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Die menschliche Geschichte war immer wieder geprägt von Wanderungsprozessen. Doch Migration konnte und kann die Probleme in den Herkunftsländern nicht lösen, schafft aber neue Probleme in den Zielländern. Der Autor entwickelt Vorschläge für eine realistische Einwanderungspolitik: von wirksamen Grenzkontrollen bis zur effektiven Bekämpfung der Fluchtursachen in den Heimatländern. Eine profunde Analyse, die breit diskutiert werden sollte – denn es geht um das Überleben unseres demokratischen Systems.
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Seitenzahl: 640
Thilo Sarrazin
Der Staat an seinen Grenzen
Über Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart
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© für die Originalausgabe und das eBook: 2015 LangenMüller in
der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, Stuttgart
© 2020 LMV, ein Imprint der Langen Müller Verlag GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-7844-8385-6
Inhalt
Einleitung
Kapitel 1
Zur Weltgeschichte der Einwanderung
Perspektiven und Sichtweisen
Vorgeschichte und frühe Hochkulturen
Griechen, Römer und Germanen
Der Orient und die islamische Welt
Die Deutsche Ostsiedlung
Der europäische Kolonialismus
Das zentrale Asien und der Ferne Osten
Wanderungsbewegungen der Gegenwart
Erkenntnisse aus der Geschichte
Kapitel 2
Ethnogenese und Identität am Beispiel Deutschlands und Europas
Die Anfänge der Deutschen
Die Herkunft der Deutschen
Prägung durch Geografie und Geschichte
Deutscher Geist
Deutschland und Europa
Kapitel 3
Einwanderung als europäische Herausforderung
Frühe Warnungen
Der Einschnitt von 2015
Die Folgen
Die Perspektiven
Der Wettbewerb der Erzählungen am Beispiel des UN-Migrationspakts
Kapitel 4
Ethische Fragen der Einwanderungspolitik
Der vorrationale Charakter politischer Grundeinstellungen
Migration im Kontext von Evolution
Der politische Blick
Ethnische Herkunft, Kultur und Identität
Der demografische und ökonomische Blick
Einwanderung und moralische Ordnung
Gesinnungs- versus Verantwortungsethik
Kapitel 5
Die Ursachen von Migrationsdruck und die Wege zu seiner Bekämpfung
Bevölkerungsexplosion und Migrationsdruck
Die Ebenen der Globalisierung
Entwicklungsniveau und Perspektiven der Auswanderungsländer
Erfolgsfaktoren wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung
Entwicklungshemmnisse als kulturelles Problem
Schuldzuweisungen
Wie sich Entwicklungspolitik künftig aufstellen sollte
Kann ein »Marshallplan für Afrika« Fluchtursachen bekämpfen?
Kapitel 6
Wie sich Einwanderung steuern lässt
Kernerkenntnisse aus den Kapiteln 1 bis 5
Zur Rolle mentaler Grundeinstellungen
Zur Praxis der Grenzsicherung und Einwanderungspolitik in der Welt
Ebenen und Methoden der Steuerung
Demografie, Einwanderung und Bevölkerungsaustausch
Schlussbetrachtung: Warum Geburtenbeschränkung und Einwanderungsbegrenzung dem Wohl der Menschheit dienen
Dank
ANHANG
Anmerkungen
Register
Einleitung
Das Manuskript zu diesem Buch näherte sich der Vollendung, als Mitte März 2020 die durch das Virus Covid-19 (Coronavirus SARS-CoV-2) verursachte Pandemie ins öffentliche Bewusstsein drang und die Regierungen weltweit damit begannen, die Grenzen zu schließen, die Schulen zu schließen und die Infektionsgefahr durch weitgehende Kontakt- und Ausgehbeschränkungen sowie Reisewarnungen einzudämmen. Gleichzeitig begann ein weltweiter Wettlauf um die Erforschung des Virus, die Ausdehnung von Testmöglichkeiten und die Suche nach einem Impfstoff.
Während die Menschen, nicht nur die Touristen und Migranten, sondern auch die Wissenschaftler und Politiker, das Reisen weitgehend einstellten, verlief der Verkehr der Güter und Waren in der globalisierten Welt nach einer kurzen Schockphase weitgehend ungestört. Auch der intensive Austausch der Forscher und Wissenschaftler über die Eigenschaften und Wirkungen des Virus sowie die Wege zu seiner Eindämmung und Bekämpfung wurde durch die fehlenden Reisemöglichkeiten offenbar nicht behindert.
Staaten, Nationen und Gesellschaften gingen mit der Pandemie unterschiedlich erfolgreich um. In gut organisierten, disziplinierten Gesellschaften mit leistungsfähigen Gesundheitssystemen fiel die Einschränkung der Ansteckungsgefahren leichter, und es gab auch weniger Todesopfer als in Staaten, in denen das Gesundheitssystem in schlechtem Zustand war. Staaten und Gesellschaften waren bei der Bekämpfung der Pandemie und der Minimierung ihrer Folgen jenseits der Belieferung mit Masken und Beatmungsgeräten im Wesentlichen auf ihre eigenen medizinischen und organisatorischen Ressourcen angewiesen. Es gab auch wenig, was man von außen hätte tun können, zumal alle Länder mit denselben Problemen kämpften.
Entscheidend für den Erfolg beim Umgang mit der Pandemie waren nicht internationale materielle Hilfen, sondern die schnelle Wissensverbreitung über Eigenschaften und Wirkungen des Virus und die energische Anwendung dieses Wissens durch die staatlichen Instanzen und die Gesundheitssysteme auf nationaler Ebene. Weder die internationalen Organisationen noch die Europäische Union konnten dabei über den Wissenstransfer hinaus für die Nationalstaaten eine große Hilfe sein. Sie spielten in dieser existenziellen Krise bei der Unterstützung der Nationalstaaten keine wesentliche Rolle. Das wird auch nach Überwindung der Pandemie im kollektiven Weltgedächtnis bleiben.
Die Coronakrise hat gezeigt, dass die arbeitsteilige Gewinnung von Wissen und die arbeitsteilige Warenproduktion in der globalisierten Welt auch dann funktionieren, wenn die Grenzen für den Verkehr der Menschen weitgehend geschlossen sind. Die ungehinderte Wanderung von Wissen und Waren und eine arbeitsteilige weltweite Warenproduktion sind möglich, ohne dass Menschen dazu in größerer Zahl wandern müssen. Das ist für mich eine zentrale Lehre aus der Coronakrise. Eine zweite zentrale Lehre ist, dass die wirksame Kontrolle der Wanderungen von Personen über Staatsgrenzen hinweg auch in der modernen Welt möglich und praktisch umsetzbar ist, wenn der politische Wille dazu besteht.
Im Sommer 2002 schrieb eine große deutsche Volkspartei in ihr Programm zur anstehenden Bundestagswahl:
»Deutschland muss Zuwanderung stärker steuern und begrenzen als bisher. Zuwanderung kann kein Ausweg aus den demografischen Veränderungen in Deutschland sein. Wir erteilen einer Ausweitung der Zuwanderung aus Drittstaaten eine klare Absage, denn sie würde die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft überfordern. Verstärkte Zuwanderung würde den inneren Frieden gefährden und radikalen Kräften Vorschub leisten.«
Es handelte sich um das Wahlprogramm der CDU/CSU. Die Parteivorsitzende der CDU hieß Angela Merkel und der Kanzlerkandidat der CDU/CSU Edmund Stoiber. In weiten Teilen der SPD dachte man ähnlich. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt setzte sich in seinen Büchern wiederholt mit der deutschen Zuwanderungspolitik auseinander. 2008 warnte er davor, »unser Geburtendefizit durch Einwanderung aus Afrika und Asien aufzufüllen. […] Denn schon bisher […] haben wir eine kulturelle Einbürgerung nur sehr unzureichend zustande gebracht. Wer die Zahlen der Muslime in Deutschland erhöhen will, nimmt eine zunehmende Gefährdung unseres inneren Friedens in Kauf.«1
Seit Helmut Schmidts Warnung ist laut Ausländerzentralregister die Zahl der Ausländer in Deutschland um viereinhalb Millionen gestiegen.2 Soweit dies durch Zuwanderung von außerhalb der EU geschah, handelte es sich dabei überwiegend um Muslime. Die Zuwanderung seit 2010 war im Jahresdurchschnitt rund viermal so hoch, wie ich seinerzeit bei meinen demografischen Berechnungen in Deutschland schafft sich ab zugrunde gelegt hatte. Bei meinen Berechnungen zur Verschiebung der Bevölkerungsanteile hatte ich in Deutschland schafft sich ab eine jährliche Zuwanderung von 100000 Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie Afrika zugrunde gelegt. Zusammen mit der jüngeren Altersstruktur und der höheren Kinderzahl bewirkte dies die von mir berechnete grundlegende Verschiebung der Bevölkerungsanteile innerhalb weniger Jahrzehnte.3 Die tatsächlich höheren Zuwanderungszahlen bedeuten, dass sich dieser Prozess weitaus schneller vollzieht, als damals von mir beschrieben. Es ist bemerkenswert, dass ich zwar damals viel Kritik für das Ergebnis meiner Projektionsrechnungen erfahren habe, dass mir aber bis heute niemand in meinen damaligen Projektionen einen Denk- oder Rechenfehler nachgewiesen oder sich auch nur darum bemüht hat.
Der innere Frieden wird in Deutschland immer öfter gefährdet, hier lag Helmut Schmidt mit seiner Warnung richtig.4 Wer aber im Jahr 2020 das Wort Einwanderung mit »Grenzen« oder gar mit »Begrenzung« in Zusammenhang bringt, muss mit Vorbehalten rechnen und steht schnell unter dem Pauschalverdacht einer »rechten« Gesinnung. Ich bin nicht grundsätzlich gegen Einwanderung und habe zudem die feste Überzeugung, dass alle Menschen von ihrer Geburt an die gleiche Würde besitzen und grundsätzlich das individuelle Recht haben, auf den Wegen ihrer Wahl nach Glück zu streben. Allerdings glaube ich nicht, dass Individuen, Religionsgemeinschaften, politische Parteien, gesellschaftliche Gruppierungen, staatliche Regierungen oder internationale Organisationen sowie alle selbst ernannten Retter der Menschheit das Recht haben, sich zum Sprecher und Gewährträger für das Wohl aller Menschen aufzuschwingen. Solch ein umfassendes Mandat ist weder konzeptionell darstellbar, noch moralisch vertretbar noch praktisch umsetzbar.
Die Welt kann nur funktionieren, wenn Verantwortlichkeiten begrenzt und Zuständigkeiten respektiert werden. Intensive internationale Kooperation, wo dies in der Sache geboten ist – etwa bei der Sicherung des Friedens, bei der Bekämpfung von Krankheiten oder der Abwehr gemeinsamer Gefahren wie einem unerwünschten, menschengemachten Klimawandel – bleibt notwendig. Sie muss aber sachgerecht erfolgen und Maßstäblichkeit und Machbarkeit beachten – und sie muss Widersprüchlichkeit aushalten. Staaten und deren Regierungen müssen (und dürfen) primär das Wohl der eigenen Bevölkerung und Bürger im Auge haben. Was in Südafrika oder in Somalia schiefläuft, kann nicht in Deutschland oder Europa geheilt werden.
Grundsätzlich kann jedes Land auf der Welt, dessen Verwaltung so korruptionsfrei arbeitet wie in Schweden, dessen Bürger ähnlich gut ausgebildet werden wie die Schweden und dessen Bevölkerung vergleichbar innovativ und arbeitsam ist, nach wenigen Generationen einen vergleichbaren Lebensstandard genießen. Das gilt unabhängig vom Klima, von Bodenschätzen oder der geografischen Lage. Damit jedes Land dieses Ziel erreicht, sind große Wanderungen von Menschen weder notwendig noch unvermeidlich. Es genügt, wenn das Wissen wandert und wenn sich die kulturellen Einstellungen und Mentalitäten so ändern, dass es möglich ist, durch die Arbeit der Bürger Wohlstand vor Ort zu schaffen. Über den Wohlstand eines Volkes bestimmen letztlich nur zwei Elemente:
Der wirksame Schutz des eigenen Territoriums vor Eroberung, gewalttätiger Einwirkung und unerwünschter Einwanderung von außen.Der Charakter der eigenen Kultur, insbesondere Fleiß, Lernwille und Innovationsbereitschaft, Bildungsleistung und die Fähigkeit zur Herausbildung und Aufrechterhaltung stabiler Institutionen.In gewissem Sinne – von der Wiege bis zur Bahre – sind wir Menschen alle Wanderer auf dieser Welt. Von einem Anfang, an den wir uns nicht erinnern können, schreiten wir in eine ungewisse, hoffentlich verheißungsvolle Zukunft fort und bewegen uns nach einem kurzen Erdenlauf auf ein Ende zu, dessen Umstände so ungewiss sind, wie sein Eintritt sicher ist. Im Verlauf unserer Erdenwanderung treffen wir auf Verhältnisse, die wir nicht geschaffen haben, in denen wir uns einrichten müssen, wenn wir sie nicht ändern können, und auf Menschen, die wir lieben oder hassen, die uns bedrohen oder beschützen, unter denen wir unseren Platz finden oder eben nicht. Wir kämpfen um Anerkennung, Liebe, Macht und Reichtum. Wir suchen nach Selbstbestätigung, Lust und Vergnügen. Wir verlangen nach Sinn und Orientierung, nach Sinnzusammenhängen, die über uns selbst hinausweisen, und suchen sie wahlweise in der Familie, im Wissen, in der Politik, in der Religion, in Ideologien, in allerlei Aberglauben oder der Mischung von allem.
Wir kommen nicht umhin, auszuwählen und zu entscheiden, denn unser Leben ist kurz, und unsere geistigen und seelischen Kräfte sind begrenzt. Unsere natürlichen Gaben und Neigungen sind sehr unterschiedlich. In einem Umfang, der uns gar nicht bewusst ist und der auch kaum rational hinterfragt werden kann, werden wir durch unsere familiäre Herkunft, durch die Gesellschaft, in der wir aufwachsen, und durch den wechselnden Zeitgeist geprägt. Unsere Träume und Wünsche und unser Wollen sind deshalb zu einem großen Teil auch sozial vermittelt. Wir sind Individuen, aber unsere Existenz, unser Überleben und unser Wohlbefinden sind gar nicht zu trennen von der Einbindung in eine konkrete menschliche Gesellschaft. Deren Zustand und Ausgestaltung, deren Zukunft und deren Bedrohung lassen uns regelmäßig nicht teilnahmslos. Daher rührt unser Interesse für Angelegenheiten der Gemeinschaft bis hin zur großen Politik. Für Deutschland als Nation und für das westliche Abendland insgesamt stellt sich die Frage, wie wir unsere Identität bewahren und weiterentwickeln, dabei moralische Standards beachten und auf dieser Grundlage unsere Rolle in der Welt sehen und wahrnehmen.
Die Evolution hat uns den Überlebenswert von Gruppensolidarität eingeprägt. Wir fühlen uns zutiefst unwohl, wenn wir nicht die gefühlsmäßige Bindung zu sozialen Strukturen haben, in denen wir uns eingebunden und aufgefangen fühlen. Entwicklungsgeschichtlich waren das die Großfamilie, der Clan, der Stamm, das Dorf, die Stadt, das Volk, der Staat. Biologische Verwandtschaft, ethnische Wurzeln und die Prägung durch kulturelle Nähe fließen hier ineinander. Die gleichen Elemente können im Fall gefühlter Fremdheit auch abstoßend wirken. Die Einwanderung von Fremden und der Konflikt mit ihnen können objektiv bedrohlich sein und haben immer wieder Kulturen und Gesellschaften zerstört. Eine tiefe Ambivalenz und Skepsis gegen die Einwanderung von Fremden in größerer Zahl sind als spontane emotionale Reaktion evolutionsbiologisch gut begründet.
Der menschliche Intellekt befähigt uns jedoch, die Dinge abstrakter zu sehen und unsere Gruppenzugehörigkeit zum Gegenstand einer bewussten Wahl zu machen, bis hin zu dem Extrem, dass man sich als Bezugsgruppe nicht die Familie, den Stamm, das Volk oder den Staat erwählt, sondern die Religionsgemeinschaft oder andere geteilte Überzeugungen und im Extremfall auch die ganze Menschheit. Diese letztere Haltung, die man universalistisch nennen kann, hat sich insbesondere im westlichen Abendland verbreitet. Ich interpretiere sie auch als Ausdruck einer wachsenden Individualisierung: Menschen stellen den Sinn und Wert überkommener traditionaler Bindungen und der auf ihnen aufbauenden Verhaltensmuster durch rationale Überlegung infrage und landen dann schnell jenseits des Individuums bei »der Menschheit« als dem natürlichen Bezug des Räsonierens. Letztlich ist diese Haltung ein natürliches Ergebnis der abendländischen Aufklärung, also der abendländischen Geistesgeschichte der letzten 500 Jahre.
Diese Haltung führte im westlichen Abendland aber auch zu einer freieren Sexualmoral, zu späterer Heirat, höherer Zahl von Alleinstehenden und geringerer Kinderzahl. Dabei bildete sich als stabiles Muster heraus, dass die Zahl der Kinder im Durchschnitt umso geringer ist, je gebildeter die Eltern sind.5 So kam das natürliche Wachstum der Bevölkerung in allen westlichen Gesellschaften seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts allmählich zum Stillstand und kehrte sich um in einen säkularen Schrumpfungsprozess. Überlagert wurde dies durch die wachsende Lebenserwartung der Bevölkerung. Beides, wachsende Lebenserwartung und schrumpfende Geburtenzahlen, trug zu ihrer Alterung bei. Versuche, in den entwickelten Industriegesellschaften dem Trend sinkender Geburtenziffern entgegenzuwirken, blieben unentschlossen und großenteils auch wirkungslos.6 Sie waren aber wohl sowieso recht aussichtslos gegen die mental prägende Kraft der Individualisierung. Ein Ausdruck der Individualisierung war ja gerade, dass man offenbar schon die Debatte über ihre demografischen Wirkungen als illegitim empfand.
Aus der Renaissance und der abendländischen Aufklärung ergaben sich seit dem ausgehenden Mittelalter sechs säkulare Trends, die sich gegenseitig beeinflussten und verstärkten:
die Individualisierung der Lebensentwürfe und kulturellen Einstellungendie Explosion der Naturwissenschaften und des technischen Wissensdie Industrialisierungsteigender Wohlstandsinkende Sterblichkeit und steigende Lebenserwartungeine weltweite Bevölkerungsexplosion. Diese war in jenen Teilen der Welt besonders groß und hält dort immer noch an, wo die technisch-wissenschaftlichen Folgen der europäischen Aufklärung überwiegend passiv genutzt werden, ohne das damit verbundene kulturelle Erbe anzunehmen.Der wirtschaftliche und der sozialpolitische Vorsprung Europas wie auch der westlichen Industriestaaten insgesamt ist ein anhaltender und großer Anreiz für die Menschen Afrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens, ihre Lebensperspektiven durch Auswanderung zu verbessern. Dieser Anreiz wird noch vergrößert durch Bürgerkriege und soziale Unordnung in den Auswanderungsländern und durch die viel intensivere Information und Kommunikation im Zeitalter von Smartphone und Internet. In den geburtenarmen und alternden Ländern Europas glauben umgekehrt viele, dass die Einwanderung ein Beitrag sein könnte, um die wachsende Jugendlücke zu schließen und dadurch den Wohlstand zu sichern. Die letztere Erwartung kann allerdings nur aufgehen, wenn die Einwanderer kulturell ausreichend ähnlich sind und ein soziales Kapital sowie ein Wissensniveau mitbringen, das sie zu ausreichend produktiven Mitgliedern der aufnehmenden Gesellschaften macht. Für die Einwanderung nach Deutschland, das zeigen einschlägige Berechnungen, ist das in fiskalischer Hinsicht jedenfalls nicht der Fall.7
Wenn kulturell fremde Einwanderung bestimmte quantitative Grenzen überschreitet, kann es auch geschehen, dass die aufnehmenden Gesellschaften durch Einwanderung negativ verändert werden, sodass nicht nur ihr Wohlstand, sondern auch ihre kulturelle Eigenart langfristig in Gefahr geraten. Um dem vorzubeugen, ist es geboten, ein adäquates Grenzregime vorzuhalten, das Einwanderung nach den Wünschen der aufnehmenden Gesellschaft wirksam steuern und begrenzen kann. Zu einem adäquaten Grenzregime zähle ich die Summe aller Maßnahmen, die eine wirksame Zugangskontrolle ermöglichen und den Ausschluss unerwünschter Einwanderung zuverlässig und auf Dauer ermöglichen. Diese Art von Grenzregime fasse ich in das symbolhafte Bild des »neuen Limes«.
Ein wirksames Grenzregime steht dem freien Verkehr von Wissen, Informationen, Gütern und Diensten nicht entgegen. Die beispiellose Integration Chinas in die Weltwirtschaft in nur wenigen Jahrzehnten erfolgte ohne größere Wanderungsbewegungen über die Grenzen Chinas hinweg. Es reichte aus, dass Ideen, Wissen, Rohstoffe und Waren flossen. So wird z.B. das iPhone großenteils in China gebaut, aber in Kalifornien entworfen und vermarktet. Auch ist China mittlerweile der größte Produktions- und Absatzmarkt von Volkswagen, ohne dass es größere Wanderungsbewegungen zwischen Deutschland und China gab.
Im Gegenteil, die Einwanderung nach Deutschland kommt überwiegend aus jenen Ländern, denen es nicht gelingt, als Standort von Wissensgewinnung, Wissensverwertung oder von Produktion ausreichend attraktiv und leistungsstark zu werden. Etwas zugespitzt lässt sich sagen: Je geringer der geistige und wissenschaftliche Austausch des Westens mit einem Land ist und je unattraktiver dieses als Standort der Produktion von Wissen und von Gütern ist, umso größer ist die Tendenz der dortigen Bevölkerung, ihr Los dadurch zu verbessern, dass sie die Auswanderung in die westliche Welt anstrebt. Die damit verbundenen Probleme sind seit vielen Jahrzehnten grundsätzlich virulent. Durch die deutsche unkontrollierte »Grenzöffnung« von 2015 und ihre Folgen wurden sie zugespitzt und drangen noch viel stärker ins öffentliche Bewusstsein. Die dadurch ausgelösten Sorgen beschleunigten in Deutschland den Aufstieg der AfD, in Großbritannien führten sie das Brexit-Votum zum Erfolg. Als indirekte Folge der »Grenzöffnung« von 2015 gab Angela Merkel im Oktober 2018 den Parteivorsitz der CDU auf, während die SPD zeitweise in vielen Umfragen hinter die AfD zurückfiel.
Anfang September 2018 bezeichnete Horst Seehofer auf einer CSU-Tagung Migration als die »Mutter aller Probleme«.8 Er wurde dafür heftig gescholten. Jasper von Altenbockum schrieb dazu in der FAZ, Migration sei »für viele Politiker und Intellektuelle zu etwas Unnahbarem geworden, das es verbietet, überhaupt von einem ›Problem‹ zu sprechen«.9 In derselben Ausgabe der FAZ war zu lesen, dass in Umfragen zur Landtagswahl 2018 in Bayern 44 % der Befragten Zuwanderung und Integration als wichtigstes Problem benannten.10 Wenige Tage zuvor hatte Der Spiegel eine Titelgeschichte über »den unheimlichen Aufstieg der AfD«11 veröffentlicht und beklagt, diese wüchse zu einer Volkspartei heran. In dem Artikel wurde die enge Verbindung zwischen dem Aufstieg der AfD und der Migrations- und Flüchtlingskrise seit 2015 recht klar beschrieben. Die naheliegende Schlussfolgerung, dass ein Umsteuern in der Migrationspolitik auch den weiteren Aufstieg der AfD bremsen könnte, zog Der Spiegel jedoch nicht.
Über die grundsätzlichen Gefahren einer kulturfremden und weitgehend ungesteuerten Masseneinwanderung nach Europa gibt es seit Jahren kritische Literatur von liberalen und konservativen Denkern wie Samuel Huntington,12 Walter Laqueur,13 Paul Scheffer,14 Christopher Caldwell,15 David Goodhart,16 Stephen Smith.17 Das 2017 posthum veröffentlichte Buch des Umwelthistorikers Rolf Peter Sieferle Das Migrationsproblem18 zeigt mit großer Prägnanz die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung auf. Die Erkenntnis dieses Spannungsfelds war nicht neu. Bereits 2007 hatte der niederländische Soziologe Paul Scheffer in seinem Standardwerk Die Eingewanderten die Problematik herausgearbeitet. Scheffer bestimmte wesentlich die Debatte in den Niederlanden. In Deutschland wurde sein Buch eher am Rande zur Kenntnis genommen. Als Sieferles Buch 2017 posthum erschien, war dieser renommierte Umwelthistoriker längst in den Ruch rechter Gesinnung geraten, womit man seiner wissenschaftlichen Lebensleistung großes Unrecht tat.19 Sein Buch verkaufte sich zwar gut, wurde aber in den Medien weitgehend ignoriert. Ähnlich wie Sieferle argumentiert der britische Journalist Douglas Murray, der Europa in einer Kombination von kulturfremder Masseneinwanderung und negativen heimischen Geburtenraten untergehen sieht.20
Ins Radikale zugespitzt werden solche Thesen durch den französischen Schriftsteller Renaud Camus, der den Ausdruck vom »Großen Austausch« geprägt hat und in der massenhaften Einwanderung von Völkern Afrikas und des Nahen Osten nach Europa einen planvollen Anschlag der Eliten auf die europäische Kultur und Lebensart sieht.21 Renauds verschwörungstheoretischer Ansatz hat ihn in den französischen Medien zum Chefdenker der radikalen Rechten gemacht. Generell steht aber jede Tendenz auch gemäßigter Denker, kulturfremde Massenimmigration als Problem zu beschreiben, im Mainstream von Medien und Politik unter einem pauschalen Rechtsverdacht. Der AfD hat das offenbar nicht geschadet. Wie immer ihr Aufstieg zustande kam und wie lange er noch gehen mag – ohne die Abstinenz der hergebrachten Parteien beim Thema Migration wäre ihre Entwicklung anders verlaufen.
Wer in der Politik ein Problem beschreibt, kommt unter Druck, Lösungen anzubieten und für diese auch zu werben. Was aber, wenn die Lösungen die selbst gesetzten oder auch objektiven Grenzen von Politik zu überschreiten scheinen? Groß ist dann die Versuchung zu beschweigen und zu verdrängen, was man nicht lösen kann oder will.22 In einem solchen Fall ist es hilfreich, zunächst gar nicht in Kategorien von Problemen und ihrer Lösung zu denken, sondern den Blick zu weiten, sich Mechanismen und Zusammenhänge vor Augen zu führen und sich zu fragen, was man eigentlich will, sowie warum und für wen. Grundsätzlich halte ich es für legitim, dass Individuen, Völker, Staaten und Nationen zunächst ihre eigenen Interessen im Auge haben. Klüger handeln sie allerdings, wenn sie dabei auch immer das Ganze beachten. Als »das Ganze« bezeichne ich in diesem Zusammenhang das Schicksal der Menschheit auf dieser Erde. Ich werde zeigen – paradox genug – , dass nur die Gewährleistung der lokalen Ordnung auch für die Ordnung und das Gedeihen des Ganzen sorgen kann und dass man dysfunktionale lokale Ordnungen am besten einem inneren Veränderungsdruck unterwirft, während Interventionen von außen nur selten hilfreich sind und oft mehr schaden als nutzen.
Migration ist häufig ein Vehikel, mit dem dysfunktionale Gesellschaften einen Teil ihrer Probleme durch Auswanderung auf andere Gesellschaften ableiten. Weitaus seltener ist Migration ein Instrument, mit dem Gesellschaften ihre Sicherheit und ihren Wohlstand durch Einwanderung erhöhen. Jährlich werden auf der Welt rd. 140 Millionen Menschen geboren, und rd. 55 Millionen sterben, sodass die Weltbevölkerung jedes Jahr um rund 85 Millionen Menschen wächst. Allein in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten werden im Jahr rund 50 Millionen Menschen geboren, und das Bevölkerungswachstum liegt bei rund 35 Millionen im Jahr. Alle zwei Jahre wächst dort also die deutsche Gesamtbevölkerung zu. Auf Europa entfallen gegenwärtig 5 % der weltweiten Geburten, auf Afrika und das Westliche Asien dagegen 36 %. Selbst wenn nur ein kleiner Bruchteil der stark wachsenden Bevölkerung dieser Regionen sich zur Auswanderung nach Europa entschlösse und damit erfolgreich wäre, wäre die Bevölkerung Europas in wenigen Jahrzehnten überwiegend afrikanisch oder arabisch und zudem überwiegend muslimischen Glaubens.
Der »Große Austausch« hätte dann objektiv stattgefunden – aber nicht als Produkt einer Verschwörung, sondern wegen eines Klimas der Gedankenlosigkeit und der Indolenz der aufnehmenden Gesellschaften. Verhindert werden kann dies nur durch eine in der Summe wirksame Steuerung und Beschränkung von Einwanderung. Bei dem gegenwärtigen Geburtenniveau und der extremen Jugend der Bevölkerung in Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten würde eine wirksame demografische Entlastung der Herkunftsländer sowieso nur stattfinden, wenn sich jedes Jahr mehrere Millionen auf den Weg nach Europa machten. Migrationszahlen, die niedrig genug sind, um für Europa tragbar zu sein, führen dagegen zu keiner wirksamen Entlastung der Herkunftsländer. Umgekehrt würden Zuwanderungszahlen, die die Herkunftsländer wirksam entlasten, in wenigen Jahrzehnten zur Zerstörung Europas führen, so wie wir es bisher kennen.
Bei der politischen Debatte von Migration wird die quantitative Betrachtung zumeist ausgeklammert bzw. unter den Tisch gekehrt. Exemplarisch ist der im Dezember 2018 in Marokko verabschiedete UNO-Migrationspakt: Er erklärt Einwanderung pauschal für segensreich und klammert den Geburtenreichtum der Auswanderungsländer als Ursache für Armut, Krieg und Migration vollständig aus der Betrachtung aus.23 In dem Text des Migrationspakts ist die Tendenz der UNO zu erkennen, sich als eine Art Weltstaat zu verstehen, der den Bevölkerungen der Überschussregionen grundsätzlich ein Recht auf Auswanderung zubilligt und die geburtenarmen, wohlhabenden Industrieländer umgekehrt in die Pflicht nimmt, Einwanderung aus den rückständigen Überschussgebieten in großem Stil zuzulassen. Der Einwanderungspolitik von Angela Merkel ist in der Rückschau anzumerken, dass die langjährige Bundeskanzlerin längs ähnlicher Linien dachte und handelte. Ob solch eine Haltung und die auf ihr gründende Politik deutschen und europäischen Interessen entspricht und wie eine alternative Politik aussehen könnte, wird im Verlauf des Buches näher behandelt werden.
Nachdem ich in den letzten Jahren wiederholt über Migrationsfragen geschrieben habe, stellte sich für mich am Beginn der Arbeit die Frage nach der Motivation zum vorliegenden Buch. Diesmal stehen für mich weder die deutsche Demografie noch die Mängel der europäischen Integration noch der Islam im Mittelpunkt. Vielmehr untersuche ich die Frage, wie sich Einwanderung auch langfristig so steuern lässt, dass Deutschland und Europa ihre kulturelle, soziale und wirtschaftliche Zukunft selbstbestimmt gestalten können:
In Kapitel 1 untersuche ich die Rolle von Einwanderung in der Menschheitsgeschichte. Geschichte wiederholt sich zwar nicht, dennoch kann man in Bezug auf die Ursachen, Wirkungen und Folgen von Einwanderung sehr viel aus ihr lernen: Wann, für wen und aus welchen Gründen war Einwanderung ein Segen, und wann war sie ein Fluch? Welche Lösungen haben sich historisch entwickelt, um Wanderungsbewegungen zu steuern und zu beherrschen, und was kann man daraus für Gegenwart und Zukunft lernen?Die emotionale Einfärbung des Migrationsthemas hat offenbar mit Identitätsfragen und der eigenen Selbstverortung zu tun. In Kapitel zwei befasse ich mich deshalb mit der Ethnogenese der Deutschen und der Frage »Was ist deutsch?« bzw. »Was ist europäisch?« Wie wollen wir kulturelle und nationale Identität bewahren und weiterentwickeln, und vor welchen Gefährdungen wollen wir sie schützen?Wie kam es zur Masseneinwanderung in die westlichen Industriestaaten seit den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, und was für Fragen und Probleme ergeben sich daraus? Hierzu gab es in den letzten Jahrzehnten immer wieder Analysen und Antworten, die ich in Kapitel 3 im Zusammenhang behandle.Souveräne Staaten haben aus meiner Sicht das Recht, Einwanderung nach ihren politisch formulierten Bedürfnissen qualitativ und quantitativ zu steuern und zu begrenzen. Diese Sicht ist natürlich durch Werturteile geprägt und entspringt letztlich dem vorrationalen Raum. Das macht sie aber nicht illegitim. In Kapitel 4 diskutiere ich ethische Fragen der Einwanderungspolitik.Welchen Einwanderungsdruck haben wir künftig aus wirtschaftlichen und demografischen Gründen aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten zu erwarten? Wie ist die weitere soziale und wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern Afrikas und des Nahen und Mittleren Ostens einzuschätzen, und was kann man aus westlicher Sicht tun, um dort Fluchtursachen erfolgreich zu bekämpfen? Diese Fragen beantworte ich in Kapitel 5.Welchen Weg sollten Deutschland und Europa künftig gehen, um Einwanderung zu steuern und unsere Kultur zu bewahren? Dazu mache ich Vorschläge in Kapitel 6. Sie sind sämtlich wirksam und machbar, wenn der politische Wille dazu besteht.Kapitel 1
Zur Weltgeschichte der Einwanderung
Perspektiven und Sichtweisen
Für historische Betrachtungen gilt das Wort Helmuth Plessners von »einer offenen Mehrdeutigkeit alles Dahingegangenen, die […] durch den fragmentarischen Charakter der überlieferten Zeugnisse wie durch den jeweiligen Standort des Historikers in seiner Gegenwart bedingt ist. […] Geschichte muss immer wieder umgeschrieben werden, weil sie mit jedem Tage, der ihr zuwächst, nicht nur in einem neuen Licht erscheinen kann, sondern faktisch anders wird. Denn das Vergangene ändert sich vom Kommenden her.«24
Das gilt auch für die Geschichte von Wanderungsbewegungen. Migrationsprozesse sind als Ereignisketten wie alle komplexen historischen Abläufe sehr facettenreich. Das gilt zunächst für die historische Sicht in der Rückschau: Je nach dem eigenen Standort, dem Umfang der einbezogenen Ereignisse und dem Stand des eigenen Wissens kann ein und dieselbe Wanderungsbewegung mit gutem Recht ganz unterschiedlich beurteilt werden. Aus der Sicht der historischen Akteure gibt es bei Wanderungsbewegungen zwei elementar unterschiedliche Perspektiven:
Die Sicht der Einwanderer, die ihr gewohntes Umfeld verlassen oder verlassen müssen und sich in die Fremde begeben. Soweit sie dies freiwillig tun, verbindet sich damit regelmäßig die Hoffnung, durch den Schritt in die Fremde das eigene Los zu verbessern.Die Sicht der indigenen Bewohner jener Landstriche oder Staaten, die das Ziel von Einwanderung sind. Die indigene Sicht gibt es natürlich nur, wenn die Zielräume der Einwanderung bereits besiedelt sind, sodass Einwanderer auf Indigene stoßen.Mein Fokus liegt in diesem Kapitel auf der letzteren Perspektive, also den Wirkungen, die historische Einwanderungsprozesse auf die in den Zielgebieten bereits ansässige Bevölkerung hatten. Für diese Fragestellung ist aus meiner Sicht eine Reihe weiterer Aspekte so bedeutend, dass ich sie an dieser Stelle hervorhebe:
Anlass und Form von Einwanderung
Einwanderer als gerufene Gäste im Rahmen staatlicher SiedlungsprogrammeEinwanderung als Folge einer kriegerischen Auseinandersetzungoder als länger andauernder SickerprozessMasseneinwanderung mit dem Ziel oder der Folge einer großen Veränderung der ethnischen StrukturenKulturelles und zivilisatorisches Gefälle
Einwanderung aus einer Region mit überlegenem Entwicklungsstand in eher unterentwickelte Gesellschaften oder RegionenEinwanderung aus weniger entwickelten Gesellschaften und Regionen in Staaten und Regionen mit überlegener Kultur und ZivilisationArm und Reich
Wanderung aus armen Regionen und Gesellschaften in reichere Regionen und GesellschaftenWanderung aus reichen Regionen und Gesellschaften in arme Regionen und GesellschaftenSozialstaat oder nicht
Wanderung aus Staaten mit geringer oder fehlender sozialstaatlicher Unterstützung in Staaten mit hoher sozialstaatlicher UnterstützungWanderung aus Staaten mit hohem Absicherungsniveau in Staaten mit niedrigem oder fehlendem AbsicherungsniveauKulturelle Nähe oder Ferne
Einwanderung von Gruppen oder Ethnien mit großer Distanz zur Kultur des ZielgebietesEinwanderung von Gruppen oder Ethnien mit geringer Distanz zur Kultur des ZielgebietesEthnische Nähe und Distanz
Wanderung zwischen Gruppen mit großer ethnischer Nähe (z.B. Europäer in Europa oder Afrikaner in Subsahara-Afrika) oder geringer ethnischer Nähe (z.B. Afrikaner nach Europa oder Europäer nach Subsahara-Afrika)Einwanderung und Fertilität
Einwanderung von Gruppen mit überdurchschnittlicher Fruchtbarkeit in Länder mit GeburtenarmutKonsequenzen von einwanderungsbedingten Verschiebungen in der ethnischen ZusammensetzungIntegration und Assimilation
Hohe Neigung zur kulturellen Anpassung und ethnischen Vermischung (z.B. Deutsche in Amerika)Hohe Neigung zu Endogamie und kultureller Abschottung (z.B. Muslime in Europa)Bildungsleistung und wirtschaftlicher Beitrag
Einwanderung von Gruppen mit hoher Bildungsleistung und hoher wirtschaftlicher Produktivität (z.B. Ostasiaten in den USA)Einwanderung von Gruppen mit niedriger Bildungsleistung und niedriger wirtschaftlicher Produktivität (z.B. Afrikaner in Europa)Die obigen Kategorien überschneiden sich teilweise, aber sie sind nicht deckungsgleich. Generell gilt:
Die Armen wandern eher zu den Reichen als umgekehrt.Die Geburtenreichen wandern eher zu den Geburtenarmen als umgekehrt.Die Spannungen und möglichen Konflikte zwischen Einwanderern und aufnehmender Gesellschaft wachsen tendenziell mit der ethnischen und kulturellen Distanz.Spannungen entstehen langfristig auch dann, wenn Einwanderer und aufnehmende Bevölkerung wirtschaftlich und bildungsmäßig unterschiedlich erfolgreich sind und sich deshalb langfristig in unterschiedlichen Segmenten der Gesellschaft finden.Einwanderung, Eroberung und Herrschaft begleiten einander häufig. Mal finden sie gleichzeitig statt, mal geht die Einwanderung voraus. Mal kommt zuerst die Eroberung, dann die Herrschaft, in der Folge die Einwanderung. Nur in der Minderzahl der Fallkombinationen und historischen Ereignisse ist das Ergebnis von Einwanderung für die autochthonen Bewohner des Zielgebiets positiv. Prozesse friedlicher Einwanderung, die in der Summe zum Nutzen der autochthonen Bewohner der Zielregion ausschlugen, gibt es auch, aber sie sind historisch gesehen Ausnahmen, die kaum ins Gewicht fallen.
Insgesamt zeigt sich: Historisch belegte Einwanderungsprozesse waren überwiegend zum Nachteil der indigenen bzw. autochthonen Bevölkerung. Häufig bedeutete dies den Verlust von Leib und Leben, Unterdrückung, Verarmung und den Untergang des eigenen Volkes sowie einer schweren und dauerhaften Beeinträchtigung seiner Kultur. Es gibt kaum Fälle, in denen historisch belegte Einwanderungsprozesse für die autochthone Bevölkerung von Vorteil waren. Sehr häufig, fast schon regelmäßig, führte Einwanderung zum Untergang ganzer Stämme und Völker. Gleichzeitig entstanden so, wenn auch meist in jahrhundertelang währender blutiger Ethnogenese, neue Völker und Staaten, die quasi aus den Trümmern der untergegangenen Völker und den siegreichen Einwanderern ein neues Amalgam bildeten.
Ein verbreitetes Gefühl, dass für die aufnehmende Bevölkerung die Risiken von Einwanderung weitaus größer sind als die Chancen, speist sich nicht nur aus Vorurteilen. Es spiegelt vielmehr die Summe der historischen Erfahrungen. In der überwiegenden Zahl der historisch belegten Einwanderungsprozesse erfuhr die autochthone Bevölkerung durch die Einwanderung schwere Nachteile. Das zeige ich in diesem Kapitel. Und ich zeige auch, wie Völker, Kulturen und Staaten einem unerwünschten Einwanderungsdruck begegnen konnten und tatsächlich auch mit einem oft viele Jahrhunderte anhaltenden Erfolg begegnet sind.
Gesellschaften mit einer differenzierten Zivilisation und vergleichsweise hohem Wohlstandsniveau waren in der gesamten Menschheitsgeschichte stets ein bevorzugtes Ziel der Zuwanderung aus weniger reichen Gesellschaften. Häufig nahm dies gewalttätige Formen an. Wohlhabende und zivilisatorisch fortgeschrittene Gesellschaften überlebten umso eher, je besser sie in der Lage waren, ihre Siedlungsgebiete wirksam zu schützen und militärisch gegen fremde Völkerschaften zu verteidigen. Der römische Limes und die Chinesische Mauer sind der symbolische Kontrapunkt solch groß angelegter Maßnahmen zum Schutz der eigenen Kultur und Zivilisation. Sie sind zudem der Beleg dafür, dass solche Vorkehrungen zum Schutz vor unerwünschter Einwanderung über historisch sehr lange Zeiträume erfolgreich waren.
Umberto Eco unterscheidet zwischen Migration und Immigration: »Immigration haben wir nur, wenn die Immigranten (die aufgrund einer politischen Entscheidung aufgenommen worden sind) in großer Zahl die Lebensweise des Landes, in das sie einwandern, übernehmen. Migration dagegen haben wir, wenn die Ankommenden (die niemand an der Grenze aufhalten kann) die Kultur des Landes tiefgreifend verändern.«25 Für Europa sieht Umberto Eco eine groß angelegte Migration voraus, die den Kontinent multiethnisch macht, »blutige Folgen« haben kann und sie nach seiner Überzeugung »in gewissem Maße haben wird. Sie werden unvermeidlich sein und lange anhalten.«26 Immigrationen hält Umberto Eco für »politisch kontrollierbar, Migrationen nicht, sie sind wie Naturgewalten«.27
Den historischen Determinismus und Defätismus, der in Umberto Ecos Einschätzung zum Ausdruck kommt, teile ich nicht. Richtig aber ist, dass Einwanderungsprozesse und Eroberungsvorgänge in der historischen Wirklichkeit kaum voneinander zu trennen sind. Sie waren in der Menschheitsgeschichte häufig mit Zerstörung, Kulturverfall und einer Beeinträchtigung der Lebensbedingungen der aufnehmenden Völker verbunden. Die Sieger und Bevorzugten waren langfristig fast immer die Einwanderer, soweit sie politische Herrschaft und/oder demografisches Übergewicht erreichen konnten. Die autochthone Bevölkerung erfuhr vielfach Unterdrückung und schwere Benachteiligung, soweit sie überhaupt überlebte. Gewisse Ausnahmen und Relativierungen gab es, wenn die Einwanderer kulturell und wissensmäßig überlegen und überdies nicht sonderlich zahlreich waren. So lautet zusammengefasst meine These. Um sie zu überprüfen, mache ich einen Streifzug durch die Menschheitsgeschichte.
Im Folgenden gebe ich für zusammenhängende historische Abschnitte jeweils eine knappe ereignisgeschichtliche Darstellung von Wanderungsbewegungen und ihren Ursachen und beantworte sodann in einem Zwischenresümee folgende Fragen:
Welche Folgen hatte die Wanderungsbewegung für die indigene und die einwandernde Bevölkerung?Welcher Schaden und Nutzen ist für wen entstanden?Wie lange dauerte es, bis nach größerer Einwanderung die Integration abgeschlossen war, bzw. bis durch Ethnogenese aus verschiedenen Gruppen ein neues Volk entstanden war?Vorgeschichte und frühe Hochkulturen
Vorgeschichte – Die Ausbreitung des Homo sapiens
Die Wiege der Menschheit ist Afrika. Aus einer langen Entwicklungslinie von Primaten und frühen Menschen verblieb schließlich der moderne Mensch, der Homo sapiens, der innerhalb und außerhalb Afrikas alle früheren Menschenarten verdrängte.28 Erste Spuren von ihm sind für die Zeit vor 200000 bis 100000 Jahren in Ostafrika nachgewiesen.29 In den letzten Jahrzehnten hat die moderne Genanalyse, aufbauend auf der Entschlüsselung des menschlichen Genoms, revolutionäre Fortschritte gemacht. Ein neuer Wissenschaftszweig, die Archäogenetik, hat sich entwickelt.30 So können aus der Analyse der DNA in historischen Knochenfunden fortwährend neue Erkenntnisse gesammelt werden, die unser Wissen um die genetische Geschichte der Menschheit präzisiert und erheblich vertieft haben: Vor ca. 7 Millionen Jahren gab es in Afrika die letzten gemeinsamen Vorfahren des Schimpansen (unseres nächsten Verwandten in der Tierwelt) und des Menschen. Vor ca. 600000 Jahren lebte der letzte gemeinsame Vorfahre des modernen Menschen, Neandertaler und Denisovaner in Afrika. Vor ca. 500000 Jahren wanderten die Vorfahren von Neandertaler und Denisovaner nach Europa und Asien aus.
Die ältesten Fossilien des modernen Menschen, des Homo sapiens, sind etwa 160000 bis 200000 Jahre alt und stammen aus Äthiopien.31 Vor ca. 50000 Jahren verließ eine kleine Gruppe von vielleicht 150 modernen Menschen Afrika und gelangte aus Ostafrika auf die Arabische Halbinsel. Ihre Nachfahren besiedelten im Verlauf von rund 10000 Jahren Europa, Asien, Australien und später auch Amerika. Von dieser Gruppe stammen alle Menschen außerhalb Afrikas ab. Die Ausbreitung des Homo sapiens fand sehr langsam statt. In Australien ist er vor 45000 Jahren nachweisbar, in Europa und Ostasien vor 40000 Jahren. Vor ca. 15000 Jahren gelangte er über die Beringstraße nach Amerika. In Europa und Asien verdrängte der moderne Mensch den Neandertaler und den Homo erectus. Diese wurden quasi die ersten Opfer menschlicher Einwanderung und starben aus. Die moderne DNA-Forschung zeigt, dass es eine gewisse Vermischung des eingewanderten Homo sapiens mit dem Neandertaler gab, sodass wir heute zu einem geringen Teil Neandertaler-Gene in uns tragen. Heutige Europäer, Asiaten und Australier tragen in 2 bis 2,5 % ihrer Genome Neandertaler-DNA.32
Die frühen Menschen waren bis vor ca. 11000 Jahren Jäger und Sammler. Sie lebten in Gruppen von 50 bis 100 Menschen in einem bestimmten Revier, aber an wechselnden Standorten ohne feste Unterkünfte. Sie prägten unterschiedliche Formen von sozialer Kooperation und Arbeitsteilung aus und lieferten sich mit anderen Gruppen kontinuierlich Revierkämpfe. Ihre Lebensweise ähnelte den Gesellschaften von Jägern und Sammlern, die in moderner Zeit studiert werden konnten, z.B. im südlichen Afrika, in Australien, in Papua-Neuguinea oder in Südamerika. Kennzeichnend für solche Gesellschaften ist ein fortwährender oder wiederkehrender Kleinkrieg zwischen benachbarten Gruppen und Stämmen, der bis zur gezielten Auslöschung und zum Untergang der unterlegenen Gruppe führen kann. Motive sind Nahrungskonkurrenz, aber auch Frauenraub. In den von Anthropologen beobachteten Gesellschaften von Jägern und Sammlern liegt die Todesrate von Männern aufgrund kriegerischer Verwicklungen durchweg bei Größenordnungen von 30 bis 40 %, das ist der Anteil derjenigen, deren Leben durch Gewalt endet.33 Auch das Leben der Jäger und Sammler war insoweit sesshaft, als sie in einem bestimmten Revier lebten, wo sie geboren wurden, sich fortpflanzten und schließlich starben. Ihre Ausbreitung erfolgte von Generation zu Generation in kleinen Schritten, quasi in fußläufiger Entfernung. Zwischen weiter entfernten Gruppen gab es keine Verbindung. Auch die Vermischung, z.B. durch die Heirat der Frauen in eine andere Gruppe oder durch Frauenraub, erfolgte immer im Nahbereich. Vermischung mit weiter entfernten Gruppen erfolgte kaum oder gar nicht.
Bei der Ausbreitung über die verschiedenen Weltregionen waren die Menschen unterschiedlichen evolutionären Anpassungszwängen ausgesetzt und so entwickelten sie sich auch verschieden, z.B. was die Anpassung an Kälte oder an unterschiedliche Sonneneinstrahlung, die Laktoseverträglichkeit oder die Resistenz gegenüber bestimmten Infektionsgefahren oder Krankheiten angeht. Auch körperliche Fähigkeiten, z.B. das Leistungsvermögen beim Sprint und beim Dauerlauf, entwickelten sich unterschiedlich.34 Typologisch lassen sich die Menschen anhand genetischer Marker in Großgruppen nach der ursprünglichen Herkunft von einem bestimmten Kontinent einteilen.35
Die letzte große Eiszeit, die ca. 6000 Jahre dauerte und vor etwa 18000 Jahren endete, machte Europa nördlich der Alpen, auch soweit es nicht vom Eis bedeckt war, zu einer unwirtlichen, unbesiedelten Region. In dieser Zeit war menschliches Leben in Zentraleuropa unmöglich. Die Menschen zogen sich, sofern sie überlebten, auf die Iberische Halbinsel und ins südliche Europa zurück. Vom Balkan aus besiedelten sie auch das heutige Anatolien und zogen von dort aus weiter bis nach Nordafrika. So erklärt es sich, dass die heutigen Türken und Kurden sowie die Bewohner Nordafrikas mit den Zentraleuropäern eine genetische Komponente vom Balkan teilen.36 Nach dem Rückgang des Eises fand vor rund 15000 Jahren eine erneute Besiedlung durch Jäger und Sammler von der Iberischen Halbinsel und vom Balkan aus statt.
Vor rund 15000 Jahren begannen Menschen, sich in festen Behausungen niederzulassen, wo sie Vorräte anlegten und Besitz sammelten. Befestigt dienten diese auch zur Verteidigung gegen andere menschliche Gruppen, die diesen Besitz rauben wollten. Das Anlegen von Vorräten, das Wohnen in festen Quartieren und die Verteidigung gegen andere Gruppen führten zu Unterschieden in den Besitzverhältnissen und zu einer komplexeren, stärker hierarchisch verfassten, sozialen Organisation. Die frühesten Zeichen fester Ansiedlung zeigten sich vor 14000 bis 11000 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Israel, Jordanien und Syrien in der Kultur der Natufier. Aus dem Sammeln von essbaren Gräsersamen, den Wildformen von Weizen, Gerste und Roggen, entwickelte sich mit der Zeit deren Anbau und weitere Züchtung.37
Das Gebiet, das vom Jordantal über den Libanon, Syrien und das Einzugsgebiet von Euphrat und Tigris bis zum westlichen Iran und zum Persischen Golf reicht, wird der fruchtbare Halbmond genannt. Dieses Gebiet war nach dem Ende der Eiszeit durch die Kombination von Wärme und ausreichend Regen klimatisch besonders begünstigt. Vor ca. 11000 Jahren entwickelte sich im Nahen Osten im fruchtbaren Halbmond allmählich eine Landwirtschaft mit Getreidezucht aus Wildgräsern und mit Viehzucht. Die bessere Ernährung und der Übergang zur Sesshaftigkeit lieferten die wirtschaftliche und soziale Basis für die allmähliche Entwicklung der frühen Hochkulturen des Nahen Ostens. Dort entstand vor etwa 11000 Jahren aus der Züchtung von Gräsern der Ackerbau, und aus der Domestizierung von Nutztieren entwickelte sich dort vor ca. 10000 Jahren die Viehzucht. Die neuen Techniken breiteten sich von dort allmählich im Verlauf längerer Zeiträume nach Anatolien aus. Genetische Unterschiede zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern einerseits und Jägern und Sammlern andererseits finden sich zu diesem Zeitpunkt in Anatolien nicht.
Die Ausbreitung der Ackerbauern in Europa
Vom fruchtbaren Halbmond aus breiteten sich Ackerbauern und Viehzüchter vor ca. 9000 Jahren über den Balkan nach Europa aus. Dort begannen sie vor etwa 8000 Jahren, die Jäger und Sammler aus den fruchtbaren Landstrichen zu verdrängen. Sie besiedelten schließlich ganz Europa von der Ukraine bis zu den Britischen Inseln.38 Es bestand 2000 Jahre lang eine regelrechte, wohl auch feindselige Parallelgesellschaft, bei der die Zugewanderten schließlich die Oberhand behielten. Die landwirtschaftliche Ernährungsbasis ermöglichte ihnen offenbar einen größeren Kinderreichtum und höhere Überlebensraten. Friedlich und konfliktfrei war der Übergang von Jägern und Sammlern zu den Ackerbauern jedenfalls nicht, und er war mit einem größeren Bevölkerungsaustausch verbunden. Das zeigen überall in Europa Massengräber, die mit Beginn des Ackerbaus auftreten, und Befestigungsanlagen rund um den bäuerlichen Besitz.39
Bis vor einigen Jahren war man davon ausgegangen, dass sich die Neigung und die Fertigkeiten zum Ackerbau von Anatolien aus allmählich auf den Balkan und weiter nach Zentraleuropa ausbreiteten, indem sie quasi an die jeweiligen Nachbarn weitergegeben wurden.40 Das hat sich als unzutreffend erwiesen. Mittlerweile ist anhand von DNA-Analysen belegt, »dass die Anatolier – beginnend vor rund 8000 Jahren – über den Balkan im Süden entlang der Ägäis und der Adria und im Norden über den Donaukorridor ganz Europa besiedelten, von den Britischen Inseln bis in die heutige Ukraine. Ob die Jäger und Sammler verdrängt wurden oder die Neuen sie einfach zahlenmäßig deutlich übertrafen, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall verloren die Gene der Jäger und Sammler nach der Einwanderung in der Gesamtpopulation Europas dramatisch an Bedeutung. Die Wildbeuter wurden verdrängt in die für Landwirtschaft ungeeigneten Gebiete.«41 Mit dem Ackerbau brachten die wirtschaftlich überlegenen Einwanderer aus Anatolien auch die Keramik nach Europa. Keramische Gefäße waren eine unerlässliche Voraussetzung für das Anlegen von Vorräten und für die Zubereitung von Speisen.
Die Ackerbauern und die Jäger und Sammler lebten für einige Tausend Jahre in Parallelgesellschaften nebeneinanderher, und sie bekämpften sich auch intensiv, wie Befestigungen der Ansiedlungen der Ackerbauern zeigen. Gelegentliche Vermischungen verliefen recht einseitig. Die Männer von Ackerbauern hatten Nachwuchs mit Frauen von Jägern und Sammlern, kaum aber umgekehrt. Das zeigt, dass die Herrschaft recht eindeutig auf der Seite der Ackerbauern lag.42 Mit zunehmender Dichte der Besiedlung gab es auch unter den Ackerbauern selber eine steigende Gewaltbereitschaft, wie Befestigungsanlagen, aber auch Massengräber von Getöteten zeigen.43 Wie die Genanalysen zeigen, konnten sich die Jäger und Sammler in Skandinavien offenbar besser behaupten als im übrigen Europa. Mit verbesserter Technik starteten sie als sogenannte Trichterbecher-Kultur vor rund 6200 Jahren eine Gegenbewegung, die sie bis ins heutige Sachsen-Anhalt und ins westliche Weißrussland brachte.44
Sowohl die Einwanderung der Ackerbauern vor ca. 8000 Jahren als auch die Einwanderer der Trichterbecher-Kultur 2000 Jahre später waren, wie die Veränderung der Zusammensetzung der Bevölkerung zeigt, mit den allergrößten Umbrüchen verbunden. Diese gingen zumeist gewaltsam vor sich und brachten den Untergang ganzer Stämme und Völker mit sich. An dem, was der Historiker gerne »Verdrängung« nennt, ist nichts Idyllisches. Die erfolgreiche Einwanderung der Ackerbauern und 2000 Jahre später der Skandinavier brachte der Bevölkerung Zentraleuropas massenhaft Tod und Verderben.
Nach dem Zuzug der Ackerbauern aus dem fruchtbaren Halbmond gab es offenbar im Europa der Jungsteinzeit 3000 Jahre lang keine nennenswerte Einwanderung von außerhalb Europas. Das änderte sich vor ca. 4800 Jahren, als berittene Steppenvölker, überwiegend offenbar alleinstehende Männer aus der pontischen Steppe nördlich des Kaukasus und des Kaspischen Meeres, in großer Zahl nach Europa aufbrachen und einen großen genetischen Umbruch einleiteten. Vermutlich schleppten sie mit ihren Pferden auch eine Form der Pest nach Europa ein, gegen die die Europäer der Jungsteinzeit nicht immun waren und der sie in großer Zahl zum Opfer fielen.
Die Ausbreitung der Arier aus der pontischen Steppe
Die Jamnaja-Kultur in der pontischen Steppe nördlich des Schwarzen und des Kaspischen Meeres war durch die Zuwanderung von Indoeuropäern, den Ariern aus dem Iran, entstanden. Die Steppenbewohner waren Reiter und hatten als Nomaden große Viehherden.45 Sie ernährten sich von Milch und Fleisch und kannten auch bereits Waffen aus Bronze. Militärisch waren die Einwanderer aus der Steppe den Ackerbauern in Europa weit überlegen. Als Reiter waren sie von einer bis dahin unbekannten Schnelligkeit. »Denn neben dem Pferd brachten sie auch eine neuartige Pfeil-und-Bogen-Technik mit, statt der bekannten Lang- verwendeten sie Kurzbögen. Diese hatten deutlich mehr Schusskraft und konnten wegen ihrer Handlichkeit beim Reiten abgefeuert werden.« Außerdem verwendeten sie Streitäxte. »Zahllose archäologische Stätten erzählen von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den alteingesessenen Bauern und den Neuankömmlingen. Die Axt spielte in der Anfangsphase der Einwanderung wahrscheinlich eine herausragende Rolle, denn sie wurde vor allem in Zentraleuropa zur regelmäßigen Grabbeigabe.« Die Kultur der indogermanischen (oder indoeuropäischen) Einwanderer wurde deshalb seit dem 19. Jahrhundert Streitaxtkultur genannt. Heute bevorzugen viele Historiker den friedlicheren Begriff Schnurkeramikkultur.46
Die jungen Männer aus der pontischen Steppe erreichten nach einem Jahrhundert den Raum an Elbe und Saale und nach weiteren zwei Jahrhunderten die Britischen Inseln. In der Summe verlief der Bevölkerungsaustausch zu den indoeuropäischen Eroberern sehr gewalttätig, das zeigt sich an der Dominanz der Steppenbewohner in der DNA der männlichen Vorfahren der heutigen Europäer: Auf dem Gebiet des heutigen Deutschland veränderten die Eroberer 70 % der genetischen Struktur, in Großbritannien waren es sogar mindestens 90 %. Deutlich geringer ist der genetische Einfluss der ehemaligen Steppenbewohner auf der Iberischen Halbinsel, und es dauerte weitere500 Jahre, bis sie dort ankamen. Im Norden Europas überwiegt heute noch die Genkomponente der ehemaligen Steppenbewohner. Im Süden Europas von Spanien bis in den südlichen Balkan überwiegt dagegen die Ackerbauern-DNA.47Mit den Eroberern kamen aber auch zwei kulturelle Neuerungen:
Aus der Steppe brachten sie eine intensive Viehwirtschaft nach Europa, bei der nicht nur das Fleisch, sondern auch die Milch der Kühe eine wesentliche Ernährungsbasis bildete. Ermöglicht wurde dies durch genetische Veränderungen, die Laktoseverträglichkeit. Diese sorgt dafür, dass auch Erwachsene Milch verdauen können. Menschen, die dies konnten, hatten in einer Gesellschaft mit Viehwirtschaft durch eine bessere Ernährungsbasis einen evolutionären Vorteil.Ferner brachten die indogermanischen Eroberer die Fähigkeit zur Bronzeverarbeitung. Das gab neue Möglichkeiten für Waffen und Werkzeuge und förderte zudem den europäischen Fernhandel. Für Bronze braucht man nämlich Kupfer und Zinn. Letzteres war aber nur an wenigen Lagerstätten in Europa vorhanden.Der Zuzug der Indoeuropäer führte zu einem groß angelegten genetischen Umbruch in Europa. Relativ zur autochthonen Bevölkerung waren sie offenbar in großer Überzahl. Der Paläogenetiker Johannes Krause vermutet, dass sie mit ihren Pferden und Viehherden eine damalige Form von Pesterregern mitbrachten, der die autochthonen Einwohner Europas in großer Zahl zum Opfer fielen.48 Aus der Sicht der autochthonen Bevölkerung kann man die Einwanderung der Indoeuropäer nur als europäische Urkatastrophe betrachten. Sie führte, sei es durch die Pest, sei es durch die demografische Übermacht, sei es durch die Vernichtung der autochthonen Einwohner zu einem großen, teilweise sogar fast vollständigen Bevölkerungsaustausch und zum Verlust der eigenen Kultur, jedenfalls soweit sie sich in der Sprache dokumentierte.
Die neuen Einwanderer brachten aus der pontischen Steppe die indogermanische (oder indoeuropäische) Sprache mit, die praktisch alle ursprünglichen Sprachen Europas verdrängte. Zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehören nahezu alle heutigen europäischen Sprachen (außer dem Baskischen und den finno-ugrischen Sprachen). Man geht davon aus, dass die indoeuropäische Sprache aus dem Gebiet des heutigen Iran kommt. Von dort breitete sie sich mit den damaligen Bewohnern Persiens, den Ariern, nach Norden in die pontische Steppe aus, aber auch nach Südosten ins heutige Afghanistan und von dort weiter ins nördliche Indien bis an den Golf von Bengalen. So kommt es, dass man überall dort, wo indoeuropäische Sprachen gesprochen werden, im Genom der Einwohner einen bedeutenden Teil an sogenannter Steppen-DNA findet.49 In Europa bildeten sich unterschiedliche indogermanische Sprachen aus, da-runter
Keltisch (Westeuropa und Oberitalien), Italisch (Mittel- und Unteritalien),Germanisch (Mitteleuropa und Nordeuropa),Slawisch (Osteuropa) undAlbanisch, Griechisch, Armenisch (Balkan und Kleinasien).Dieses Beispiel aus der europäischen Frühgeschichte zeigt, wie unbedarft und gefährlich Wortkitsch wie »Wir sind alle Einwanderer« ist. Er liegt auf der Ebene von »Wir sind alle Afrikaner«. Richtig ist: »Wir sind alle Menschen.« Aber für das menschliche Zusammenleben und menschliche Konflikte erklärt dies nichts und löst auch kein Problem. Im Folgenden greife ich aus der Geschichte der Menschen seit den frühen Hochkulturen eine Reihe von historischen Ereignissen heraus, bei denen Einwanderung (oder deren erfolgreiche Abwehr) für die Geschicke der Bevölkerung in den Zielregionen der Einwanderung eine zentrale Rolle spielte. Zumeist handelte es sich dabei um historische Umbruchsituationen, die den weiteren Gang der Geschichte entscheidend prägten.
Frühe Hochkulturen
Ägypten
Die einzigartige Stabilität der ägyptischen Hochkultur über 3000 Jahre ergibt sich im Wesentlichen daraus, dass das Land zwar kulturelle Einflüsse von außen durchaus verarbeitete, sich aber aufgrund seiner geografischen Lage und seiner natürlichen Grenzen weitgehend gegen Fremdherrschaft und unerwünschte Einwanderung abschirmen konnte. Als das nicht mehr gelang, ging auch die spezifisch ägyptische Kultur schließlich unter.
Die Entwicklung der ägyptischen Hochkultur wurde durch die Besonderheiten der ägyptischen Geografie begünstigt. Der Nil führt große Wassermassen aus dem ostafrikanischen Hochland in den Sudan und weiter nach Ägypten. Das Tal des Nils und das Schwemmland im Nildelta sind sehr fruchtbar und wurden über Jahrtausende, bis zum Bau des Staudamms bei Assuan unter Präsident Nasser, durch den Schlamm des jährlichen Nilhochwassers gedüngt. Sehr früh, seit etwa 5000 v. Chr., entstanden im Einzugsbereich des Nils örtliche Bewässerungssysteme und Formen gemeinsamer Bewirtschaftung des Wassers. Im Osten und Westen war das Land durch Wüsten geschützt, im Süden waren die Nilkatarakte. Die allmählich sich entwickelnde ägyptische Hochkultur war über lange Zeit unbedroht durch fremde Völkerschaften, kriegerische Einfälle oder massenhafte Zuwanderung.
Unterschiedliche Teilreiche wurden um das Jahr 3000 v. Chr. zu einem Staat vereint, wobei es charakteristische Unterschiede zwischen Unterägypten und Oberägypten gab: »In ihrer charakteristischen Gestalt war die ägyptische Kultur ein Gemenge aus asiatisch-mittelländischen Einflüssen, wie sie in Unterägypten zur Geltung kamen und afrikanischen Einflüssen, die auf Oberägypten einwirkten. […] Elemente gemeinsamen kulturellen Ausdrucks verbanden die Ägypter mit den Hamiten im Süden, den Libyern im Westen, der minoischen Kultur im Norden und den Semiten im Osten. Trotz seiner relativen Isolierung empfing Ägypten Einwirkungen aus verschiedenen Richtungen und strahlte seinerseits in verschiedene Richtungen Einfluss aus.«50 Wie die Entstehung des gemeinsamen Staatswesens vor sich ging und aus welchen Machtkämpfen es entstand, ist nicht bekannt.51
Offenbar gab es über 2000 Jahre, von 5000 v. Chr. bis 2900 v. Chr., zunächst eine »von außen völlig unbeeinflusste innerägyptische Kulturentwicklung. […] Am Ausgang der vorgeschichtlichen Entwicklung hat jedoch Ägypten unverkennbar fremde Kulturelemente übernommen, Elemente eindeutig mesopotamischer Herkunft. […] Elemente die sich in Babylonien in einer langen Entwicklungsgeschichte geformt hatten, tauchten in Ägypten in fertiger Gestalt als sichtbare Entlehnungen auf.«52 In der ersten großen Blütephase der ägyptischen Kultur, dem Alten Reich, ereigneten sich über 750 Jahre keine erkennbaren Einwirkungen von außen und offenbar auch keine nennenswerte Zuwanderung. »Ein von äußeren Gefahren oder inneren Konflikten noch nicht gehemmter Aufstieg schuf die Voraussetzungen für die Ausbreitung eines mächtigen Sicherheitsgefühls, ohne das hochentwickelte kulturelle Gestaltung kaum möglich ist.«53 Die ägyptische Hochkultur, mit dem gottgleichen Pharao an der Spitze und erstaunlichen baulichen und künstlerischen Leistungen, bewahrte trotz vieler Wandlungen über 3000 Jahre eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit sich selbst. Von 2900 v. Chr. an gab es über 750 Jahre keine erkennbaren Einwirkungen von außen und offenbar auch keine nennenswerte Zuwanderung.
Um 2150 v. Chr. zerfiel das Alte Reich unter historisch ungeklärten Umständen in Teilstaaten. Mit dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung gab es eine erhebliche Einwanderung von Asiaten ins Nildelta. Diese führte zu großen fremdenfeindlichen Spannungen, für die es literarische Zeugnisse gibt.54 Aus den Wirren entwickelte sich das Mittlere Reich. Es war nicht so zentralistisch festgefügt wie das Alte Reich. Neben dem Pharao hatten lokale Herrscher mehr Einfluss. Auch gab es von Süden aus dem heutigen Sudan einen zunehmenden Druck, der zu einer bewachten und befestigten Grenze am Zweiten Nilkatarakt führte,55 aber ein allmähliches Einsickern schwarzer Völker aus dem Süden nicht verhindern konnte. Die größte Bedrohung des Mittleren Reichs aber ergab sich im 18. vorchristlichen Jahrhundert aus einer großen Massenwanderung asiatischer Völker, die über Syrien und Palästina nach Ägypten kamen. Sie wurden Hyksos genannt, sie waren militärisch stark und brachten Pferd und Kampfwagen mit. Ägypten wurde zeitweise unterjocht und konnte sich erst wieder um 1700 v. Chr. von der Herrschaft der Hyksos befreien. »Die nachhaltigen Wirkungen der Hyksos-Herrschaft« beruhten »darauf, dass sie die ersten Fremden waren, die Ägypten hatten erobern und unter ihre Herrschaft hatten bringen können, und dass sie den Ägyptern als gotteslästerliche feindliche Barbaren erschienen.«56
Als Gegenwehr entstand in Ägypten ein stärkeres Militär, und es begann eine aktivere Außenpolitik, die schließlich in militärische Expansion mündete. Unter Thutmosis III. entwickelte sich ab 1480 v. Chr. ein ägyptisches Weltreich, das schließlich vom südlichen Sudan57 bis an den Euphrat in Syrien reichte. Etwa 300 Jahre hatte dieses Weltreich Bestand. Es ging allmählich verloren in regelrechten Völkerwanderungen aus Libyen, Äthiopien und aus Palästina.58 Ägypten zerfiel immer wieder in Kleinstaaten. Ausländische Staaten fielen ein, die Babylonier, die Assyrer, schließlich die Perser und die Makedonier, und ihre Herrscher übernahmen teilweise das Amt und die Würde des Pharaos. Zum Glanz des Alten Reichs kehrte Ägypten nicht mehr zurück. Die Griechen, die schließlich um 330 v. Chr. nach der Eroberung durch Alexander den Großen die Herrschaft übernahmen und in großer Zahl einwanderten, sahen kritisch und mit Unverständnis das Versteinerte dieser Kultur.59
Israel
Die Geschichte der Juden auf dem Gebiet des späteren Palästina ist die Geschichte eines Volkes, das seine kulturelle Eigenart und seinen unbedingten Willen zur unbeeinträchtigten Pflege seiner Religion und Kultur auch kriegerisch durchsetzte und dies zudem in einer Region tat, die historisch gesehen immer vom Durchzug fremder Völker und Heere geprägt wurde.60 Folgt man der Darstellung im Alten Testament, so waren die Vorfahren des jüdischen Volkes nomadische Großfamilien von Hirten und Viehzüchtern, die nach Ägypten zogen, dort in Knechtschaft gerieten und unter Führung von Moses ins Gelobte Land Kanaan (das heutige Palästina) aufbrachen. Dort lebten die Einheimischen in befestigten Städten, soweit sie nicht Ackerbauern waren. Die zwölf jüdischen Stämme eroberten das Land Kanaan und teilten es unter sich auf. In der biblischen Geschichte fehlen dazu genaue Zeit- und Ortsangaben. Das Mythische ist vermischt mit der überlieferten Erinnerung an das historische Geschehen.
Die Vorfahren des jüdischen Volkes waren nomadische Viehzüchter, die ein westlicher Zweig der Aramäer waren. Die Aramäer, ein semitisches Volk mit eigener Kultur und Sprache, besiedelten im 2. Jahrtausend v. Chr. weite Teile des Vorderen Orients.61 Auf der Suche nach Weidegründen und Wasserstellen kamen die nomadischen Stämme seit 1400 v. Chr. nach Unterägypten ins Nildelta und auch ins heutige Palästina, wo sie sich niederließen und schließlich sesshaft wurden. Diese Zuwanderung zog sich über längere Zeit hin, ihr Höhepunkt war wohl um 1200 v. Chr.62 Unter zahlreichen Kämpfen mit den Ureinwohnern,63 den benachbarten Städten und Staaten und auch untereinander entstanden zwei jüdische Staaten, Juda und Israel, die religiös durch den monotheistischen Glauben an Jahwe vereint waren. Unter den Königen David (der Jerusalem gründete) und dessen Sohn Salomo (der den Tempel baute) kamen sie auch zu staatlicher Einheit. Der Tod Salomos um das Jahr 931 v. Chr. ist das erste verifizierbare Datum der jüdischen Geschichte. Die staatliche Einheit war nicht stabil. Immer wieder kam es zu Königsmord und Bürgerkriegen. Auch die kriegerische Auseinandersetzung mit den umgebenden Völkern und Kleinstaaten kostete viel Kraft.
Seit 740 v. Chr. eroberten die Assyrer Syrien und Palästina. Die jüdische Staatlichkeit verfiel auf einen Vasallenstatus. Mit dem Zerfall der assyrischen Macht herrschten zunächst kurzfristig die Ägypter, und schließlich fiel Israel 599 v. Chr. unter die Herrschaft des aufstrebenden Reichs der Babylonier. Nach einem missglückten Aufstand, der blutig niedergeschlagen wurde, siedelte der babylonische König Nebukadnezar die gesamte Führungsschicht Israels, etwa ein Viertel der Bevölkerung, nach Mesopotamien um.64 Ein Teil der Aufständischen entkam nach Ägypten. So begann in Ägypten und Mesopotamien die jüdische Diaspora. 539 v. Chr. zerstörte der persische König Kyros das Babylonische Reich, damit endete die babylonische Gefangenschaft der Juden in Mesopotamien. Auch Palästina geriet unter persische Herrschaft. Die Herrschaftsausübung war unter den persischen Satrapen relativ liberal und griff wenig in die inneren Angelegenheiten der beherrschten Völker ein. Auch gewährte sie Religionsfreiheit. Ein Teil der Juden kehrte aus der babylonischen Diaspora nach Palästina zurück und erneuerte dort den jüdischen Glauben und die jüdische Identität.65 Die persische Herrschaft über Palästina endete um 330 v. Chr. mit der Zerstörung des Perserreichs durch Alexander den Großen. Fortan herrschten hellenistische Reiche über Palästina, mal die Ptolemäer, mal die Seleukiden. In wechselvollen Auseinandersetzungen gab es in den folgenden Jahrhunderten immer wieder kleinere jüdische Staatsbildungen unter hellenistischer Oberhoheit. Dabei konzentrierte sich die jüdische Identität mehr und mehr auf das Religiöse. »Die Jerusalemer Kultgemeinde der nachexilischen Zeit hatte sich längst damit abgefunden, dass sich ihre religiöse Kraft und Autorität unter der Oberhoheit einer fremden Macht bewähren musste. Für die Frommen waren daher Krieg und Politik ein Rückfall, eine verhängnisvolle Restauration, die Preisgabe der eigentlichen Mission Israels unter dem Gesetz Gottes.«66
Um 64 v. Chr. griffen die Römer nach der Herrschaft in Syrien und Palästina. Jerusalem wurde von Pompeius erobert und zerstört. Die römischen Truppen richteten ein grausiges Blutbad an. Die Römer respektierten aber die Ausübung der jüdischen Religion und ließen unter römischer Oberhoheit eine gewisse jüdische Selbstverwaltung mit eigener Gerichtsbarkeit und sogar ein erbliches Königtum zu. Es kam aber immer wieder zu jüdischen Aufständen und teils religiös bedingten Unruhen. Ein großer jüdischer Aufstand begann 66 n. Chr. Drei Jahre später eroberte der römische Feldherr Titus Jerusalem und zerstörte nicht nur die Stadt, sondern auch den Tempelbezirk und den Tempel. Erneut fand ein grausiges Blutbad statt.67 Der Titusbogen in Rom zeigt noch heute den siebenarmigen Leuchter aus dem Tempel im Triumphzug des Titus. Die jüdische Staatlichkeit und das religiöse Zentrum des Judentums waren gleichermaßen zerstört. Seitdem vollzog sich die weitere Geschichte der Juden für knapp 1900 Jahre bis zur Gründung des modernen Staates Israel vor allem in der Diaspora.
Im Unterschied zu den meisten anderen Völkern, die ähnliche Schicksale der Eroberung und Zerstreuung erlitten, sind die Juden als Volk nicht untergegangen, sondern haben unter wechselvollen Umständen als zerstreute Minderheit ihre Identität bewahrt. Dabei war ihr Heimatland Palästina schon zu antiker Zeit wie keine andere Region des Mittelmeers und des Nahen Osten das ständige Ziel immer neuer Eroberer und durchziehender Völkerscharen. Die Widerständigkeit der Juden ergab sich aus ihrem starken Identitätsgefühl. So ist es bis heute geblieben.
Gleichzeitig sind die Juden ein gutes Beispiel dafür, wie kompliziert und vielschichtig die sogenannte Ethnogenese ist. In den 1900 Jahren der Diaspora nahmen die Juden viel von der Kultur ihrer Gastvölker an und vermischten sich auch teilweise mit ihnen. Aber sie hielten auch an ihrer religiösen und ethnischen Identität fest und waren stolz darauf. Keineswegs also entsteht quasi automatisch aus der Zuwanderung von Völkern mit unterschiedlichen Religionen und Kulturen ein neues Volk, das die eingebrachten Identitäten quasi aufhebt und zu einer neuen Identität amalgamiert. Oft geschieht sogar das genaue Gegenteil.
Griechen, Römer und Germanen
Die Griechen
Die Entstehung der Griechen
Wenn es ein Volk gibt, das sozusagen am Beginn des Abendlandes steht, dann sind es die Griechen. Das Volk der Griechen entstand aus der wiederholten Vermischung von Eindringlingen aus dem Balkan mit der ansässigen Bevölkerung. Die frühe Bronzezeit hatte in Kleinasien, auf Kreta und im heutigen Griechenland um das Jahr 2600 v. Chr. begonnen. Die Menschen siedelten in Dörfern, Städten und Fürstenresidenzen, die häufig befestigt waren. Bekanntestes Beispiel für eine befestigte Stadt ist das alte Troja (Ilion), nach derzeitiger Lehrmeinung im Nordwesten der heutigen Türkei gelegen, das über Tausende von Jahren besiedelt war und aufgrund der Grabungen von Heinrich Schliemann, Wilhelm Dörpfeld und Carl Blegen in fünf historische Schichten unterteilt wurde. Die Bewohner der Küsten und Inseln beherrschten die Schifffahrt mit vielrudrigen Schiffen.68
In diese Welt gab es um 1950 v. Chr. einen gewaltigen Einbruch fremder Völker. »Ein großer Teil der bisherigen Siedlungen wurde zerstört, die Hafenstädte an der Ostküste fielen alle der Vernichtung anheim: Die frühhelladische Kultur fand, soweit archäologisch nachweisbares Material vorliegt, ihr gewaltsames Ende. Das häufige Vorkommen von Streitäxten scheint auf schwere Kämpfe und auf brutale Eroberer hinzuweisen.«69
Die Eindringlinge waren Indoeuropäer aus dem Balkan und Osteuropa. Ihre Zahl muss sehr groß gewesen sein, da sich ihre Sprache, eine Urform des Griechischen, »bei der Vermischung mit den Unterworfenen gegen das bodenständige ägäische Idiom durchzusetzen vermochte«.70