Echo Mountain - Lauren Wolk - E-Book
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Echo Mountain E-Book

Lauren Wolk

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Beschreibung

Inmitten der wilden Schönheit der Natur lernt Ellie, gegen alle Widerstände auf sich selbst zu vertrauen. Lauren Wolk über ein mutiges Mädchen

Ellie liebt das Leben am Echo Mountain. Zwischen Balsamtannen, Wildbienen und Bergbächen finden sie und ihre Familie ein Zuhause, müssen dafür aber auch hart arbeiten. Als ein schrecklicher Unfall geschieht und der Vater ins Koma fällt, begibt sich Ellie auf die Suche nach einer Heilmethode. Eine Suche, die die Geschichten des Berges und seiner Bewohner zum Vorschein bringt und die sie bis zur alten Cate führt. Diese ist bekannt für ihr Heilwissen, benötigt aber selbst dringend Hilfe. Mit Mut und Beharrlichkeit versucht Ellie, die Menschen zu retten, die ihr am meisten bedeuten, und lernt, gegen alle Widerstände auf sich selbst und ihre Intuition zu vertrauen.

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Über das Buch

Frei und inmitten der wilden Schönheit der Natur — Ellie liebt das Leben am Echo Mountain. Zwischen Balsamtannen, Wildbienen und Bergbächen finden sie und ihre Familie ein Zuhause, müssen dafür aber auch hart arbeiten. Als ein schrecklicher Unfall geschieht und der Vater ins Koma fällt, begibt sich Ellie auf die Suche nach einer Heilmethode. Eine Suche, die die Geschichten des Berges und seiner Bewohner zum Vorschein bringt und die sie bis zur alten Cate führt. Diese ist bekannt für ihr Heilwissen, benötigt aber selbst dringend Hilfe. Mit Mut und Beharrlichkeit versucht Ellie, die Menschen zu retten, die ihr am meisten bedeuten, und lernt, gegen alle Widerstände auf sich selbst und ihre Intuition zu vertrauen.

Lauren Wolk

Echo Mountain

Ellie geht ihren eigenen Weg

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

Carl Hanser Verlag

Für meinen Mann Richard und unsere großartigen Söhne Ryland und Cameron

Maine

1934

1

Der Erste, dem ich das Leben gerettet habe, war ein Hund.

Meine Mutter hielt ihn für tot, doch zum Sterben war er zu jung, er war ja gerade erst zur Welt gekommen, noch ganz nass und mit glänzendem Fell. Wunderschön, nur atmete er nicht.

»Bring ihn weg«, sagte meine Mutter und ließ ihn behutsam in meine gewölbten Hände gleiten.

Ihre Stimme klang kalt. Vielleicht zitterte sie deswegen ein bisschen.

Doch dafür kannte ich sie zu gut.

Maisie hatte sich schützend um ihre drei lebenden Welpen gelegt, die blind nach der Milch suchten, und sah mich schmerzvoll an.

Ich spürte, wie sehr auch sie litt.

»Was soll ich mit ihm machen?«, fragte ich.

»Begrab ihn, aber weit genug weg vom Brunnen.« Meine Mutter wandte sich ab, um das Stroh zusammenzukehren. Es war rot, weihnachtsrot. Wir alle hatten eine schwere Nacht hinter uns. Aber am schwersten war sie für den letzten der Welpen gewesen. Den in meinen Händen.

Ich presste ihn fest an meine Brust, so als hätte ich zwei Herzen, von denen aber nur eines schlug. Dann trug ich ihn fort vom Holzschuppen, hinein in das erste bleiche Morgenlicht. An unserem Blockhaus vorbei, zum Brunnen und zu dem Grab, das ihn dahinter erwartete.

Doch auf einmal blieb ich stehen.

Schaute zurück.

Und sah, auf der breiten Granitstufe vor unserem Haus: einen Eimer aus Holz, randvoll mit kaltem Wasser, das nur darauf wartete, sich nützlich zu machen.

Ich wusste nicht, was weiter passieren würde, doch ein kleiner Funke flammte in meiner Brust auf beim Anblick des Wassers, in dem sich grün und blau der Baum und der Himmel darüber spiegelten. Dieses Bild, so ruhig und so klar, sprach zu mir mit einer Stimme, die lauter war als die meiner Mutter, die jetzt in der Tür des Schuppens stand, die Arme voll mit blutigem Stroh, und sagte: »Nun geh schon, Ellie.«

Aber ich ging nicht.

Der Funke, die Flamme, die Stimme — all das zog mich zu dem Eimer, wo ich das Hündchen tief in das eiskalte Wasser tauchte und dort festhielt, bis ich spürte, wie es sich hin und her wand und zu strampeln begann.

»Ellie! Was machst du da?«, rief meine Mutter, ließ das Stroh fallen und kam mit schnellen Schritten auf mich zu.

Doch dann blieb sie stehen und machte große Augen, als ich den triefenden, zappelnden Welpen aus dem Wasser hob und wieder an meine Brust drückte.

»Er ist nicht tot«, sagte ich lächelnd. »Im Gegenteil.«

Da musste auch meine Mutter lächeln, wenn auch nur einen Moment lang.

»Dann gehört er dir«, sagte sie und bückte sich wieder nach dem Stroh. »Sieh zu, dass es so bleibt.«

Ich wusste nicht, wie sie das meinte, ob ich ihn am Leben halten oder ob er mein Hund bleiben sollte, aber für mich stand ohnehin schon beides fest.

Ich setzte mich auf die Stufe und trocknete den Welpen mit dem Saum meines Hemdes ab. Als ich sein glattes Fell aufraute, fing er an, schneller zu atmen — und auch ich atmete auf einmal schneller, in kurzen Stößen, so als hätten wir beide eine Weile keine Luft bekommen.

Dann brachte ich ihn zurück zu Maisie, die den Kopf hob und zusah, wie ich ihn zwischen die anderen Welpen legte und ihm zeigte, welche Zitze für ihn war.

Dann ließ sie den Kopf mit einem langen Seufzer wieder sinken.

Die Welpen sahen fast alle gleich aus. Dunkel. Vollkommen. Einer hatte eine weiße Vorderpfote. Einer war größer als die anderen. Der dritte hatte etwas helleres Fell, und auch mein Kleiner war leicht gescheckt und hatte eine weiße Schwanzspitze, so als hätte er den Schwanz wie einen Pinsel in Farbe getaucht. Daran konnte man ihn erkennen.

Aber ich brauchte dazu kein Merkmal. Ich war mir sicher, dass ich ihn immer sofort erkennen würde. Und ich war mir sicher, dass er mich erkennen würde.

»Ich muss mir einen Namen für dich ausdenken«, sagte ich zu ihm, während er anfing, sein neues Leben in großen Schlucken in sich aufzunehmen.

Genau das tat ich dann auch, während ich meine üblichen Morgenarbeiten verrichtete.

Während ich Rispengras aus dem Kartoffelfeld zog, entschied ich mich gegen Shadow (obwohl der Kleine dunkel war und der Name zu ihm gepasst hätte).

Während ich das Gras bündelte und für die Kühe beiseitelegte, dachte ich an Possum (weil er nicht wirklich tot gewesen war, nicht endgültig).

Während ich das Beet mit dem Frühspinat jätete, den wir im Herbst ausgesät hatten, dachte ich an Boy (denn er war ja ein Junge) und an Beauty (schön war er auch).

Während ich Kleinholz bündelte, dachte ich an Tipper (wegen der weißen Schwanzspitze).

Aber schließlich — während ich das Holz in der Kiste neben dem großen Küchenherd stapelte — entschied ich mich für Quiet.

»Der Name gefällt mir«, sagte Samuel, mein kleiner Bruder, während wir unser Frühstück aus getrockneten Blaubeeren, feuergeschwärzten Kartoffeln und noch euterwarmer Milch zu uns nahmen. »Ein Name wie ein Herzschlag.«

»Wie ein was?«, fragte meine Mutter.

»Ein Name wie ein Herzschlag. Du weißt doch: zwei Schläge, ba-bum, ba-bum.«

Das wiederum gefiel mir.

Esther sagte: »Was für ein bescheuerter Name — Quiet.« Aber als meine große Schwester fand sie ohnehin alles, was ich tat, bescheuert. »Er haut dir ab, und du läufst ihm hinterher und brüllst die ganze Zeit ›Quiet!‹.« Sie schüttelte den Kopf. »Bescheuert.«

Ich war anderer Meinung, obwohl ich schon auch fand, dass Quiet ein merkwürdiger Name war. Aber ich hatte kein Problem damit.

Ich selbst war in mancher Hinsicht ebenso merkwürdig, mir gefielen merkwürdige Dinge. Fragen, die eine Antwort verdienten. Fragen wie die, die mich bald auf den Star Peak führen würden, zu einem Jungen, der ein Messer zum Singen bringen konnte, zu einer Hexe namens Cate und zu all den neuen Möglichkeiten, die ich in jenen seltsamen Tagen kennenlernen sollte. Gute Menschen. Böse Menschen. Alle hatten sie etwas mit der Flamme zu tun, die heller als je zuvor in mir aufleuchtete an dem Tag, als Quiet zur Welt kam.

2

Quiets Großmutter, eine sanftmütige Hündin mit Namen Capricorn, hatte ihr Leben dort begonnen, wo auch meines begonnen hatte — in einer Stadt, in der mein Vater eine Schneiderwerkstatt betrieb und meine Mutter als Musiklehrerin arbeitete. Das war vor dem Börsenkrach, durch den fast alle Menschen verarmten und der auch der Grund dafür war, dass wir auf den Berg zogen, den Echo Mountain.

»Aber wer ist denn zusammengekracht?«, hatte ich meinen Vater gefragt, als unser Leben immer mehr auf die Katastrophe zutaumelte.

Zu viele Menschen hätten mit ihrem Geld spekuliert, erklärte mir mein Vater, und seien dann in Panik geraten, als es so aussah, als könnten sie es verlieren … Wodurch sie nur noch mehr verloren und verarmten, so wie auch wir.

»Das verstehe ich nicht.« Ich weiß noch, wie ich zu ihm aufgeschaut habe, weil ich eine bessere Erklärung erwartete. »Haben wir denn mit unserem Geld spekuliert?«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber warum haben wir es dann verloren?«

»Das haben wir nicht, jedenfalls nicht gleich. Aber Menschen, die kein Geld haben, bezahlen keinen Schneider, damit er ihnen Kleider näht, und sie kaufen auch keine neue Kleidung, solange die alte noch irgendwie passt.«

Mein Vater war mehr als nur ein guter Schneider. Seine Kleider passten uns wie eine zweite Haut. Und die Ranken und Blüten, die er in die Säume und Manschetten stickte, waren mehr als nur schön. Sie waren wie Signaturen. Signaturen auf Gemälden.

»Aber Mutter ist Lehrerin«, sagte ich. »Heißt das, die Leute sind jetzt auch für die Schule zu arm?«

Wieder schüttelte Vater den Kopf. »Nein, so meinte ich das nicht. Ganz im Gegenteil. Gerade jetzt würde mehr Musik allen Menschen unendlich guttun. Aber ich fürchte, Musik gehört zum Ersten, was aufgegeben wird, wenn eine Schule Geldsorgen hat. Und wir sind nicht die Einzigen, die aus der Stadt fortgehen. Die halbe Bevölkerung ist schon weggezogen. Entweder sind sie bei Verwandten untergekommen, oder sie sind … ausgezogen und leben auf der Straße, im Freien, suchen nach Arbeit. Das wiederum bedeutet, dass weniger Kinder zur Schule gehen. Und so braucht die Schule nicht mehr so viele Lehrer wie früher.«

Auch meine Mutter wurde nicht mehr gebraucht.

So kam es, dass wir erst Vaters Geschäft verloren und dann unser Haus. Und schließlich das Leben, das wir gewohnt waren.

Da verstand ich auch den anderen Namen, den die Leute oft benutzten, wenn sie über die Wirtschaftskrise und den Börsenkrach sprachen. Die Depression nannten sie die Zeit. Die Große Depression. Damit meinten sie etwas Schreckliches, Dunkles.

Um das zu verstehen, brauchte ich meinen Vater nicht. Ich sah es im Gesicht meiner Mutter. Im Gesicht meiner Schwester. Selbst in den Augen meines Vaters, wenn auch schwächer, doch es war da, trotz allem.

Als wir die Stadt verließen, nahmen wir Capricorn mit, obwohl wir nicht einmal wussten, wovon wir uns selbst ernähren sollten, geschweige denn einen Hund.

Als wir an unserem kleinen Stück Berg ankamen, banden wir unsere neuen Kühe fest, stapelten unser Hab und Gut unter einer Plane, um es vor dem Wetter zu schützen, und lebten in einem wackligen Zelt, bis wir ein Blockhaus für uns gebaut hatten.

Unser neues Leben im Wald verwirrte die arme Capricorn völlig. Sie war immer dann am glücklichsten gewesen, wenn sie unter dem Küchentisch liegen konnte, während wir aßen, am Fußende eines Bettes oder in dem Garten, den wir vor dem Börsenkrach gehabt hatten. Aber jetzt hatten wir keine Küche mehr, keinen Küchentisch, keinen Garten, wo sie Trost finden konnte. Also ließen wir sie jede Nacht zu uns ins Zelt, wo sie es schaffte, uns ein bisschen Trost zu schenken.

Nachts warnte uns Capricorn, wenn ein Bär sich näherte. Vater ging dann mit einer Lampe hinaus, um ihn zu verscheuchen.

Capricorn war es auch, die bei jedem Gewitter zu zittern und zu winseln begann, so sehr, dass wir Übrigen uns im Vergleich mit ihr mutig fühlten.

Und es war Capricorn, die mir das ungewöhnlichste Geschenk brachte, das ich je bekommen hatte: ein winziges Lamm, aus Holz geschnitzt und mit einem Stück Faden am Hundehalsband festgebunden.

»Was hast du da?«, sagte ich, als sie eines Morgens, schon abgemagert, zwischen den Bäumen auf mich zukam. Zum ersten Mal im Leben musste sie jagen lernen, genau wie mein Vater. Aber sie hatte eben nur die Wahl zwischen Feldmäusen oder Bohnensuppe, und so jagte sie lieber.

Ich band das Lämmchen los und hielt es ans Licht.

»Wo hast du das her?« Ich blickte ihr in die Augen, doch sie hatte mir nichts zu sagen. Ich schaute mich zwischen den Bäumen um, sah aber nur meinen Vater, der dabei war, Pappeln zu fällen, Esther, die Feuerholz sammelte, meine Mutter, die einen Eimer Wasser vom Bach heranschleppte, und Samuel, der sich an ihrem Rock festklammerte.

Sonst niemanden.

Inzwischen hatten wir die anderen vier Familien, die in der Nähe siedelten, kennengelernt. Lauter gute, solide, strenge Menschen aus Maine, die noch das letzte Stückchen Bindfaden aufhoben und aus jedem Suppenknochen das Mark heraussogen. Niemand von ihnen hätte sein Messer für eine Spielerei stumpf werden lassen.

Aber einen Fremden hätte Capricorn niemals so nah an sich herangelassen, dass er ihr etwas ans Halsband hätte binden können, also konnte es nur ein Mitglied jener Familien gewesen sein, das dieses kleine Geschenk geschnitzt und mit ihr hergeschickt hatte. Wer sonst?

Vielleicht hatten sie gehofft, dass Samuel es finden würde.

Aber ich wusste, er würde es im Schlamm verlieren.

Außerdem fühlte es sich so an, als wäre es für mich bestimmt.

Also schob ich es ganz nach vorn in einen meiner Sonntagsschuhe, die für den Kirchgang, die ich vermutlich nie wieder tragen würde. Und erzählte niemandem davon.

Sollte das Rätsel je gelöst werden, dann nur von mir.

3

In unserem ersten Frühling auf dem Echo Mountain waren wir nass, schmutzig und müde und so ausgehungert wie die Tiere, die nach monatelangem Fasten aus ihren Winterquartieren kamen.

Der Bau unseres Blockhauses war unsere Arbeit, unser Spiel, unser Kirchgang und unser Schulbesuch. Die anderen Familien halfen uns bei den schwierigsten Tätigkeiten, so wie auch wir ihnen geholfen hatten, doch das meiste machten wir selbst, und das so langsam, dass ich manchmal schon dachte, wir würden nie wieder ein Dach über dem Kopf haben.

Samuel war noch zu klein, um eine große Hilfe zu sein, abgesehen davon, dass er uns zum Lachen brachte und unser Herz mit Liebe zu ihm füllte, was schon eine ganze Menge war. Manchmal muss ein Mensch gar nichts Besonderes tun; es reicht, wenn er einfach nur er selbst ist.

Esther und meine Mutter arbeiteten, so hart sie konnten — die einst so glatten Stadthände ruiniert, das Haar zerzaust. Nachts, wenn wir uns schlafen legten, hörte ich sie weinen. Sie schienen dem Berg selbst die Schuld für das zu geben, was Menschen ihnen angetan hatten.

Jeder wütende Sturm erinnerte sie an den Tag, an dem meine Mutter ihre Arbeit verloren hatte, an den Abschied von ihren Schülern, die ihr wie eigene Kinder ans Herz gewachsen waren.

Jeder heulende Kojote, der uns wach hielt, erinnerte sie an den Tag, an dem mein Vater mit versteinerter Miene sein Geschäft geschlossen hatte, weil niemand mehr Geld hatte für schöne Kleider, für die Efeuranken, mit denen er jeden Saum und jede Manschette bestickt hatte.

Und jeder lang anhaltende graue Regen, der einen Weg in unser jämmerliches Zelt fand, erinnerte sie daran, dass wir unser Haus verloren hatten. Dass wir fast alles, was wir besaßen, verkauft hatten und nur das wenige, was übrig war, mitgenommen hatten, als wir die Stadt verlassen hatten — auf der Suche nach einer Möglichkeit zu überleben, bis die Welt wieder in ihren Normalzustand zurückkippte.

Doch ich gab dem Berg keine Schuld. Er war es schließlich, der uns rettete.

In den ersten Wochen lebten wir allein von wässriger Bohnensuppe mit Salz.

Kaninchen aßen wir, wenn es meinem Vater gelang, eines zu töten, aber in jenen ersten Tagen war er ein langsamer, ungeschickter Jäger, während die Kaninchen vom Echo Mountain schnell und flink und klug waren, sodass bei uns eher Schildkröte auf den Tisch kam als Kaninchen.

Doch weder meine Mutter noch Esther konnte sich daran gewöhnen, Opossum zu essen. Die waren zwar leicht zu fangen, waren aber fettig und schmeckten nach Wild und vor allem nach dem, was das Opossum selbst gefressen hatte. Ein hungriges Opossum frisst so gut wie alles. Aber auch ein hungriger Mensch tut das, und so aßen wir eben Opossum, wenn es nichts anderes gab.

Es war schwer. Alles. Vor allem für meine Mutter und meine Schwester, die in einer ständigen Mischung aus Furcht und Erschöpfung lebten und sich zurücksehnten nach dem Leben, das sie zurückgelassen hatten.

Für mich war unser erster Frühling auf dem Berg schon freundlicher.

Wie mein Vater, so liebte auch ich den Wald. Von Anfang an waren wir beide glücklich mit unserem unerwarteten Leben. Freuten uns über die unablässig heiteren Vögel. Über den Mond mit seinen schönen Flecken. Den Wind, der das Laub im Sonnenlicht schimmern ließ, frisch und froh. Und über die gemeinsame Arbeit an unserem neuen Zuhause.

Es gab Schwierigkeiten, aber es gab immer auch schöne Arbeiten, die wir gerne taten. Und so schafften wir es.

Doch dieses enge Band zwischen mir und meinem Vater und der Wildnis trieb einen Keil zwischen mich und meine Mutter und — vor allem — meine Schwester, die sich beide anscheinend von mir hintergangen fühlten, indem ich glücklich war, während sie es nicht waren.

Nichts an dem Leben auf dem Echo Mountain war für mich schwerer zu ertragen als diese Spaltung; der Gedanke, bedauern zu sollen, dass ich anders war. Aber mir wurde schon früh klar: Vielleicht würde ich meine Mutter vermissen und auch meine Schwester, vielleicht würde ich einsam sein, aber niemals würde ich traurig sein über das, was mich von ihnen trennte.

Ich liebte den Berg. Und ich liebte das, was der Berg in mir entzündete. Das war alles.

Aber einfach war es nicht.

Wenn ich noch einen weiteren Grund dafür brauchte, diesen neuen Ort zu lieben, dann erhielt ich ihn eines Morgens im Mai, als die ganze Welt summte und die Luft angefüllt war mit dem Duft des ersten Flieders.

Ich fand ihn in der Tasche meiner Jacke, die ich abends an einen Ast gehängt und vergessen hatte.

Mein Vater hatte sie mir noch kurz vor dem Börsenkrach genäht, hatte sie mit Frühlingsblumen bestickt und Knöpfe aus hartem Holz geschnitzt. So groß hatte er die Jacke zugeschnitten, dass ich hineinwachsen konnte. Ich trug sie, so oft es ging, bei jeder Arbeit, jedem Wetter, während Esther und meine Mutter ihre sorgsam in Packpapier gewickelt aufbewahrten und bei jedem Riss und jedem Fleck mit mir schimpften.

Als ich meine Jacke vom Ast nahm und hineinschlüpfte, fand ich in der Tasche ein perfekt geschnitztes Schneeglöckchen, das aus einer Blumenzwiebel spross, so schön und so zart, dass ich es an die Nase hob, weil ich Wiesenduft erwartete.

Dieses Mal suchte ich nicht den Wald um mich herum ab. Dieses Mal ließ ich meinen Blick vorsichtig von der Schnitzerei zu den Bäumen hinüberwandern.

Und da war es, mitten im Dickicht: ein Gesicht.

Von Blättern gerahmt, als wäre es selbst Teil einer Pflanze.

Und dann war es weg.

Ich blinzelte. Schaute genauer hin.

»Hallo!«, rief ich, doch niemand antwortete. So ließ ich das Schneeglöckchen zurück in meine Tasche gleiten und dachte den Rest des Tages an dieses Gesicht. Diese Augen. Die mich betrachtet hatten.

Von da an achtete ich genauer auf die Gesichter der Menschen, die auf unserer Seite vom Berg lebten, sah so prüfend hin, dass immer wieder jemand zu mir sagte: »Habe ich etwas zwischen den Zähnen?« oder: »Meine Frau hat noch eine alte Brille, probier’s doch mal damit.«

Doch keines der Gesichter sah aus wie das, das ich gesehen hatte. Alle waren sie zu alt. Und aus keinem von ihnen sprach … diese Einsamkeit. Also machte ich weiter wie bisher, arbeitete fleißig und lernte an jedem Tag so viel, dass ich dachte, ich müsste aufgehen wie ein Maiskorn im Kessel. Gleichzeitig behielt ich immer den Wald im Auge, um zu sehen, ob mich vielleicht jemand beobachtete.

Als das erste Zimmer fertig war, zogen wir aus dem Zelt in unser Haus.

Ich erinnere mich noch: Es war Juni und wir froren nicht mehr, außer im dunkelsten Teil der Nacht. Mir reichte das.

Aber meine Mutter und Esther wollten, dass mein Vater einen Riegel an die Haustür machte, sodass sie uns jede Nacht einschließen und endlich in Frieden schlafen konnten. Trocken. Sicher. Eine massive Wand zwischen ihnen und der Wildnis.

Als unser erster Winter begann, hatten wir ein gemütliches, sicheres Heim mit vier guten Zimmern — eines für uns Kinder, eines für unsere Eltern, eines als Küche und eines für alles andere. Einen Rübenkeller für alles, was wir den Sommer über angepflanzt hatten. Einen Ort für einen Neubeginn. Die Kenntnisse, die wir brauchten, um uns in dieser neuen Welt zurechtzufinden. Und zumindest einige von uns wussten, dass ein Segen auf uns ruhte.

Doch das war vor dem Unfall meines Vaters, der alles veränderte.

4

»Mr. Peterson hat ein Reh geschossen«, sagte meine Mutter an dem Morgen von Quiets Geburt, als wir noch eine Weile bei einem Tee zusammensaßen. »Ellie, nach dem Frühstück gehst du mit Samuel hinauf und holst unseren Anteil.«

Seit das Wintereis geschmolzen war, hatte keine der fünf Familien am Westhang des Echo Mountain mehr die Möglichkeit, Fleisch frisch zu halten. Deswegen hatten wir vereinbart, unsere Beute zu teilen, die besten Teile bald zu essen und den Rest zu Trockenfleisch zu verarbeiten.

Jeder wusste, dass es dauern würde, bis unsere Familie wieder ein Tier erlegen würde. Meine Mutter war eine erbärmliche Schützin, sie hatte außerdem nicht die Zeit, ewig auf der Lauer zu liegen, bis ein Reh sich zeigte. Esther hatte Angst vor Gewehren. Samuel mit seinen sechs Jahren war noch zu jung, zudem war er für sein Alter recht klein.

Ich selbst war zwei entgegengesetzte Dinge zur gleichen Zeit. Zum einen hatte ich mich zu einem äußerst fähigen Waldmädchen entwickelt: Ich konnte jagen und Fallen stellen und fischen und ernten, so als wäre ich schon in diese Art zu leben hineingeboren worden. Zum anderen war ich aber auch ein Echomädchen: Wann immer ich einen Fisch erschlug, tat mir mein eigener Kopf weh und zitterte. Wenn ich ein Kaninchen in die Falle gelockt hatte, wusste ich, wie es sich anfühlte, gefangen zu sein. Wenn ich eine Möhre aus der schützenden Erde zog, vermisste auch ich die Dunkelheit.

Es gab Zeiten, in denen mir diese zwei widerstreitenden Anteile das Gefühl gaben, gleichzeitig nach Osten und nach Westen gedehnt zu werden, meine Knochen schienen zu knarren und zu schreien, während sie alles taten, um wieder zusammenzufinden. Aber am Ende setzte sich der Hunger immer durch, und besonders mächtig ist der Hunger eines Bruders oder einer Schwester, einer Mutter oder eines Vaters. Vor seinem Unfall hatte Vater uns mit reichlich Fleisch, Feuerholz, Flussfischen, Fellen und manchmal auch mit Honig versorgt. Aber jetzt war ich diejenige, die Fische fing. Ich stellte auch Kaninchenfallen auf. Und wenn wir erst hungrig genug wären, dann, das wusste ich, wäre ich diejenige, die ein Stück Wild schießen würde, wenn es sein musste.

Ich hoffte, ich würde es nicht müssen.

Noch ein Grund für meinen Vater, endlich aufzuwachen.

Solange er schlief, zahlten wir für unser Fleisch mit Sahne und Butter und mit Gemüse, das die anderen Familien nicht anpflanzten: Kartoffeln vor allem, aber auch Möhren und Rote Bete. Zwiebeln und Pastinaken. Speise- und Steckrüben.

Außerdem machte meine Mutter die besten Haarschnitte weit und breit. Und sie nähte weiche Schuhe aus Leder, die sie mit Kaninchenfell fütterte, und tauschte sie gegen Dinge ein, die wir aus der Stadt brauchten: Ersatzteile für den Herd und die Wasserpumpe, Nähnadeln und anderes, was wir nicht selbst herstellen konnten.

Da es in den fünf Familien außer Esther, Samuel und mir keine weiteren Kinder gab, konnte meine Mutter nicht anbieten, im Tausch gegen Fleisch oder Metall Unterricht zu geben. Und obwohl ihr Gesang wie ein laues Aprillüftchen war und ihr Mandolinenspiel selbst Engel verblüffen musste, weigerte sie sich, an diese Begabungen wie an eine Währung zu denken. »Musik ist nichts, was man in einer Geldbörse mit sich herumträgt«, sagte sie. »Ich kann nicht die Tasche öffnen und sie einfach hervorziehen.«

»Die Leute würden alles dafür geben, dich singen zu hören«, sagte ich bald nach dem Unfall meines Vaters, als wir noch immer dabei waren, herauszufinden, wie wir ohne ihn unser Auskommen sichern könnten.

Aber seit wir in den Wald gezogen waren, hatte sie kaum noch gesungen, und seit Vaters Unfall gar nicht mehr.

Ich war erstaunt, dass etwas so Wildes, Schönes zum Schweigen gebracht werden konnte, vor allem an einem so wilden Ort wie einem Berg.

Ich vermisste jene Stimme. Jene Mutter.

Und das war noch nicht alles. Als sie aufhörte zu singen, hörte sie auch auf, uns drei an der Mandoline zu unterrichten. In der Stadt war dieser Unterricht ein so fester Bestandteil unseres Lebens gewesen wie der Kirchgang und die Schule. Aber während sie uns weiterhin Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte, überließ sie das Beten und die Musik uns selbst. Wir wussten jedoch, dass es ratsam war, die Mandoline, die meine Mutter beiseitegelegt hatte, nicht anzurühren.

Ich vermisste auch Capricorn, die ein Jahr nach unserem Umzug in den Wald gestorben war, kurz nachdem sie vier magere Welpen zur Welt gebracht hatte.

Sie war anscheinend leicht gegangen, so als hätte sie weniger Angst vor dem Sterben als vor dem Leben in der Wildnis, doch ich weinte lange und heftig, als wir sie begruben. Ich war auch diejenige, die die Welpen mit Kuhmilch großzog, bis sie alt genug waren, um verkauft zu werden (was mir ebenfalls das Herz brach). Und ich war diejenige, die wählen durfte, welchen der jungen Hunde wir behalten würden, obwohl mein Vater entschieden hatte, dass der Welpe Esther gehören sollte, nicht mir.

»Vielleicht hilft ihr so ein Hündchen dabei, glücklicher zu werden«, hatte mein Vater mir zugeflüstert, als er die Kleine aus meinen Armen nahm. »Du und ich, uns geht es gut hier. Aber Esther braucht mehr.«

Also hatte ich den Welpen, dem ich über Wochen die Flasche gegeben hatte, meinem Vater gereicht und traurig zugesehen, wie meine Schwester die kleine Willow in Maisie umbenannte und sie zu einer Art Puppe machte, indem sie ihr aus einem Stoffstreifen eine Schleife um den kleinen Hals band, ihr das Fell bürstete, bis es glänzte, und ihr Befehle wie »Platz!« oder »Bleib!« beibrachte.

So wie Esther und meine Mutter ihre Haare im Nacken zusammenbanden und ihre Schuhe polierten und alles in ihrer Macht Stehende taten, um auch Samuel daran zu hindern, wie ein Kind der Wildnis aufzuwachsen.

5

Bis Quiet zur Welt kam, hatte ich schon etliche dieser seltsamen und wunderbaren Geschenke gefunden, die mir der Unbekannte hingelegt hatte, den ich zwischen den Bäumen gesehen hatte. Jedes von ihnen war winzig, jedes von ihnen großartig, wie eine Sternschnuppe.

Eines fand ich in Maisies Wassernapf, im Hof, gleich neben der Haustür.

Es war ein kleiner Hund, Maisies vollkommenes Ebenbild vom Kopf bis zum hochgereckten Schwanz mit dem weißen Flecken am Ende. So kunstvoll gearbeitet, dass ich die Figur ganz behutsam in der Hand hielt, so als wäre sie aus Zucker.

Dann schaute ich suchend auf. Drehte mich langsam um mich selbst wie der träge Zeiger einer Uhr, um wenigstens einen flüchtigen Blick zu erhaschen auf denjenigen, der den winzigen Hund für mich hingelegt hatte.

Dieses Mal sah ich eine Bewegung in einem Birkenwäldchen. Pfeilschnell schoss ich los, mit einem einzigen Ziel: diesmal mehr als nur ein Gesicht zu sehen.

Doch als ich den Birkenhain erreichte, fand ich nichts weiter als eine Stelle mit frisch zertretenen Zweigen neben ein paar hellen Holzlocken, die eben erst von einem Schnitzmesser gefallen waren.

Ich war enttäuscht. Aber ich war auch besorgt, dass ich alles ruiniert haben könnte, als ich so schnell losgerannt war.

Und tatsächlich, die nächsten Tage waren leer: keine neuen Schnitzereien, kein flüchtiger Blick auf einen Menschen zwischen den Bäumen, und wieder bereute ich meine Ungeduld.

Ich nahm mir fest vor, denselben Fehler nicht noch einmal zu begehen. Stattdessen würde ich warten, achtsam sein und alles tun, um zu beweisen, dass ich eine zweite Chance verdient hatte.

Doch am Ende einer langen Woche des verwirrten Wartens beschloss ich, dass der nächste Schritt von mir ausgehen musste.

Also hängte ich, bevor ich zum Schlafen ins Haus ging, meine Jacke an denselben Zweig wie schon einmal.

Ich dachte, das könne wie eine Einladung aussehen. Wie ein Zeichen von Freundschaft. Eine Brücke. Doch als ich am Morgen hinausging, um meine Jacke zu holen, waren die Taschen leer.

Und ich fragte mich, ob die Jacke sich vielleicht zu sehr wie eine Falle angefühlt hatte.

Oder ob ich tatsächlich alles ruiniert hatte, indem ich in den Wald gerannt war wie eine Jägerin, die ihrer Beute folgt.

Als ich einen Monat später wieder ein Geschenk fand, war das wie ein leuchtender Sonnenaufgang nach tagelangem Regen.

Es war ein Vollmond und lag an dem Bach, zu dem ich jeden Tag als Erstes ging, um mir den Schlaf aus den Augen zu waschen.

Dieses Mal drehte ich mich nicht um. Ich küsste nur lächelnd das Mondgesicht und hoffte, dass mich jemand beobachtete. Dass irgendjemand sah, wie sehr ich dieses wunderschöne Geschenk liebte. Dann, bevor ich mich umwandte und nach Hause ging, rief ich laut: »Danke schön!« und: »Wer immer du bist, danke!«

Meine Sonntagsschuhe waren nicht groß genug, um mehr als das Lämmchen und das Schneeglöckchen aufzubewahren. Längst hatte ich ein hohes Bord im Holzschuppen abgestaubt und die Schnitzereien darauf aufgestellt, ganz hinten, wo niemand sie sehen konnte, der nicht auf einem Schemel stand.

Ich selbst sah sie auch nicht, während ich meinen täglichen Aufgaben nachging, aber ich wusste immer, wo sie waren, so wie ich wusste, dass die Sonne am Himmel stand. Und ich wusste: Auch der Freund, den ich noch nicht kannte, war ganz in der Nähe.

Wenn Maisie plötzlich die Ohren spitzte und den Wald anbellte, stellte ich mir jedes Mal vor, beobachtet zu werden, doch mehr als den Schatten eines Schattens sah ich nie. Wenn sie nachts bellte, lag ich wach und überlegte, was ich wohl am nächsten Tag finden mochte, im Kuhstall, im Holzschuppen, im Rübenkeller oder auf dem Pfad durch den Wald. All diese Orte waren meine festen Ankerpunkte während des Tages, wie die Punkte an einem Kompass.

Ich dachte an die kleinen Geschenke und sah sie als Hinweise, die mir Dinge verrieten über den Künstler und auch über mich selbst. Wer auch immer sie gemacht hatte, war freundlich und klug. Ich selbst war jemand, dem Dinge auffielen, die andere übersahen. Es gab einen Grund, weswegen ich diese kleinen Figuren immer fand, bevor irgendein anderer sie entdeckte. Die meisten Augen hätten solche kleinen, im Laub am Bachufer versteckten Kostbarkeiten aus Holz übersehen. Meine nicht.

Und es gab noch einen anderen Hinweis: Die Geschenke waren von vornherein für mich bestimmt gewesen, da war ich mir sicher. Wer auch immer die Figuren schnitzte, kannte mich also und war überzeugt, ich würde mich unbändig freuen, sie in allen möglichen Winkeln meiner Welt zu finden. Alle waren sie aus gutem, hartem Holz geschnitzt, alle beinahe lebendig: eine Milchkuh mit einem aufgestellten und einem flach anliegenden Ohr, eine bucklige Raupe, eine Eichel mit einer winzigen Feder an der Kappe, eine Meise, so rund und prall wie eine Pflaume.

Und dann, kurz nach dem Unfall meines Vaters, fand ich noch ein Geschenk.

Dieses Mal erkannte ich mich selbst im Holz.

Die kleine Figur stand auf dem Stumpf des Baumes, der meinen Vater um ein Haar umgebracht hätte.

Und ich fragte mich, ob es einen Zeugen gegeben hatte, der mit angesehen hatte, was an jenem schrecklichen Tag geschehen war.

Ob ich nicht die Einzige war, die die Wahrheit kannte.

6

Die Monate nach dem Unfall meines Vaters waren so kalt und so dunkel, wie sie nur sein konnten, doch an dem Morgen von Quiets Geburt spürte ich drei Arten von Licht, drei Arten von Wärme: die des Frühlings, die von Quiet und die der Flamme, die in mir wuchs.

Doch meine Mutter schien weiter so kalt und dunkel wie der Januartag, an dem der Unfall geschah.

»Geh jetzt und mach dich an deine Arbeit«, sagte sie nach dem Frühstück. »Und vergiss nicht, nach dem Fleisch zu fragen. Inzwischen wird Mr. Peterson mit dem Ausnehmen fertig sein. Unser Anteil liegt sicher schon bereit.«

»Wieso muss Esther nie Fleisch holen gehen?«, maulte Samuel. Dabei liebte er Wild und ging gerne zu den Petersons.

»Wieso stopfst du deine Socken nicht selbst?«, fragte Esther zurück.

»Oder backst dir selbst Kuchen?«, sagte meine Mutter, womit sie Maiskuchen oder Fischkuchen oder Kartoffelkuchen meinte. Die Art von Kuchen, die eine Krone aus Kerzen bekam, hatte es bei uns schon lange nicht mehr gegeben.

»Und wieso bekommt Ellie einen Welpen?«, fragte Samuel.

Mutter sah ihn finster an. »Wo warst du denn, als Ellie mir letzte Nacht mit Maisie geholfen hat?«

Samuel seufzte. »Da hab ich geschlafen.«

»Und wo warst du, als Ellie den Welpen davor gerettet hat, lebendig begraben zu werden?«

»Ich hätte ihn auch gerettet, wenn ich da gewesen wäre«, sagte Samuel.

»Wenn«, sagte Esther. »Ein großes Wort!«

»Du kennst die Regel.« Meine Mutter legte beide Hände um ihren Teebecher, um ihn zu wärmen, während er gleichzeitig sie wärmte. »Jedes Mal nur ein Welpe. Wenn Maisie wieder Junge bekommt, dann bist du an der Reihe, Samuel.«

»Aber Ellie hat doch schon Maisie«, jammerte Samuel.

Damit hatte er nicht ganz unrecht. Als Maisie kein niedliches Hündchen mehr war, hatte Esther schnell das Interesse an ihr verloren, und so kam es, dass ich Maisie fütterte und dafür sorgte, dass sie nachts in den Holzschuppen gesperrt wurde, wo sie sicher war vor Kojoten und Bären. In kalten Nächten ließ ich sie manchmal auch heimlich in mein Bett, wo sie mir die Füße wärmte und mich friedlich schlafen ließ, egal, wie stark der Wind draußen heulte.

Jetzt hatte ich einen Welpen ganz für mich allein.

Quiet.

»Wie auch immer«, sagte meine Mutter zu Samuel. »Du kommst an die Reihe, wenn du an der Reihe bist, keine Minute früher.«

Nachdem ich unser Geschirr unter der Küchenpumpe abgespült und einen Eimer für Maisie gefüllt hatte, sagte ich: »Ich gehe in den Holzschuppen und schaue mal nach den Welpen.«

Meine Mutter nickte, den Teebecher noch immer zwischen den Händen, während Esther den Tisch abräumte. »Ich komme mit«, sagte Samuel und folgte mir dicht auf den Fersen ins Freie.

Seit dem Unfall meines Vaters hatte Samuel sich angewöhnt, auf Schritt und Tritt hinter mir herzukommen. Er beobachtete mich beim Arbeiten und stellte mir Fragen, und ich versuchte, ihm einige der Dinge beizubringen, die unser Vater mir beigebracht hatte, doch oft genug hatte er keine Lust auf die Arbeit oder hörte mir nicht so zu, wie es nötig gewesen wäre.

Trotzdem blieb ich auf dem Weg zum Holzschuppen stehen und erinnerte ihn daran, was man bei Hunden, die soeben Junge bekommen haben, beachten muss.

»Maisie hat mich heute Nacht immer wieder angeknurrt«, erzählte ich ihm. »Einmal, als ich ihr zu nahe gekommen bin, hat sie mir sogar die Zähne gezeigt.«

»Maisie? Dir?«

Ich nickte. »Das ist ein Instinkt, wenn Babys zur Welt kommen.«

Samuel zog eine Grimasse. »Du bist zwölf, Ellie. Was weißt du schon davon?«

Also ließ ich ihn in den Holzschuppen vorangehen.

Ließ ihn ihre Reißzähne sehen, als die Tür aufging.

Ließ ihn so schnell zurückweichen, dass er stolperte und hart auf den Po fiel, während ich in der Tür stehen geblieben war, um Maisie Zeit zu geben, sich an die Anwesenheit von Besuchern zu gewöhnen. Dann ging ich ganz langsam vorwärts, murmelte sanft und leise und hielt ihr vorsichtig den Handrücken hin, bis sie sich beruhigt hatte und mir die Knöchel leckte, begleitet von leisen Lauten des Wohlbefindens.

»Ist ja gut«, murmelte ich und strich ihr über die Ohren. »Bist ein braves Mädchen. Gute Maisie.«

Als ich ihr Wasser in den Napf goss, hob sie kurz den Kopf, um zu trinken, dann legte sie sich wieder hin.

Die Welpen schliefen, die Bäuche prallvoll mit Milch. Um Maisie nicht aufzuregen, berührte ich die Kleinen nicht, obwohl ich mir beim Anblick von Quiet wünschte, mich an ihn zu schmiegen.

Inzwischen hatte sich Samuel hinter mir beruhigt, jetzt murmelte er so wie ich zuvor und streckte vorsichtig die Hand aus, um Maisie immer wieder den Nacken zu streicheln. »Woher hätte ich denn wissen sollen, dass sie so böse wird?«, flüsterte er mir zu. »Das ist das erste Mal, dass du recht hast.«

Was ich großzügig überhörte.

Als mittleres von drei Kindern hatte ich reichlich Gelegenheit gehabt zu lernen, die andere Wange hinzuhalten. Aber etwas gut zu können heißt noch nicht, dass es einem leichtfällt.

Während Samuel die kleinen Hunde anschaute, stieg ich leise auf den Schemel in der Ecke und streckte die Hand aus, um jede der Schnitzereien, die ich auf dem obersten Bord versteckt hatte, zu berühren. Sie fühlten sich warm an, obwohl es keinen Grund dafür gab.

Mein geschnitztes Ebenbild schaute mir ruhig in die Augen, und einen Moment lang wünschte ich mir, jenes kleine Mädchen zu sein, das mit dem ernsten Gesicht und dem festen Blick.

»Ziemlich hässlich«, flüsterte Samuel.

Ich wandte mich um und sah ihn neben dem Geburtsnest knien. »Das warst du auch, als du zur Welt kamst.« Ich stieg vom Schemel und schob ihn zurück an die Wand. »Noch viel hässlicher.«

»Gar nicht.« Er betrachtete die Welpen genauer, zog sich aber schnell zurück, als Maisie den Kopf hob. »Und wieso hast du den toten Hund ins Wasser getaucht?«

Ich antwortete nicht gleich, sondern führte ihn aus dem Holzschuppen. Die Tür ließ ich offen, sodass Maisie nach Belieben kommen und gehen konnte.

»Einfach so.«

Samuel schnaubte verächtlich. »Das ist nicht wahr, Ellie. Niemand taucht ohne Grund ein totes Hündchen ins Wasser.«

Das stimmte schon, aber ich war mir nicht sicher, wie ich die richtigen Worte finden sollte.

Also sagte ich: »Ich hab mich daran erinnert, wie es sich anfühlt, wenn du mir Schnee in den Kragen tust.« Das tat Samuel nur allzu oft, aber vielleicht war es am Ende doch noch zu etwas gut. »Ich glaube, ich wollte einfach, dass er nach Luft schnappt.«

Samuel nickte widerstrebend. »Das zweite Mal, dass du recht gehabt hast. Vermutlich auch das letzte Mal.«

Das verdiente keine Antwort.

Stattdessen lauschte ich jener Stimme, jener Flamme in meiner Brust, die plötzlich wieder aufflackerte, hell leuchtend und wortlos wie die Sonne an jenem Morgen, als ich Quiet geholfen hatte, seinen Weg zurück ins Leben zu finden.

Dieses Mal sprach die Stimme zu mir über meinen Vater.

7

»Wie geht es unserer Maisie?«, fragte meine Mutter, als wir wieder ins Haus kamen und sie noch immer in der Küche vorfanden, wo sie getrockneten Mais zu Mehl mahlte. Zum Mittagessen sollte es Maispfannkuchen geben und dazu vielleicht die letzten Eier.

»Sie ist noch müde«, sagte ich. »Aber den Welpen geht es gut, allen.«

Samuel zog seine Stiefel aus. »Hässlich wie die Nacht sind die.«

»Nicht lange.« Meine Mutter musste lauter sprechen, um das dunkle Mahlgeräusch der Maismühle zu übertönen. »In einer Woche oder so werden sie die Augen öffnen und ihr flauschiges Fell bekommen.«

Mit dem Rücken zu den beiden bediente ich die Pumpe, bis ich einen Krug randvoll mit kaltem Brunnenwasser hatte.

Meine Mutter achtete nicht weiter auf mich, als ich den Krug an ihr vorbei aus der Küche trug, zu dem kleinen Zimmer, in dem wir Waschschüsseln, Seife und die große Metallwanne für unser wöchentliches Bad aufbewahrten. Im Boden gab es einen Abfluss, durch den alles Wasser bergab lief, wenn wir fertig waren. Allerdings konnte es auch passieren, dass eine Schlange durch den Abfluss heraufkam … bis sie durch Esthers Geschrei verschreckt wieder flüchtete.

Doch dieses Mal trug ich den Krug am Waschraum vorbei zur nächsten Tür, die wie immer geschlossen war.

In diesem Zimmer lag mein Vater. Doch er schlief nicht einfach, das war etwas Tieferes, Anhaltenderes. So ging es inzwischen seit Monaten.

Oben auf dem Kopf hatte er eine schreckliche rötliche Narbe, wo der Baum ihn gefällt hatte, so wie er zuvor den Baum.

Nach dem Unfall hatte Mr. Peterson sich sofort auf den Weg gemacht, um einen Arzt zu holen, doch es hatte einen ganzen Tag gedauert, bis der zu Pferd bei uns eintraf, geführt von Mr. Peterson.

Einen so sauberen Mann wie diesen Arzt hatte ich noch nie gesehen. Selbst nach dem beschwerlichen Ritt von der Stadt zu uns heraus wirkte er wie aus dem Ei gepellt. Mit Hut und im schwarzen Anzug. Sein rundes Gesicht glänzte wie ein Essteller. Er ging sofort zu meinem Vater hinein und untersuchte ihn sorgfältig, stach ihm mit einer Nadel in die Füße, horchte ihn ab, hielt ihm Riechsalze direkt unter die Nase.

Dann sagte er: »Koma.« Ein Wort, das wir nicht kannten. »Es kann sein, dass er morgen aufwacht, vielleicht wacht er aber auch nie mehr auf. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob er wieder gesund wird. Eigentlich kann ich Ihnen kaum etwas sagen, außer dass er schwer verletzt ist und sein Körper entschieden hat, dass er vor allen Dingen Ruhe braucht. Die soll er haben, bis es ihm entweder besser geht oder auch nicht.«

Meine Mutter und wir Kinder hatten dicht aneinandergedrängt dagestanden und zugehört.

Ich weiß noch, dass ich nach einer Frage suchte, auf die eine Antwort denkbar wäre, die uns keine Angst machte.

Ich weiß noch, dass es mir nicht gelang.

Ich weiß noch, dass meine Mutter nach der Mandoline griff, die mein Vater ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Ich weiß noch, dass sie sie in den Armen hielt, als wäre sie ein viertes Kind. Dann stellte sie sie beiseite, löste das Silbermedaillon, das einmal ihrer Mutter gehört hatte, vom Hals und reichte es dem Arzt als Zahlung für das, was er nicht getan hatte.

Dann ging der Arzt.

Ich weiß noch, dass ich Worte suchte, um zu beschreiben, was geschehen war, als jener Baum umstürzte, und was mein Vater und ich hatten tun wollen.

Ich weiß noch, dass es mir nicht gelang.

Und so schwieg ich.

Inzwischen hatten wir gelernt, meinen Vater zu pflegen. Wir stützten ihn auf und flößten ihm langsam, ganz behutsam Suppe ein, tropfenweise, damit er sich nicht verschluckte, und drückten ihm das Kinn bis auf die Brust hinunter, streichelten ihm die Wangen und massierten ihm den Hals, um ihm das Schlucken leichter zu machen.

Wieder und wieder drehten wir ihn um, in einem endlosen Kampf gegen die schrecklichen offenen Wunden, die vom langen Liegen kamen. Wenn ich meiner Mutter half, die Wunden mit Essig zu reinigen, nahm Esther Samuel mit nach draußen und spielte mit ihm. Wir konnten nicht wissen, ob mein Vater die schrecklichen Schmerzen des sauren Essigs auf dem rohen Fleisch spürte, aber ich hatte Angst, dass es so war. Doch wer dabei weinte, das war nicht er.

Vor allem hatten wir gelernt, diesen kleinen Raum zu einer Parallelwelt zu machen.

Sobald sich in der Welt außerhalb unseres Hauses die ersten Frühlingsblumen zeigten, standen sie auch bei meinem Vater: Narzissen, Krokusse und Schneeglöckchen in kleinen Vasen, die wir im Zimmer verteilten.

Meine Mutter hatte das Grammofon hereingeschleppt, den einzigen unsinnigen Gegenstand, bei dem sie darauf bestanden hatte, ihn aus unserem Haus in der Stadt mitzubringen. Nur mit Mühe hatte das Pferd den Schlitten mit dem schweren Gerät darauf den Berg heraufgezogen. So wie früher spielte Mutter meinem Vater Schallplatten vor. Getanzt hatten wir allerdings schon lange nicht mehr, nicht, seit wir im Wald lebten.

Als ich sie fragte, warum sie die Mandoline nicht mehr spielte, kein einziges Mal, seit sie sie fast dem Arzt als Bezahlung gegeben hätte, da seufzte sie nur und schüttelte den Kopf. Legte eine Hand flach auf die Brust. Ich habe sie nie wieder gefragt.

Vor dem Unfall hatte Esther Samuel und mir jeden Abend vorgelesen. Jetzt las sie stattdessen unserem Vater vor, auch wenn Samuel und ich am Fußende des Bettes lagen und lauschten. Esther las nie etwas Trauriges. Immer nur fröhliche Geschichten.

Samuels Aufgabe war es, sich zu unserem Vater zu legen und ihm zu berichten, was er am Tag erlebt hatte. Lustige Geschichten über das Spiel mit den Hunden und alles andere, was sich so am Berg ereignete: wie Mrs. Anderson vor einem Elch in den Abtritt geflüchtet war, oder davon, wie Mr. Peterson im matten Licht seiner Laterne ein Stinktier mit seiner Katze verwechselt hatte. Solche Sachen. Harmlos. Nett.

Ich hatte es immer genauso gemacht, hatte nie etwas anderes in dieses Zimmer mitgenommen als Licht und Liebe. Wir alle waren fest entschlossen, meinen Vater so in sein früheres Leben zurückzulocken. Unser Leben vor dem Unfall.

Doch an dem Tag, als Quiet zur Welt kam, brachte ich ihm etwas anderes.

Durch das Fenster am Bett fiel Sonnenlicht schräg auf Vaters schmales, stilles Gesicht.

Ich sah, wie er atmete.

Dann kippte ich ihm den Krug mit dem eiskalten Wasser über den Kopf und die Brust und wartete darauf, dass er wieder zum Leben erwachte, so wie Quiet.

»Mutter!«, schrie Esther von der Tür, dann ließ sie ihr Buch fallen und war mit wenigen Schritten an Vaters Bett.

Sofort erschien meine Mutter hinter ihr.

Sah mich mit dem leeren Krug in der Hand dort stehen.

Sah meinen tropfnassen Vater, das nasse Nachthemd, das an ihm klebte.

»Ellie!«, schrie sie. »Was ist nur in dich gefahren?«

Sie stürzte an Vaters Seite und zog ihn in ihre Arme, wärmte ihn an ihrer Brust, während Esther das nasse Laken unter ihm wegzog …

… und ich wie erstarrt auf der Stelle stand und mit großen Augen auf die rechte Hand meines Vaters starrte.

Sie hatte gezuckt, ganz leicht.

8

»Das kannst du nicht vergleichen«, sagte meine Mutter, als mein Vater wieder trocken und sein Zimmer wieder eine Welt für sich war. »Der Welpe … und das gerade … Das ist nicht vergleichbar.«

»Aber warum nicht? Ich habe doch gesehen, wie seine Hand gezuckt hat. Ein bisschen hat das Wasser ihn aufgeweckt!«

Ich wusste, wie müde meine Mutter war. Ich wusste, wie sehr sie sich meinen Vater zurückwünschte. Und ich wusste, wie sehr es sie quälte, wenn irgendjemand versuchte, die Ruhe, die sie so mühsam in unser Leben gebracht hatte, zu stören. Aber ich war diese Ruhe leid. »Er hat sich bewegt, Mutter. Zum ersten Mal seit dem Unfall.«

Ich wollte so sehr, dass sie Hoffnung schöpfte. Dass sie wenigstens so etwas sagte wie: »Vielleicht. Möglich.« Doch stattdessen legte sie mir die Hände auf die Schultern und sagte: »Ein Körper hat seinen eigenen Willen, ganz egal, was wir sagen oder nicht sagen, Ellie. Die Hand deines Vaters hat gezuckt, weil du kaltes Wasser darübergekippt hast. Das ist alles.«

Doch mich überzeugte das nicht.

»Was, wenn er in seinem Körper gefangen ist und wir ihm einen Weg ins Freie verschaffen könnten?«

Sie sah mich halb traurig, halb ungeduldig an. »Genau das tun wir ja«, sagte sie. »Jeden einzelnen Tag.«

Indem wir leise mit ihm sprachen und ihm vorlasen, meinte sie. Indem sein kleiner Sohn sich dicht an ihn kuschelte. Indem ich seine Hand hielt.

»Alles, was er von uns bekommt, sind Wiegenlieder«, sagte ich, obwohl ich sie nicht traurig machen wollte. »Warum sollte er davon aufwachen?«

Sie nahm die Hände von meinen Schultern und trat einen Schritt zurück. »Geh und entschuldige dich bei ihm«, sagte sie.

Welchen Sinn sollte das haben? Wenn er zu tief schlief, um von eiskaltem Wasser wach zu werden, wie sollte er dann hören, wenn ich mich bei ihm entschuldigte?

In dem Moment, genau da, verstand ich zum ersten Mal, was für ein kompliziertes Ding die Hoffnung sein konnte.

Aber ich sagte nur: »Tut mir leid.« Denn das tat es wirklich. Dass sie so viel verloren hatte. Dass sie vielleicht noch mehr verlieren könnte.

»Zu ihm sollst du das sagen«, sagte sie und wandte sich ab.

In der Tür zu Vaters Zimmer stieß ich mit Esther zusammen, die gerade herauskam, die Arme voll mit nassen Laken.

»Was hast du dir nur dabei gedacht, so etwas Schreckliches zu tun?«, sagte sie. »Willst du, dass er krank wird?«

Darauf antwortete ich nicht. Keiner von uns hatte gewollt, dass er krank wurde.

Und trotzdem war er es.

Und nach all diesen Monaten, in denen ich zugesehen hatte, wie er da lag, war ich plötzlich überzeugt, daran etwas ändern zu können.

Meine Mutter hätte das Hochmut genannt.

Meine Schwester: Dummheit.

Mein Bruder: Quatsch.

Aber worauf es ankam, das war die Meinung meines Vaters.

»Papa«, flüsterte ich ihm ins Ohr, ganz nah, obwohl jetzt ein säuerlicher Geruch von ihm ausging statt seines gewohnten guten Geruchs nach sauberem Schweiß, nach Holzfeuer und staubigem Hund. »Mutter sagt, ich soll mich bei dir entschuldigen, und deswegen tu ich das jetzt.« Ich zögerte und holte tief Luft. »Es tut mir leid, wenn das Wasser zu kalt war.«

Aber, wie Esther zuvor gesagt hatte: Wenn war ein großes Wort.

»Es tut mir leid«, verbesserte ich mich, »dass das Wasser so kalt war. Aber ich wollte, dass du’s fühlst.«

Dann erzählte ich ihm von dem Welpen. Von Quiet, der in dem kalten Wasser aufgewacht war.

»Du hast das auch gespürt, nicht wahr?«, fragte ich, doch dieses Mal bewegte er sich nicht. Nicht das kleinste bisschen.

Ich lehnte mich zurück, schaute zur leeren Tür, beugte mich wieder vor. »Es geht uns schlecht, Papa. Mutter ist die ganze Zeit müde und lacht nie. Niemals. Sie hat auch nicht mehr gesungen oder Mandoline gespielt seit deinem Unfall. Samuel benimmt sich wie ein Kind, aber im Grunde ist er todtraurig, das merke ich. Und Esther glaubt, sie müsste von jetzt auf gleich erwachsen werden.« Ich zögerte wieder und nahm meinen ganzen Mut zusammen.

»Und ich, ich würde am liebsten jeden Baum am Berg abbrennen.« Das stimmte. Und stimmte auch wieder nicht. Ich liebte Bäume. Selbst die abgestorbenen. Selbst den, der meinen Vater schwer verletzt hatte, als er umstürzte. »Es ist schrecklich ohne dich, Papa. Wir brauchen dich zurück.«

Das war kein Schlaflied.

Von mir würde er keine Schlaflieder mehr bekommen.

»Du bist der Einzige, der weiß, dass es nicht meine Schuld war«, sagte ich, und fast versagte mir die Stimme.

Aber auch das stimmte nicht ganz.

Ich selbst wusste es auch.

Und vielleicht noch jemand, jemand, der vom Wald aus zugesehen hatte.

Aber nichts von alldem wäre noch wichtig, falls Vater wieder aufwachte.

Wenn er aufwachte.

Bevor ich aus dem Zimmer ging, küsste ich meinen Vater auf den Kopf. Auf die Narbe.

Wie eine Landkarte fühlte sie sich unter meinen Lippen an.

Und ich folgte ihr.

Zum Mittagessen aßen meine Mutter und Esther und Samuel Maispfannkuchen und in Butter gebratene Eier.

Für mich gab es Haferbrei.

»Es wird Zeit, dass du ein paar Dinge lernst«, sagte meine Mutter eher müde als streng. »Bevor du das nächste Mal eine deiner wilden Ideen in die Tat umsetzt, denk lieber ein zweites Mal darüber nach.«

»Oder ein drittes«, sagte Esther. Jedes Haar auf ihrem Kopf lag, wie es sollte, ihre Bluse war an den Manschetten ordentlich zugeknöpft. Sie war nur drei Jahre älter als ich, aber sie benahm sich, als lebte sie in einer älteren Welt. Einer vernünftigeren Welt. Einer, in der alles festen Regeln gehorchte. Aber ich wusste, so einen Ort gab es nicht.

Also aß ich stumm meinen Haferbrei und wusch anschließend klaglos das Geschirr ab. Wenn das der Preis war, den ich dafür zahlen musste, dass ich der Flamme in meiner Brust folgte, dann war es ein kleiner Preis.

Anschließend nahm ich die Essensreste — die wir alle, hungrig wie wir waren, mit Absicht auf unseren Tellern gelassen hatten — und brachte sie zu Maisie hinaus. Sie lag im Stroh, die Welpen tranken wieder, und ich fütterte Maisie Stück für Stück. Sie war genauso durstig und hungrig wie ihre Kleinen und leckte mir immer wieder über die Hand, bis auch das letzte bisschen von unserem Essen fort war. Dann trank sie die Milch, die ich ihr gebracht hatte, so wie die Welpen die Milch ihrer Mutter tranken.

Langsam, ganz langsam streckte ich eine Hand nach den Kleinen aus, und Maisie protestierte nicht, als ich ihre winzigen Köpfe berührte, am längsten den von Quiet, der sich kurz in meine Hand schmiegte, so als wollte er sagen: Gerade habe ich zu tun, aber warte. Bald bin ich da.

Ich verließ den Schuppen, ging erst ein Stück den Weg hoch und dann in den Wald, wo Schierlingstannen so dichte Schatten warfen, dass zwischen den Stämmen der alten Bäume fast nichts wuchs. Hier konnte ich leicht gehen, die dicke Schicht abgestorbener Nadeln unter meinen Füßen war wie das weiche Fell eines großen, ausgestreckten Tieres, dem mein Gewicht und der Druck meiner Stiefel auf seinem braunen Rücken nichts ausmachten.

Nicht lange, und ich hatte die Stelle erreicht, an der ich immer am besten nachdenken konnte.