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Im dunkelsten Paris spielt ein Teil dieses Bandes, dessen Geschehnisse zwischen Frankreich und Deutschland hin und her pendeln und nunmehr zur zweiten und dritten Generation der Greifenklaus übergreifen. Wieder geht einer aus der schwer geprüften Familie seinen einsamen Weg, den ihm alter Hass und neue Intrigen zu verlegen suchen. Aber langsam erhellt sich das Dunkel der Vergangenheit, und immer noch spinnt Albin Richemonte – die alte Nemesis der Greifenklaus – seine Fäden. Die Szenen in den unterirdischen Gewölben von Schloss Ortry schließlich sind von unnachahmlicher Spannung und mitreißender Dramatik. Die vorliegende Erzählung spielt 1870. Bearbeitung aus dem Kolportageroman "Die Liebe des Ulanen". "Der Spion von Ortry" ist Teil 3 eines vierbändigen Romans. Weitere Bände sind: Teil 1: "Der Weg nach Waterloo" (Band 56) Teil 2: "Das Geheimnis des Marabut" (Band 57) Teil 4: "Die Herren von Greifenklau" (Band 59)
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Seitenzahl: 659
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KARL MAY’s
GESAMMELTE WERKE
BAND 58
DER SPION
VON ORTRY
Dritter Band der Bearbeitung von
Die Liebe des Ulanen
ROMAN
VON
KARL MAY
Herausgegeben von Dr. Euchar Albrecht Schmid
© 1951 Karl-May-Verlag
ISBN 978-3-7802-1558-1
KARL-MAY-VERLAG
BAMBERG • RADEBEUL
Die Schlote des Eisenwerks von Ortry schickten dicke Rauchschwaden zum blauen Himmel und der Belegschaft hatte sich eine starke Erregung bemächtigt. Denn es war ein wichtiger Tag – heute sollte, wie man munkelte, die geheimnisvolle Besichtigung der Anlagen durch einen Vertrauten des Kaisers Napoleon erfolgen.
Aber auch sonst schien eine merkwürdige Spannung in der Luft zu liegen.
Marion hatte den Grafen Rallion bei seiner Ankunft auf Schloss Ortry kühl begrüßt und keine Veranlassung zur Annahme gegeben, dass sie sich freue, den Vater ihres künftigen Verlobten zu sehen. Er erhielt die besten Gemächer des Schlosses angewiesen, während Caligny, der angebliche Maler, die Wohnung des ermordeten Fabrikleiters bezog.
Es wurde zunächst ein kurzer Imbiss eingenommen und dann begab sich der alte Kapitän mit den beiden Rallions zum Werk. Caligny, der sich zu langweilen begann, schritt nach dem Garten, um das Schloss zu skizzieren.
Dort saß auf einer Bank, gerade an der besten Stelle zum Zeichnen, Doktor Müller mit einem Buch. Er erhob sich höflich und mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens. War das ein Spiel der Natur? Dieser Maler sah dem Diener Fritz zum Verwechseln ähnlich.
Caligny fiel diese Verwunderung auf.
„Sie scheinen unangenehm berührt zu sein, dass ich Sie störe? Wen habe ich um Entschuldigung zu bitten, Monsieur?“
„Ich bin der Erzieher des jungen Barons.“
„Und ich bin Maler, mit dem Grafen Rallion hier angekommen. Ich gedachte von dieser Bank aus das Schloss zu zeichnen, aber ich belästige Sie.“
„Nehmen Sie Platz!“, entgegnete der Deutsche höflich. „Mein Name ist Müller.“
„Und der meinige Haller. Ich bin ein Deutscher und Sie auch, wie ich zu meiner Freude aus Ihrem Namen schließe.“
„Allerdings. Meine Heimat ist Leipzig.“
„Die meinige Stuttgart.“
Beide täuschten einander. Sie waren gezwungen, die Orte zu nennen, die auf ihren Papieren angegeben waren. Der Franzose war ein liebenswürdiger Gesellschafter und Müller fühlte sich bereits nach kurzer Unterhaltung angenehm von ihm berührt, bis die Unterhaltung auf Berlin kam – zufällig, dachte Müller; denn er hatte nicht bemerken können, dass Haller sie mit Absicht darauf gelenkt hatte.
„Waren Sie schon einmal in der Hauptstadt Preußens?“
„Öfters“, antwortete Müller.
„Das lässt sich denken, da sie von Ihrer Vaterstadt aus ja sehr leicht zu erreichen ist. Sind Sie in Berlin einigermaßen bekannt?“
„So ziemlich.“
„Auch in Militärkreisen?“
„Leidlich. Ich hatte als Erzieher Gelegenheit, zahlreiche Offiziere kennen zu lernen.“
„Ah, so sagen Sie mir, ob Ihnen der Name Greifenklau bekannt ist.“
Fast hätte Müller durch eine rasche Bewegung sein Erstaunen verraten. Er beherrschte sich jedoch und erwiderte mit nachdenklicher Miene:
„Greifenklau? Hm, den Namen müsste ich kennen! Ah, jetzt besinne ich mich! Ein alter Rittmeister aus Blüchers Zeit führt diesen Namen.“
„Richtig!“, meinte Haller mit französischer Lebhaftigkeit. „Hat dieser Veteran einen Sohn?“
„Jetzt nicht mehr; aber einen Enkel, wenn ich mich recht entsinne.“
„Jawohl, ein Enkel war es! Ist dieser nicht Oberleutnant bei den Ulanen?“
„Soviel ich weiß, ja.“
„Man sagt, er sei ein ausgezeichneter Offizier, der vom Großen Generalstab mit wichtigen Arbeiten beschäftigt werde.“
„Möglich. Ich als Nichtmilitär habe kein Urteil darüber.“
„Kennen Sie die Verhältnisse des Greifenklau näher?“
„Es mag wohl sein, dass ich früher von ihm gehört habe, doch ist es leicht zu entschuldigen, wenn mir jetzt nichts mehr erinnerlich ist. Sie haben Veranlassung, sich nach ihm zu erkundigen?“
„Ja. Ich beabsichtige baldigst nach Berlin zu gehen. Dort möchte ich die Bekanntschaft des Oberleutnants machen. Sie begreifen, dass es mir sehr angenehm wäre, bereits jetzt etwas über ihn zu hören.“
„Ah, Sie haben also Gründe, die Bekanntschaft gerade dieses Mannes zu suchen?“
„Jawohl. Er wurde mir sehr warm empfohlen.“
„Darf ich fragen, von wem?“
„Vom Grafen Rallion“, fuhr es dem Franzosen heraus. Er ahnte aber sofort, dass er jetzt eine Dummheit begangen hatte, und fügte, um seine Worte begreiflicher zu machen, schnell hinzu: „Der Graf hat nämlich früher in Berlin sehr freundschaftliche Beziehungen zu ihm gepflogen.“
Damit aber hatte der Franzose den Karren noch tiefer verfahren. Müller erinnerte sich jetzt der militärisch straffen Haltung, mit der der Maler in den Garten getreten war, er sah den wohlgepflegten Schnurrbart, die kurz verschnittenen Haare, und war nun mit sich über den Mann im Reinen. Darum meinte er mit einem leichten Lächeln:
„Soviel ich mich entsinne, ist Oberleutnant von Greifenklau kein so genannter Gesellschaftsmensch. Der Dienst geht ihm über alles, er liebt die Wissenschaft und infolgedessen die Einsamkeit. Es mag schwer sein, sich bei ihm einzuführen.“
„Ich hoffe, dass es mir gelingen wird, seine Freundschaft zu erlangen. Aus welchen Personen besteht seine Familie außer dem Großvater?“
„Aus seiner Mutter und seiner Schwester.“
„Ist diese Schwester hübsch?“
„Ich glaube. Ich habe Bekannte, die von ihr sogar als von einer Schönheit sprechen.“
„Ein Grund mehr, die Bekanntschaft Greifenklaus zu suchen. Ich bin Ihnen herzlich dankbar für die Auskunft, die Sie mir erteilten.“
„Und ich bedauere sehr, nicht im Stande gewesen zu sein, Ihnen mehr zu sagen. Ich will Ihnen gern wünschen, dass Sie sich nicht enttäuscht fühlen.“
Er verbeugte sich höflich und ging dem Park zu. Diese Begegnung gab ihm zu denken. War dieser Maler wirklich ein Deutscher? War er überhaupt Maler? Er war mit Rallion, dem Deutschenhasser, gekommen, und zwar aus Metz, dem militärischen Ameisenhaufen. Weshalb wollte er als Maler in Berlin gerade die Bekanntschaft des Oberleutnants von Greifenklau machen? Warum die Lüge, dass Graf Rallion Greifenklau kenne? Wenn dieser Haller kein Maler, sondern Offizier war, so hieß er jedenfalls auch anders und ging als geheimer Sendling nach Berlin. In diesem Fall...
Müller wurde gerade jetzt aus seinem Nachdenken aufgestört, denn eine liebliche Stimme erklang:
„Bon jour, monsieur le docteur!Haben Sie Baronesse Marion nicht gesehen?“
Er blickte auf. Nanon stand neben ihm. Sie trug ein helles Kleid und ihr freundliches Gesichtchen wurde von einem breitrandigen Gartenhut beschattet. Ihr Haar hing in zwei dicken Zöpfen über den Rücken herab.
„Leider nicht, Mademoiselle.“
„Sie soll mit Alexander in den Park gegangen sein. Ich suche sie.“
„Vielleicht ist sie nach dem alten Turm.“
Sie sah ihn fragend an. Es wäre wohl geraten gewesen, sie zu begleiten, um ihr den Turm zu zeigen; aber er war innerlich zu beschäftigt, um ernsthaft darüber nachzudenken, ob er als Erzieher die Verpflichtung habe, auch in diesem Fall den Ritter zu spielen. Nanon bemerkte dies und warf mit einem trotzigen Schmollen das Köpfchen zurück.
„Ich danke Ihnen. Vielleicht finde ich den Turm.“
Damit schritt sie dem Wald entgegen. Dort dufteten bereits die Maien, und zahllose Blüten hingen an den Sträuchern. Sie schlüpfte von Baum zu Baum, von Strauch zu Strauch; bald hatte sie einen Vogel, bald einen Käfer, bald einen früh erwachten Schmetterling zu beobachten. Immer tiefer und tiefer drang sie in den Wald, bis sie endlich aufatmend stehen blieb.
„Mon dieu, was ist denn das?“, dachte sie. „Ich glaube gar, hier ist der Weg zu Ende.“ Sie wendete sich um und fügte laut hinzu: „Ach! Wo bin ich? Wo ist das Schloss? Und wo ist der alte Turm, den ich suche? Ich habe mich ganz und gar verlaufen.“
So war es auch. Sie suchte nun nach dem richtigen Weg, aber sie fand überhaupt keinen. Sie ging weiter und weiter und verirrte sich immer mehr. Allmählich ward sie müde und setzte sich nieder, um auszuruhen, bis sie bemerkte, dass sie keine Zeit versäumen dürfe. Sie brach also wieder auf und suchte von neuem. Endlich fand sie einen schmalen Pfad, aber er verlief sich im Wald, als sie ihm folgte. Sie kehrte zurück und gelangte an einen Kreuzweg, wandte sich nach rechts, ging eine Viertelstunde lang und musste dann zu ihrem Herzeleid sehen, dass auch dieser Weg zwischen Sträuchern und Büschen ein Ende nahm. Nun wurde es ihr angst. Sie kehrte abermals um und begann zu rufen. Aber niemand antwortete: Sie befand sich ganz allein im tiefen Wald.
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