dann hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich so misstrauisch war einem Mann gegenüber, der mir nichts getan hatte. Ich mochte es nicht, wenn jemand voreilige Schlüsse zog, und versuchte deshalb, es selbst auch nicht zu tun, obwohl es mir manchmal nicht leicht fiel, zu unterscheiden, wann man Vertrauen haben durfte und wann Zweifel angebracht waren.
»Eine Menge Geld«, sagte Mrs. Taylor mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Zeus ist auch eine Menge Hund«, entgegnete Mr. Graf und zeigte wieder sein strahlendes Lächeln.
Er grüßte, indem er zwei Finger an seinen Hut legte, und ich sah ihm nach, während er zu seinem Transporter zurückging. Er hatte am Rand des Schotterwegs geparkt, der durch die Wolfsschlucht führte und schließlich in die asphaltierte Straße mündete, auf der man in ferne Orte wie Aliquippa mit seinen Tankstellen, Coffeeshops, Friseursalons und allem anderen gelangte, was wir in unserer Gegend nicht hatten.
Verglichen mit solchen Orten war das Tal, in dem wir lebten, so etwas wie eine Wiege.
»Besuchen kannst du solche Orte, wann immer du möchtest«, sagte mein Vater gerne. »Solange du irgendwann wieder nach Hause kommst.«
Bisher hatte mir mein Zuhause völlig gereicht.
Doch als Mrs. Taylor und ich Mr. Graf in seinem Auto nachsahen, erwachte ein Teil von mir, der sehen wollte, was es sonst noch zu sehen gab.
»Er muss seinen Hund wirklich sehr lieben, dass er so weit durch die Gegend fährt«, sagte Mrs. Taylor. »Und dann noch so eine hohe Belohnung!«
»Das stimmt«, entgegnete ich. Und dann, kurz bevor sie die Tür wieder schloss, entdeckte ich auf der anderen Straßenseite, ein Stück unterhalb des Schulhauses und halb verborgen vom hohen Gras, einen Jungen, der uns beobachtete.
Obwohl die Bäume ihre Schatten auf die Straße warfen und der Junge seine Kappe tief in die Stirn gezogen hatte, erkannte ich ihn.
Andy Woodberry.
»Was macht der denn hier?«, sagte Mrs. Taylor, und ihr Tonfall verriet mir, dass sie die Stirn runzelte.
»Ich weiß es nicht. Wenn Schule ist, lässt er sich selten genug blicken, aber kaum sind große Ferien, steht er auf einmal da.«
Darauf antwortete Mrs. Taylor, indem sie die Tür schloss. Damit war für sie auch das Thema abgeschlossen.
Doch ich blieb noch ein Weilchen stehen und überlegte, was Andy wohl hergebracht haben könnte. Auf diesem Abschnitt der Straße gab es kaum etwas außer der Schule und, ein Stück weiter unten in Richtung Ebene, unser altes Kartoffelhaus, wo wir die Ernte lagerten, bis sie verkauft war. Noch ein Stück weiter lag die Farm der Woodberrys. Dort sollte Andy um diese Zeit eigentlich sein.
Aber Andy ging mich nichts mehr an. Ich war nicht seine Aufpasserin.
Also verriegelte ich die Tür und kehrte zu meiner Arbeit zurück. Mrs. Taylor machte sich laut Gedanken über Mr. Graf und seinen verschwundenen Hund. Beide hatten wir es auf einmal eilig, fertig zu werden und nach Hause zu kommen.
Ich nahm mir vor, den anderen beim Abendessen von Mr. Graf und Zeus zu erzählen, für den Fall, dass der Hund einem von ihnen über den Weg lief.
Die Belohnung zu kassieren wäre nett. Einen verlorenen Hund zu finden noch netter.
Während ich weiterfegte und Staub wischte, malte ich mir aus, wie ich Zeus retten würde. Wie ich ihn zu Mr. Graf zurückbringen würde. Wie gut sich das anfühlen würde: etwas richtig zu machen. Keine Fehler. Kein hätte, hätte.
In dem Moment hörte ich das erste Donnergrollen in der Ferne.
»War das Donner?«, fragte Mrs. Taylor und spähte durchs Fenster. »Wir könnten Regen gut brauchen.«
Ich stellte mich neben sie und schaute in den immer noch blauen Himmel hinaus.
»Ich sollte wohl zusehen, dass ich nach Hause komme«, sagte ich, als der nächste Donner zu hören war. Der grummelte zwar immer noch so leise wie umherrollende Kiesel in einem Blecheimer, kam aber anscheinend rasch näher. »Bevor das Gewitter bei uns ist.«
Mrs. Taylor sah mich nachdenklich an. »Meinst du, du kommst zurecht?«
»Ich muss rennen«, sagte ich, »aber ich bin sicher, dass ich es rechtzeitig bis nach Hause schaffe.«
Ich hatte nicht damit gerechnet, wie schnell dieses Gewitter war und wie locker es die Entfernung zwischen uns überbrücken konnte.
Als ich die Wolfsschlucht verließ, war dort, wo auch der Wald endet, das Gewitter inzwischen in seinen großen schwarzen Stiefeln von Westen herangestampft, zähneknirschend und sich heiser brüllend, und ich wusste, ich hätte über die hell aufblitzenden Warnungen des Silberahorns nicht hinwegsehen dürfen, genauso wenig wie über den Wind, der plötzlich so kalt auf meine nackten Arme traf.
Doch ich hatte beides ignoriert, und nun stand ich da, völlig unvorbereitet, nicht einmal eine Mütze hatte ich auf dem Kopf.
Ich kannte mich aus mit Gewittern. Ich wusste, dass man nicht unter einem Baum stehen soll. Ich wusste, dass ich mich von allem Metallenen und allem, was hoch aufragte, fernhalten sollte. Ich wusste, dass ich, wenn ich den Donner hören konnte, auch in Reichweite der Blitze war.
Andererseits war ich doch schon fast zu Hause. Nur gab es bis dahin nichts zum Unterstellen, und der Gedanke, mich flach auf den Boden zu werfen, um das Schlimmste abzuwarten, schien mir lächerlich. Also rannte ich weiter, doch im selben Moment zog der Sturm eine Faust voll kalter, nasser Murmeln hervor und schleuderte sie mir ins Gesicht.
Sofort war ich klatschnass, schwer hing der Regen in meinen Kleidern, und ich war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Schutz unter den Bäumen zu suchen, und dem Wissen, dass ich zu ihnen Abstand halten sollte. Letztlich waren es die Blitze, die den Ausschlag für »Rennen!« gaben, obwohl ich mich jedes Mal am Boden zusammenkauerte, wenn ein greller Blitz über den Himmel zuckte — als ob das Gewitter Fotos von mir machte —, und dann wieder weiterrannte, so schnell ich konnte.
Als ich die Hügelkuppe mit der Abzweigung zu unserem Haus erreichte, blieb ich kurz stehen, schockiert vom Anblick der heftig hin und her schwankenden Hemlocktannen rechts und links vom Weg. Als wollten sie sich mitsamt ihren Wurzeln aus der Erde zerren und wegrennen.
Starr vor Furcht stand ich noch da, als plötzlich die Luft um mich herum zu zischen begann. Es war, als wäre ich mitten in einen Wespensturm getaucht worden.
In Sekundenschnelle stachen all diese Wespen gleichzeitig zu, in jedem Zoll meines Körpers, innen wie außen, und alles, was ich spürte, waren der glühende Schmerz in meinem Kopf, das Gefühl einer schrecklichen Hitze, eine klaffende Leere in meiner Brust und das Gefühl, dass etwas zu Ende ging.
Jemand brachte mich wieder in Gang.
Von einem dunklen, fernen Ort aus fühlte ich, wie jemand auf meine Brust trommelte, wieder und wieder, und ich musste an meine Mutter denken, wie sie auf die großen weißen Hefeteigklumpen einschlägt. In der Hoffnung, sie vor mir zu sehen, schlug ich die Augen auf, fand mich aber in einer seltsamen, unfassbar dunklen Nacht wieder, so als wären die Sterne alle in meinem Kopf.
Die Schläge hörten auf.
Eine raue Hand lag an meiner Wange.
Plötzlich spürte ich kalten Regen, obwohl der mit Sicherheit schon die ganze Zeit gefallen war. Spürte tiefes, verstörendes Donnergrollen in jedem einzelnen meiner Knochen.
Dann glitt ich wieder davon.
Als ich aufwachte, wurde ich getragen.
Nicht sanft, sondern im Sturmschritt. Ich konnte immer noch nichts sehen, meine Gedanken waren verklumpt mit Lehm und altem Stroh, was sich beides besser für ein Schwalbennest geeignet hätte als für den Kopf eines Mädchens.
Doch ich konnte den Regen riechen wie nie zuvor: sowohl seine klaren Anteile als auch die trüben. Wie eine Mischung aus heißem Metall, frisch gepflügter Erde und Brunnenschlamm.
Dann war ich im Haus. Unserem Haus. Ich erkannte es am Geruch von Bleiche und Brot, aber zum ersten Mal konnte ich auch anderes riechen: den weißen Kalk, der sich um den Wasserhahn herum am Spülbecken ablagerte, den unbestimmten, fauligen Geruch des Gasherdes und insbesondere die zerrissenen Kohlblätter und den Kaffeesatz im Komposteimer.
Und ich erkannte es am Geruch seiner Bewohner. Der typische Schweißgeruch, der zum Ende des Tages gehörte. Etwas Süßliches, das mich an meine jüngeren Brüder denken ließ, unsere allabendlichen Dreckspatzen. Etwas Säuerliches — vielleicht der Geruch meiner kranken Großmutter.
Was geschieht mit mir?, dachte ich, als ich meine Mutter sagen hörte: »Leg sie hierher«, mit einer vor Furcht brüchigen Stimme.
Ich wollte ihr sagen, dass alles in Ordnung war, aber meine eigene Stimme versuchte erst noch, den Weg zurückzufinden.
»Was ist mit ihr?«, fragte meine Großmutter. Sie hörte sich an, als hätte sie geweint, und sofort schnürte sich auch mir der Hals zu, und ich musste husten, was bei meiner Tante Lily sofort ein Stoßgebet auslöste, das wie ein Bellen klang.
Ich wusste, ich lag auf dem großen Eichentisch in unserer Küche. Dort hatte man mich schon einmal hingelegt, nachdem ich in ein Nest von Gelbwespen gefallen war. Damals hatte meine Mutter nasses Backsoda auf die Wespenstiche gestreut, bis ich aussah wie ein junges Rehkitz.
Selbst über den Donner hinweg hörte ich die Schreie meines kleinen Bruders James: »Annabelle!«, rief er immer wieder. »Annabelle, wach auf!«
Das war der Moment, in dem ich wieder anfing zu sehen.
Erst war da nur ein bisschen Licht, doch dann tauchten immer schneller vor mir die Menschen auf, ihre Umrisse, ihre Farben, ihre Gesichter. Wie sie so um den Tisch herumstanden und auf mich herabschauten, erinnerten sie an Blumen, die die Köpfe hängen lassen.
Nach und nach kehrte meine Sehfähigkeit zurück, und ich sah wieder alles zunehmend scharf … sogar schärfer als zuvor. Farben waren leuchtender, und Kanten zeichneten sich hart ab im Licht.
Meine Mutter, die sich über mich beugte, muss dasselbe Licht in meinen Augen gesehen haben. »Da bist du ja wieder«, murmelte sie und versuchte ein Lächeln. Ihre Hand lag auf meiner Wange, was mich auf die Hügelkuppe zurückbrachte. Zurück zu der Erinnerung an jene andere, rauere Hand.
Sie schloss die Augen und atmete tief aus.
»Der Blitz kann sie nur gestreift haben«, sagte mein Vater, der mir mit den Fingern den Puls fühlte. »Das Herz schlägt gut und kräftig.«
»Aber sieh dir das an!« Meine Mutter hob meinen rechten Arm, und ich sah ein Gewirr von roten Brandwunden, das sich auf meiner Haut ausbreitete wie Blitzranken. »Gütiger Gott.« Sanft legte sie meinen Arm zurück.
»Ich habe bei Doktor Peck angerufen«, sagte mein Vater und strich mir die Haare aus der Stirn, »doch seine Frau hat gesagt, er ist in Coraopolis und hilft einem Baby auf die Welt.« Er beugte sich tiefer über mich. »Kannst du mich hören, Annabelle?«
Ich nickte. Viel zu gut konnte ich ihn hören, es war, als ob er mir ins Ohr brüllte, doch das tat er gar nicht.
Mein Vater fühlte mir noch einmal den Puls. »Kannst du dich aufsetzen?« Mit einiger Mühe schaffte ich das.
»Dann warten wir eben, bis er kommt.« Mein Vater bemühte sich, ein Lächeln aufzusetzen. »Er macht dich schon wieder gesund. Dann bist du so gut wie neu.«
»Das wäre alles nicht nötig, wenn du gar nicht erst bei Gewitter draußen herumgelaufen wärst, Annabelle«, sagte Tante Lily, und ich hätte ihr am liebsten eine gescheuert. »Ich hätte dich für vernünftiger gehalten.«
Aber man lernt oft erst aus seinen Fehlern.
Das war eine Lektion, die ich schon mehr als einmal in meinem Leben gelernt hatte.
Ich nahm an, dies war wieder so eine, aber ich ahnte noch nicht, welche anderen Fehler kommen würden oder auf welch andere Art ich klug werden würde.
Mit zehn hatte ich schon einmal einen elektrischen Schlag bekommen. Damals hatte ich meinem Vater bei Elektroarbeiten geholfen, und auf einem vermeintlich toten Kabel war noch Spannung gewesen. Nie hatte ich vergessen, wie es sich anfühlte, als der Strom durch meinen Arm lief. Dieses warme, metallische Summen in meinen Adern. Dieser Geschmack von Kupfer auf meiner Zunge.
Mein Vater hatte mich mit der Schulter weggestoßen.
»Einen Menschen, der einen Stromschlag bekommen hat, darfst du niemals mit der Hand anfassen«, erklärte er mir später. »Der Schlag wandert weiter, und dann packst du so fest zu, dass du nicht mehr loslassen kannst. Nimm immer etwas aus Holz, um die Spannung zwischen euch zu unterbrechen. Bloß keinen Gegenstand aus Metall. Oder, wenn du gar nichts anderes hast als deinen Körper, um den anderen von der Stromquelle wegzubekommen, dann nimm immer einen Teil, mit dem du nicht zupacken kannst.«
»Wie zum Beispiel deine Schulter.« Ich rieb über die Stelle, gegen die er gestoßen hatte.
»Oder eine Faust.« Ich weiß noch, wie seltsam ich das damals fand: jemanden zu boxen, um ihm zu helfen.
Als ich abends im Bett lag und versuchte, den weiten Weg von dort zurückzukommen, wo ich gewesen war, während meine Mutter neben mir in einem Schaukelstuhl döste, begriff ich, dass mich dieses Mal jemand gerettet hatte, indem er auf mein Herz einschlug, bis es wieder aufwachte.
Am nächsten Morgen, als sie mir beim Anziehen half, entdeckte meine Mutter die blauen Flecken auf meiner Brust. Hässliche, blau und grün schillernde Blutergüsse, und doch kein Vergleich mit den roten Verbrennungsmalen, die sich wie Farnspitzen an meinem Arm ausbreiteten.
»Was sind das für Blutergüsse?«, fragte sie mich mit weit aufgerissenen Augen. »Annabelle, wer war das?«
Doch ich konnte nicht antworten. Die Worte warteten, aber sie hatten es nicht eilig.
Ich sah meine Mutter an und versuchte, in dem Durcheinander in meinem Kopf einen Sinn zu finden. Versuchte, mich selbst endlich vollständig wach zu bekommen.
Doch während der Rest der Welt schon wieder im üblichen schnellen Schritt unterwegs war, lebte ich in Zeitlupe, so als wäre ich verprügelt worden und immer noch völlig benommen.
Nur meine Sinne waren hellwach. Ich konnte alles riechen, angefangen bei der Kernseife, mit der meine Mutter versuchte, die Flecken von meiner mit Brandspuren übersäten Bluse zu entfernen, die über dem Fußende meines Bettes hing, hörte jeden Schritt im Haus, hörte meine Großmutter unten in der Küche vor sich hin summen und das Pfeifen eines Güterzugs in der Ferne, obwohl die nächsten Gleise meilenweit entfernt waren. Und ich spürte die leiseste Berührung, empfand die Nähte meiner Kleidung wie winzige Ketten auf meiner Haut.
Ich fühlte mich wie in einem Kaleidoskop voller leuchtend bunter Puzzleteile, war fasziniert und alarmiert zugleich von dem, was da mit mir geschah.
»Annabelle?« Das Gesicht meiner Mutter verzog sich in Sorge um mich. »Hast du mich gehört? Weißt du, woher du diese Blutergüsse hast?«
Als ich immer noch nicht antwortete, nahm sie mich in die Arme und küsste mich auf den Kopf. »Schon gut«, murmelte sie. »Das findet sich alles. Ruh du dich erst mal aus.«
Sie half mir, die seltsam verfilzten Knoten aus meinen Haaren zu bürsten, dann nahm sie mich an die Hand und ging langsam mit mir die Treppe hinunter in die Küche.
»Na, da ist ja unser Mädchen«, sagte Großpapa von seinem Stammplatz am Küchentisch aus. Er lächelte mich an, aber ich sah die Sorge in seinen Augen.
Großmama stellte ihre Kaffeetasse ab und streckte einen Arm nach mir aus. »Komm her, mein Kind, lass dich anschauen.« Sie hatte ein schwaches Herz und schaffte nur noch kurze Wege von Stuhl zu Stuhl, sonst wäre sie eilig zu mir gekommen, hätte mich in ihre molligen Arme geschlossen und ihre weiche Wange an meine gedrückt.
Nun zog sie mich an sich und murmelte »Danke« in meine Rippen, aber ich wusste, sie meinte nicht mich.
»Wetten, dass Annabelle jetzt Superkräfte hat«, sagte James. »Vielleicht kann sie Blitze aus ihren Fingern abschießen.«
Mein anderer Bruder, Henry, der ein paar Jahre älter war als James, lachte herablassend. »Warum sollte sie Blitze aus ihren Fingern schießen wollen?«
»Was für eine dumme Frage«, sagte James.
»Was für ein dummer Junge«, entgegnete Henry. »Deine eigenen Superkräfte scheinen nur Quatsch aus deinem Mund zu schießen.«
»Jungs«, sagte mein Vater streng, aber ich sah, dass er sich ein Lächeln verkneifen musste.
Ich hätte selbst auch gelächelt, aber ich war zu weit weg, steckte zu tief in meiner eigenen Haut. Trotzdem bemerkte ich mit Interesse, dass Henry während des Frühstücks eigenartig düster, fast grimmig schien.
Die Erklärung dafür erhielt ich von Großpapa. »Immer noch keine Spur von Buster?«, fragte er Henry. Der schüttelte nur den Kopf.
Buster war Henrys Hund. Schwer misshandelt war das Tier zwei Monate zuvor bei uns aufgetaucht, am Ostermorgen, als niemand mehr vom Tag erwartete als den Kirchgang und ein Mittagessen mit Schinken und Kartoffelgratin, Apfelmus mit Zimt, Buttermilchbrötchen frisch aus dem Ofen und dem ersten Spargel, der nach Frühling schmeckte.
Es hatte immer wieder Hunde auf unserer Farm gegeben, und wir hatten sie alle gerngehabt, aber Buster war etwas Besonderes, vor allem für Henry. Vom ersten Tag an waren die beiden unzertrennlich, wie allerbeste Freunde es nun mal sind. Wo der eine war, war der andere nicht weit, selbst an Schultagen. Wie ein schlappohriger Wächter saß er vor dem Schulhaus und wartete, bis Henry wieder herauskam. Er schlief am Fußende von Henrys Bett — trotz Tante Lilys Protesten, von denen die meisten mit Lehm, Flöhen und Gesabber zu tun hatten (obwohl Buster für einen Hofhund bemerkenswert reinlich war).
Doch jetzt schien er auf einmal verschwunden, genau wie Zeus, der Hund von Mr. Graf. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, was das eine mit dem anderen zu tun haben sollte.
Ich hätte gern gefragt, was mit Buster war, aber die Frage blieb in meinem Kopf stecken. Bei einem Blick in mein Gesicht seufzte Henry. »Er war auch draußen beim Gewitter, ich versteh nur nicht, wieso, sonst ist er doch so ein Schisser, wenn es donnert.«
Wie die meisten Hunde verkroch er sich bei Gewitter und Gewehrschüssen. Und bei Feuerwerk, obwohl es das bei uns nur einmal im Jahr gab.
»Ich bin mit Dad nach Ambridge gefahren, um ein paar Spankörbe zu holen«, sagte Henry verbittert. »Als wir zurückkamen, war Buster weg. Ich hätte ihn mitnehmen sollen.«
Ich betrachtete Henry, seinen gesenkten Kopf, die hängenden Schultern.
Mit Reue hatte ich so meine Erfahrung. Wie oft hatte ich mir schon selbst gewünscht, ich hätte etwas getan oder gelassen, und ich wusste, es würde noch öfter passieren.
War bereits passiert.
Zum Beispiel meine Entscheidung, schneller sein zu wollen als ein Gewitter.
»Iss schnell.« Meine Mutter stellte mein Frühstück vor mich. »Doktor Peck kann jeden Moment hier sein.«
Ich hoffte, er würde in der Lage sein zu lösen, was sich festgesetzt hatte.
Meine Stimme vor allem. Aber auch Fragen.
Am lautesten diese: Wer hatte mich zurück ins Leben geholt?
Und warum waren sie nicht bei mir geblieben, um es mir zu sagen?
»Während der nächsten Tage wird sie noch benommen sein und ein bisschen neben sich stehen, aber sie wird wieder sprechen«, sagte Doktor Peck, als wir bald darauf in meinem Zimmer saßen, ich auf meinem Bett, er auf einem Stuhl daneben. Meine Eltern standen. »Da bin ich mir ganz sicher. Wenn sie so weit ist. Mit ihren Stimmbändern ist alles in Ordnung.« Ich hatte nämlich einen Laut von mir gegeben, als Doktor Peck mir mit einer Nadel in den Fuß gestochen hatte. »Auch nicht mit ihrem Gehör«, denn ich hatte seine Fragen mit einem Nicken oder einem Kopfschütteln beantwortet. »Oder ihren Augen«, denn ich hatte Doktor Pecks Finger, der sich hin und her bewegte, hinterhergesehen. »Einige Schaltkreise im zentralen Nervensystem sind ein bisschen durcheinandergeraten.« Er schien etwas besorgt. »Aber das passiert oft, wenn jemand vom Blitz getroffen wird. Wir müssen abwarten, wie sich das entwickelt.«
Ich wusste wenig über Schaltungen im Menschen, aber genug, um die Frage zu stellen, die mir die meisten Sorgen machte. »Besteht mein Gehirn nicht aus lauter Schaltkreisen?«
Und da war ich wieder. Zurück. Von jetzt auf gleich. Neugier war anscheinend auch ein mächtiger Antrieb.
Meine Mutter brach in Tränen aus. Mein Vater schmunzelte.
»Nun, da bin ich aber erleichtert«, sagte der Arzt. Dabei war er sich doch »ganz sicher« gewesen, dass ich wieder sprechen würde.
Ich räusperte mich und stellte meine Frage noch einmal. »Mrs. Taylor hat gesagt, dass wir über Strom funktionieren, wie Radios.«
Doktor Peck antwortete mit einem Stirnrunzeln und einem Kopfschütteln. »Nun ja, Annabelle, im Großen und Ganzen stimmt das schon. Wir stehen von Kopf bis Fuß unter Strom. Zum Glück ist der menschliche Körper so ein wundersames Ding. Ganz besonders der Kinderkörper. Er kann so viele Dinge reparieren, die Probleme machen. Wie du selbst gerade bewiesen hast.«
»Was sind das für Verbrennungen an ihrem Arm?«, fragte meine Mutter, während sie ihre Tränen trocknete.
»Das sind Lichtenberg-Figuren. Keraunoparalyse. Blitzblumen. So viele Namen für etwas so Einfaches und zugleich so Ungewöhnliches.« Er nahm meinen Arm und betrachtete die Brandmarkierungen genau. »Die werden mit der Zeit verblassen.« Dann sah er mir noch einmal aufmerksam in die Augen. »Bedenklicher sind mögliche tiefere Verbrennungen. An den Muskeln oder irgendwelchen Organen. Aber auf mich machst du einen gesunden Eindruck, Annabelle. Es sei denn, da ist noch etwas, was du mir nicht erzählt hast.«
»Nur, dass alles lauter ist als vorher«, sagte ich langsam. »Und heller. Alles riecht und schmeckt kräftiger.«
»Hmm. Nun, mehr ist auf jeden Fall besser als weniger. Also, wenn das alles ist, was dir aufgefallen ist, dann würde ich sagen, du hast großes Glück gehabt, Annabelle. Der Blitz hat dich nur gerade eben gestreift, sonst wärst du jetzt im Krankenhaus und hättest Monate vor dir, bis du wieder gesund wärst. Vielleicht sogar Jahre.«
»Oh!«, sagte meine Mutter plötzlich. »Deine blauen Flecken, Annabelle. Die hätte ich ja fast vergessen.«
Ich zog mein Unterhemd ein Stück herunter, um Doktor Peck die schwarzen und blauen Flecken zu zeigen.
»Das war aber nicht der Blitz«, sagte er und sah mir aufmerksam ins Gesicht.
Ich schaute zu meinen Eltern hinüber, dann wieder zum Arzt. »Der Blitz hat mich umgeworfen, und ich war bewusstlos. Als ich wieder aufwachte, hat jemand auf meine Brust eingehämmert. Er hat aufgehört, als ich die Augen aufmachte.«
Alle drei starrten mich an. »Er?«, wiederholte mein Vater.
Ich dachte darüber nach. »Ich weiß nicht. Vielleicht auch eine Sie. Aber ich fühlte eine Hand auf meiner Wange, und die war rau. So wie deine«, sagte ich zu meinem Vater. »Deshalb dachte ich, es müsse ein Er sein. Erst dachte ich, du seist es, aber so war’s nicht.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin dich suchen gegangen, als wir aus Ambridge zurückkamen, und hab dich oben auf der Hügelkuppe liegen sehen.« Bei der Erinnerung wurde er blass. »Im ersten Moment war mir nicht klar, dass du vom Blitz getroffen warst.«
»Und von etwas anderem auch«, sagte der Arzt. »Von jemand anderem. Aber auf gute Weise.« Er atmete tief durch die Nase aus. »Dieser Jemand hat vermutlich dein Herz wieder zum Schlagen gebracht. Dir das Leben gerettet.«
Ich schluckte. »Das heißt, ich war nicht einfach bewusstlos?«
Er zuckte mit den Schultern. »So ein Blitzschlag richtet vielleicht sonst keine größeren Schäden an, aber ein Herz kann er ganz leicht zum Stillstand bringen. Das muss dann erst wieder in Gang gebracht werden.«
Bevor er uns verließ, bat der Arzt meine Mutter noch, mich in ein, zwei Tagen für eine weitere Untersuchung zu ihm in die Praxis zu bringen. »Um ganz sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist.«
Nach dieser Bemerkung war ich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, mich mit seinem »alles in Ordnung« zufriedenzugeben, und dem wachsenden Hunger, mehr über all das zu erfahren, was neu an mir war.
Mein Kampf gegen Betty und der Verlust von Toby, aus beidem hatte ich gelernt, dass nichts bleibt, wie es ist. Und nun hatte das Gewitter dasselbe erneut bewiesen. Von einem Augenblick auf den anderen war meine Welt auf den Kopf gestellt, doch dieses Mal wollte ich mehr wissen über die Veränderungen in mir. Ein bisschen ängstlich war ich schon, vor allem aber gespannt auf eine Erklärung für dieses andauernde Sirren und Zischen in mir, das sich so anfühlte, als wäre der Blitz noch immer in mir.
Es fühlte sich so an, als hätte ich die Chance bekommen, stärker zu werden. Klüger.
Der Versuch, Toby zu retten, war meine bislang beste Tat gewesen, doch die Lügen, die ich dabei gebraucht hatte, waren meine schlimmsten Fehler und der Grund für das ständige Was-wäre-wenn, das mich tagein, tagaus verfolgte.
Wenn das mit dem Blitz schon vorher passiert wäre, vielleicht hätte ich dann mehr gewusst, mehr verstanden.
Vielleicht hätte ich ihn retten können.
Es war seltsam, wie erleichtert alle mit einem Mal wirkten, sobald ich wieder sprechen konnte. So als ob der Klang meiner Stimme — das, was aus mir herauskam — eine wichtigere Brücke zwischen uns bildete als das, was ich aufnahm: was ich sehen, riechen, fühlen oder hören konnte.
Wäre ich eine Schiffbrüchige gewesen oder eine Einsiedlerin, dann wäre das mit der Stimme vielleicht nicht so wichtig gewesen, auch wenn ich bestimmt Wichtiges zu sagen gehabt hätte, ganz gleich, ob jemand es hörte oder nicht.
Solcherart waren die Gedanken, die mich den ganzen ersten Morgen über beschäftigten, nachdem ich vom Blitz getroffen wurde.
Henry riss mich aus meinen Grübeleien und lenkte meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes.
»Ich hab die ganze Gegend abgesucht, gerufen und gerufen«, sagte Henry, als er zu uns in die Obstgärten kam, wo mein Vater und Großpapa dabei waren, die Pfirsichbäume auszudünnen, und ich hinter ihnen her aufräumte. »Ich habe in jeden Hühnerstall geschaut, in jede Räucherhütte, in jede Scheune zwischen hier und der Kirche. Aber kein Buster, nirgends.«
»Der ist ja auch kein Huhn«, sagte James, der selbst in einem Unkrautnest saß wie eine Henne in einem Hut. »Auch kein Schinken. Und keine Kuh. Warum sollte er dann irgendwo anders sein als hier bei uns?«
Das konnten wir ihm auch nicht sagen.
Wenn Buster könnte, wäre er hier bei uns.
Aber das bedeutete, dass er verletzt war oder entführt oder Schlimmeres.
Großpapa schüttelte den Kopf. »Der kommt schon wieder. Hunde gehen manchmal auf Wanderschaft und kommen erst wieder zurück, wenn sie fertig sind. Ich kann nicht mehr zählen, wie viele Hunde im Laufe der Jahre auf dieser Farm aufgetaucht sind, aus dem Nichts sozusagen. Und wie viele wieder verschwunden sind. Vergiss nicht, Henry: als Buster an Ostern herkam, da war er auch auf Wanderschaft.«
Das war ein ganz neuer Gedanke für Henry, und er sah uns traurig an. »Du glaubst, er ist wieder losgezogen, in der Hoffnung auf ein besseres Zuhause?«
»Ein besseres als hier findet er nicht. Kein besseres als bei dir«, erwiderte Großpapa.
»Gestern in der Schule, da war ein Mann, ein Mr. Graf. Aus Aliquippa.« Plötzlich war es mir wieder eingefallen. »Er suchte nach seinem verschwundenen Bullterrier. Braun mit einem weißen Fleck auf der Schulter.«
»Und da suchte Mr. Graf hier nach ihm?«, fragte mein Vater. »Selbst Luftlinie ist Aliquippa meilenweit entfernt.«
Großpapa zuckte mit den Schultern. »Wie ich schon sagte, Hunde gehen manchmal auf Wanderschaft.«
»Falls jemand ihn sieht, Mrs. Taylor hat seine Telefonnummer.«
»Ein Hund mit Telefon? Das habe ich ja noch nie gehört«, sagte James.
»Mr. Grafs Telefon.« Ich warf einen Zweig nach ihm. »Und er hat zehn Dollar als Belohnung ausgesetzt.«
»Zehn Dollar!«, quiekte James und riss die Augen weit auf. »Das reicht ja für …«
»… Schuhe für euch alle drei«, sagte mein Vater.
»Ach, Menno, Schuhe.« James ließ den Kopf traurig sinken. »Immer bloß Schuhe.«
»Nun, zuerst musst du den Hund finden, was sicher nicht einfach wird, obwohl dieser wohl leichter zu erkennen ist als andere«, sagte Großpapa. »Praktisch, so ein weißer Fleck auf der Schulter, da weiß jeder sofort, wer du bist.«
In einer Hand hielt er einen langen Stock mit einem Überzug aus schwarzem Gummi; damit pflückte er einige der kleinsten Pfirsiche vom Baum, einen nach dem anderen. Nicht viele. Manche Farmer dünnten ihre Pfirsichbäume zur Hälfte aus, damit die Früchte, die am Baum blieben, so groß wie Bälle wurden. Aber wir fanden nicht, dass größere Früchte unbedingt besser schmeckten.
In Jahren, in denen die Knospen nicht im Frost erfroren waren, dünnten wir gerade so viele Pfirsiche aus, wie nötig war, um den Ästen die Last zu erleichtern — vom Gewicht einer vollen Ernte konnten sie leicht abbrechen. Die meisten jedoch ließen wir in der Sonne weiterwachsen, den guten Regen trinken und heranreifen zu den besten, schönsten, köstlichsten Pfirsichen im Land, wenn nicht auf der ganzen Welt. So saftig waren sie, dass ich mich, um keine Flecken auf meine Bluse zu bekommen, weit vornüberbeugen musste, wenn ich einen aß. Außerdem kam mir eine Verbeugung vor so köstlichen Pfirsichen wie unseren durchaus angemessen vor.
So früh in der Saison waren die Früchte noch klein, grün und hart wie Murmeln, trotzdem nahm ich überall um mich herum ihren strengen, säuerlichen Geruch wahr, der erst mit viel Sonne, Regen und Glück süß werden würde.
Ich hörte das Sirren und Summen der Bienen, die im Kleefeld weit hinten im Obstgarten umherschwirrten.
Ich spürte das heiße Sonnenlicht auf meiner Haut: Schwerer als sonst fühlte es sich an, wie ein leuchtend bunter Schal auf meinen Schultern.
Ich war froh über diese starken Gefühle, weil sie die Schwermut der vergangenen Monate aufhellten, aber gleichzeitig war ich versucht, mich darin zu verstecken, alles andere sich selbst zu überlassen und in dieser neuen Hülle zu bleiben, die jetzt zu mir gehörte.
Die aber nicht alles ausmachte, was ich war.
Ich legte einen weiteren Ast auf den Haufen, den ich schon angesammelt hatte. »Ich helfe dir bei der Suche nach Buster, Henry.«
»Aber vielleicht nicht gleich«, sagte mein Vater, während er seinen eigenen Stock hoch in den Baum reckte. »Eigentlich solltest du dich ausruhen, und James sollte das Holz einsammeln.«
Doch bevor ich antworten konnte, bevor ich ihm sagen konnte, dass es keine bessere Medizin für mich gäbe, als dabei mitzuhelfen, Buster zu finden, tauchte auf einmal Pfad Hunter auf, eine ruhige, träge Promenadenmischung, benannt nach seiner überraschenden Fähigkeit, Murmeltiere zu fangen. Er lebte meistens draußen, leistete uns aber gerne bei der Arbeit Gesellschaft. Nun ließ er sich neben James ins Gras fallen, grinste mich an und ließ seine Zunge zwischen den spitzen weißen Zähnen heraushängen.
Während ich ihm mit den Fingern durchs Fell strich, sodass Staub daraus aufstieg wie ein kleiner brauner Sandsturm, fühlte ich mich mit einem Mal ruhiger. Glücklicher.
Fort war die dunkle Sorgenhülle, die ich so lange überall mit mir herumgetragen hatte: der Krieg, der in der ganzen Welt tobte und kein Ende zu nehmen schien, das Herz meiner Großmutter, das tickend die Stunden bis zu ihrem Ende zählte, der nicht weggehende Schmerz, den Betty und das von ihr angerichtete schreckliche Unheil hinterlassen hatten.
Die ganze Welt kam mir auf einmal verändert vor. So als hätten die Bäume plötzlich entschieden, dass ihnen die Farbe Grün nicht länger gefiel. Als ob ich, so wie Alice, ein Wunderland betreten hätte, in dem ich, anders als Alice, größer war als je zuvor. Ein ganz neues Mädchen.
Ich wurde still, saß nur da mit großen Augen und wartete auf eine Erklärung. Schaute die anderen an, einen nach dem anderen, doch sie schienen dieselben wie immer, gingen gleichmäßig ihrer Arbeit nach. Und dann ging mein Blick wieder zurück zu Hunter, der mich immer noch grinsend ansah.
Der Hund war es.
Er war der Grund, warum ich mich so fühlte. So friedlich. So sicher. Wie ein Stein in der Sonne: solide und in sich ruhend. All meine Gedanken waren rund und heil, ohne Ecken und Kanten.
So hatte ich mich seit einer ganzen Weile nicht mehr gefühlt.
Wie ist das möglich?, überlegte ich, staunend wie ein Küken, das gerade aus dem Ei geschlüpft ist.
Wie Zauberei fühlte es sich an. Umso mehr, als es mir geschah: einem ganz gewöhnlichen Mädchen an einem ganz gewöhnlichen Ort.
»So fühlst du dich immer?«, flüsterte ich und sah Hunter tief in die Augen.
»Wie soll ich mich immer fühlen?«, fragte James, der dabei war, dem Hund eine Ranke um den Schwanz zu wickeln.
»Ich meinte nicht dich«, sagte ich, ohne den Blick von Hunter zu lösen.
Als ich aufsah, merkte ich, dass Henry mich verwundert beobachtete.
»Geht’s dir gut, Annabelle?«
»Besser als gut«, sagte ich. »Ich glaube, ich —«
Doch dann sah Henry an mir vorbei, und als ich mich ebenfalls umdrehte, sah ich, wie sich auf der Straße, umgeben von einer Staubwolke, ein Auto näherte und am Rand unseres Obstgartens parkte.
Es war Constable Oleska, unser Polizist, der jetzt ausstieg und zwischen den Bäumen hindurch auf uns zukam.
Hunter stand auf, um sich ein paar Bäume weiter weg ein neues Nest zu suchen, und schon fühlte ich mich wieder unsicher, verwirrt, voller Ecken und Kanten. Wieder einmal abgelenkt durch die Alltagswelt, zu der auch Constable Oleska gehörte.
»Oh, oh«, sagte James und versteckte sich hinter meinem Vater.
»Was hast du angestellt, James?«, fragte Henry.
»Nichts.« Trotzdem blieb er erst einmal hinter meinem Vater stehen, während der Polizist näher kam.
Und ich steckte meinen neu gewonnenen Sinn zu den anderen, wie eine Blume in einen Strauß, bis ich sehen würde, ob er nur eine Taglilie war, die kurz aufblüht und schon bald wieder vergeht. Oder etwas, das Wurzeln treiben und bleiben könnte.