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"Deutschland schafft sich ab" löste 2010 bei seinem Erscheinen eine heftige gesellschaftspolitische Debatte aus. Es gab Versuche, den Inhalt zu skandalisieren, den Autor moralisch in die Ecke zu stellen und die inhaltlichen Argumente, die das Buch tragen, lächerlich zu machen. Von den Vorschlägen zur Abhilfe, die er in dem Buch machte, hat die deutsche Politik wenig bis gar nichts umgesetzt. Der Originaltext von 2010 wird noch in Jahrzehnten zeigen, was man hätte erkennen können, wenn man gewollt hätte, und was man hätte ändern können, wenn man die Ehrlichkeit und die Kraft dazu gefunden hätte. Er bleibt deshalb unverändert. Bei der jetzt vorgelegten Neuausgabe sind Thilo Sarrazins Kommentierungen und Ergänzungen in den ursprünglichen Originaltext eingebettet. So kann der Leser jeweils erkennen, wo es neue für die Analyse relevante Fakten gibt, bzw. wo sich Sarrazins Einschätzungen geändert haben. In der Summe wird so der Inhalt des Buches noch viel explosiver, als er es 2010 war.
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Seitenzahl: 891
Thilo Sarrazin
Deutschland
schafft sich ab
Die Bilanz nach 15 Jahren
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© 2025 LMV, ein Imprint der Langen Müller Verlag GmbH, München, Thomas-Wimmer-Ring 11, 80539 München, [email protected]
© Originalausgabe 2010 Deutsche Verlagsanstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Satz: Ditta Ahmadi
Satz (neue Texte) und E-Book Konvertierung: Satzwerk Huber, Germering
Grafiken: Peter Palm
Alle Rechte vorbehalten
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Umschlaggestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, München
ISBN: 978-3-7844-8510-2
www.langenmueller.de
Inhalt
Vorwort 2025
Vorwort 2012
Einleitung
1 Staat und Gesellschaft
Ein historischer Abriss
2 Ein Blick in die Zukunft
Realitäten und Wunschvorstellungen
3 Zeichen des Verfalls
Eine Bestandsaufnahme
4 Armut und Ungleichheit
Viele gute Absichten, wenig Mut zur Wahrheit
5 Arbeit und Politik
Über Leistungsbereitschaft und Arbeitsanreize
6 Bildung und Gerechtigkeit
Über den Unterschied von gut und gut gemeint
7 Zuwanderung und Integration
Mehr erwarten, weniger bieten
8 Demografie und Bevölkerungspolitik
Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist
9 Ein Traum und ein Alptraum
Deutschland in 100 Jahren
Wie ich mit der Meinungsherrschaft in Konflikt kam: Eine Fallstudie
Kapitel 2 aus Der neue Tugendterror
Dank
Anhang
Personenregister
Sachregister
Tabelle Demografie, Produktivität und Altenlast
Anmerkungen
Vorwort 2025
Auch anderthalb Jahrzehnte nach seinem erstmaligen Erscheinen wird Deutschland schafft sich ab regelmäßig neu aufgelegt. Das anhaltende Interesse der Leser ist bei einem politischen Sachbuch erstaunlich. Soweit das Buch sich an Prognosen wagte, sind diese weitgehend eingetroffen. Die von mir beschriebenen Trends bei Bildung, Demografie und Einwanderung, sind allerdings tatsächlich deutlich negativer, als von mir vor anderthalb Jahrzehnten eingeschätzt. Von den Vorschlägen zur Abhilfe, die ich in dem Buch mache, hat die deutsche Politik wenig bis gar nichts umgesetzt. Sie zog es in der Summe vor, an den von mir kritisierten Grundirrtümern weitgehend festzuhalten beziehungsweise diese weiter auszubauen. Entsprechend nahm die Unzufriedenheit in Deutschland zu und führte zur Gründung und zum Erstarken solcher Parteien wie AfD und BSW. Ähnliche politische Entwicklungen beobachten wir in den meisten Ländern der EU.
Das Buch löste bei seinem Erscheinen eine heftige gesellschaftspolitische Debatte aus. Es gab Versuche, den Inhalt zu skandalisieren, den Autor moralisch in die Ecke zu stellen und die inhaltlichen Argumente, die das Buch tragen, lächerlich zu machen. Wo ich Sorgen um Deutschland äußerte, galt dies als Nationalismus. Meine Auseinandersetzung mit den Begleiterscheinungen und Folgen einer kulturfremden Masseneinwanderung war der Beleg für Fremdenfeindlichkeit. Die Erörterung der Gefahren eines fundamentalistischen Islams galt als Beweis für Islamophobie, und mein sorgfältig begründeter Hinweis auf die überwiegende Erblichkeit menschlicher Eigenschaften brachte mir den Vorwurf des Rassismus ein. Die allermeisten, die sich an dieser Debatte publizistisch beteiligten, hatten das Buch gar nicht gelesen oder seine Argumente unzulässig verkürzt.
Die teilweise maßlose und persönlich herabsetzende Art der Kritik, die den Autor offenbar moralisch fertigmachen und seine Argumente delegitimieren sollte, führte neben der inhaltlichen Debatte zu einer Auseinandersetzung über die Meinungsfreiheit in Deutschland.
Die Rezeptionsgeschichte von Deutschland schafft sich ab ist in ihrer Mischung aus Arroganz, Realitätsverweigerung und Verleumdung ein medienpolitischer Thriller besonderer Art. Das ließ mich nicht unberührt:
– Gut ein Jahr nach dem Erscheinen des Buches schrieb ich für die Paperback-Ausgabe, die im Februar 2012 erschien, ein 40-seitiges Vorwort, in dem ich mich mit den bis dahin vorgetragenen Argumenten der Kritiker und dem Ablauf der Debatte inhaltlich auseinandersetzte. Der Text ist in dieser Ausgabe erneut abgedruckt Das absurde Mediendrama, das damals ablief, wird in dem Text, den ich damals frisch aus der Erinnerung, aber mit umfangreichen Belegen, niederschrieb, sehr plastisch. Auch diese erste Paperback-Ausgabe verkaufte sich viele Jahre lang in zahlreichen Neuauflagen sehr gut. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass der Inhalt dieses Vorworts jemals publizistisch erwähnt worden wäre.
– 2014 erschien Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland. Im dortigen Kapitel 2 wertete ich die Reaktionen von Politik und Medien in Hinblick darauf aus, was sie möglicherweise über die Strukturen und Kommunikationsmechanismen unserer Gesellschaft aussagen. Das Kapitel ist im Anhang dieser Ausgabe erneut abgedruckt. Es zeigt den Charakter und das Ausmaß der dabei eingesetzten Manipulationen.1 Auf scharfe Kritik war ich gefasst gewesen. Aber ich hatte nicht erwartet, dass ein großer Teil der Kritik die Sachebene so schnell verließ beziehungsweise die angesprochenen sachlichen Fragen gleich unbeachtet beiseitelegte. Auch dieses Buch wurde ein Bestseller. Die Antwort aus der Medienwelt war erneut tosendes Schweigen. Was man nicht widerlegen konnte, wollte man unter den Teppich kehren, das gilt insbesondere für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
– In der 2021 erschienenen Neuausgabe des Paperbacks überprüfte ich in einem neuen ausführlichen Vorwort die seit der Erstveröffentlichung eingetretene Entwicklung der relevanten empirischen Fakten und zeigte anhand amtlicher Statistiken, dass die Entwicklungen auf allen für das Buch relevanten Feldern noch viel ungünstiger sind als von mir seinerzeit unterstellt.
Zu keiner Zeit habe ich erwogen, bei neuen Ausgaben in den Originaltext von 2010 einzugreifen. Er wird noch in Jahrzehnten zeigen, was man hätte erkennen können, wenn man gewollt hätte, und was man hätte ändern können, wenn man die Ehrlichkeit und die Kraft dazu gefunden hätte. Natürlich zeigt er auch meine damaligen Irrtümer und Fehleinschätzungen, die sich allerdings in Grenzen halten. Aber zu vielen Sachverhalten änderte sich mit dem Lauf der Jahre auch mein Blickwinkel, und auch daran möchte ich den Leser teilhaben lassen. Deshalb sind bei der jetzt vorgelegten Neuausgabe meine Kommentierungen und Ergänzungen in den ursprünglichen Originaltext eingeblendet. So kann der Leser jeweils erkennen, wo es neue für die Analyse relevante Fakten gibt, beziehungsweise wo sich meine Einschätzungen geändert haben.
Thilo SarrazinBerlin, im Januar 2025
Vorwort zur Paperback-Ausgabe von 2012
Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieser Paperback-Ausgabe sind seit Erscheinen von Deutschland schafft sich ab 18 Monate vergangen und 21 Auflagen gedruckt worden. Der Verkaufserfolg hat sowohl den Verlag als auch mich völlig überrascht. Als der Verlag im Frühjahr 2008 – ich war damals noch Finanzsenator in Berlin – den Kontakt zu mir aufnahm und anfragte, ob ich nicht ein Buch über den deutschen Sozialstaat schreiben wolle, ahnten wir beide nicht, worauf wir uns einließen. Ein Buch nur über den Sozialstaat war mir zu wenig. Seit Jahrzehnten denke ich über die Vernetzung von wirtschaftlicher Entwicklung, Demografie, Bildung und Sozialstaat nach. Seit Jahrzehnten war ich der Meinung, dass Deutschland von seiner Substanz lebte, ohne es zu merken.2 Und seit Jahrzehnten war ich frustriert über die Verdrängungsmechanismen unserer Diskurskultur in Politik und Medien sowie über die Neigung, das Grundsätzliche über dem Kurzfristigen auszublenden.3
Es hat mich zwar stets sehr befriedigt, dass ich in den fast vierzig Jahren meiner beruflichen Laufbahn in Ministerien und öffentlichen Unternehmen viele meiner Ideen umsetzen konnte. Ich habe es aber immer auch als schmerzlich empfunden, dass meine Tätigkeiten zugleich die Möglichkeiten, an gesellschaftlichen Diskussionen aktiv teilzunehmen, stark einschränkten.
Mitte der achtziger Jahre, ich war damals als Referatsleiter im Bundesfinanzministerium zuständig für die Finanzen von Bahn und Post, ließ mich mein damaliger Staatssekretär Hans Tietmeyer zu sich kommen. Wieder einmal hatte sich der Bundesverkehrsminister Dollinger schriftlich über die vorlauten Äußerungen des frechen Ministerialrats Sarrazin beschwert, die er als Eingriff in seine Zuständigkeiten sah. Ich schätzte meinen Staatssekretär wegen seines sehr flinken und vernetzt denkenden Intellekts, auch wenn ich sein Agieren aus meiner Fachperspektive heraus oft als zu kompromissbereit und opportunistisch empfand. Der Staatssekretär belehrte mich über meine Beamtenpflicht zur öffentlichen Zurückhaltung. Ich fragte ihn: »Worüber kann ich denn öffentlich etwas sagen, Herr Tietmeyer?« Er antwortete: »Zu allem, für das Sie nicht zuständig sind.« Daran hielt ich mich für den Rest meiner Beamtenlaufbahn, und ich beachtete es, in abgewandelter Form, später auch als Staatssekretär und Finanzsenator.
Ich entwickelte eine Technik darin, meine wahre Meinung ironisch zu verbergen. Nun ist Ironie der Politik ja fremd. Nachdrücklich in Erinnerung ist mir der fraktions-öffentliche Wutausbruch des Berliner SPD-Landesvorsitzenden Michael Müller, als ich im Landtagswahlkampf 2006 zum Stand des Landeshaushalts sagte, der Schutt sei abgeräumt, statt im Jahre 1945 befänden wir uns jetzt quasi im Jahr 1946.
Wenn ich nun die Ergebnisse meiner Analysen, die ganze Wahrheit, so wie ich sie sah, in einem Buch niederlegen wollte, so war mir klar, dass ich das in einem politischen Amt kaum ohne inhaltliche und taktische Rücksichtnahmen würde tun können. Unverbindliche Texte aus der Feder aktiver und ehemaliger Politiker gibt es ja genug. Darum erschien mein Buch erst sechzehn Monate nach meinem Ausscheiden aus dem Amt des Berliner Finanzsenators.
Als Bundesbankvorstand erfüllte ich in Bezug auf die Themen meines Buches voll die Vorgabe meines ehemaligen Staatssekretärs, des späteren Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer: Ich war nicht zuständig und äußerte mich weit jenseits des Themenkreises meines aktuellen Arbeitgebers. Zur Sicherheit ließ ich das fertig lektorierte Manuskript, ehe es in Druck ging, von einer renommierten Kanzlei für Dienst- und Arbeitsrecht prüfen und bekam grünes Licht: Keine Überschneidungen mit meinen Zuständigkeiten und Aufgaben als Vorstand der Deutschen Bundesbank, volle Abdeckung des Buchtextes durch das Recht zur wissenschaftlichen und künstlerischen Nebentätigkeit und das Recht zur freien Meinungsäußerung, keine Texte beleidigenden Inhalts.
Natürlich entfaltete der abgeschlossene Gesamttext eine gewisse Wucht und ging auch emotional unter die Haut. Aber ich wusste, dass meine Faktenbasis solide war, und hielt meine Schlussfolgerungen für gut begründet. Gesellschaftliche Fragen kann man zwar immer aus unterschiedlichen Blickwinkeln sehen, aber mein Buch sollte ja auch eine Diskussion auslösen.
Als Spiegel und Bild beide einen Vorabdruck bringen wollten und sogar einverstanden waren, dass diese gleichzeitig erschienen, da ahnte ich erstmals, dass der Gegenstand meines Buches nicht nur für mich von Interesse sein würde. Aber nichts hatte mich vorbereitet auf den perfekten Sturm, der mit Beginn des Vorabdrucks am 23. August 2010 losbrach. Den Verlag und den Buchhandel übrigens auch nicht, das zeigte die Startauflage von 25 ٠٠٠ Exemplaren.
Bei der Textauswahl in Spiegel und Bild hatte ich mir die Genehmigung vorbehalten. Natürlich konnten diese Texte nicht die breite empirische Basis des Buches abbilden, sondern lediglich einen Teil der Schlussfolgerungen und Wertungen.
Für die Reaktion der offiziellen Politik gab Angela Merkel den Ton vor, als sie am 24. August, einen Tag nach Beginn des Vorabdrucks, Regierungssprecher Seibert erklären ließ, die Kanzlerin halte das Buch für »nicht hilfreich«. Gelesen hatte es da noch so gut wie niemand, es erschien ja erst am 30. August. Am 29. August setzte die Kanzlerin bei Ulrich Deppendorf in der ARD nach und forderte Bundesbankpräsident Axel Weber indirekt auf, für meine Entlassung Sorge zu tragen.
Zu diesem Zeitpunkt befürchtete der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel offenbar, beim Sarrazin-Bashing zu spät zu kommen. Am 30. August rief er mich morgens gegen 9.00 Uhr an und teilte mir mit: Gleich tage das Parteipräsidium, dort wolle er versuchen, meinen Ausschluss zu verhindern. Aber eine Aussage von mir zur genetischen Identität der Juden könne mir »das Genick brechen«. Ich solle versuchen, auf meiner später stattfindenden Pressekonferenz eine Klarstellung vorzunehmen. Tatsächlich stellte Sigmar Gabriel dann im Parteipräsidium selbst den Antrag, meinen Ausschluss zu betreiben. Von dem einstimmig erfolgten Beschluss erfuhr ich während der Pressekonferenz durch die Frage eines Journalisten. Ein anderer Journalist fragte, ob mir bekannt sei, dass Bundesbankpräsident Weber meine Entlassung aus der Bundesbank vorbereite. Auch dies erfuhr ich erst durch seine Frage.
Zwei Tage später, am 1. September 2010, erklärte Bundespräsident Wulff, bedrängt durch Journalisten: »Ich glaube, dass jetzt der Vorstand der Deutschen Bundesbank schon einiges tun kann, damit die Diskussion Deutschland nicht schadet – vor allem auch international.« Die indirekte Botschaft an die Bundesbank kam an. Einen Tag später stellte Bundesbankpräsident Weber beim Bundespräsidenten schriftlich den Antrag, mich zu entlassen, nachdem ich einen Rücktritt verweigert hatte.
Über den Titel meines Buches und seinen Erscheinungstermin war Axel Weber, dem die Presseabteilung der Bundesbank unterstand, seit Mai 2010 informiert, denn von diesem Zeitpunkt an wurde das Buch vom Verlag öffentlich angekündigt. Bei meiner Rückkehr aus dem Urlaub, am 16. August, hatte ich zudem per E-Mail allen Vorstandskollegen Titel und Erscheinungstermin angekündigt. Es gab keine einzige Nachfrage, etwa die Bitte, den Text vorab zu erhalten.
Mein Verhältnis zu Axel Weber war recht kühl. Zu den übrigen Vorstandskollegen war es freundlich korrekt, teilweise herzlich. Weber hatte bereits ein Jahr zuvor, anlässlich eines langen Interviews, das ich der Zeitschrift Lettre International gegeben hatte und das wegen einiger weniger Zeilen für Aufregung gesorgt hatte, vergeblich versucht, mich aus der Bundesbank zu drängen.
Der Entlassungsantrag vom 2. September 2010 beim Bundespräsidenten war von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil ihm jede Rechtsgrundlage fehlte. Bundespräsident Wulff hatte sich in eine Falle locken lassen, als er die Bundesbank indirekt aufforderte, bei ihm den Entlassungsantrag zu stellen. Und das wussten die Beamten des Bundespräsidialamtes offenbar auch ganz genau, denn eine Woche lang geschah gar nichts. Ein rechtswidriger Entlassungsakt wäre für den Bundespräsidenten äußerst riskant gewesen, denn ich hätte dagegen geklagt. Eine Zurückweisung des Antrags wiederum hätte den Bundesbankpräsidenten desavouiert. Ein Rücktritt entweder des Bundespräsidenten oder des Bundesbankpräsidenten wäre unvermeidlich gewesen.
Ich hatte ein Buch geschrieben und hoffte, dass darüber diskutiert würde. Mit der Kanzlerin, dem Bundespräsidenten und dem Bundesbankpräsidenten wollte ich mich gar nicht streiten. Ihr Verhalten kann ich weder verstehen noch respektieren, aber ich wollte niemanden in seinem Amt bedrohen. Damit hätte ich meine Rolle als kritischer Buchautor auch überzogen.
Als das Bundespräsidialamt nach einer Woche Schweigen über meinen Anwalt anfragen ließ, ob und unter welchen Bedingungen ich mir vorstellen könne, selbst beim Bundespräsidenten meine Entlassung aus dem Amt des Bundesbankvorstandes zu beantragen, stellte ich zwei Bedingungen: Die Bundesbank nimmt alle gegen mich erhobenen Vorwürfe öffentlich zurück, und ich erhalte die Pension, die ich bei Erfüllung des vollen Vertrages bekommen hätte. Ich hatte mir ja nichts zuschulden kommen lassen und trat nur zurück, um die Ämter des Bundespräsidenten und des Bundesbankpräsidenten vor Schaden zu bewahren.
Viele meiner Befürworter hatten gehofft, dass ich an diesem Punkt hart bleiben würde, aber dazu war ich zu lange Staatsdiener gewesen. Ich wollte nicht hohe öffentliche Ämter beschädigen, mochte ich auch deren aktuelle Inhaber nicht schätzen. Es war peinlich genug für Bundesbankpräsident Weber, dass er alle gegen mich erhobenen Vorwürfe öffentlich zurücknehmen musste.
Mit dem Rücktritt wegen eines Buches, das viele meiner schärfsten Kritiker offenbar gar nicht gelesen hatten, bekam ich ohne eigenes Zutun eine Art Opferstatus zugeschrieben, der den Absatz des Buches weiter befeuerte. Ehe die öffentliche Debatte über die Inhalte des Buches überhaupt richtig begonnen hatte, war daraus eine Debatte über die Meinungsfreiheit in Deutschland geworden. Angela Merkel spürte den Druck und entschied kurzfristig, einer Preisverleihung für den dänischen Zeichner Kurt Westergaard in Potsdam beizuwohnen und sogar die Festrede zu halten. Feinsinnig erklärte sie dort, Sarrazin habe von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht. Es sei aber keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, wenn er wegen dieser Meinungsäußerung sein Amt verliere.
Während ich eine unübersehbare Menge zustimmender Leserbriefe erhielt, wurde die öffentliche Kritik an mir immer schriller. Dabei wurde mir immer klarer, dass ein großer Teil der Politiker und Journalisten, die mein Buch kritisierten und seinen Autor verdammten, dieses nicht oder nur höchst oberflächlich gelesen hatten. Von vielen Politikern hatte ich nichts anderes erwartet. Bei den Journalisten war ich zunächst irritiert. Ich merkte aber schnell, dass es zumeist gar nicht wirklich um eine kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten meines Buches ging, sondern darum, seine Fragestellungen zu delegitimieren und bestimmte Schlussfolgerungen, auch wenn sie rein logisch zwingend oder zumindest schlüssig waren, für moralisch unzulässig zu erklären. Dazu zählten auch die Versuche, mich persönlich herabzusetzen und mir beispielsweise Rassismus vorzuwerfen.
So zogen sich immer dieselben Falschbehauptungen durch bestimmte Medien, und es nützte nichts, ja wurde nicht einmal zur Kenntnis genommen, wenn ich sie mit Zitaten aus meinem Buch widerlegte. Das zieht sich, in abgeschwächter Form, bis heute hin. Ein »Klassiker« ist dabei die Behauptung, ich hätte geschrieben, Muslime seien genetisch dümmer als andere. Schon in meiner Pressekonferenz zur Vorstellung des Buches hatte ich die Integrationsmängel von Teilen der eingewanderten Muslime auf kulturelle Ursachen zurückgeführt und dies auch in meinem Buch immer wieder betont. Die Erblichkeit von Intelligenz spielt in meinem Buch bei der Diskussion von Zuwanderung und Integration gar keine Rolle. Sie kommt vielmehr bei der Analyse und Bewertung der in Deutschland schichtspezifisch unterschiedlichen Reproduktionsraten ins Spiel. Dieser Sachverhalt hat mit dem Einwanderungs- und Integrationsthema nichts zu tun, auch wenn er dieses teilweise überlagert.
Jene, denen die Fragestellung und der Inhalt meines Buches nicht passten, die aber zu denkfaul, als Nichtleser zu uninformiert oder intellektuell ganz einfach nicht in der Lage waren, sich mit meiner Argumentation kritisch auseinanderzusetzen, zeigten eine Vorliebe für bestimmte herabsetzende Adjektive. Diese tauchen bis heute in manchen Medien stereotyp auf, wenn von meinem Buch oder mir die Rede ist. Wahlweise sprach und spricht man von Sarrazins »kruden«, »provokanten« oder »dubiosen« Thesen. Nur die Aussage, dass sie falsch seien, findet man interessanterweise kaum. Die Flucht ins Pejorative macht es leichter, innere Sperren gegen die Wahrnehmung ungeliebter Sachverhalte vor sich und anderen zu verschleiern.
Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hatte mein Buch gleich in den ersten Tagen des Vorabdrucks gelesen. In zwei Artikeln4 warf er mir vor, Quellen zu verdecken und mich für Eugenik auszusprechen. Beide Vorwürfe waren haltlos, dazu weiter unten. Bei Erscheinen seines zweiten Artikels am 1. September hatte allerdings bereits eine Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung eingesetzt. Die Art des Umgangs der Politik und vieler Medien mit dem Buchautor Sarrazin trat in den Vordergrund, zudem ging bei allen Medien eine ungeheure Flut von Leserbriefen ein, deren Verfasser sich großteils auf meine Seite stellten. Auch Schirrmacher entdeckte in den folgenden Tagen, dass der »Fall Sarrazin« insbesondere wegen des fragwürdigen Verhaltens der Bundeskanzlerin und des Bundespräsidenten auch Fragen an die Meinungsfreiheit in Deutschland stellte,5 und in einem Interview mit der FAZ bekam ich Gelegenheit, auf alle aus Schirrmachers Sicht offenen Fragen ausführlich zu antworten.6
Unter den Journalisten, die sich zu meinem Buch äußerten, gehörten Schirrmacher und einige wenige andere zu der kleinen Minderheit, die es wirklich gelesen hatte. Tendenziöse beziehungsweise rundweg falsche Wiedergaben der Inhalte waren in der Presse umso stärker verbreitet, je »liberaler« und »linker« die entsprechenden Medien nach ihrer Selbsteinschätzung waren. Durch einen besonders hohen Anteil schlichtweg falscher beziehungsweise verleumderischer Wiedergaben der Inhalte meines Buches zeichneten sich die Frankfurter Rundschau, der Berliner Tagesspiegel, der Stern und die Süddeutsche Zeitung aus. Letztere hatte allerdings auch am 5. September Klaus von Dohnanyis Aufsatz gedruckt, in dem mich dieser verteidigte.
Einige Wochen nach der Veröffentlichung meines Buches, am 3. Oktober 2010, traf ich auf dem Münchner Oktoberfest Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung. Bei der zweiten Maß Bier sagte ich zu ihm: »Seien Sie ehrlich, Herr Prantl, Sie haben mein Buch doch gar nicht gelesen.« Er zögerte kurz und antwortete: »Ich habe angefangen. Aber ich habe dann aufgehört, weil ich es nicht aushielt.« Ich wechselte das Thema, der Punkt war ja gemacht. Die tendenziöse Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung hielt aber an. Darum zögerte ich lange, ehe ich im Mai 2011 einem Treffen mit dem SZ-Redakteur Stefan Klein zustimmte, der ein Porträt über mich erstellen wollte.7
Im Vorfeld unseres Treffens besuchte Stefan Klein am 3. Mai 2011 eine Lesung, die ich in Waltrop im Ruhrgebiet hielt. Über diese Lesung erschien bei www.sueddeutsche.de wenige Tage später ein Artikel, der von herabsetzenden Adjektiven und frei Erfundenem nur so strotzte. Empört rief ich Stefan Klein an, was das denn solle. Er habe den Artikel nicht geschrieben, sagte er mir. Er habe aber den Kollegen bei www.sueddeutsche.de angerufen, der ihn geschrieben habe, und ihm gesagt, dass er ihn in Waltrop gar nicht gesehen habe. Daraufhin habe der Kollege gestanden, dass er auch gar nicht dort gewesen sei. Er habe seinen Bericht aus dem Internet zusammengeschrieben.
Dieser Geschichte könnte ich viele ähnliche anfügen, belasse es aber bei diesem Beispiel.
Wenn man die Presse im Herbst 2010 einige Wochen verfolgte, so konnte man bis in Formulierungsdetails hinein nachvollziehen, wo der eine Journalist, der das Buch nicht gelesen hatte, von einem anderen abschrieb, bei dem aufgrund sachlicher Falschaussagen ebenfalls nachweisbar war, dass er es nicht gelesen hatte. Die qualitativen und ethischen Mängel unseres Pressewesens kannte ich ja aus jahrzehntelanger politischer Erfahrung. Dass es so schlimm war, hatte ich allerdings doch nicht vermutet. Ich erinnerte mich an Arthur Schopenhauer: In der Vorrede zur ersten Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung erklärt er dem Käufer, »daß er ein Buch, auch ohne es gerade zu lesen, doch auf mancherlei Art zu benutzen weiß. Es kann, so gut wie viele andere, eine Lücke in seiner Bibliothek ausfüllen, wo es sich, sauber gebunden, gewiß gut ausnehmen wird. [... ] Oder endlich er kann ja, was gewiß das Beste von Allem ist und ich besonders rate, es recensieren.«8 Ich hatte nicht geahnt, dass so viele Journalisten Schopenhauers Ratschläge beherzigen.
Ich teile die Schwäche der wohl meisten Autoren, die darin besteht, sich über Lob zu freuen und über Kritik zu ärgern. Nach wenigen Wochen hatten die wichtigsten Pressestimmen und Rezensionen, freundlich vom Verlag für mich gesammelt, bereits drei Leitzordner gefüllt. Bald begann auch der Reigen der Bücher zur »Sarrazin-Debatte« zu erscheinen.9 Im März 2011 gab ich mir einen Ruck und las sämtliche Bücher und andere kritische Beiträge, die mein Buch nach sich gezogen hatte, im Zusammenhang durch.
Einige Wochen und etwa 400 beschriebene Karteikarten später überlegte ich, was zu tun sei. Ich hatte mittlerweile Anregungen für mindestens fünf weitere Bücher. Ich hatte verstanden, dass viele Kritiker mich respektierten, mich andere dafür aber umso mehr hassten. Indem ich mich in die unterschiedlichen Argumentationsstränge vertiefte, hatte ich die Wahl, mich nacheinander zum Experten für Demografie, Entwicklungspsychologie, frühkindliche Bildung, Anthropologie, Ethnologie, Migrationsforschung, Islamforschung und Rassismusforschung auszubilden. In nächtlichen Träumen entstand ein Opus magnum von geradezu Humboldtschen Ausmaßen vor meinem inneren Auge.
Nur: Musste ich das jenen zumuten, die mein Buch schätzten, und würden das neue Werk jene lesen, die das alte verabscheuten, ohne es gelesen zu haben? Nicht nur ich antwortete auf beide Fragen mit nein, sondern auch jene, die ich um ihre Meinung bat.
Mittlerweile hatte ich erkennen müssen, dass es dem größten Teil der negativen Kritik nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung ging. Auf der anderen Seite wurde mir deutlich, dass das fachliche Gerüst meiner Argumentation durch die ganze Debatte nirgendwo ernsthaft erschüttert worden war. Im Gegenteil, anerkannte Autoritäten ihres Fachs äußerten sich lobend, ob es sich um den Bevölkerungsforscher Herwig Birg,10 den Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler,11 den Soziologen Erich Weede12 oder die Entwicklungspsychologen Heiner Rindermann und Detlef Rost13 handelte: Der von mir beschriebene und in seinen sozioökonomischen Folgen analysierte demografische Trend wurde nirgendwo ernsthaft bestritten. Thomas Thiel schrieb zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Demografie, der im Januar 2011 in Bonn stattfand: »Sarrazins Schreckensspirale blieb als steinerner Gast im Raum. Niemand fand sich, der ihr auf empirischer Basis den Zahn gezogen oder ihren normativen Unterbau entzerrt hätte.«14 Angesichts einer großen Herausforderung fliehen die Demografen ins Klein-Klein komfortabler Forschungsnischen.
Die Kapitel des Buches zu Armut, Arbeitsmarkt und Bildung wurden zwar von den Lesern vielfältig kommentiert, sie erfuhren von Experten aber keinerlei fachliche Kritik, in den Medien allerdings auch kaum Aufmerksamkeit.
Auch die Risiken, die der wachsende Anteil bildungsferner Schichten für die künftige Bildungsleistung bedeutet, stellte niemand in Frage. Zu den Aussagen über den Grad der Erblichkeit von Intelligenzunterschieden gab es zwar empörte Kommentare, dass ich den Stand der Forschung dazu zutreffend wiedergab, wurde jedoch in der Diskussion bestätigt15 und blieb letztlich unwiderlegt.
Auf große Empörung stießen die Analysen, mit denen ich systematische Unterschiede im Integrationsverhalten und Integrationserfolg von Migranten aus islamischen Ländern einerseits und aller anderen Migrantengruppen andererseits herausarbeitete. Es gelang allerdings nicht, diese Datenbasis zu erschüttern.16
Der Versuch, diese Unterschiede aus dem kulturellen Hintergrund der Migranten zu erklären, führte mich zur näheren Befassung mit dem Islam, und so wurde ich in den Augen des Publikums zum »Islamkritiker«, was mir mancherlei Zuspruch, aber auch sehr viel Hass eintrug.
Aus den dargestellten Gründen brachte ich meine Skepsis zum Ausdruck, dass Zuwanderung aus der Türkei, Afrika, Nah- und Mittelost die wachsenden Probleme Deutschlands mit seiner Demografie und seiner Bildungsleistung verringern könne, und äußerte die Vermutung, dass diese dadurch eher noch anwachsen würden. Das machte mich zum Lieblingsfeind des Großteils der deutschen Migrationsforscher.
Sehr strittig blieb meine Analyse, dass eine dauerhaft intelligenz und schichtenspezifisch schiefe Geburtenverteilung langfristig negative Auswirkungen auf das durchschnittliche Intelligenzniveau haben kann und nach meiner Meinung auch haben wird.
Zu schaffen machte mir der Niveaumangel bei fast allen Stimmen aus der Politik, die sich zu meinem Buch äußerten.
Auf die letzten vier Punkte werde ich im Folgenden näher eingehen und beginne mit der Politik: Angela Merkel hatte mit ihrer frühen Intervention gegenüber der eigenen Partei den Ton gesetzt und indirekt eine deutliche Warnung an ihre Parteifreunde ausgesprochen, Thilo Sarrazin nur ja nicht in irgendeiner Form zu unterstützen. Die Funktionsträger beachteten im Wesentlichen diese Warnung, auch wenn einige von ihnen, zum Beispiel der Vorsitzende des Innenausschusses im Bundestag, Wolfgang Bosbach, halblaut zu erkennen gaben, dass sie meine Thesen teilweise teilen.
Am 28. August 2010 unterlief mir in einem Interview mit der Welt am Sonntag ein Fehler. Die Frage, ob es eine genetische Identität gebe, bejahte ich und führte als Beispiele Iren, Basken und Juden an. Ich sagte: »Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen.«17 Das war unpräzise. Daher korrigierte ich mich am Tag darauf in einer Erklärung, denn ich hätte sagen sollen, dass es in höherem Maße gemeinsame genetische Wurzeln heute lebender Juden gibt, als man lange geglaubt hat.18 Diese Ungenauigkeit wurde gegen mich gewendet. Manche unterschoben mir Rassismus und Antisemitismus. Die schrillen Kommentare des Generalsekretärs Kramer und des Vizepräsidenten Graumann vom Zentralrat der deutschen Juden will ich hier gar nicht zitieren. Chaim Noll schrieb dazu einige Tage später in der FAZ, die »Äußerungen werfen ein ernüchterndes Licht auf die Unbildung deutsch-jüdischer Funktionäre, denen offenbar das elementare Grundwissen über das Judentum abhanden gekommen ist«. Ein Tabu, jüdische Identität mit Genetik zusammenzubringen, bestehe in Israel nicht. An den israelischen Universitäten werde vielmehr »auf diesem Gebiet intensive fachwissenschaftliche Forschung betrieben, in zunehmendem Ausmaß«, und er zitierte dazu die einschlägigen Forschungsergebnisse aus Israel und den USA, über die ich auch gelesen hatte und die der Bezugspunkt meiner Äußerung gewesen waren.19
Diese Auseinandersetzung gab wohl für den SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel den letzten Anstoß, am 30. August im SPDParteipräsidium meinen Parteiausschluss zu betreiben. Dieser wurde vierzehn Tage später im SPD-Parteivorstand bekräftigt. Beide Entscheidungen erfolgten einstimmig, im ersten Fall, ohne dass die Beteiligten mein Buch gelesen haben konnten. Nur Peer Steinbrück enthielt sich im Parteivorstand. Dass er als Einziger dem Gruppendruck widerstanden und sich zumindest symbolisch distanziert hat, rechne ich ihm hoch an. Diese Abstimmungen im SPD-Parteipräsidium und -Parteivorstand zeigen für mich in symbolischer Eindringlichkeit, wie »verlässlich« und »unabhängig« die personellen Säulen unserer Demokratie sind, wenn der Wind mal ein wenig schärfer weht.
Der Verlauf der öffentlichen Diskussion und die Flut empörter Briefe, die im Parteivorstand eingingen, zeigten Gabriel schnell, dass er mit dem Ausschlussverfahren einen politischen Fehler gemacht hatte. In einem Artikel in der Zeit legte er nach, warf mir eine »ungeheure moralische Entgleisung« vor und erklärte mich zum »HobbyEugeniker« und »Sozialdarwinisten«.20
Mittlerweile hatte sich Klaus von Dohnanyi in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung21inhaltlich an meine Seite gestellt und im Hinblick auf den Stil der öffentlichen Debatte die Parallele gezogen zu den beiden großen Debatten der letzten Jahrzehnte:
zum Historikerstreit in den achtziger Jahren anlässlich der Thesen Ernst Noltes über das Verhältnis bolschewistischer und nationalsozialistischer Verbrechen;22
zur sogenannten Bubis-Walser-Debatte, die sich an Martin Walsers Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 entzündet hatte.23
Die Frage nach der Beschaffenheit unserer Debattenkultur und Aspekte der Meinungsfreiheit gewannen in der öffentlichen Diskussion Raum. Ich hielt mich hier zurück, weil ich nicht als ein von Selbstmitleid erfülltes Opfer erscheinen wollte, schließlich hatte ich ja selber auch ausgeteilt. Aber ich registrierte mit Dankbarkeit die öffentliche Unterstützung von Hans-Olaf Henkel, Arnulf Baring, Henryk Broder, Gunnar Heinsohn und vielen anderen. Besonders dankbar war ich Necla Kelek, die am 30. August 2010 mit einer klugen Rede die Vorstellung meines Buches übernommen hatte24 und deshalb in den folgenden Monaten viele Schmähungen über sich ergehen lassen musste.
Klaus von Dohnanyi erklärte sich bereit, meine Verteidigung im Parteiordnungsverfahren zu übernehmen, und bewahrte mich in den folgenden Monaten vor mancher unnötig aggressiven Äußerung. Das Verfahren schleppte sich hin, über zwei Monate dauerte es allein, bis der Parteivorstand einen Schriftsatz vorgelegt hatte. Erst am 21. April 2011 kam es zu einer mündlichen Verhandlung vor der Kreisschiedskommission der SPD in Charlottenburg-Wilmersdorf. Bei der klugen Argumentation Klaus von Dohnanyis – er hatte mich zu Stillschweigen verpflichtet – zeigte sich in wenigen Stunden, dass die Anwürfe dem sachlich differenzierenden Text meines Buches nicht gerecht wurden. Die Schiedskommission legte als Ergebnis der mündlichen Verhandlung eine Erklärung vor, die voll meiner Position entsprach und von den sachlichen Aussagen meines Buches nichts zurücknahm. Diese unterschrieb ich gern, und auf dieser Grundlage zog der Parteivorstand seinen Ausschlussantrag zurück.
Die Medien interpretierten den Verfahrensausgang als eine peinliche Niederlage für Sigmar Gabriel. Ich verzichtete auf öffentlich geäußerten Triumph. Meine Gegner in der Partei wendeten sich nun gegen Sigmar Gabriel und die Generalsekretärin Andrea Nahles, die in der mündlichen Verhandlung den Parteivorstand vertreten hatten. Aber auch diese Gegner wurden ruhiger, als unmittelbar nach Ende des Verfahrens die Umfragewerte der SPD in Berlin um drei Punkte nach oben sprangen. Wähler und Mitglieder schienen die Entscheidung mehrheitlich gut zu finden.25
Natürlich hatte ich aufmerksam verfolgt, dass über die ganzen Monate hinweg eine stabile Mehrheit der Menschen in Deutschland viele meiner Thesen zu unterstützen schien, wenn man den Umfragen Glauben schenkte. 18 bis 20 Prozent gaben zeitweilig sogar an, eine Partei wählen zu wollen, die ich gründen würde. Das kam für mich selbstverständlich nie in Frage. Wenn ich nicht glauben würde, dass wichtige Probleme der deutschen Gesellschaft auch in den großen Volksparteien zur Kenntnis genommen werden, müsste ich an der Zukunft verzweifeln.
Ich will über zwei weitere Erlebnisse berichten. Beide scheinen mir exemplarisch für die Tendenz zur Unaufrichtigkeit und Wirklichkeitsverweigerung in der Politik zu sein.
Am 7. September 2011 traf ich in der Talk-Sendung »Markus Lanz« auf Jürgen Todenhöfer. Wir waren uns noch nie begegnet. Ich wusste nur, dass er viele Jahre lang CDU-Bundestagsabgeordneter gewesen war und sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Nahen Osten befasst hatte. Er sagte, er habe mein Buch in den Weihnachtsferien gelesen, er habe eine Woche gebraucht. Das Deutsch sei schlecht, und es sei eine sehr schwere Lektüre gewesen. Ich hätte die Muslime gekränkt und damit Deutschland geschadet. Alle Muslime, die er kenne, seien darüber traurig. Ich begann, mich zu wundern, denn ich hatte mich um eine klare Sprache bemüht, allenfalls die Gedanken sind bisweilen ein wenig kompliziert. Ein intelligenter Mensch, der mein Buch wirklich gelesen hatte, musste zudem erkennen können, dass mein Text nicht dazu angetan war, jemanden zu kränken – es sei denn, jemand fände eine Tatsache allein deshalb kränkend, weil sie genannt wird.
Am schlimmsten sei aber, so Todenhöfer, mein Vorschlag, dass deutsche gebildete Frauen eine Geburtenprämie bekommen sollen, das sei eindeutig rassistisch. Mir verschlug es die Sprache. Das stand nirgendwo in meinem Buch.26 Jürgen Todenhöfer hatte in diesem Augenblick ganz bewusst und fernsehöffentlich gelogen: Entweder weil er mein Buch nur vom Hörensagen kannte und daher falsche Behauptungen wiederholte oder weil er wider besseres Wissen den Inhalt des Buches falsch darstellte. Markus Lanz ließ mir genügend Zeit, den Sachverhalt richtigzustellen. Jeder Fernsehzuschauer merkte, dass die Wahrheit verdreht worden war, um mich zu kritisieren.
Der zweite exemplarische Fall betrifft den CDU-Politiker Armin Laschet. Er war von 2005 bis 2010 Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen. Für ihn sind alle gleich; die Möglichkeit, dass es Unterschiede zwischen Migrantengruppen verschiedener Herkunft geben könne, weist er prinzipiell zurück, und besonders scheint es sein rheinisch-katholisches Gemüt zu kränken, dass zwischen den Integrationsdefiziten muslimischer Einwanderer und ihrer Kultur ein Zusammenhang bestehen könnte. Wer sich für empirische Evidenz nicht interessiert, mit dem fällt die Diskussion über die Wirklichkeit allerdings schwer. In einem Artikel in der FAZ behauptete Laschet: »Thilo Sarrazin denkt sich gruppenbezogene Unterschiede aus, die Migrationsforschung überflüssig machen.«27 Damit ist der Sprung von der sachlichen Kritik in die politische Realsatire erreicht. Denn Laschet kritisierte damit letztlich nicht mich, sondern das Statistische Bundesamt und viele andere Statistikproduzenten, deren Ergebnisse ich ausgewertet hatte. Aus empirisch belegten Tatsachen werden bei Laschet »Sarrazins Thesen«, sobald ich diese Tatsachen zitiere.
So schreibe ich zum Beispiel (und habe dies vorher mit statistischen Fakten umfangreich abgesichert): »Die Fremden, die Frommen und die Bildungsfernen sind in Deutschland überdurchschnittlich fruchtbar.« Laschet findet, dies sei eine »These« und zudem »respektlos gegenüber Gläubigen jeder Religion«. Nebenbei: Wieso soll Fruchtbarkeit eigentlich eine negative Eigenschaft sein?
Laschet treibt eine beliebte politische Strategie auf die Spitze: Fakten, die der eigenen Weltsicht widersprechen, wird der Wahrheitsgehalt abgesprochen, und deshalb werden sie zu üblen Erfindungen oder tendenziösen Verdrehungen des politischen Gegners.
Im Juli 20II war ich mit der Journalistin Güner Balci zuFilmaufnahmen in Kreuzberg verabredet. Es waren Begegnungen in einem Restaurant, auf einem Markt sowie im alewitischen Gemeindezentrum vorgesehen. Obwohl alle Gespräche vorab vereinbart worden waren, kam es zu einem Eklat. Krawallmacher sorgten dafür, dass der Besuch abgebrochen werden musste, wir wurden verjagt.28 Armin Laschet fand es offenbar nicht legitim, dass Güner Balci dazu am 22. Juli im ZDF-Magazin Aspekte einen Filmbericht machte. Er beklagte sich, mit solchen Berichten schaffe man einem Menschen wie mir nur unnötige Aufmerksamkeit. Armin Laschet fürchtet wohl den Wettbewerb der Argumente, er möchte lieber die Machtkarte ziehen.
Die Sache zog weitere Kreise: Die ARD hatte bei Güner Balci ein 45-Minuten-Porträt über mich in Auftrag gegeben. Die Dreharbeiten waren fast abgeschlossen. Nach dem Bericht in Aspekte über die Kreuzberger Ereignisse wurde das Projekt ohne Begründung abgebrochen. Womöglich dämmerte den öffentlich-rechtlichen Auftraggebern, dass ein Porträt von Güner Balci über Thilo Sarrazin vielleicht für ihre Intentionen nicht ausreichend negativ ausfallen würde.29
Güner Balci schrieb mir am 13. August 2011 zu den Ereignissen: »Was mich an der ganzen Debatte am meisten ärgert ist die unter Journalisten-Kollegen und Politikern scheinbar weit verbreitete Meinung, man dürfe über Thilo Sarrazin und sein Buch nicht reden, schon gar nicht einen Film machen. Rede- und Meinungsfreiheit sind eben doch sehr begrenzt. Auch bei uns. Diese Erkenntnis beschäftigt mich sehr ...«
Mit Güner Balci leite ich über zum Thema der muslimischen Migranten. Sie selbst wuchs in Berlin-Neukölln als Tochter türkischer Gastarbeiter auf und berichtet über das heutige Neukölln, mittlerweile die größte türkische Stadt außerhalb der Türkei, dieses habe sich sehr verändert: »Zu meiner Zeit war das noch eine bunt gemischte Gesellschaft. Dann zogen immer mehr weg, es wurde aggressiver, die Gewalt nahm zu auf den Straßen. Immer mehr Mädchen und Frauen trugen Kopftuch, ein anderes Weltbild setzte sich durch: die Geschlechtertrennung. Und wer behauptet, darin zeige sich muslimisches Selbstbewusstsein, hat noch nie Mädchen betreut, die das ganz anders erleben.«30
Zur Befassung mit den kulturellen Prägungen durch den Islam kam ich in meinem Buch bei dem Versuch, die Ursache der auffallenden Unterschiede zwischen verschiedenen Herkunftsgruppen von Migranten zu erklären. Damit geriet ich in eine Debatte, die lange vor mir angefangen hatte und auf deren Wucht und Intensität ich gar nicht vorbereitet war.
Im Januar 2011 veröffentlichte der Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Patrick Bahners, ein Buch, das als Generalabrechnung mit den sogenannten deutschen Islamkritikern konzipiert ist.31 Diese Kritik war sehr prinzipiell gemeint, und meine prinzipielle Antwort darauf sei hier kurz resümiert.32
Patrick Bahners hat mit Die Panikmacher ein sehr zorniges Buch geschrieben. Darin kommt ein klares Feindbild zum Vorschein, nämlich: die »Islamkritik«. Bahners differenziert nur unwillig beziehungsweise gar nicht zwischen unterschiedlichen Strömungen der kritischen Auseinandersetzung mit dem Islam, für ihn sind das alles Zweige vom selben illegitimen Stamm: allesamt Vertreter einer »Kultur des Ressentiments« und damit moralisch zutiefst fragwürdig. Die Argumentation derer, die er der Islamkritik zurechnet, läuft für ihn auf den Aufruf zu einem »Weltbürgerkrieg«, zur Vernichtung der Muslime und des muslimischen Glaubens hinaus. Einzelnen gesteht er zu, dass sie das vielleicht nicht so meinen oder die Folgen ihres Tuns nicht überschauen. Insgesamt aber hält er das Treiben der »Islamkritiker« für religionsfeindlich und auch feindlich gegenüber jeder wahren Liberalität, letztlich einem jakobinischen Staatsverständnis entstammend, einem Tugendterror in neuer und schrecklicher Form das Wort redend.
Die historische Parallele zur Islamkritik sieht Bahners im bürgerlichen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts. Immer wieder versieht er seine Kritik der Islamkritik mit entsprechenden Konnotationen, und folgerichtig beendet er sein Buch mit einem langen Zitat des Historikers Heinrich Treitschke aus dem Jahre 1879, das mit dem fatalen Satz endete: »Die Juden sind unser Unglück.«33 Bahners führt Treitschke an, um zu unterstellen, dass dessen Forderung an die »israelitischen Mitbürger«, sie sollten »Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen«, letztlich den Weg nach Auschwitz bereitete. Zustimmend zitiert er Micha Brumlik, der mich »einen Treitschke des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts« nannte. Bahners bringt nicht zufällig Treitschkes Forderung nach Assimilation und den Weg nach Auschwitz in einen Zusammenhang. Fast könnte man vermuten, er habe für den türkischen Präsidenten Erdogan die Rede in der Köln-Arena geschrieben, in der dieser sagte: »Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.«
Durch den Bezug auf den Antisemitismus und auf Auschwitz als seine Folgen greift Bahners zum maximalen Vergeltungsmittel, quasi zur Kernwaffe des deutschen politischen Diskurses. Wer so argumentiert, möchte seine Gegner ein für alle Mal erledigen. Wer Kernwaffen einsetzt, der ist entweder bedenkenlos, oder es mangelt ihm an Mitteln konventioneller Kriegführung. Bahners äußert auch einige kluge Gedanken, und es hätte seinem Buch gutgetan, wenn er argumentativ etwas abgerüstet hätte. So erweckt er den Eindruck, dass ihn Emotionen treiben, die mehr ihn beherrschen, als dass er sie beherrschte.
Im Zentrum von Bahners’ Buch steht ein objektives Problem. Viele Kritiker des Islam sehen dieses Problem genauso, nur geben sie eine andere Antwort: Der säkulare freiheitliche Rechtsstaat hat zur Voraussetzung, dass alle Bürger, Rechtssubjekte und gesellschaftlichen Organisationen sich an seine Regeln halten, sie in gewissem Umfang auch verinnerlichen und den Regeln des staatlichen Rechts im Zweifel den Vorrang geben vor abweichenden religiösen Geboten.
Für jene, die Bahners »Säkularisten« oder »Islamkritiker« nennt, ist klar, dass den Regeln des freiheitlichen Rechtsstaats unter allen Umständen Vorrang gebührt vor abweichenden Glaubensregeln oder den Gewohnheiten von Einwanderern mit einer anderen kulturellen Tradition.
Für Bahners ist das gar nicht klar. Er argumentiert, dass für jeden Gläubigen das göttliche Recht über dem von Menschen gemachten Recht stehe und dass es unzumutbar und unmoralisch sei, einen Menschen zum Glaubensverrat zu zwingen, indem man ihm abfordere, den Vorrang des menschlichen Rechts vor den göttlichen Geboten zu beachten und auch zu bekennen. Damit spricht Bahners ein grundlegendes Problem an: Im Kern jeder religiösen Überzeugung steckt nämlich eine gefühlte Offenbarung, deren Quelle nicht von dieser Welt ist und die sich folglich auch nicht den eher zufälligen, jedenfalls von Menschen gemachten sozialen Lebensregeln beugen kann. Wenn schon, dann muss das menschliche Regelwerk der offenbarten göttlichen Ordnung folgen.
Was heißt das in Deutschland und Europa für die Integration einer Religion wie dem Islam, dessen Glaubenssätze und Lebensregeln zu vielen Aspekten der säkularen Moderne eher im Widerspruch stehen? Welche Konflikte ergeben sich daraus, und wie kann man diese produktiv und zukunftsweisend bewältigen?
Das hätte der Gegenstand von Bahners’ Buch sein können. Dafür interessiert er sich aber zu wenig. Stattdessen verfolgt er über 300 Seiten alle jene mit seinem Ingrimm, die in der Integration von Muslimen in Europa und weiter steigenden Einwanderungszahlen aus muslimischen Ländern Probleme sehen. Seine Lieblingsfeinde sind dabei Ayaan Hirsi Ali, Henryk Broder, Ralph Giordano, Necla Kelek, Thilo Sarrazin, Alice Schwarzer und Peter Sloterdijk.
Im Kampf gegen die Islamkritiker im Allgemeinen und die oben genannten Personen im Besonderen geraten Bahners die Probleme, welche die »Islamkritik« anspricht, weitgehend aus den Augen. Es geht ihm nicht um Frauenrechte, nicht um Transferbezug, nicht um Mängel in der Bildungsbeteiligung, nicht um das Heiratsverhalten, nicht um Erscheinungen der Gewalt, nicht um Parallelgesellschaften. Patrick Bahners geht es nur um ein Thema, nämlich darum, dass es aus seiner Sicht falsch und moralisch verwerflich ist, Muslime zur Assimilation an die europäische Kultur anzuhalten.
Exemplarisch ist seine Behandlung der Kopftuchfrage: Wenn zwölfjährige Mädchen in der Schule kein Kopftuch tragen dürfen, so ist das für ihn vor allem und zunächst eine Verletzung der Religionsfreiheit. Es kommt ihm nicht in den Sinn, zu fragen, inwieweit die Freiheitschancen der jungen Mädchen beeinträchtigt werden, wenn sie nicht einmal in der Schule aus den rigorosen islamistischen Auffassungen zur Rolle und zum Verhältnis der Geschlechter entlassen werden und dies noch – an der weltlichen Schule geduldet – durch ihre Kleidung zum Ausdruck bringen müssen.
Unterschwellig wird bei Bahners sichtbar, dass ihm die schamhaft und rollengerecht verhüllte Weiblichkeit sympathischer zu sein scheint als das unverhüllte, sexuell aufgeladene Chaos abendländischer säkularer Frauenemanzipation. Hier kommt eine heimliche Sehnsucht nach einer verbindlichen Weltordnung jenseits menschlicher Maßstäbe zur Geltung, die das Abendland einfach nicht mehr bieten kann.
Wenn man ein Buch liest oder eine Meinung hört, bei der man den Grundansatz nicht teilt, sollte man gleichwohl für die Argumentationsrichtung des anderen offen bleiben, sonst gibt es keinen Dialog. Das vermisse ich bei Bahners. Exemplarisch dafür ist, wie herabsetzend er die Menschen behandelt, deren Ansichten er nicht teilt, und wie entstellend und verfälschend er die Argumente der Kritisierten widergibt. Der Umstand, dass er solche Mittel nötig hat, schadet seinem Anliegen und stellt seine Motive in Frage.
Ziemlich zu Anfang seines Buches setzt er sich mit meinem Interview in Lettre International vom September 2009 auseinander, und dabei wird seine Methode deutlich. Er zitiert mich zu den Stufen der Integration: »Die erste Vorstufe ist, dass man Deutsch lernt, die zweite, dass man vernünftig durch die Grundschule kommt, die dritte, dass man auf das Gymnasium geht, dort Examen macht und studiert.« Das ist eigentlich banal. Im Interview ging es um die Erhöhung des Anteils der Migranten im Öffentlichen Dienst. Für den Dienst in der Justiz, in der Finanzverwaltung, als Lehrer oder in der Polizei ist heute in der gehobenen oder höheren Laufbahn stets ein Studium erforderlich. Mehr türkische und arabische Migranten in diese Positionen zu bringen, bedeutet deshalb zunächst, dass mehr von ihnen Abitur machen und studieren. Bahners dagegen kommentiert: »Vollständig integriert ist der Akademiker, der ganze Mensch hat Abitur«,34 und unterstellt mir damit einen albernen Bildungsdünkel, den ich gar nicht habe. Er unterstellt mir ferner »das Phantasma einer durch administrative Maßnahmen herbeigeführten ethnischen Sauberkeit« und »die Ordnungsidee einer durch Umsiedlungsmaßnahmen verbesserten Bildungsstatistik«.35 Tatsächlich fordere ich – im Interview nach den Möglichkeiten Berlins befragt, seine Zukunftschancen zu verbessern – eine stärkere Orientierung des Bildungswesens und der Hochschulen am Leistungsgedanken und führe unter anderem aus: »Wenn die Türken sich so integrieren würden, dass sie im Schulsystem einen anderen Gruppen vergleichbaren Erfolg hätten, würde sich das Problem auswachsen ... Türkische Anwälte, türkische Ärzte, türkische Ingenieure werden auch deutsch sprechen, und dann wird sich der Rest relativieren.«36 Bahners dagegen verdreht meine Aussagen in ihr Gegenteil, um mir das »Phantasma ethnischer Sauberkeit« durch »administrative Umsiedlungsmaßnahmen« zu unterstellen. Die Konnotation zum Holocaust ist offenbar gewollt, seine Insinuation ungeheuerlich.
Damit bin ich bei der Frage des »Anstandes«. Bahners findet nicht, dass es in Deutschland ein Problem im Spannungsfeld von Meinungsfreiheit und »politicial correctness« gibt. Er lehnt diesen Begriff ab und führt stattdessen den »Anstand« als Maßstab menschlicher und damit auch politischer Kommunikation ein. Auf diese Weise wird aber lediglich der eine Begriff für »Das sagt man nicht« durch einen anderen ersetzt, zudem durch einen Begriff, der aufgrund seiner Subjektivität Konventionen immer nur reflektieren, nicht aber ergründen kann. Unter dem Begriff des Anstandes können unerwünschte Fragen und Meinungen perfekt ausgegrenzt werden, und davon macht Bahners reichlich Gebrauch. Es fehlt nur noch die Volte, auch den jeweiligen Inhalt des Anstandsbegriffes aus einer religiösen Offenbarung abzuleiten, und die erwünschte Abschirmung jedweder Diskussion von den Gefahren politischer Inkorrektheit wäre gelungen. Wohlgemerkt, diese Argumentation ist keine Lizenz, den Anstand aufzugeben, aber man muss sich über die Wirkung von Begriffen klar sein. Durch die Verwendung des Anstandsbegriffs wird das Problem der »political correctness« nicht gelöst, es wird noch verschärft. Folgerichtig findet denn auch Bahners nicht, dass mein Lettre-Interview die Grenzen politischer Korrektheit überschritten habe, er findet ganz einfach, dass es unanständig gewesen sei und damit seriöser Auseinandersetzung eigentlich nicht wert.
Typisch für seine Weltsicht ist die Verharmlosung der Vorgänge um die Mohammed-Karikaturen. Nicht der Skandal, dass Menschen wegen der Karikaturen starben, dass Attentate verübt wurden und dass der Karikaturist Kurt Westergaard seit Jahren mit dem Tode bedroht ist, wird von ihm thematisiert, sondern uns wird die ironische Belehrung zuteil, dass sich »die republikanische Weltöffentlichkeit ... den Einsatz der ehrwürdigen Mittel der Blasphemie zum Zwecke der Geistesschärfung und Geisterscheidung vorbehalten müsse«.37 Das heißt, Bahners teilt offenbar die Empörung der islamischen Welt über die Karikaturen, und ebenso teilt er ihre Nicht-Empörung über die Gewalttätigkeiten als Reaktion auf diese Karikaturen.
Necla Kelek gesteht er zwar zu, dass sie eine »intellektuell anregende« Doktorarbeit geschrieben habe, aber er sät Zweifel an der Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der von ihr in dem Buch Diefremde Braut erzählten persönlichen Familiengeschichte. Ihn stört ganz offenbar, dass Necla Kelek die allmähliche Islamisierung des typischen türkischen Gastarbeiters in Deutschland, wie sie sie beobachtet hat, nicht begrüßt und dies in ihrem Buch auch zum Ausdruck bringt. Er spricht ihr die wissenschaftliche Seriosität ab: »Die Autorin ist im Hauptberuf heute Akteurin der Medienwelt«,38 und dann kommt die diffamierende Pointe: »Legt man an die Entwicklung der Autorin einen intellektuellen Maßstab an, muss man von Regression sprechen.«39 Die Kritik an Kelek geht aber weiter: »Indem sie aussprach, dass sie in der islamischen Welt nicht einmal auf Verbündete im Geiste zu hoffen wagte, hatte sie die Frontlinie eines Weltbürgerkrieges gezogen.«40 Dank Patrick Bahners wissen wir nun: Nicht al-Qaida und Islamismus sind eine Gefahr für den Weltfrieden, Necla Kelek ist es – und mit ihr all jene, die ihre Befürchtungen teilen!
Auch Henryk Broder, Ralph Giordano und Alice Schwarzer werden von Patrick Bahners durch einseitige Zitatenauswahl und deren verfälschende Deutung in die Ecke der eigentlichen Demokratiefeinde in Deutschland gerückt. Alice Schwarzers Einstellung nennt Bahners »jakobinisch«, man sieht förmlich schon die Köpfe rollen, sollte sie einmal politische Macht gewinnen. Der Furor des Patrick Bahners wendet sich mit besonderer Schärfe gegen die Grundsätze der französischen laizistischen Politik.
Ziemlich am Ende seines Buches zitiert Patrick Bahners die rhetorische Frage von Necla Kelek: »Sind wir keine Deutschen, Türken, sondern zuerst Christen, Juden oder Muslime, keine Bürger, sondern Gläubige oder Ungläubige?« Er unterschiebt Necla Kelek eine Auffassung, die sie gar nicht hat, indem er kritisiert: »Die Auffassung, dass der Staat das Höchste ist und es für den Frommen nie eine Gewissenspflicht zum Widerstand geben kann, haben in Deutschland zuletzt die Deutschen Christen vertreten.«41 Nicht der Staat ist das Höchste, sondern eine rechtsstaatliche Verfassung der Freiheit, diesen Unterschied verwischt Bahners, um Necla Kelek in die Nähe der Deutschen Christen zu rücken, die die Nazi-Diktatur stützten.
Mit dieser letzten großen Diffamierung unterstellt Bahners Necla Kelek und mit ihr allen sogenannten Islamkritikern, sie seien der Meinung, es gebe keine Gewissensinstanz und kein sittliches Gebot jenseits des Staates. Diese Behauptung ist atemberaubend. Mit seiner die Verleumdung nicht scheuenden Kritik ist Bahners leider exemplarisch für einen Debattenstil, dessen eigentliches Ziel darin besteht, die Diskussion bestimmter Probleme um fast jeden Preis zu verhindern.
Ich habe mich als ein Fachfremder in die Auseinandersetzung mit dem Islam begeben, weil ich etwas von der islamischen Kultur begreifen wollte, um die Integrationsdefizite muslimischer Migranten besser zu verstehen. Ein Islamexperte bin ich nicht. Aber nicht zuletzt durch Autoren wie V. S. Naipaul42 und Aatish Taseer43 habe ich ein gewisses Verständnis für die inneren Gesetzlichkeiten des islamischen Kulturkreises erworben. Das hat mir geholfen, die spezifischen Verhaltensweisen muslimischer Einwanderer in Europa besser zu verstehen. So wurden für mich die Ursachen für die großen Abweichungen bei allen statistisch messbaren Integrationsparametern unter den großen Einwanderungsgruppen etwas transparenter.
Wie viele hoffe ich darauf, dass die »Arabellion« die Verhältnisse im arabischen Teil der islamischen Welt in Richtung von mehr Demokratie und Pluralität verbessert. Leider dominieren auch in einem »fortschrittlichen« Land wie Ägypten fundamentalistische Einstellungen, die aus der Sicht europäischer Demokratien und auch nach der europäischen Auffassung von den Menschenrechten äußerst bedenklich sind.44 Ohne eine grundlegende Änderung dieser Einstellungen wird es mehr Pluralität und Toleranz nicht geben können. Die Ergebnisse der ersten freien Wahlen in Tunesien am 23. Oktober 2011 machten die islamistische Partei Ennahda mit über 40 Prozent der Stimmen zur beherrschenden politischen Kraft. Für Libyen und Ägypten muss man vonähnlichen Ergebnissen ausgehen, wenn es zu freien Wahlen kommt. In Libyen hat der Revolutionsrat bereits angekündigt, dass künftig als Rechtsordnung die Schari’a gelten soll.
Für Europa habe ich Zweifel, ob die grundsätzliche Verfasstheit des Islam sich schnell genug ändert, um rechtzeitig und unwiderruflich daraus einen demokratisch gezähmten Euro-Islam zu machen. Der aus Ägypten stammende Politologe Hamed Abdel-Samad, der in seinem letzten Buch den Untergang der islamischen Welt45prognostiziert, wenn diese ihre kulturellen Einstellungen nicht grundlegend ändert, meint jedenfalls, dass die westliche Angst vor dem Dschihad nicht medial inszeniert, sondern Spiegel einer realen Bedrohung sei.46 Johannes Kandel, der Islamexperte der FriedrichEbert-Stiftung, belegt in seinem neuen Buch, dass die Bedrohung auch bei uns wächst. Die Salafiten, eine besonders radikale Richtung, gewinnen unter den jungen Muslimen in Deutschland überdurchschnittlich an Anhängerschaft.47
Erst nach Erscheinen meines Buches las ich Sterben sollst Du für Dein Glück von Sabatina James48 und lernte aus dem Lebensbericht dieser jungen, aus Pakistan stammenden Frau, dass die Unterdrückung der Frau und Zwangsheiraten auch unter scheinbar integrierten und beruflich erfolgreichen Muslimen mitten in Europa viel verbreiteter sind, als es den Anschein hat. Diese blitzgescheite und hochgebildete junge Frau lebt an unbekannten Orten unter Sicherheitsvorkehrungen, weil die Drohung ihrer in Österreich ansässigen Familie, sie umzubringen, immer noch im Raume steht. Sie hat sich nicht nur geweigert, einen Vetter aus Pakistan zu heiraten, sie ist auch noch zum Christentum übergetreten.
Sabatina James engagiert sich für die Rettung von Frauen vor Unterdrückung und Zwangsheirat und darüber hinaus für die Rettung von Christen in islamischen Ländern, wo jährlich rund 100 000 bei Verfolgungen sterben. Davon legt ihr neues Buch Zeugnis ab.49 Es hat das Motto: »Es ist besser, für die Wahrheit zu sterben, als für nichts zu leben.« Ich war im September 2011 bei der Buchvorstellung zugegen, und ihr Engagement, ihre farbigen Erzählungen, die tragischen Geschichten von Gewalt und Folter, ihre eindringliche Schilderung der Gesetzlichkeiten des sunnitischen Islam, wie er in ihrem Heimatland Pakistan gelebt wird, ihre abgrundtiefe, gutbegründete Skepsis gegenüber den Chancen eines Euro-Islam hinterließen bei mir einen starken Eindruck.
Fragt man nach den gesellschaftlichen Auswirkungen von Einwanderung in den vergangenen Jahrzehnten sowie in der Zukunft, dann stellen die besonderen Probleme der Integration muslimischer Migranten nur einen Teilaspekt dar, das habe ich in meinem Buch auch klar herausgearbeitet. Allerdings ist dies ein wichtiger, sachlich und emotional besonders problematischer Aspekt. An der deutschen Integrationsforschung hatte und habe ich zu bemängeln, dass sie diesen Teilaspekt weitgehend unterschlägt.
Necla Kelek kritisierte in einem engagierten Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass die deutsche Integrationsforschung auch nach der Veröffentlichung meines Buches auf diesem Auge weiter blind bleiben wolle, und griff dabei den bekanntesten deutschen Migrationsforscher Klaus Bade scharf an.50 Klaus Bade ist Vorsitzender des Sachverständigenrats Migration und hatte im April 2011 dessen neues Jahresgutachten vorgestellt.51 Bade warf Kelek in einer nicht minder scharfen Antwort im Ergebnis vor, sie seie keine seriöse Wissenschaftlerin, und sprach ihr letztlich ab, eine ernstzunehmende Diskussionspartnerin zu sein.52
Das war starker Tobak. Ich studierte daraufhin das Gutachten bis ins Detail. Sachliche Fehler fand ich keine, wohl aber viele Anregungen für weitere Lektüre und die eine oder andere neue Erkenntnis.53 Eine Antwort auf die in meinem Buch aufgeworfenen Fragen fand ich in dem Gutachten allerdings nicht. Klaus Bade freut sich zwar in seinem Vorwort darüber, dass »die abrupten Stimmungsausbrüche der Sarrazin-Debatte ... in der breiten Mitte die relativ pragmatischen und differenzierten Einschätzungen zu Migration und Migrationspolitik nicht grundlegend verzerrt« hätten.54 Darüber hinaus geht das Gutachten auf die Debatte nicht ein, sieht man von dem Vorwort des Vorsitzenden des Kuratoriums, Rüdiger Frohn, ab, in dem es heißt: »Leider veränderte sich das innenpolitische Klima im Spätsommer 2010 durch eine Häufung von Angst- und Empörungsappellen vor dem ›Fremden‹, den Muslimen im Besonderen oder ›gar dem deutschen Untergang‹. An die Stelle des Arguments trat der Verdacht, der mit dem Gestus der unterdrückten Wahrheit (›Man wird doch wohl noch sagen dürfen ...‹) vorgetragen wurde.«55
Auch wenn mit dieser Beschreibung mein Buch eigentlich nicht gemeint sein kann, offenbar aber gemeint ist, wundere ich mich über die hier zum Ausdruck kommende verdruckste Einstellung und die Furcht vor einem »schlechten Klima«. Nach meiner Meinung entsteht ein schlechtes Klima nicht aus einer kontroversen Diskussion, sondern aus der repressiven Atmosphäre, die solche Texte mit ihrem hohlen moralischen Anspruch verbreiten.
Leider blendet das gleichwohl über weite Strecken lesenswerte Gutachten all jene Probleme nahezu vollständig aus, die Necla Kelek seit vielen Jahren publizistisch behandelt. Diese Probleme werden nicht einmal negiert (was ja noch eine Auseinandersetzung beinhalten würde), sie werden schlicht ignoriert. Und damit werden auch jene Fragen weitgehend ausgeblendet, die eine Vielzahl von Menschen im Hinblick auf Zuwanderung und Integration bewegt.
Dabei geht es mir nicht um die Ergebnisse des Integrationsbarometers im Gutachten. Bei der Befürwortung der Zuwanderung von Hochqualifizierten (60 %) und der Ablehnung der Zuwanderung von Unqualifizierten (70 %) teile ich die Meinung der dort ermittelten demoskopischen Mehrheit, und ich will auch nicht in Frage stellen, dass die zitierten Umfrageergebnisse wissenschaftlich seriös zustande kamen.
Zur besseren Steuerung von Arbeitsmigration macht das Gutachten zwar konkrete Vorschläge. Zu den Fragen der Demografie, der Abwanderung Hochqualifizierter und der unerwünschten Zuwanderung in den Sozialstaat liefert das Gutachten jedoch außer Appellen keine konkreten Lösungsansätze. Zu den gruppenbezogenen Unterschieden im Integrationsverhalten äußert es sich gar nicht. Zu den besonderen Integrationsschwierigkeiten beziehungsweise zum mangelhaften Integrationswillen eines Teils der muslimischen Einwanderer enthält das Gutachten keine Analyse und folglich auch keine Lösungsansätze.
Die Hauptsorge der Forscher gilt offenbar dem Bestreben, durch vermehrte Einwanderung von Arbeitskräften die durch die Geburtenarmut in Deutschland seit vielen Jahrzehnten entstandenen und sich immer weiter vergrößernden Lücken zu schließen, die sie als Bedrohung für Wachstum, Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme sehen. Kulturelle Fragen werden dabei gar nicht behandelt. Zuwanderung und Integration sollen der Reparaturbetrieb für eine alternde und schrumpfende Gesellschaft sein, der man ohne fortgesetzte Einwanderung nicht mehr genügend innere Selbstheilungskräfte zutraut. Das ist der Antrieb der Forscher, und dieser Geist durchweht das Gutachten.
Klaus Bade, ein liebenswürdiger Mann und sicherlich ein seriöser Wissenschaftler, gehört zu den Menschen, die nicht gerne anecken und es möglichst vielen recht machen wollen. Wenige Stunden nach dem Erscheinen von Auszügen meines Buches als Vorabdruck im Spiegel äußerte er sich so: »Da, wo Sarrazin recht hat, sagt er nichts Neues.« Und er kritisierte die »Auferstehung der Legende von der gescheiterten Integration, diesmal mit dem besonderen Feindbild Muslime«.56 In meinem Buch kommt der Begriff »gescheiterte Integration« allerdings gar nicht vor, und zu der dort ausgebreiteten empirischen Evidenz über die Unterschiede in den Integrationserfolgen zwischen Migranten aus muslimischen Ländern einerseits und allen übrigen Migranten andererseits sagt Bade bis heute kein Wort. Er weiß ja, dass die Fakten stimmen.
Vierzehn Tage später, am 6. September 2010, traf ich Klaus Bade als Mitdiskutanten bei einer Podiumsdiskussion in Berlin. Er sagte mir, er habe mein Buch mittlerweile ganz gelesen – das mit vielen Lesezeichen gespickte Exemplar in seiner Hand belegte das –, und er könne mir in weiten Teilen zustimmen. In der Diskussion war er höflich, zu einem richtigen Streit kam es nicht, wir entdeckten hingegen viele Übereinstimmungen.
Dann hörte ich lange nichts von Klaus Bade, offenbar schwieg er zu meinem Buch. Als er dann das Jahresgutachten 2011 vorstellte, meldete Spiegel Online, dass er die Abwanderung qualifizierter Migranten aus Deutschland beklagte und dafür das Buch von Thilo Sarrazin verantwortlich machte. Bades Kritik an mir beherrschte die Berichterstattung über das Gutachten, sie wurde in den Printmedien vielfältig wiederholt und bei Anne Will am 17. April zum Gegenstand eines Einspielfilms. Ich antwortete dort: »Es ist vollständig lächerlich und eines Bade unwürdig, die vom Sachverständigenrat beklagte Nettoabwanderung Qualifizierter seit Mitte der neunziger Jahre mit meinem Buch in Verbindung zu bringen, das im Herbst 2010 erschien.«
Klaus Bade schrieb mir daraufhin und erklärte, er sei falsch wiedergegeben worden. Er habe nur ausdrücken wollen, dass mein Buch möglicherweise in Zukunft eine negative Auswirkung auf das Wanderungsverhalten qualifizierter Migranten haben könne. Nach einem Vortrag in Köln zum Thema »Rückkehr zur Vernunft: Integration in Deutschland vor und nach Sarrazin«, den er am 3. Mai gehalten hatte, schrieb er mir erneut und distanzierte sich von Pressemeldungen, er habe dort vom »Brandstifter Sarrazin« gesprochen. Vielmehr habe er mich immer »differenziert und respektvoll« behandelt. Ich glaube Klaus Bade, dass er das so empfindet.
In einem Punkt allerdings unterscheiden wir uns: Ich halte es nicht für schädlich und integrationsfeindlich, sondern für geboten und für einen Dienst an der Integration, vorhandene Integrationsdefizite, deren Ursachen und Lösungsmöglichkeiten klar und offensiv anzusprechen und dabei auch gruppenbezogene Verhaltensdefizite sowie kulturelle Ursachen wie die Religion nicht auszuklammern. Es ist ein Irrtum zu meinen, gesellschaftliche Probleme seien dadurch besser beherrschbar, dass man sie gar nicht oder nur indirekt anspricht und ja keine Schuldigen benennt. Es stört mich auch gar nicht, wenn Bade beklagt, dass durch mein Buch der »Integrationspessimismus« in der Bevölkerung gewachsen sei. Ein durch Realismus und Sachverhaltskenntnis geprägter Pessimismus ist allemal besser und für die Zukunft zielführender als ein durch Wunschdenken und Unkenntnis geprägter Optimismus. Wunschdenken, Unkenntnis und dadurch geprägte Fehlentscheidungen stehen nämlich am Beginn der meisten vom Menschen verursachten Katastrophen. Dazu müssen wir uns doch nur die konzeptionellen und politischen Geisterfahrten rund um die friedliche Nutzung der Kernenergie oder die Rettung der griechischen Staatsfinanzen anschauen. Im Übrigen: Auf der kritischen Seite zu irren ist allemal gesellschaftlich produktiver, als vorhandene Probleme schönfärberisch kleinzureden.
Unschicklich im Sinne Klaus Bades ist es wohl auch, wenn ich an dieser Stelle die Ergebnisse einer aktuellen repräsentativen Umfrage unter den türkischen Migranten in Deutschland wiedergebe:57
– Nicht einmal die Hälfte von ihnen bezeichnet ihre Deutschkenntnisse selbst als gut.
– Gut 40 Prozent von ihnen haben von der Diskussion um Thilo Sarrazins Buch nichts mitbekommen. Von denen, die etwas mitbekommen haben, stimmt immerhin jeder Sechste Sarrazin zu.
– Fast die Hälfte der Türken hat seltener als einmal in der Woche Kontakt zu Deutschen. 40 Prozent möchten am liebsten nur mit Türken zusammen sein.
– Fast jeder Dritte gibt an, sofort in die Türkei zurückzugehen, wenn es in Deutschland keine Unterstützung bei Arbeitslosigkeit mehr gibt.
Davon findet sich im Jahresgutachten 2011 des Sachverständigenrats für Integration und Migration nichts. Es wäre womöglich geeignet, den Integrationspessimismus zu verstärken und gruppenbezogenes Misstrauen zu schüren. Eine vergleichbare Wirklichkeitsverweigerung betreibt auch Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen, indem er glatt verneint, dass die Integrationsprobleme muslimischer Migranten etwas mit dem Islam zu tun haben könnten, und behauptet, sie hätten ausschließlich soziale Ursachen.58 Es ist immer schade und für die Qualität der Willensbildung meistens schädlich, wenn politische Opportunität aktive Politiker in eine falsche Analyse treibt.
Die niedrigere Erwerbsbeteiligung und die höhere Transferabhängigkeit muslimischer Migranten sind vor allem eine Folge niedrigerer Qualifikationen, die wiederum auf eine schlechtere Bildungsleistung zurückzuführen sind. Anders als Cem Özdemir und offenbar auch Klaus Bade meinen, ist das Zurückbleiben muslimischer Migranten im Bildungsbereich59 aber letztlich kein soziales, sondern ein im Islam verwurzeltes kulturelles Phänomen. Die Herkunft aus dem islamischen Kulturkreis ist von den durchschnittlich schlechteren Bildungsleistungen nämlich in der Praxis kaum zu trennen. Cornelia Flader, Leiterin einer Brennpunktschule in Berlin-Wedding, kann verstehen, dass viele deutsche und sogar eine Reihe türkischer Eltern ihre Schule ablehnen, und sagt: »Für diese Ablehnung gibt es viele Gründe. Zum einen könnte es Eltern abstoßen, wenn etliche türkische und arabische Familien großen Druck auf andere Eltern ausüben, ihre Kinder in die Moschee zu schicken oder Mädchen das Kopftuch zu verordnen. Ich kenne türkische Eltern, die sagen, dass sie diesen Druck als unangenehm empfinden. Deutschen Eltern geht das sicher ebenso. Ein weiterer Grund ist die Angst der Eltern davor, dass an unserer Schule das Bildungsniveau nicht so hoch sein könnte wie an einer Schule mit einer besseren Durchmischung der Kinder. Viele haben auch Angst vor verbaler und körperlicher Gewalt auf dem Schulhof ... Der Anteil von Kindern nichtdeutscher Herkunft dürfte höchstens 50 Prozent betragen.«60