Der Souveränitätseffekt - Joseph Vogl - E-Book

Der Souveränitätseffekt E-Book

Joseph Vogl

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Beschreibung

Wirtschaftskrisen bieten die Chance zur Realisierung des politisch Unbequemen, formulierte Milton Friedman einmal. Die Finanzkrise hat in ihrer jüngsten Zuspitzung zu einer unverkennbaren Krise des Regierens geführt, zu einer Notstandspolitik in der Grauzone zwischen Wirtschaft und Politik: Die Regierungsgeschäfte haben Expertenkomitees, improvisierte Gremien und ›Troikas‹ übernommen, deren Legitimation der Ausnahmefall ist.

Diese Entwicklung ist allerdings keineswegs neu. Wie Joseph Vogl in seinem neuen Buch zeigt, sind die Dynamiken des kapitalistischen Systems und des Finanzkapitalismus durch eine Ko-Evolution von Staaten und Märkten geprägt, in der sich wechselseitige Abhängigkeiten etablieren und verstärken. Vom frühneuzeitlichen Fiskus und dem Auftritt des privaten Financiers über die Entstehung von Zentralbanken hin zur Herrschaft von Finanzökonomie und »global governance« zeichnen sich Souveränitätsreservate eigener Ordnung ab, die autonom innerhalb der Regierungspraxis wirken und im Interesse privater Reichtumssicherung die Geschicke unserer Gesellschaften bestimmen: als ungenannte Vierte Gewalt im Staat.

Die aktuelle Dominanz von Finanzmärkten wird so als jüngste Spielart einer Ökonomisierung des Regierens begriffen, in der die Verschränkung von Machtausübung und Kapitalakkumulation informelle ›Souveränitätseffekte‹ erzeugt.

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Joseph Vogl Der Souveränitätseffektdiaphanes

Inhalt

Vorbemerkung

Erstes Kapitel

Funktionale Entdifferenzierung

Zweites Kapitel

Ökonomie und Regierung

Drittes Kapitel

Die seigniorale Macht

Viertes Kapitel

Apotheose der Finanz

Fünftes Kapitel

Vierte Gewalt

Vorbemerkung

Wirtschaftskrisen bieten die Gelegenheit zur Realisierung des politisch Unbequemen. Gerade die jüngeren Dramen auf den Finanzmärkten haben zu einem Regierungsstil geführt, dessen Verfahren und Instanzen sich über Staatsorgane, internationale Organisationen, Notenbanken und Privatunternehmen hinweg verteilten. In der Grauzone zwischen Wirtschaft und Politik haben Expertenkomitees, improvisierte Gremien oder informelle Konsortien aus politischen und ökonomischen Akteuren die Regierungsgeschäfte übernommen und wurden mit ihrer Notstandspolitik ausschließlich durch Zwangslagen und Ausnahmefälle legitimiert.

Diese Situation ist allerdings keineswegs neu. Denn die Dynamiken des modernen Finanzkapitalismus sind weniger durch die Entgegensetzung als durch eine Koevolution von Staaten und Märkten geprägt, in der sich wechselseitige Abhängigkeiten etablierten und verstärkten. Vom Auftritt der privaten Financiers fürstlicher Haushalte über die Entstehung von Zentralbanken und öffentlichem Kredit bis hin zur aktuellen Herrschaft der Finanzökonomie zeichnen sich Souveränitätsreservate eigener Ordnung und Qualität ab. Die Neuzeit hat nicht nur Staatsapparate, international operierende Konzerne, einflussreiche Finanzindustrien und dezentrale Märkte hervorgebracht. Es hat sich auch ein spezifischer Machttypus formiert, der eine autonome Stellung innerhalb der Regierungspraxis einnimmt. Er ist weder durch politische Strukturen noch durch ökonomische Operationen und Strategien hinreichend beschreibbar, sondern allein über das Ineinanderwirken beider Pole charakterisiert. Der vermeintliche Antagonismus von politischer Autorität und Kapital ist darin geschwächt, aufgehoben oder schlicht nicht virulent.

Der Wirksamkeit und der Geschichte dieses Machttyps widmet sich dieser historisch-spekulative Versuch. Er folgt der These, dass sich im modernen Finanzwesen eine politische Entscheidungsmacht konzentriert, die abseits von Volkssouveränitäten und unter Umgehung demokratischer Prozeduren agiert. Im Laufe der letzten dreihundert Jahre hat sie den Charakter einer ›vierten Gewalt‹ angenommen, in der sich die Bildung von Kapitalmacht nicht von der Aktivierung von Machtkapitalien sondern lässt. Die aktuelle Dominanz des Finanzregimes wird somit als jüngste Spielart einer Ökonomisierung des Regierens begriffen, die sich in aggressiven Kopplungen zwischen politischen Gefügen und Privatkapital, in der effizienten Verknüpfung von Markt und Macht manifestiert. Die notorische Gegenüberstellung von Wirtschaft und Politik erweist sich als Legende des Liberalismus und reicht nicht hin, um die Genese und die Gestalt moderner Machtausübung zu fassen.

Daraus ergibt sich der Parcours der folgenden Kapitel. Sie beziehen sich allesamt auf die Schauplätze politisch-ökonomischer Indifferenzzonen, die mit der Ausbildung neuzeitlicher politischer Ordnungen und Wirtschaftssysteme verbunden sind. Ausgehend von der Charakteristik einer internationalen Notstands- und Krisenpolitik seit 2008 (erstes Kapitel) werden zunächst zwei unterschiedliche Herkunftslinien des ökonomischen Regierens untersucht. Einerseits geht es um die Bedeutung von Ökonomie und politischer Ökonomie für das Regierungswissen seit dem siebzehnten Jahrhundert (zweites Kapitel). Andererseits rücken die engen Bündnisse und Verwicklungen zwischen Fiskus und privater Finanz in den Blick (drittes Kapitel). Die hohe Verschuldung europäischer Fürsten- und Staatshaushalte seit der Renaissance führte nicht nur zur Entstehung und Expansion von Kapitalmärkten. Mit der Einrichtung einer ›ewigen Staatsschuld‹ und den Garantien des öffentlichen Kredits ging vielmehr die Bildung starker und international tätiger Finanzkonsortien einher. Die Funktionsweise des internationalen Finanzsystems ist mit der systematischen Integration privater Gläubiger und Investoren in die Ausübung von Regierungsmacht verknüpft (viertes Kapitel). Spätestens seit dem neunzehnten Jahrhundert verkörpert sich der Nexus von Staat und Finanz in jenen Institutionen, die wie Zentral- und Nationalbanken einen prekären, exzentrischen und herausragenden Posten im Regierungshandeln besetzen (fünftes Kapitel). Schließlich haben sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Kräfteverhältnisse eingestellt, in denen sich ein flagranter Machttransfer von Regierungen und Staaten zu den Finanzmärkten selbst vollzog (sechstes Kapitel). Souveräne Befugnisse wie Geldschöpfung und Liquidität sind in die Finanzsphäre abgewandert und diktieren eine Lage, in der die Strategien privater Bereicherung über ›Souveränitätseffekte‹ unmittelbar auf das Geschick von Volkswirtschaften und Gesellschaften zurückwirken.

Erstes KapitelFunktionale Entdifferenzierung

Herbst der Finanz

Vier Tage im amerikanischen Herbst 2008. Am Freitagmorgen, den 12. September, stand die New Yorker Investmentbank Lehman Brothers vor dem Bankrott und löste einen schnellen Takt von Krisensitzungen zwischen amerikanischen und britischen Regierungsstellen, Notenbankchefs, internationalen Großbanken und Privatinvestoren aus. Bereits im März 2008 hatte die Investmentbank Bear Stearns mit Staatsgarantien von 29 Milliarden Dollar zur Übernahme durch JPMorgan Chase & Co. gezwungen werden müssen, und nachdem die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac im Sommer 2008 mit 140 Milliarden gerettet worden waren, schloss US-Finanzminister Henry Paulsen nun die Bereitstellung weiterer Steuergelder für Lehman Brothers aus. Noch am Freitagabend wurde den Vertretern von amerikanischen und europäischen Bankunternehmen – darunter Bank of America, Goldman Sachs, Morgan Stanley, Citigroup, Barclays, Credit Suisse, Deutsche Bank, PNP Paribas – in den Konferenzräumen der Federal Reserve Bank von New York die Notwendigkeit einer privatwirtschaftlichen Lösung klargemacht. Verschiedene Investoren sollten beteiligt, Risiken gestreut werden. Die Bank of America aus North Carolina und Barclays mit Sitz in London waren interessiert. Inzwischen meldete auch der Versicherungskonzern American International Group (AIG) Liquiditätsprobleme, und spätestens am folgenden Morgen, am Samstag, den 13. September, war erkennbar, dass das »Wohl des globalen Finanzsystems« auf dem Spiel stand, wie einer der beteiligten Bankmanager bemerkte. Gleichzeitig suchte die ebenfalls angeschlagene Investmentbank Merrill Lynch – aus Sorge, dass nach einer möglichen Rettung von Lehman die Krise auf die nächste Schwachstelle im System übergreifen könnte – nach zusätzlichen Kapitalbeteiligungen. Sie wurde nach kurzen und geheimen Verhandlungen von der Bank of America übernommen, die sich damit den Zugang zum internationalen Investmentgeschäft versprach. Für eine Rettung von Lehman Brothers stand die Bank of America nun nicht mehr bereit.

Im Laufe des Samstags musste man einsehen, dass die Ausfälle von Lehman drastischer, die Liquiditätsnöte von AIG weit größer waren als angenommen. Zudem kamen die Bemühungen zur Übernahme von Lehman durch Barclays in London nicht voran. Zwar konnte die britische Bank einen plausiblen Finanzplan vorlegen, benötigte aber bis zur Zustimmung ihrer Aktionäre, die durch das britische Recht gefordert war, finanzielle Garantien von bis zu 60 Milliarden Dollar, die kein privater Investor bereitstellen wollte. Die Zeit bis Handelsbeginn am Montag wurde knapp. In zahlreichen Telefonaten, die am Sonntag, den 14. September, zwischen amerikanischem Finanzministerium, New Yorker Notenbank, Barclays, britischem Schatzkanzler und der britischen Finanzaufsichtsbehörde geführt wurden, ergab sich, dass London auf der Zustimmung der Barclays-Aktionäre beharren und ohne volle Finanzgarantie dem Geschäft nicht zustimmen würde. Während man in London auf klare Zusagen seitens der US-Amerikaner drängte, wurde in den USA ein solides und eindeutiges Angebot vermisst, auf das man hätte reagieren können. Gegen Mittag zerschlug sich die Barclays-Option. Die Bereitstellung weiterer Mittel durch US-Regierung und Federal Reserve blieb ausgeschlossen, und begleitet von der Hoffnung, die Finanzmärkte und ihre Akteure müssten angesichts der kritischen Lage auf einen Fall dieser Art vorbereitet sein, ging Lehman Brothers in der Nacht zum Montag, den 15. September 2008, in den Konkurs.1 Banken werden stets am Wochenende gerettet. Oder eben nicht.

Auch wenn die letzte Finanzkrise bereits mit dem Einbruch des amerikanischen Hypotheken- und Immobilienmarktes 2006 und den Engpässen im Interbankenhandel seit 2007 begonnen hatte, konnte sie erst nach dem »Lehman Weekend« zum globalen Systemkollaps eskalieren. Was dann geschah, ist hinreichend bekannt und führt in das Reich jener Lösungen, die die Probleme verschieben und verschärfen. Der Lehman-Konkurs zog achtzig Insolvenzverfahren in achtzehn verschiedenen Ländern außerhalb der USA nach sich. Bis zum Jahresende 2008 verschwanden 53 Banken oder wurden verstaatlicht. In den USA wurde AIG mit 182 Milliarden Dollar durch die Federal Reserve gestützt. Washington Mutual und Wachovia gingen bankrott; Bank of America und Citigroup wurden durch Bailouts gerettet, ein Hilfsprogramm im Volumen von 700 Milliarden Dollar aufgelegt; und nach dem Verschwinden von Bear Stearns, Lehman Brothers und Merrill Lynch blieben von den fünf großen Investmentbanken der Wall Street nur Goldman Sachs und Morgan Stanley im Geschäft, die sich überdies nur durch eine schnell improvisierte Verwandlung zu Bankholdings unter den Schutzschirm der US-Regierung retten konnten. In der weiteren Folge kollabierten internationale Geldmarktfonds, der Handel mit Geldmarktpapieren, Aktienkurse, Kapital- und Kreditmärkte brachen ein, Kreditzinsen und Risikoprämien stiegen, von den USA ausgehend breitete sich die Spirale von Liquiditätslöchern, Kreditklemmen, Insolvenzen, Rettungspaketen und staatlichen Bürgschaften nach Asien, Europa und Lateinamerika aus. Der Kollaps auf den Finanzmärkten zog Fiskalkrisen nach sich und entwickelte sich zur notorischen Weltwirtschaftskrise mit rückläufigem Welthandel, schrumpfenden Bruttoinlandsprodukten, Rezession, Steuerausfällen, Staatsbankrotten und steigender Arbeitslosigkeit. Bis hin zu den anhaltenden Verwerfungen in der Eurozone hat sich die Wirksamkeit des Herbstwochenendes vom Jahr 2008 – wie vermittelt auch immer – fortgesetzt und über Schuldenbremsen, Austeritätsprogramme, Privatisierungen, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik das akute Regierungshandeln diktiert.2

Unerhörte Begebenheit

Noch 2007 hatte man in prominenten Expertisen dem weltweiten Finanzsystem größte Stabilität, robuste Gesundheit und insgesamt schöne Aussichten attestiert, noch am 10. September 2008 waren Vertreter der Hochfinanz wie Josef Ackermann ganz und gar überzeugt davon, dass es einen Lehman-Kollaps nicht geben würde; und zwangsläufig musste man dann das Geschehen vom September 2008 als das Ende einer finanzkapitalistischen belle époque, als »Armageddon«, »Jahrhundertkatastrophe«, »gewaltiges Beben«, »Wasserscheide« oder »größtes Melodram« der jüngeren Wirtschaftsgeschichte erfahren.3 Dabei erscheint es bemerkenswert, dass die ominöse Entscheidung über den Lehman-Konkurs zunächst keine wirkliche Entscheidung war. Viel eher setzte sich hier ein Gesetz der unbeabsichtigten Folgen durch und lieferte mit den Ereignissen zwischen dem 12. und dem 15. September 2008 den Stoff zu einer Finanz-Novelle, deren Dynamik Kleist’schen Charakter gewann. Ernsthafte Absichten, trügerische Hoffnungen, Fehleinschätzungen, widrige Umstände und Inkonsequenzen, ein Gemenge aus Geschäftsinteressen, öffentlichen und politischen Rücksichten, rechtliche Bedenken und Handlungsdruck, unterschiedliche Weltsichten, schnelle Peripetien, Missverständnisse und kleine Sturheiten ergaben ein Ereignisformat, das die beteiligten Akteure ebenso verantwortlich wie bar jeder Zurechnungsfähigkeit erscheinen ließ. So sehr die unerhörte Begebenheit von 2008 das globale Wirtschaftsgeschehen bestimmte, so wenig stößt man bei ihrer Rekonstruktion auf einen verlässlichen Grund. Allenfalls könnte man darin eine Art »strukturierter Verantwortungslosigkeit« erkennen, ein mehrfach delegiertes Handeln, das sich in unterschiedlichen Portionen über Privatunternehmen, Zentralbanken und Regierungsstellen hinweg verteilte und in seinem Zusammenspiel »unvorhersehbare Effektakkumulationen, Schwellenüberschreitungen, plötzlich eintretende Irreversibilitäten« erzeugte.4 Man mag sich schließlich mit der Feststellung behelfen, dass die damalige Entscheidung ebenso unglücklich wie alternativlos war und ihren handlungslogischen Ausdruck einzig im Irrealis fand, wie es der damalige US-Notenbankchef Ben Bernanke nachträglich formulierte: »Wenn wir den Bankrott [von Lehman Brothers] hätten verhindern können, hätten wir es getan.«5 Ähnlich wie am Ende von Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit die Stimme eines ratlosen Gottes zum Desaster des Ersten Weltkriegs bemerkte: »Ich habe es nicht gewollt«, musste einer der Protagonisten vom September 2008 abschließend resümieren: »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.«6

Wenn das Septemberwochenende 2008 dennoch als prägnanter Moment im Verlauf des jüngeren Wirtschaftsgeschehens angesehen werden kann, d. h. als eine kritische Konstellation, in der sich wesentliche Determinanten ebendieses Geschehens versammeln, so liegt das nicht zuletzt daran, dass die in ihm wirksamen Prozesse, Verfahren und Agenturen zu jenen Faktoren gehören, die unmittelbar an der Formierung politökonomischer Handlungsmacht beteiligt sind. Wie immer man diese Ereignisse nachträglich interpretieren mag, als Missgeschick, Anlass oder unerwarteten Auslöser der letzten globalen Finanzkrise – sie sollten jedenfalls nicht nur als bizarre Episode mit unabsehbaren Konsequenzen erinnert werden. Was im September 2008 passierte, muss vielmehr als exemplarisches Entscheidungsspiel begriffen werden, als Schaubild für die Verfertigung, den Ablauf und die Logik von Entscheidungsprozessen im finanzökonomischen Regime. Ein Konsortium aus öffentlichen und privaten Akteuren, improvisierte Meetings, geheime Absprachen und ein Zeitdruck, der von den Bewegungen der Finanzmärkte diktiert wird – all das ist spätestens seit 2008 modellhaft geworden, hat das gouvernementale Handeln sowie das Geschick gegenwärtiger Volkswirtschaften und Gesellschaften bestimmt. Von den hektischen Verhandlungen über die Rettung von Lehman Brothers bis zur europäischen Krisenpolitik wenige Jahre danach lässt sich eine Informalisierung relevanter Entscheidungen in der Grauzone zwischen Wirtschaft und Politik verzeichnen, eine Informalisierung ihrer Prozeduren und ihrer Instanzen. Expertenkomitees, Regierungsgremien, Ausschüsse, Arbeitsgruppen, sogenannte ›Troikas‹, ›Merkozys‹ etc. hatten de facto die Regierungsgeschäfte übernommen und waren ausschließlich durch besondere Situationen, außerordentliche Ereignisse, Zwangslagen oder Ausnahmefälle legitimiert.

Notstand

So wurde etwa in den USA 2008 erstmals jener Notfallparagraph 13(3) des Zentralbankgesetzes beansprucht, nach dem die Federal Reserve in »ungewöhnlichen und dringlichen Lagen« (unusual and exigent circumstances) ihren gesetzlich definierten Handlungsspielraum überschreiten und ausnahmsweise jedermann, Individuen und Unternehmen, mit öffentlichen Krediten unterstützen kann (discounts for individuals, partnerships, and corporations). Die britische Regierung hatte nach dem Bankrott isländischer Banken eine »außergewöhnliche Situation« festgestellt, dann jüngst verabschiedete Anti-Terrorgesetze angewendet und isländische Auslandsvermögen eingefroren. Und noch Jahre später wurde die sogenannteroadmapzur Stabilisierung der Eurozone unter Berufung auf aktuelle Gefahrenlagen und die damit verbundene »Dringlichkeitskulisse« (backdrop of urgency) annonciert.7In einer ununterbrochenen Serie von »entscheidenden« und »sehr entscheidenden Momenten« sind die Referenzen an Notlagen und existenzielle Bedrohung nicht nur zum Normalfall im internationalen Krisenmanagement geworden. Sie wurden überdies von einer Rhetorik des Ausnahmezustands begleitet, mit der man in unterschiedlichen Versionen konstatierte, dass »Notzeiten« nun »Notmaßnahmen«, »ungewöhnliche Umstände« eben »ungewöhnliche Maßnahmen« erfordern – oder noch zugespitzter gesagt: dass man »im finanzökonomischen Äquivalent von Kriegszeiten« zwangsläufig »kriegerische Machtmittel« aktivieren muss.8Diese außerordentlichen Maßnahmen – von den Rettungsdiensten der US-Regierung bis zu den umstrittenen Interventionen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und der Europäischen Zentralbank (EZB) – operierten meist im regellosen Raum, sie überschritten ›rote Linien‹ und bewegten sich insgesamt im Grenzgebiet bestehender politischer und rechtlicher Normen. Mit dem sprichwörtlichen »Not kennt kein Gebot« – odernecessitas non habet legem – hat man Eskalationspotentiale adressiert, die im Feld rechtlicher Normallagen nicht vorgesehen sind.9Schließlich geriet man damit in jenen unbequemen Entscheidungsbezirk, in dem zwangsläufig das Wohl der einen oder anderen Gruppe (seien es diese oder jene Unternehmen, amerikanische Hausbesitzer oder griechische Rentner) einem höheren Gut oder allgemeinen Besten geopfert werden musste. Hier galten weniger frohe denn unerbittliche Botschaften, die neue und schnell zu exerzierende Imperative zum Erhalt des Systemganzen verkündeten. Diese Maßregeln, so lautete das einmal in der Paraphrase der deutschen Bundeskanzlerin, »dürfen sich nicht nach den Schwächsten richten, sondern sie müssen sich nach den Starken richten. Ich weiß, dass das eine harte Botschaft ist. Ökonomisch ist sie aber ein absolutes Muss. Sonst kämen wir vom Regen in die Traufe.«10

Spätestens seit 2008 und im Zeichen der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich also das Programm einer Notstandspolitik formiert, deren Konsistenz und Eigenart sich – zusammengefasst – durch folgende Merkmale auszeichnet: durch Ausnahmesituationen, die außerordentliche Instrumente und Maßnahmen verlangen; durch Abstimmungsprozesse, die sich hinter verschlossenen Türen vollziehen, vom Takt der Finanzmärkte bestimmt werden und mit der Langwierigkeit formaler Verfahrenswege kollidieren; durch eine Entscheidungsnot, die zur beherzten Gewichtung unterschiedlicher Interessenlagen zugunsten eines allgemeinen Besten zwingt; schließlich durch den informellen Charakter von Entscheidungsinstanzen, die mit ihrer Handlungsmacht den Titel von schnell einberufenen ›Wohlfahrtsausschüssen‹ verdienen.

Staatsstreich

Man mag in einem Politikstil dieser Art eine verwirrende Ununterscheidbarkeit zwischen politischer »Form und Unform«11erkennen, vielleicht auch eine Krise des Regierens überhaupt, die sich durch eine unklare und improvisierte Verteilung von Handlungskompetenzen zwischen staatlichen Instanzen und ökonomischen Akteuren auszeichnet und das gesetzte Format von Institutionen und Verfahren erodiert. Dieses Handlungsprofil ist aber keineswegs neu. Es verweist zunächst auf das ältere Fach der Staatsräson und somit auf die Tradition einer politischen Vernunft, die sich seit der frühen Neuzeit den Fragen nach den geeigneten Mitteln zur Selbstbehauptung bestehender politischer Ordnungsgefüge verschreibt; aus der Not geborene Interventionen werden mit Verweis auf die Sicherung des Staatswohls legitimiert. Eine genauere Fassung erhält dieses Verfahren allerdings durch einen Begriff, mit dem man seit Anfang des siebzehnten Jahrhunderts die Sachtechnik eines effektiven Krisenmanagements und die Überschreitung regelkonformen Agierens angesichts akuter Gefahrenlagen umriss. So hat etwa der französische Kardinalssekretär und Bibliothekar Gabriel Naudé in seinenConsidérations politiques sur les coups d’états(Politisches Bedencken über die Staatsstreiche), die 1639 in einer verschwindend geringen Auflage von zwölf Exemplaren erschienen, verschiedene politische Notlagen durchmustert und unter dem Begriff des ›Staatsstreichs‹ jene Komponenten versammelt, die auch die Dramen des jüngsten Krisenregimes charakterisieren.

Demnach muss man zwei Formen politischer Klugheit unterscheiden und einräumen, dass die üblichen politischen Regeln nicht für Ausnahmesituationen und den casus extremae necessitatis gelten können. Dieser Notstand zeichnet sich dadurch aus, dass plötzliche Unabsehbarkeiten, potentielle Bedrohungen und höchst ungewisse Zukünfte ein proleptisches Vorgehen und den schnellen Vorgriff auf künftige Beschwernisse erzwingen. Auch hier geht es um ungewöhnliche Wege und Maßnahmen. Auch hier geht es um die Eröffnung undefinierter Handlungsspielräume, um die »Ueberschreitung des gemeinen Rechts wegen des gemeinen besten«; und auch hier werden schließlich »kühne und außerordentliche Dinge« verlangt, derer sich die Regierungen »in schweren und gleichsam verzweiffelten Händeln / ohn Beobachtung der Gerechtigkeit und dem gemeinen Rechte zu wieder / zugebrauchen gezwungen seyn / also daß sie die Wohlfahrt eines oder des anderen gegen das gemeine beste in die Schantze schlagen«.12 Mit dem Begriff des Staatsstreichs hat die Reflexion von Ordnungslücken, kritischen Situationen und Ausnahmefällen einen systematischen Ort im politischen Wissen eingenommen, mit ihm sind die durchbrochene Norm, der transgressive Akt und diverse Überschreitungskompetenzen zum Ausgangspunkt politischer Theoriebildung geworden.

Begreift man den ›Staatsstreich‹ im Sinne Naudés weniger als polemischen Titel denn als Terminus technicus im politischen Wissen der Neuzeit, so ist damit nicht bloß eine Spielart barocker Macht bezeichnet, die den Überraschungscoup mit dem Eklat eines ebenso dramatischen wie überwältigenden politischen Akts verknüpft oder sich in Nacht-und-Nebel-Aktionen erschöpft. Vielmehr muss man das »bitter-süße« Verfahren des Staatsstreichs als einen Extremfall »guten Regierens« verstehen, als äußerstes Mittel politischer Rationalität, das an der Sorge um den Erhalt der herrschenden Ordnung orientiert ist und insgesamt sowohl defensiven als auch konservativen Charakter besitzt.13 Anders als seine moderne Begriffsversion ist der frühneuzeitliche Staatsstreich keineswegs durch die gewaltsame Konfiszierung des Staates, durch Putsch, Umsturz und die Beseitigung bestehender Herrschaftsgewalt definiert. Seinen prekären Status erhält er allenfalls dadurch, dass er zwar Aktionen im Sinne des öffentlichen Wohls umfasst, aber nicht durch allgemeine Prinzipien und Regierungsmaximen gerechtfertigt werden kann. Er verlangt eine situative, von Fall zu Fall wirksame und gleichsam kasuistische Abschätzung konkreter Sachlagen im Zeichen des Extremen. Er formiert sich im Verborgenen, operiert aus dem »Stegreiff«, er unterbricht den verlässlichen Bezug zu verlässlichen Regeln aller Art; er löst sich von prozeduralen, juristischen oder institutionellen Fassungen und manifestiert sich in purer Informalität. In ihm verdichtet sich ein ungewöhnliches Wissen über unerhörte Aktionen in außerordentlichen Situationen, er umfasst die Anwendung geeigneter Mittel im konkreten Fall für einen konkreten Erfolg.

Dabei lässt sich die systematische Bedeutung dieses Konzepts – über seinen historischen Entstehungsort hinaus – in zweierlei Hinsicht bestimmen. Einerseits ist sein Geltungsraum das Einsatzgebiet einer gouvernementalen Vernunft, die sich nicht an Rechtsinstituten und Verfahrensnormen, sondern an der Effizienz von heterogenen Praktiken und Strategemen orientiert. Ihr Kriterium liegt nicht in Gesetzesform und Rechtmäßigkeit, sondern im geschickten Umgang mit Mitteln, die unter gegebenen Umständen der Sicherung von Ordnungsmacht dienen. Sie bezieht sich weniger auf eine Allgemeinheit von Regierungsprinzipien als auf jene Ressourcen und Kräfteverhältnisse, in denen sich die Stärke, die Dynamik und die Vitalität des politischen Wesens verkörpern. Nicht von ungefähr standen im Fluchtpunkt von Naudés Traktat das Vorbild und die Regierungspraxis eines Kardinal Richelieu, der als Erster Minister unter Ludwig XIII. die Raffinesse innen- und außenpolitischer Taktik mit frühen Versuchen einer merkantilistischen Handels- und Fiskalpolitik verband. Andererseits gewinnen im Konzept des Staatsstreiches Not- und Gefahrenlagen exemplarischen Charakter und zeichnen sich durch den Vorzug regierungstechnischer Evidenz aus. So sehr es hier um die Reaktionsform außergewöhnlicher Maßnahmen auf außerordentliche Sachlagen geht, so sehr liegen die dabei verfügbaren Mittel und Potentiale immer schon – latent, ruhend, ungenutzt – bereit. Ihr Aufgebot im Extremfall bedeutet demnach eine akute Selbstäußerung vorhandener Kräfte und Instrumente. Hier manifestiert sich eine »direkte Bezugnahme des Staats zu sich selbst unter dem Zeichen der Notwendigkeit«, hier zeigt sich das resolute, unverzügliche und regellose Einwirken der herrschenden Ordnung auf sich selbst.14 In der Ultima Ratio politischer Selbsterhaltung vollzieht sich eine »Apokalypse« oder Offenbarung des Machtursprungs.15 In Notlagen und außerordentlichen Maßnahmen werden also gerade jene Kräfte aktiviert und sichtbar, die das bestehende Ordnungsgefüge fundieren und in weniger bewegten Zeiten dezent oder schlicht unbemerkt bleiben.

Finanzökonomisches Regime

Über alle historischen Entfernungen und Unvereinbarkeiten hinweg geben die morphologischen Korrespondenzen von barocker Machttheorie und jüngster Regierungspraxis einige Hinweise dafür, wie sich die Gegenstände, Verfahren und Instanzen von Entscheidungsprozessen im aktuellen finanzökonomischen Regime situieren lassen. Sie haben sich in einer allgemeinen Notstandsmentalität formiert. Informelle Gremien, geheime Beschlüsse, die Aussetzung formaler Verfahrenswege, die Einklammerung rechtlicher Rücksichten, die Sorge um den Erhalt bestehender Ordnungssysteme, das Diktat ungewöhnlicher Maßnahmen im Zeichen politischer Dringlichkeit – all das hat einen politischen Entscheidungsstil geprägt, der sich mit seinen Effekten und mit seiner transgressiven Dynamik im Umkreis eines kontinuierlichen ›Staatsstreiches‹ bewegt. Dabei geht es nicht allein darum, wie man unter dem Druck finanzökonomischer Zwangslagen umständliche parlamentarische Beteiligungen umgehen, Volksentscheide vermeiden, demokratische Gepflogenheiten preisgeben und die bestehende Marktordnung vor der »Tyrannei der zufälligen Majorität einer Volksversammlung«16 bewahren kann. Es treten vor diesem Hintergrund vielmehr zwei wesentliche Aspekte hervor. Erstens hat die darin wirksame gouvernementale Vernunft eine intergouvernementale Reichweite beansprucht und neue Maßstäbe für die Exekution des Außerordentlichen und die Suspendierung von Rechtsregeln gesetzt. Das gilt insbesondere in Europa. Vom Kampf gegen rechtliche und politische Schranken bei der Verabschiedung der ersten Rettungspakete über die Aussetzung nationaler Budgetrechte bis hin zur besonderen Exekutivgewalt verschiedener EU-Organe haben sich über Staatsgrenzen hinweg Figuren exzeptioneller politischer Macht ausgeprägt. Als hätte man Milton Friedmans Ratschlag beherzigt, Wirtschaftskrisen als Chancen zur Realisierung des politisch Unbequemen zu ergreifen,17 wurde das Gelegenheitsfenster der letzten Krise dazu genutzt, neue Handlungsspielräume zu erschließen, politische Prioritäten zu setzen, die Interessen der Finanzindustrie zu sichern und über konstitutionelle Bedenken hinweg Entscheidungsmacht neu zu sortieren. Zur Rettung des Kapitalismus durfte man den Verlauf des Geschehens nicht allein den Finanzmärkten überlassen, und die vergangene Krise sollte nicht nur als Kollaps, sondern als Aggregat zur Kapitalakkumulation begriffen werden. Darüber hinaus wurden die damit verbundenen Ausnahmebefugnisse sogleich auf Dauer gestellt: sei es durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, jene Zweckgesellschaft luxemburgischen Rechts, deren Organe bei der Entscheidung über Notkredite völlige Immunität genießen und mit ihren Direktiven außerhalb jeder parlamentarischen und judikativen Kontrolle stehen; sei es durch den europäischen Fiskalpakt und durch die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts, welche die EU-Kommission und den Europäischen Rat in besonderen Situationen zum unmittelbaren Durchgriff auf die Haushaltspolitik von Einzelstaaten ermächtigen. Unter Zeitdruck und im Sinne einer »ungeschriebenen Notstandsverfassung« wurden dabei europarechtliche Gesetzgebungsverfahren umgangen. Innerhalb bestehender Rechtsordnungen ist eine rechtlich nicht formalisierte Sekundärstruktur geschaffen worden, die als exzeptionelle Handlungsreserve für permanent mögliche Krisensituationen fungiert. Erprobte Abhängigkeitsverhältnisse, wie sie etwa zwischen Internationalem Währungsfonds und Entwicklungsländern über Strukturanpassungsprogramme seit langem bestehen, wurden nun auf analoge Weise in europäischem Maßstab installiert.18

Zweitens sind im Zeichen der jüngsten Notlage einige Grundzüge gegenwärtiger Ordnungsmacht aus der Latenz und an die Oberfläche getreten. Man konnte Einblicke in die arcanaimperii, in die Machtgeheimnisse der Finanzökonomie nehmen und dabei bemerken, dass deren Funktionsweise keineswegs einer strengen Aufteilung in politische und ökonomische Zuständigkeitsbereiche entspricht. Ihre Effizienz zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass staatliche, überstaatliche und finanzwirtschaftliche Agenturen eine hohe Organisationsdichte herstellen und einander mit ihren Aktivitäten wechselseitig ergänzen und durchdringen. Diese Verflechtungsintensität gilt auf allen möglichen Ebenen: auf einer systemischen, wo es um die Angleichung von Regierungspraxis und ökonomischer Governance geht; auf einer technischen, auf der die Bindung von Fiskalpolitik an Finanzmärkte durch Schuldenbremsen und Strukturreformen verfestigt wird; auf einer personellen, die von einer Rotation des üblichen Funktionspersonals zwischen Großbanken, Wirtschaftsunternehmen, Regierungsposten und Zentralbanken bestimmt ist.19 Diesseits aller Arbeitsteilung lässt sich an den Dispositionen, an den Manövern, Taktiken und Techniken des jüngsten Krisenmanagements der Modus einer politökonomischen Machtfigur verfolgen, die nicht in Begriffen funktionaler Differenzierung darstellbar ist.

Das gilt auch für die Herkunft des aktuellen Finanzsystems, das erst durch die staatlichen Deregulierungsprozesse der letzten Jahrzehnte ermöglicht wurde. So konnte man an die heftigen politischen Interventionen erinnern, mit denen eine hochgerüstete Staatsgewalt unter Thatcher und Reagan die Fundamente für die Finanzialisierung moderner Volkswirtschaften und für die Entstehung sogenannter ›Eigentümergesellschaften‹ gelegt hat. Und als erster Testfall für diese Konstellation konnte jener 11. September 1973 angesehen werden, an dem der Militärputsch in Chile die Doppelfigur von autoritärem Regime und radikalem Marktliberalismus durchgesetzt hatte. Bereits am 12. September lag ein 500-seitiges Wirtschaftsprogramm vor, das von der Chicago School diktiert worden war, die hinlänglich bekannte Auftragsliste enthielt und als Blaupause für die entsprechenden Maßnahmen fungierte: Privatisierung von Staatsunternehmen, Privatisierung von Bildung, Gesundheitswesen und Altersversorgung, Kürzung von Sozialausgaben, Deregulierung von Märkten und insbesondere von Finanzmärkten, Abschaffung von Preiskontrollen, Zerschlagung von Gewerkschaften.20 Man mochte hier die Spielart eines autoritären Kapitalismus erkennen, der auch bei neoliberalen Ökonomen die Ahnung aufkeimen ließ, dass die »guten Dinge – wie Demokratie und marktorientierte Wirtschaftspolitik – nicht immer zusammenpassen«.21 Vor allem aber stellt sich die grundlegende Frage, ob der notorische Dualismus von Wirtschaft und Politik überhaupt hinreicht, um den Vollzug solcher korporativen und konzertierten Aktionen sowie die Arbeitsweise des finanzökonomischen Regimes zu erfassen.

Indifferenzzone

Es ist wohl einer gut eingeübten Denkfigur des Liberalismus geschuldet, dass die politische Theorie seit mehr als zweihundert Jahren am Gegensatz oder Spannungsverhältnis zwischen Staat und Markt laboriert. Demnach steht dem Staat als Ensemble von rechtlichen und administrativen Praktiken das Feld einer bürgerlichen Gesellschaft gegenüber, die ihre spontane und natürliche Ordnung in der Wirtschaft und in den Gesetzen des Marktes findet. Es wird somit ein klar aufgeteiltes Terrain vorgestellt, auf dem in einem endlosen Wechselspiel von Argumenten und Positionen eine Begrenzung von Staatsmacht durch Märkte, die Zähmung des Marktes aber wiederum von staatlichen Autoritäten erhofft wird. Den Freiheitsspielräumen der einen Seite stehen Sicherheitsbedenken auf der anderen gegenüber, und die Weisheit dieser theoretischen Legende will es, dass man sich gegen einen übermächtigen Leviathan auf das Spiel freier Wirtschaftskräfte, gegen die Wildnis der Märkte aber auf einen vorsorgenden Souverän beruft. Auf diesem Boden können ein Carl Schmitt und ein Friedrich Hayek einander recht unkompliziert begegnen. Wie der eine nämlich ein ganz und gar liberalistisches Konzept des Liberalismus verfolgt und im Ökonomischen eine prekäre Neutralisierung des Politischen beklagt, möchte der andere im Politischen nur drohende Gestalten von Willkür und Zwang konstatieren.22 Die Choreographie geläufiger politischer und ökonomischer Theorie ist durch die Entgegensetzung von Staatsapparat und Marktmechanismen charakterisiert, verfehlt damit aber den konkreten Sachverhalt; sie wird der Dynamik des Finanzkapitalismus, der damit verbundenen Regierungspraxis und den Operationen im jüngsten Krisengeschehen nicht gerecht. Der Antagonismus von Politik und Ökonomie erzeugt selbst einen blinden Fleck, er verstellt die brüchige Systemgrenze und die Prozesse funktionaler Entdifferenzierung.

Die Notstandspolitik der letzten Jahre hat auf das Eskalationspotential von Machtgefügen an der Naht zwischen Staatsform und Wirtschaftsprozess aufmerksam gemacht, und gerade die Finanzindustrie scheint ein wesentliches Relais in der Vermittlung von politischer und ökonomischer Weltorganisation darzustellen. Hier steht die Wirkungsweise einer Indifferenzzone auf dem Spiel, in der Staat und Markt einander nicht als abgeschlossene Entitäten gegenüberstehen. Deren Kräfteverhältnisse formieren sich vielmehr in kontinuierlichen Übergängen, Allianzen, Fluktuationen und wechselseitigen Verstärkungen zwischen beiden Polen. Die Unterscheidung öffentlich/privat ist deaktiviert.

Auch wenn man zuweilen provisorische Umschreibungsformeln für dieses Sachgebiet parat hielt und dabei eine Neigung zum Oxymoron bewies (von Hillary Clintons »wirtschaftlicher Staatskunst« bis zu Merkels »marktkonformer Demokratie«), hat man es mit einem Bezirk zu tun, dessen historische, begriffliche und theoretische Dimension allenfalls sporadisch erschlossen wurde. Angesichts der jüngsten Notstandspolitik und einer hegemonialen Finanzwelt geht es nicht zuletzt darum, mit einer stereoskopischen Perspektive die Koevolution von staatlichen Strukturen und wirtschaftlichen Dynamiken zu verfolgen und jenen Ort aufzusuchen, an dem sich die Organisation von Macht mit der Akkumulation von Kapital verknüpft. So unsinnig es wäre, den strategischen Unterschied zwischen politischen und ökonomischen Handlungsprofilen gänzlich zu leugnen, so sehr rückt die Gestalt moderner Finanzregimes, ihre Ordnungskraft und ihre Geschichte nur durch eine Überschreitung derartiger Dualismen in den Blick. Wenn Macht sich als Möglichkeitsbedingung für die Bahnung von Ereignissen, Aktionen und Verhaltensweisen begreifen lässt und ihr totalitäres Moment – definitionsgemäß – in der Beherrschung aller Aspekte des sozialen Lebens besteht, so liegt eine ihrer wirkungsvollsten modernen Ausprägungen in der wechselseitigen Verstärkung von politischen und finanzökonomischen Kräften bzw. Operationen. Das betrifft die Ausrichtung konkreter Regierungspraktiken ebenso wie die Frage danach, wie und wo sich im Zeichen kapitalistischer Wirtschaft die Instanzen dominanter Entscheidungsprozesse konstituieren.

Zweites KapitelÖkonomie und Regierung

Das Ökonomische

Die Unterscheidung von Ökonomie und Politik reicht also nicht hin, um die Machtstrukturen im aktuellen finanzökonomischen Regime zu erfassen. Die damit verbundenen Prozesse funktionaler Entdifferenzierung weisen allerdings auf eine Geschichte älterer Konstellationen und Prozeduren zurück. So ist bereits die Entstehung neuzeitlicher Regierungskunst von einer wechselseitigen Durchdringung beider Bereiche geprägt, und was man eine »Gouvernementalisierung« des Staates seit Ende des siebzehnten Jahrhunderts nennen konnte, bezieht sich auf die konsequente Integration ökonomischer Gegenstände und Prinzipien in die Ausübung der Politik.1 Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und im Zeichen großer sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen– im Kreis von demographischem Wachstum, Steigerung landwirtschaftlicher Produktion, Monetarisierung und internationaler Verflechtung der Märkte– rückte ein staatliches Interventionsfeld in den Blick, das sich auf die komplexen Verhältnisse zwischen Territorien, Bevölkerungen und Reichtümern bezog und nun den Titel der »Oeconomie« oder »politischen Ökonomie« erhielt. Während im Schatten absolutistischer Souveränitätslehren der Staat als Rechtskonstruktion, als autonome und einheitliche Quelle von Macht und als »Regierung auf der Grundlage des Rechts« definiert wurde, treten angesichts des neuen Arbeitsgebiets die juridischen Grundsätze der Staaten einerseits und die Maximen der Regierung andererseits auseinander und lassen alle Rechtsformeln, »alle vermeynten Gesetze des Rechts der Natur, die aus hergesuchten Sätzen abfließen«, allenfalls als bloße »Chimären der Gelehrten« erscheinen. Die konkrete und historische Existenz staatlicher Wesen manifestiert sich nun diesseits rechtlicher Abstraktionen, sie verkörpert sich in einer Gegenständlichkeit, die neben Regierungsformen und Gesetzen, neben Verfassungen und Dynastien durch eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren und Daten aufgerufen wird– durch die Anzahl, die Eigenschaften und den Zustand der Bevölkerung, durch Produktions- und Erwerbsweisen, die Menge der beweglichen und unbeweglichen Güter, durch Klima und sittliche Verfassungen, Krankheiten und Unfälle, durch Geldverkehr und die Fruchtbarkeit des Bodens. Die Frage des Regierens wird durch die vielfältigen Beziehungen zwischen Menschen und Dingen, durch die Geschicke des sozialen Verkehrs insgesamt bestimmt, sie kreist– abseits der Herrschaftsgewalt oder – um den Begriff eines Potentials oder Vermögens, um eine spezifische Gestalt der Regierungsmacht, deren frühe und vielleicht prägnanteste Definition Leibniz geliefert hat: »«, »die Kraft eines Landes besteht aus Boden, Dingen, Menschen«.

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