Deutschland auf der schiefen Bahn - Thilo Sarrazin - E-Book + Hörbuch

Deutschland auf der schiefen Bahn Hörbuch

Thilo Sarrazin

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Beschreibung

Deutschland, immer noch ein starkes Land in der Mite Europas, befindet sich seit Jahren in einem relativen Niedergang: Arbeit lohnt sich für viele nicht mehr, Millionen kulturfremde Einwanderer strömen in die sozialen Sicherungssysteme. Die Explosion der Sozialausgaben überwuchert die öffentlichen Haushalte. Der Staat zeigt sich überfordert: Eine Reform der Asyl- und Migrationspolitk gelingt seit Jahren nicht. Die Bundeswehr ist blank und nicht fähig zur Landesverteidigung. Die Bürokratie nimmt immer mehr zu. Die Digitalisierung stockt, das Steuersystem ist leistungsfeindlich. Eine utopische Klimawende gefährdet die Grundlagen des Wohlstands. Thilo Sarrazin zeigt in seinem neuen Buch, wie alle diese Faktoren zusammenhängen. Er entwirrt das komplexe Gewebe, beschreibt, was sich nicht mehr ändern lässt, und zeigt auf, welchen Weg eine zukunftsgerichtete Politik gehen müsste.

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Zeit:10 Std. 36 min

Sprecher:Matthias Ernst Holzmann
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Thilo Sarrazin

Deutschland auf der schiefen Bahn

Wohin steuert unser Land?

Distanzierungserklärung:

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Impressum:

© 2024 Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten.

Satz und Ebook-Konvertierung: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-7844-8501-0

www.langenmueller.de

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1

Die Rolle des Zufalls in Politik und Geschichte

Geistesgeschichte

Naturwissenschaft und Technik

Ereignisgeschichte

Kapitel 2

Voraussetzungen einer gelungenen Gesellschaft

Herrschaft des Gesetzes

Menschenrechte

Meinungsfreiheit

Demokratie

Friedenssicherung

Selbstbeschränkung

Perspektiven

Kapitel 3

Bevölkerung

Die Entwicklung der Weltbevölkerung 1950 bis 2100

Bestimmungsgrößen der Reproduktion

Migration

Bevölkerungspolitik: Wo stehen wir

Integration

Religion

Herkunft

Die Geschlechterfrage

Demografische Schneidewege der Vergangenheit, eine kontrafaktische Betrachtung

Perspektiven

Kapitel 4

Wissenschaft und Technik

Perspektiven

Kapitel 5

Die Umwelt

Maß und Mitte

Mensch und Umwelt

Wohlstand, Bevölkerung und der Verbrauch fossiler Energie

Treibhausgase und Klimawandel

Die deutsche Energiewende

Perspektiven

Kapitel 6

Die Rolle des Staates

Der Ordnungsrahmen

Bildung

Geld und Währung

Steuern und Abgaben

Öffentliche Finanzen

Der Sozialstaat

Der Arbeitsmarkt

Wohlstand

Gegenwart und Zukunft im staatlichen Handeln

Kapitel 7

Der Nationalstaat, Europa und die Weltgesellschaft

Ausblick

Anmerkungen

Dank

Register

Einleitung

Seit Jahren bewegt mich die Frage, wie es in und mit Deutschland eigentlich weitergeht. Daraus entstand 2010 Deutschland schafft sich ab. Ich hatte die damals absehbaren Trends bei Demografie, Bildung und Einwanderung analysiert und einen kritischen Ausblick auf die künftige deutsche Entwicklung gegeben. Auch die weiteren Bücher seit 2012 kreisten um verschiedene Teilaspekte dieser grundsätzlichen Frage. Es ging um die kritische Auseinandersetzung mit Wirtschafts-, Währungs- und Finanzfragen, mit Meinungsfreiheit und dem Islam. In der Summe ergab sich ein Panorama der wesentlichen Probleme, mit denen Deutschland konfrontiert ist.

Mit dieser Problemsicht stieß ich nicht überall auf Gegenliebe.1 Gleichwohl lässt mich die Frage nach Deutschlands Zukunft auch heute nicht los. Anderthalb Jahrzehnte nach der Niederschrift von Deutschland schafft sich ab sehe ich die Problemlage Deutschlands wie folgt:

Die langfristige Geburtenlücke von etwa einem Drittel zur Bestandsneutralität dauert an, innerhalb der niedrigen Geburtenzahl entfällt ein immer größerer Teil auf Mütter mit Migrationshintergrund aus dem islamischen Kulturkreis, regional gesehen aus dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika. Bildungsferne Schichten und religiöse Fundamentalisten sind bei der Geburtenhäufigkeit weit überrepräsentiert. Das ist ein weltweiter Trend.Die kulturfremde Einwanderung aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Afrika hat sich auf einem stabilen Niveau von jährlich 200 000 bis 400 000 eingependelt und ist damit weitaus höher als seinerzeit von mir in Deutschland schafft sich ab angenommen.Die Bildungsleistung in Deutschland sinkt immer weiter ab. Der Anteil der Schüler, die selbst Mindeststandards in Deutsch und Mathematik nicht erfüllen, steigt fortlaufend an, während derjenige der Schüler mit Spitzenleistungen sinkt. Die gleiche Entwicklung sieht man unter den Schülern bei Sportlichkeit und Fitness.2Das sinkende Potenzial bei der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit junger Menschen zeigt sich nicht nur im Ausbleiben sportlicher Erfolge und in immer größeren Mängeln bei körperlicher Fitness, sondern auch an der abnehmenden Zahl junger Menschen, die fähig und willens sind, MINT-Fächer zu studieren. In Deutschland muss man sich wachsende Sorgen um einen ausreichenden Nachwuchs an qualifizierten Ingenieuren und Naturwissenschaftlern machen.3Das belastet den Produktionsstandort Deutschland, das als Hochlohnland auf Vorsprünge in Wissenschaft und Technik angewiesen ist. Die Zunahme der Arbeitsproduktivität hat sich bereits deutlich verlangsamt und ist nahezu zum Stillstand gekommen.Die forcierte Energiewende entwertet teilweise den deutschen Kapitalstock. Sie schafft aber für sich genommen keinen neuen Wohlstand. Im Gegenteil, es droht die dauerhafte Abwanderung energieintensiver Produktionen aus Deutschland. Damit geraten darauf basierende Wertschöpfungsketten in Gefahr, ebenfalls aus Deutschland abzuwandern.Im Verkehrsbereich zeigt die physische Infrastruktur wachsende Verfallserscheinungen. Beim Ausbau der digitalen Infrastruktur ist Deutschland gegenüber Industrieländern vergleichbaren Entwicklungsniveaus weit zurückgefallen. In der öffentlichen Verwaltung und im Gesundheitswesen kommt die Digitalisierung nur langsam voran. Auch hier sind wir gegenüber vergleichbaren Industrieländern in Rückstand geraten.In den öffentlichen Haushalten steigt der Anteil der Sozialausgaben fortlaufend an, während der investive Anteil kontinuierlich zurückgeht. Der Umfang stiller Lasten nimmt zu. Für den in wenigen Jahren einsetzenden Übergang geburtenstarker Jahrgänge ins Rentenalter wurde keinerlei Vorsorge getroffen.Die Kriminalitätsbelastung in der Gesellschaft verlagert sich mehr und mehr auf Ausländer, Fluchtmigranten und die organisierte Kriminalität arabischer Clans.Die durchschnittliche Allgemeinbildung gewählter Politiker nimmt dramatisch ab. Solide historische Kenntnisse werden bei aktiven Politikern zur Ausnahme. Unter den Mandatsträgern nimmt der Anteil jener zu, die weder einen beruflichen Abschluss noch ein abgeschlossenes akademisches Studium vorweisen können. Unter den akademischen Abschlüssen von Mandatsträgern – sofern sie vorhanden sind – dominieren sogenannte weiche Fächer wie Politikwissenschaft. Ingenieure, Naturwissenschaftler und Mathematiker kann man dagegen unter heutigen aktiven Politikern mit der Lupe suchen.Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die etablierten Medien projizieren ein häufig gleichgeschaltet wirkendes Weltbild. Sie sind links beziehungsweise linksliberal dominiert und versuchen, die Öffentlichkeit, soweit sie ihnen zugänglich ist, in ihrem Sinn zu erziehen, etwa zu sexueller Diversität und gendergerechter Sprache.Gleichzeitig werden die herkömmlichen Medien ebenso wie die etablierten politischen Parteien von sinkender politischer und gesellschaftlicher Reichweite geplagt. Dies nimmt unterschiedliche Ausdrucksformen an. Auch der europaweite Aufstieg rechter Parteien gehört dazu. Es wird sich zeigen, ob politische und moralische Ausgrenzung allein diesen Trend stoppen kann.4

Diese insgesamt kritische Sicht impliziert zwar nicht unbedingt einen »Untergang Deutschlands«. Aber ein relatives Zurückfallen in der Welt und vielleicht auch in Europa prognostiziere ich als ziemlich sicher. Den individuellen Lebenschancen in Deutschland muss das nicht unbedingt einen Abbruch tun. Im Gegenteil: In einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die individuelle Tüchtigkeit und der mit ihr einhergehende Gestaltungsehrgeiz langfristig eher auf dem Rückzug sind, kann der Tüchtige und Ehrgeizige sehr gute Chancen zum materiellen Lebenserfolg und zur individuellen Selbstverwirklichung haben. Mit dem Rückgang des durchschnittlichen Niveaus von Leistungsfähigkeit und Leistungswillen steigen die Möglichkeiten der Tüchtigen und Ehrgeizigen zu einer guten relativen Positionierung. So wird es zum Beispiel der tüchtige Sportler in einem Deutschland, in dem sportliche Leistungsfähigkeit immer knapper wird, leichter haben, an die Spitze zu gelangen. (Damit ist allerdings noch kein Weltniveau erreicht, wie sich zuletzt im Fußball schmerzlich zeigte.) Ähnlich gilt dies für alle Bereiche beruflicher, persönlicher und materieller Selbstverwirklichung, in denen die individuelle Leistung eine Rolle spielt. Eine Voraussetzung sind allerdings regulatorische Rahmenbedingungen und ein gesellschaftliches Klima in Deutschland, das dem Einzelnen bei seinem individuellen Streben und bei der Verfolgung ehrgeiziger persönlicher Ziele keine übermäßigen Hemmnisse in den Weg legt. Sollte die gesellschaftliche Regulierung in Deutschland den Einzelnen im Übermaß behindern und zum Mittelmaß quasi zwingen, so bliebe den Tüchtigen immer noch die Auswanderung. Ein schwächer und mittelmäßiger werdendes Deutschland muss deshalb im eigenen Interesse umso intensiver dafür Sorge tragen, dass es für die Tüchtigen und Ehrgeizigen ein attraktiver Lebensraum bleibt.

In der obigen Aufzählung habe ich gegenwärtig wirksame Trends und Zustände beschreibend zusammengefasst. Es wäre nicht sachgerecht, sie einfach unkritisch in die Zukunft zu verlängern. Noch nachlässiger ist es allerdings, wenn man sie leugnet und verdrängt. Das ist aber das, was in der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatte in Deutschland weitgehend geschieht. Die oben genannten Negativtrends hängen innerlich miteinander zusammen. Im Kern ergeben sie sich zu einem großen Teil aus der demografischen Entwicklung in Deutschland, aus der sozioökonomischen Verteilung der Geburten und aus dem Umfang und der Struktur der Einwanderung nach Deutschland. Sie werden auch von jeweils herrschenden gesellschaftlichen Einstellungen geprägt. Letztere haben – unabhängig davon, wie positiv oder negativ man ihnen im Einzelnen gegenübersteht – häufig auch unbeabsichtigte Nebenwirkungen. Das zeigt sich beispielsweise in der Demografie an der steigenden Zahl kinderloser Frauen oder bei der Klima- und Energiewende an den Gefahren für den Industriestandort Deutschland.

Es ist ein Ziel dieses Buches, absehbaren Trends im Einzelnen nachzugehen, zu zeigen, wie sie innerlich miteinander zusammenhängen, was sie für Deutschland bedeuten, und was man tun kann, um sie zu beeinflussen. Außerdem skizziere ich differenziert nach Politikbereichen die zu erwartende Entwicklung, wenn die beschriebenen Trends weiterhin dominieren.

Gesellschaftliche Entwicklungen – und häufig auch die damit verbundenen politischen Konsequenzen – gleichen in gewisser Hinsicht dem Wechsel von Ebbe und Flut am Meeresstrand: Man sieht das Wasser kommen und gehen. Man kann Deiche und Schleusen bauen und gegen die gelegentliche Sturmflut besondere Vorsorge treffen. Grundsätzlich kann man aber – zumal als Einzelner oder als Teil einer kleinen Gruppe – wenig dagegen machen. Zumeist fährt man persönlich am besten, wenn man sich dem Gezeitenwechsel beugt, sich also ein Stück weit opportunistisch verhält. Das schützt die Nerven und oft auch mehr, aber ist es auch gut für die Gesellschaft? Wo lohnt es den Kampf? Und wo ist es klüger, sich ins Unvermeidliche zu fügen und die wechselhaften gesellschaftlichen Trends zu nehmen, wie sie kommen?

In jeder Gesellschaft wäre es zudem die absolute Ausnahme, wenn sich die öffentlichen Dinge in der Summe so entwickelten, wie es den Vorstellungen eines Einzelnen oder einer Gruppe, die das Land nicht als Diktatur in der Hand haben, entspricht. Der Regelfall ist doch bei den meisten Zeitgenossen eher, dass sie sich mit ihren eigenen Einstellungen und Ansichten – ob bewusst oder unbewusst – weitgehend an das Klima anpassen, das in einer Gesellschaft vorherrscht. So verhindern sie seelisch belastende Dissonanzen und investieren durch Anpassung der eigenen Einstellungen an die gesellschaftlichen Erwartungen in das eigene Wohlbefinden. Durch solche individuellen Anpassungen an das allgemeine Meinungsklima in einer Gesellschaft wird auch das für das Funktionieren einer jeden Gesellschaft unverzichtbare Maß an Verhaltenskoordinierung sichergestellt. Wenn es hier zwischen wichtigen gesellschaftlichen Gruppen allzu große Unterschiede gibt, entstehen soziale Kosten, die das Funktionieren einer Gesellschaft stören und bis zu deren Existenzgefährdung reichen können. Allerdings können festgefügte gesellschaftliche Wahrnehmungen und anscheinend unverrückbare Grundeinstellungen einer Gesellschaft in einer bestimmten Epoche bisweilen durch schockartige Ereignisse erschüttert werden. So geschah es mit der weit verbreiteten pazifistischen Grundeinstellung in Europa, als Russland die Ukraine überfiel.

Mir geht es wie wohl den meisten, die an Politik und Gesellschaft interessiert sind: Es frustriert, wenn es bei den gesellschaftlichen Themen, die man für wichtig hält, nicht so läuft, wie man sich das vorstellt. Die Frage ist: Was bedeutet das konkret, und was ist so schlimm daran? Oder existieren die meisten Gefahren nur in meiner Einbildung, beziehungsweise sind sie gar keine Gefahren, wenn man nur Blickwinkel und Perspektive ein wenig ändert? Jeder Mensch denkt, urteilt und handelt ja aus einem bestimmten Weltbild heraus. Das mag bewusst oder unbewusst geschehen. Der individuelle Blick auf die Welt ist immer auch ein persönliches Glaubensbekenntnis, hat also subjektiven Charakter.5

Für die »große« Politik und die meisten Medien stehen gegenwärtig die Auswirkungen der menschengemachten Erderwärmung im Mittelpunkt aktueller Sorgen. Dabei ist klar, dass menschliches Leben auf der Erde auch dann weiter stattfindet, wenn es nicht gelingt, den Anstieg der Durchschnittstemperatur in der Welt – wie international politisch vereinbart – auf 1,5 Grad zu begrenzen.

Für den Klimawandel wie auch für viele andere Einflüsse auf die menschliche Wohlfahrt gilt nämlich: Die Unmöglichkeit einer aus guten Gründen für richtig erachteten Politik bedeutet zwar den Untergang von Zielen oder guten Vorsätzen und kann auch erhebliche Folgeschäden mit sich bringen, sie bedeutet aber nicht den Untergang der Welt und auch nicht notwendig den einer bestimmten Gesellschaft. Vielmehr eröffnen sich regelmäßig alternative Entwicklungspfade, auch wenn diese mit hohen politischen, sozialen und fiskalischen Kosten verbunden sein und für viele Menschen schreckliches Leid bedeuten können. Niemals also – außer vielleicht bei der Katastrophe eines atomaren Weltkriegs – ist die menschliche Welt an einem bestimmten Punkt quasi mit Brettern zugenagelt, sodass es überhaupt nicht mehr weitergeht. Menschen mögen sterben, aber für die Überlebenden und Nachgeborenen wird es immer ein Morgen mit neuen, wenn auch anderen Lebenschancen geben. Das gilt bei Seuchen, Erdbeben, großen Kriegen, schrecklichen Diktaturen und auch für die Folgen des Klimawandels.

Analoges – auch unterhalb des Katastrophenniveaus – gilt für meisten Felder der Politik und des gesellschaftlichen Wandels: Wenn es nicht so läuft wie vorgestellt und wie es aus einer bestimmten Perspektive auch notwendig und richtig wäre, so entstehen aus diesem Scheitern alternative Entwicklungspfade, die möglicherweise alte Probleme gegenstandslos machen, aber zu neuen führen können. Die Zukunft ist wie ein Labyrinth: Wenn die gewählte Tür verschlossen ist, muss man eine andere Tür wählen oder man wird gar durch diese gestoßen, dort tun sich wieder Alternativen auf. Dieser Gedanke lässt sich auf alle klassischen Felder der Politik anwenden. Das tue ich in diesem Buch für einige jener Politikfelder, in denen ich in der Vergangenheit beruflich oder publizistisch tätig war. Bei den Politikfeldern, die ich in diesem Buch abhandle, schöpfe ich argumentativ aus meinen in den letzten fünf Jahrzehnten gemachten Erfahrungen und den dabei gewonnenen Einsichten. Dahinter lässt sich unschwer ein Weltbild erkennen. Dieses ist aber unvollständig und nicht abgeschlossen. Zwischen den Politikfeldern bestehen die unterschiedlichsten Zusammenhänge und gegenseitigen Wechselwirkungen.

Den Einstieg wähle ich über die Themen Demokratie, Meinungsfreiheit und Friedenspolitik, denn aus meiner westlich-abendländisch geprägten Sicht sind sie zentrale Voraussetzungen für die gedeihliche Entwicklung einer jeden Gesellschaft, in der ich gerne leben möchte, und damit quasi politikübergreifend. Demokratie braucht Meinungsfreiheit, und Meinungsfreiheit braucht gelebte Pluralität auch für das Unerfreuliche und Abstoßende. Zu viel Pluralität kann aber jede Gesellschaft überfordern. Hier liegt der nur schwer auflösbare Widerspruch einer jeden offenen Gesellschaft.

Die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer wieder auftretende Unmöglichkeit, in einer konkreten Situation bestimmte Wege zu gehen und entsprechende Entscheidungen durchzusetzen, motiviert die Suche nach alternativen Handlungspfaden. Soweit diese gefunden und beschritten werden, tun sich regelmäßig neue unerwartete Probleme auf, gleichzeitig aber können wegen des veränderten Entscheidungsumfelds alte Probleme gegenstandslos werden. Die Frage ist also: Wie kann es weitergehen, wenn die Dinge ganz anders laufen, als es der eigenen Vorstellung oder den überwiegenden gesellschaftlichen Ideen entspricht?

Das ist übrigens eine Frage, die sich nicht nur in politischen Zusammenhängen, sondern auch in individuellen beruflichen und privaten Lebenslagen immer wieder stellt. Dann hilft es nicht, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen oder sich verzagt abzuwenden. Man muss die Situation nehmen, wie sie ist, und sich etwas einfallen lassen.

Hat man einmal die dahinter verborgene universale Entscheidungsmechanik erkannt, so wird klar, dass es in der Politik immer geboten ist, für das als notwendig Erkannte, aber vielleicht nicht Umsetzbare, rechtzeitig nach Alternativen zu suchen. Dies kann zur Folge haben, dass man nicht beim ursprünglichen Ziel, sondern ganz woanders ankommt, in einem veränderten Umfeld, das neue Fragen aufwirft, vielleicht aber auch ganz andere Antworten erfordert. Hier gilt Bismarcks Bonmot von Prinzipien in der Politik: Wer starr an bestimmten Prinzipien festhält, die zur Lage nicht mehr passen, gleicht einem Mann, der mit einer quer auf den Rücken gebundenen Stange durch einen Wald gehen will. Die Suche nach Alternativen gibt zudem dem Zufall und dem Unvorhergesehenen Raum. So entsteht Kontingenz im politischen Geschehen und damit in der Gesellschaft.

Gerade bei den Lebensläufen politischer Überlebenskünstler, die sich lange in öffentlichen Ämtern halten, fallen häufig die unvermuteten Wendungen und der flexible Umgang mit Prinzipien auf. Das kann dazu führen, dass politische Amtsträger eine ganz andere Politik betreiben als jene, für die sie ursprünglich gewählt wurden. So erging es Deutschland mit der Bundeskanzlerin Merkel bei der Euro-Rettung, der Atomkraft, der Einwanderung oder der Abgaben- und Steuerpolitik. Der Übergang von einem flexiblen Umgang mit politischen Prinzipien zu einem gedankenlosen Opportunismus ist gleitend. Wie gefährlich das sein kann, hat Deutschland Anfang 2022 bei der Energie- und Verteidigungspolitik erlebt, als die Bundeswehr in den Worten des Inspekteurs des Heeres nach 30 Jahren »Friedensdividende« bei ihrer Verteidigungsfähigkeit »blank« dastand, während gleichzeitig 55 Prozent des in Deutschland verbrauchten Erdgases aus Russland stammten.

Das »magische Viereck« nachhaltiger Politik besteht in der gleichzeitigen Sicherung von Rechtsstaat, Demokratie, Meinungsfreiheit und einer stabilen Friedensordnung. Nur sie schaffen in ihrer Kombination grundsätzliche Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben. Diese Einsicht wird alle denkbaren Maßnahmen und politischen Strategien in den von mir in diesem Buch diskutierten Politikfeldern stets überwölben.

Bei den diskutierten Politikfeldern beschreibe ich jeweils zunächst die Problemlage und gehe auf die Ursachen ein. Auf dieser Grundlage diskutiere ich sodann die Möglichkeiten zur Abhilfe unter sachlichen, politischen und gesellschaftlichen Aspekten. Dabei stößt man sehr häufig auf den Umstand, dass Abhilfe in der sachlich gebotenen Form auf kaum überwindbaren politischen oder gesellschaftlichen Widerstand stößt oder auch, dass bei erfolgreicher Abhilfe unerwünschte beziehungsweise unüberschaubare Nebenwirkungen überwiegen.

So kann man beim Versuch der Problemlösung und bei dessen Scheitern auf einen ursprünglich nicht beabsichtigten Entwicklungspfad geraten, der ungeplant die Zukunft maßgeblich bestimmt. So erging es Deutschland mit seiner Gastarbeiterpolitik: Aus dem Anfang der Sechzigerjahre gestarteten Versuch, einen Arbeitskräftemangel im gewerblichen Bereich für einige Zeit zu überbrücken, wurde eine säkulare Masseneinwanderung, die Deutschland kulturell und ethnisch in einer Weise verändert hat und weiter verändert, die von Politik und Gesellschaft damals weder vorausgesehen wurde noch so gebilligt worden wäre.

Ob man überhaupt etwas als »Problem« empfindet, ist nur teilweise sachlogisch begründbar, es ist auch normativ geprägt: Während viele bürgerlich-konservative Gemüter – darunter auch ich – die ethnische und kulturelle Verwandlung Deutschlands durch anhaltende kulturfremde Masseneinwanderung als problematisch oder auch bedrohlich ansehen, wird dieselbe Entwicklung von Teilen des linken und grünen Spektrums der Gesellschaft geradezu überschwänglich begrüßt. Das hat seine Logik: Wer Deutschland und die deutsche Kultur immer schon misstrauisch beäugte oder gar hasste, kann einer demografischen und kulturellen Selbstabschaffung Deutschlands durchaus auch positive Seiten abgewinnen.

Für die verschiedenen Problemfelder erörtere ich Ziele und Zielverfehlungen sowie mögliche Verbesserungsmöglichkeiten und was ihnen sachlich, gesellschaftlich und politisch entgegensteht. Dabei geht es um

Art und Grad der Zielverfehlung in einer bestimmten Ausgangslage,denkbare Abhilfen dagegen sowie die damit verbundenen Widerstände,Handlungsalternativen sowie Konsequenzen und Entwicklungspfade, wenn man sich auf solche Alternativen einlässt.

Interessant ist dabei stets die Frage, was denkbare Verbesserungsmöglichkeiten behindert/verhindert

Mangel an umsetzbaren Ideen,gesellschaftliche/politische Machtverhältnisse,das gesellschaftliche Klima,die Wünsche der Menschen.

Die tief gestaffelten Verzweigungen alternativer Entscheidungen und Entwicklungspfade können bisweilen in ganz andere Welten führen und ursprüngliche Ziele gegenstandslos machen beziehungsweise auch in ihr Gegenteil verkehren. Anschaulich ist der Vergleich mit einem Schachspiel, das je nach den gewählten Zügen zu ganz unterschiedlichen Situationen führen kann. Gleichzeitig greift dieser Vergleich zu kurz, denn das Schachspiel erfolgt nach festen Regeln und mit einer eindeutigen Zielvorgabe. In der Politik dagegen können sich mit den Spielzügen sowohl die Regeln als auch die Ziele ändern, das ist sogar regelmäßig der Fall. Es gibt insofern kein historisches Schicksal.

Bei der Betrachtung eines gesellschaftlichen Problems beziehungsweise einer sozialen Entwicklung muss man stets unterscheiden zwischen

der Identifikation und Beschreibung des Sachverhalts,den Ansatzpunkten für eine kausale Erklärung,den Möglichkeiten zu einer Problemlösung.

In gesellschaftlichen Fragen kann man auf allen drei Ebenen – der Analyse, der Erklärung und der Therapie – leicht der Gefahr des Quacksalberns erliegen. Gleichwohl braucht man auch den Mut zur Vereinfachung und darf sich nicht dahinter verstecken, dass die meisten gesellschaftlichen Fragen umso komplexer werden, je mehr man sich in ihre Details vertieft. Um Muster und Lösungsmöglichkeiten zu erkennen, braucht man auch so etwas wie eine optimale Distanz zum Problem.

Vor dem Einstieg in die Diskussion unterschiedlicher Politikbereiche erörtere ich die Rolle des Zufalls in Politik und Geschichte. Historiker benutzen dafür gern den Begriff der Kontingenz. Kontingenz ist aber nicht auf Politik und Geschichte beschränkt. Sie trägt zum Beispiel auch zur massentauglichen Faszination des Fußballspiels bei: Auch die stärkere Mannschaft kann verlieren, wenn der schwächeren zur rechten Zeit ein glücklicher Treffer gelingt und die so bewirkte psychologische Dynamik Unordnung in die Reihen der eigentlich besseren Mannschaft bringt, woraufhin die Schwächeren ihre Chance wittern und eine ungeahnte Kraftanstrengung entfalten. Kontingenz bestimmt auch unsere individuellen Lebenswege und die damit verbundenen menschlichen Dramen: Es war Zufall, dass Romeo Julia traf, und Zufall war es auch, dass sie aus verfeindeten Familien stammten.

Der Titel des Buches deutet an, dass ich die Perspektiven in Deutschland nicht optimistisch sehe. Die natürliche Schwerkraft der Dinge zerrt die Entwicklung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft schon seit längerer Zeit in eine ungünstige Richtung. Viele Gegenmittel, die es gäbe, entziehen sich dem gesellschaftlichen Einvernehmen, für andere Maßnahmen ist es schlicht zu spät. Für individuelles Gegensteuern bleiben die Perspektiven allerdings viel besser als für kollektive Aktionen. Liberales, ja sogar libertäres Gedankengut hat vor diesem Hintergrund eine große Zukunft und wird langfristig an Attraktivität gewinnen. Ohne Anstrengung und Entsagung geht es allerdings nicht. Hier gilt die Einsicht von Wilhelm Busch:

»So ist’s in alter Zeit gewesen,

So ist es, fürcht’ ich, auch noch heut.

Wer nicht besonders auserlesen,

Dem macht die Tugend Schwierigkeit.

Aufsteigend mußt du dich bemühen,

Doch ohne Mühe sinkest du.

Der liebe Gott muß immer ziehen,

Dem Teufel fällt’s von selber zu.«6

Kapitel 1

Die Rolle des Zufalls in Politik und Gesellschaft

Umfassend gelten in der Welt die Gesetze der Logik und die Naturgesetze. Anhand der Naturgesetze entwickelte sich von einem singulären Ausgangspunkt, dem sogenannten Urknall, die physische Welt. Unser Milchstraßensystem, die Sonne und der Planet Erde, die um diese kreist, sind davon nur ein infinitesimal winziger Teil. Unter den spezifischen Bedingungen der Erdatmosphäre entstand vor rund vier Milliarden Jahren aus chemischen Verbindungen in warmen Gewässern das Leben, zunächst in Form von Einzellern, die sich durch Teilung vermehren konnten.7 Im Zuge der Evolution entstand daraus durch weitere Ausdifferenzierung die Vielgestaltigkeit des Lebens auf der Erde, von der der moderne Mensch als Homo sapiens eine der jüngsten Ausprägungen ist. Zwingend angelegt war die Entstehung des Menschen im Bauplan der Natur nicht. Hätte nicht vor 66 Millionen Jahren ein großer Meteoriteneinschlag auf der mittelamerikanischen Halbinsel Yucatán die Lebensbedingungen auf der Erde stark verändert, so wäre es möglicherweise nicht zum Aussterben der Dinosaurier und zum Aufstieg der Säugetiere, damit letztlich auch nicht zur Entwicklung des Menschen gekommen.

Auch in der kurzen Zeit der menschlichen Geschichte war nie eine bestimmte Entwicklung zwingend angelegt: Obwohl es den Homo sapiens seit 200 000 bis 300 000 Jahren gibt, entwickelten sich erst vor 10 000 Jahren Ackerbau und Viehzucht, Metallverarbeitung gibt es erst seit 5000 Jahren, und ein ähnliches Alter haben die Ursprünge der menschlichen Schrift. Die moderne Naturforschung in Astronomie, Physik und Chemie begann vor circa 600 Jahren, und das Industriezeitalter, das die menschliche Lebenswelt und das Angesicht der Erde so radikal veränderte, setzte erst vor circa 250 Jahren ein. Durch minimale, im Zufallsbereich liegende Änderungen der äußeren Bedingungen hätte es durchaus sein können, dass der Homo sapiens noch immer keinen Ackerbau, keine Schrift, keine Metallverarbeitung und schon gar nicht die moderne Technik kennt. Als weitere Folge wären auch das starke Bevölkerungswachstum auf der Erde und der menschengemachte Klimawandel ersatzlos ausgefallen. Australien wäre von den Europäern niemals entdeckt worden, und die Menschen dort würden immer noch mit Speeren jagen, weil sie Pfeil und Bogen in 40 000 Jahren auf ihrem Kontinent nicht erfunden hatten. Die brachten ebenso wie das Rad erst die britischen Entdecker zu ihnen.

Natürlich ist das, was ist, rückschauend immer in einer kausalen Kette verbunden mit dem, was war. Aber die kausale Kette zu einem bestimmten Ereignis, die im Nachhinein eindeutig feststellbar ist, lässt sich eben im Voraus selbst dann nicht eindeutig fortschreiben, wenn alle nur denkbaren Daten aus Vergangenheit und Gegenwart vollständig bekannt sind. Das gilt prinzipiell, und das werde ich in einem etwas gewagten Beispiel an mir selbst erläutern:

Die öffentliche Wahrnehmung meiner Person und wahrscheinlich auch für einige Jahrzehnte die Erinnerung an mich ist durch die Veröffentlichung von Deutschland schafft sich ab geprägt, das hitzige Kontroversen auslöste. Wären sich mein Vater und meine Mutter nicht im Dezember 1940 in Freiburg begegnet, was ein reiner Zufall war, und hätten sie sich nicht im Mai 1944 zu einer bestimmten Stunde liebend vereinigt, und wäre nicht zufällig dabei eine bestimmte Samenzelle auf ein bestimmtes Ei getroffen, so wäre die Person Thilo Sarrazin niemals entstanden und hätte infolgedessen auch nicht 66 Jahre später ein kontroverses Buch veröffentlichen können. Im Voraus gesehen war die Entstehung meiner Person extrem unwahrscheinlich und hätte von niemandem, außer von einem allwissenden Gott, prognostiziert werden können.

Die konkrete Vorhersage von Einzelereignissen und darauf aufbauenden Ereignisketten ist also logisch unmöglich. Anders steht dies aber mit Wahrscheinlichkeiten. Aus dem Umstand, dass meine Eltern im März 1943 heirateten, ließ sich die Wahrscheinlichkeit ableiten, dass früher oder später eins oder mehrere Kinder geboren werden würden. (Am Ende waren wir vier Geschwister.) Alle Lebewesen sichern ihr Überleben auch dadurch, dass sie günstige Umweltbedingungen erkennen, sich darauf einstellen und jene Orte und Aktivitäten meiden, die für sie mit besonderen Gefahren verbunden sind. Dabei hilft auch in der Tierwelt eine Prognosefähigkeit anhand der Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten.

Bedingte Prognosen, aufbauend auf Wahrscheinlichkeiten, sind auf zahlreichen Gebieten möglich. Das gilt auch für das menschliche Lebensumfeld vom Klima bis hin zu politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Aber es sind eben bedingte Prognosen mit Wahrscheinlichkeitscharakter und keine absoluten Vorhersagen bestimmter Entwicklungen oder Ereignisse.

Unsere Wahrnehmung der natürlichen Lebensumwelt ist durch die Erfahrung von Kreisläufen bestimmt: Es gibt den Rhythmus von Tag und Nacht, von Schlafen und Wachen, den Wechsel der Jahreszeiten, das Werden und Vergehen in Fauna und Flora. Es gibt die individuelle Lebenskurve, die, was das Individuum angeht, stets aus dem Nichts kommt und mit dem Tod auch wieder zwingend im Nichts endet.

Viele romantische, teilweise auch theologisch gefärbte Ordnungsvorstellungen hängen an der Idee eines ewigen Kreislaufs, in dem sich die Einheit des Kosmos sowie die Einheit von Mensch und Natur verwirklichen sollen. Die grünen Schlagworte von »Nachhaltigkeit« und »Kreislaufwirtschaft« sind durch solches Denken geprägt, und dieses hat zum Beispiel in der Wasserwirtschaft, bei dem Recycling von Rohstoffen, bei der Müllbeseitigung und der Eindämmung von Umweltgiften durchaus seine Berechtigung.

An anderen Stellen trägt es dagegen nicht: Insbesondere in Bezug auf die Geschichte der Natur, die Geschichte des Menschen und den Weg von Völkern, Staaten und Nationen aus der Vergangenheit in die Zukunft geht jedes Kreislaufdenken fehl.

Zwar kreist der Zeiger der Uhr auf dem Ziffernblatt, aber mit jedem vollendeten Kreis beginnt eben eine neue Stunde, mit jeder Morgendämmerung ein neuer Tag, und es wiederholt sich nichts, auch wenn die Abläufe sich ähneln. Der älter werdende Mensch kann so lange er möchte in seinen Erinnerungen kramen, aber er wird die Jugend nicht zurückholen, nicht ihre Ängste und Hoffnungen und nicht die verpassten Gelegenheiten, die er so gerne noch mal nutzen möchte. Der Zug der Zeit fährt nur in eine Richtung, nämlich in die Zukunft, und die Stationen der Vergangenheit liegen unaufhebbar in der Vergangenheit, es führt kein Weg zu ihnen zurück. Das Leben auf der Erde wird niemals zum Zustand der Ursuppe vor vier Milliarden Jahren zurückkehren, die Dinosaurier werden niemals wiederauferstehen, und der Mensch wird nie mehr als Jäger und Sammler durch europäische Savannen streifen. Wir können aus der Geschichte lernen und in der Zukunft vieles anders und hoffentlich auch besser machen, aber die Vergangenheit zurückholen können wir nicht. Deshalb ist Nostalgie in der Politik und im persönlichen Leben häufig ein schlechter Ratgeber.

Ein Denken in Kreisläufen kann zwar für die menschliche Psyche aufgrund der scheinbaren Vorherbestimmtheit und der Einbettung in größere Zusammenhänge seelisch entlastend wirken. Es hat gleichwohl nur für sehr begrenzte Fragestellungen einen heuristischen Wert, und nur für bestimmte Fragestellungen ist es auch prognostisch geeignet.

Unabhängig von der Kreislaufidee gibt es auch bei linearer Entwicklung keine logische Gesetzmäßigkeit, nach der die Vergangenheit die Zukunft quasi enthält. Deshalb geht jeder historische Determinismus, der aus Vergangenheit und Gegenwart die Zukunft ableiten will, grundsätzlich fehl.

Allerdings bestimmt die Vergangenheit zusammen mit der Gegenwart indirekt über die Zukunft – und zwar, indem sie deren Möglichkeitsraum beschneidet. Nehmen wir als Beispiel die Demografie: Jene Kinder, die in den letzten fünfzig Jahren in Deutschland aufgrund der Geburtenarmut nicht geboren wurden, können logischerweise in der Gegenwart und in den kommenden Jahrzehnten nicht als Steuer- und Beitragszahler herangezogen werden, um die Renten der sogenannten Babyboomer zu finanzieren, die jetzt und in den kommenden Jahren die Phase der Erwerbstätigkeit verlassen. Auch die Erfindungen, die die Forscher und Tüftler unter jenen 30 Millionen Deutschen, die in den vergangenen Jahrzehnten nicht geboren wurden, vielleicht gemacht hätten, fallen ersatzlos aus.

Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass große Teile der Babyboomer als Rentner der Altersarmut anheimfallen müssen. Es bedeutet aber schon, dass auskömmliche Renten und niedrige Beiträge ohne längere Lebensarbeitszeit und steigende Zuschüsse aus der Staatskasse nicht miteinander vereinbar sind. Die Wahlmöglichkeiten, vor denen Politik und Gesellschaft bei der Alterssicherung stehen, werden also durch die bereits ausgefallenen Geburten unaufhebbar beschränkt. Sie sind allerdings immer noch nahezu unendlich groß und reichen von der Inkaufnahme einer gewissen Altersarmut über steigende Steuer- und Abgabenlasten bis zur staatlichen Einheitsrente. Soweit die denkbaren Lösungen eine weitere starke Verstärkung der Einwanderung nach Deutschland vorsehen, können denkbare Lösungsansätze auch das deutsche Demokratie- und Gesellschaftsmodell nachhaltig verändern und vielleicht sogar zerstören. Kurzum: Die Geburtenausfälle der letzten 50 Jahre begrenzen zwar den Lösungsraum in der deutschen Rentenpolitik, aber sie bestimmen nicht über seinen Inhalt. Insofern bleibt die Zukunft offen.

Geistesgeschichte

Der Inhalt zukünftiger Lösungsräume für politische Probleme und gesellschaftliche Fragen wird zu einem großen Teil durch die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft vorherrschende Ideenwelt vorgegeben. So unfassbar mächtig bestimmte Ideen, Weltanschauungen und Philosophien in einer bestimmten Epoche erscheinen mögen, so verbietet sich doch hinsichtlich ihrer Entstehung, ihrer Dauer, ihres Inhalts und ihrer Intensität jedweder Determinismus.

Es war nicht zwingend, dass die antike Geisteswelt ausgerechnet durch das Christentum abgelöst wurde. Es war nicht zwingend, wie der Islam entstand und sich im Nahen und Mittleren Osten verbreitete. Entstehung und Ablauf der evangelischen Reformation waren nicht zwingend, und auch der Weg der europäischen Aufklärung, der seit dem späten Mittelalter schließlich in die Explosion der Naturwissenschaften und die Industrialisierung führte, war zu dieser Zeit und in dieser Ausprägung nicht zwingend. Die Entstehung der marxistischen Lehre war ebenfalls nicht zwingend, ohne sie hätte es aber auch keine Sowjetunion gegeben, und die europäische wie auch die Weltgeschichte wäre ganz anders verlaufen.

Hätte es

ohne die Geburt des Jesus von Nazareth das Christentum,ohne Mohammed den Islam,ohne Luther die Spaltung der katholischen Kirche und den Dreißigjährigen Krieg,ohne Marx den Kommunismus,ohne Hitler den Nationalsozialismus

gegeben? Die Menschheitsgeschichte wäre, ohne dass diese Männer zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort geboren wurden, mit Sicherheit gänzlich anders verlaufen. Aber Inhalt und Richtung dieses anderen Verlaufs kennen wir nicht. Das zeigt die überragende Rolle des Zufalls auch für große historische Prozesse.

Auch die Geschichte menschlicher Ideen und vorherrschender geistiger Strömungen lässt sich nicht vom Zufall lösen. Sie ist aber nur aus dem Zufall heraus auch nicht erklärbar: Die Wiederentdeckung der Antike im späten Mittelalter durch die aufkommende Renaissance war eben nur in Europa möglich, das seine verschüttete Geschichte wieder offenlegte. Und aus diesem Geist wuchsen nicht nur die Künste in Architektur und Malerei, sondern auch die philosophischen Ideen der Aufklärung sowie die moderne Naturwissenschaft. Vorhersehbar war dies alles zu keiner Zeit. Im Nachhinein erkennt man einige notwendige Bedingungen, und, soweit Entwicklungen tatsächlich eingetreten sind, müssen sie zusammen mit weiteren unbekannten Bedingungen offenbar auch hinreichend gewesen sein.

Philosophische Ideen, gesellschaftliche Theoriegebäude und darauf aufbauende politische Theorien gehen nicht nur stets in eine ungewisse Zukunft. Sie können durch politische und gesellschaftliche Entwicklungen jederzeit auch wieder untergehen oder in ihr Gegenteil verkehrt werden. Es gibt hier keinen linearen und schon gar keinen gesicherten Fortschritt. Der Rückfall ins Banausentum und die Rückkehr in dunkle Zeiten – entweder durch Dummheit oder durch politische Gewalt oder durch die Kombination von beidem – sind grundsätzlich jederzeit denkbar. Insbesondere die moderne Demokratie ist nicht älter als 250 Jahre, wenn man ihren Beginn mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ansetzt, und sie ist – wie gerade aktuelle amerikanische Entwicklungen zeigen – immer wieder in ihrem Bestand bedroht.

Das demokratische Erbe der Aufklärung ist also aus meiner Sicht stets vom Untergang bedroht. Sein Überleben ist keineswegs zwingend, sondern allenfalls ein Resultat fortwährender politischer Anstrengung.

Naturwissenschaft und Technik

Anders sieht es mit dem Erbe der Aufklärung in Naturwissenschaft und Technik aus. Hier hat die Menschheit mit den wachsenden Wissensbeständen in Astronomie, Physik, Chemie und Biologie eine Einbahnstraße betreten, auf der es hinsichtlich des Umfangs der Erkenntnisse und ihrer Anwendung in den unterschiedlichsten technischen Lösungen einschließlich der Datenverarbeitung kein Zurück mehr gibt. Eine Gesellschaft, die hier nicht mitmacht, die sich dem naturwissenschaftlich-technischen Wissen nicht öffnet oder seine Anwendung in ihrem Herrschaftsgebiet untersagen will, schneidet sich von der Zukunft ab und gerät im Wettbewerb der Systeme in eine hoffnungslose Unterlegenheit. Das ist nur kurzfristig und scheinbar zum Vorteil der Führungsschichten, vielmehr müssen sie den Zorn der Geführten fürchten, wenn diese willkürlich von technischen und damit auch wirtschaftlichen Errungenschaften in anderen Teilen der Welt abgeschnitten werden.

Wie der Geist, der einmal aus der Flasche ist, lässt sich das technisch-naturwissenschaftliche Wissen niemals ungeschehen machen, und es lässt sich auch nicht in ein politisch und gesellschaftlich gewolltes Vergessen zurückdrängen. Das gilt für die moderne Genforschung ebenso wie für die Entwicklung von Systemen künstlicher Intelligenz (KI) oder das Wissen um die Nukleartechnik. Hier gibt es überall nur den Weg nach vorn, auch wenn der Ausgang für die Menschheit ungewiss ist.

Der häufig schlagwortartig verwendete Begriff von »der einen Welt« enthält also in Bezug auf die Nutzung und die Folgen von Naturwissenschaft und Technik eine umfassende Wahrheit. Das gilt umso mehr in einer Welt, in der die Menschen – bedingt durch die Fortschritte von Wissenschaft und Technik – immer zahlreicher werden. Der menschengemachte Klimawandel ist ein Ausdruck davon. Aber auch der Müll in den Ozeanen ist ein Problem, das nur durch gemeinsame, Länder und Kontinente übergreifende Anstrengungen der Staaten und Völker überwunden werden kann.

Ereignisgeschichte

In der Kontingenz historischer Abläufe sind die Geschicke von Staaten und Völkern vom Einfluss einzelner Ereignisse und von den Taten einzelner handelnder Personen nicht zu trennen:

Der Sieg der Griechen über die Perser in der Seeschlacht von Salamis 480 v. Chr. verhinderte den Zugriff des Persischen Reichs auf Griechenland und machte es möglich, dass sich die politische und die Geistesgeschichte Europas eigenständig entfalten konnte.Der durch Caesar 45 v. Chr. militärisch bewirkte erfolgreiche Übergang von der Römischen Republik zum Kaisertum brachte für 400 Jahre Frieden in einem politisch und wirtschaftlich vereinigten Mittelmeerraum. Das war nicht nur die Basis für die Entwicklung eines historisch beispiellosen Wohlstands, sondern auch eine Voraussetzung für die Ausbreitung des Christentums als dominierender Religion.Ohne Martin Luther wäre es im 16. Jahrhundert wahrscheinlich nicht zur Glaubensspaltung im Abendland gekommen. Auch der Dreißigjährige Krieg hätte so nicht stattgefunden. Der Gegensatz Deutschland–Frankreich, der in eine 300 Jahre währende »Erbfeindschaft« mündete, hätte sich so nicht aufgebaut, oder er wäre auf andere Weise aufgelöst worden.Der Aufstieg des unbedeutenden und ärmlichen Kurfürstentums Brandenburg zur europäischen Großmacht als Königreich Preußen wurde nur durch den historischen Zufall möglich, dass in der Herrscherfamilie der Hohenzollern vier ungewöhnlich fähige Herrscher von 1640 bis 1786 in unmittelbarer Nachfolge 146 Jahre lang regierten. Das war eine historische Ausnahme sowohl hinsichtlich der Kontinuität ungewöhnlicher Fähigkeiten bei den Herrscherpersönlichkeiten als auch bei der für damalige Zeiten ungewöhnlichen Langlebigkeit mit entsprechender Regierungszeit.Der Zufall wollte es aber auch, dass dasselbe Geschlecht der Hohenzollern von 1786 bis 1918 keinen einzigen bedeutenden Herrscher mehr hervorbrachte. Der letzte unter ihnen, Kaiser Wilhelm II., hatte vielmehr durch seinen erratischen Charakter ein erhebliches Mitverschulden sowohl am Ausbruch des Ersten Weltkriegs als auch an der deutschen Niederlage.Auch die Entstehung und das Ende der Sowjetunion sind untrennbar mit dem zufallsbedingten Auftreten bestimmter Persönlichkeiten verbunden. Hätte nicht der deutsche Generalstab 1918 den bolschewistischen Revolutionär Lenin aus der Schweiz über die schwedisch-finnische Grenze nach Russland eingeschleust, so wäre es niemals zur Oktoberrevolution gekommen. Und hätte nicht das Zentralkomitee der KPdSU im März 1985 Michail Gorbatschow zum Generalsekretär gemacht, so wären Glasnost und Perestroika in dieser Form ausgefallen, vielleicht auch die deutsche Einheit, und sowjetische Truppen würden noch immer an der Elbe stehen.Ebenso ist es leider wahr, dass das erste Jahrzehnt der Russischen Föderation durch die Trunksucht ihres Präsidenten Boris Jelzin verdunkelt wurde, der am Ende in einem bedauerlichen Mangel an Urteilskraft Wladimir Putin als seinen Nachfolger installierte – vergleichbar dem greisen Präsidenten Hindenburg, der unter dem Einfluss nachlassender Verstandeskraft Hitler den Weg in die Reichskanzlei öffnete.8 So konnte Putin in zwanzigjährigem Wirken zum Totengräber der jungen russischen Demokratie werden und das Land in den Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine führen.

Diese Beispiele zeigen: Geschichte ist zu jeder Zeit offen für alternative Entwicklungspfade und insofern niemals in die Zukunft hinein determiniert. Aber es gilt gleichzeitig: Ein zu einer bestimmten Zeit gegebener historischer Zustand begrenzt immer den Möglichkeitsraum künftiger Entwicklungen. Zu solchen begrenzenden Faktoren zählen Geografie, Demografie und ethnische Herkunft, politische Traditionen, Mentalitäten, Bildungsniveau, Religion sowie Kultur und Sitte im weitesten Sinne. Daran scheitert immer wieder der Export westlicher Gesellschaftsmodelle in den sogenannten Globalen Süden. Daran scheiterten auch westliche Interventionen in Ländern wie Irak, Afghanistan, Libyen oder Mali. Man kann eben westliche Mentalitäten, Organisationsmodelle und Handlungsabläufe nicht unabhängig von ihren historischen Voraussetzungen ohne Weiteres in fremde Kulturen und ihre Gesellschaften implantieren. An der ungeheuren Schwierigkeit beziehungsweise Unmöglichkeit der Übertragung westlicher Gesellschaftsmodelle in fremde Kulturen scheitert auch immer wieder die Entwicklungshilfe insbesondere in Afrika.

In der Gegenwart müssen wir umgekehrt auch dafür Sorge tragen, dass nicht kulturfremde Masseneinwanderung nach Europa die spezifischen Mentalitäten und kulturellen Eigenschaften gefährdet oder zerstört, die für Europa wesensbestimmend und für den Erfolg der abendländischen Zivilisation maßgebend sind. Diesbezügliche Gefahren haben in den letzten Jahren noch an Aktualität gewonnen.

Die Gesellschaften, Völker, Staaten und Nationen auf dieser Welt weisen in Bezug auf religiöse Einflüsse, mentale Strukturen, politische Systeme, Bildungsniveau und kognitive Kompetenzen der Bevölkerung sowie auf das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung nach wie vor extreme Unterschiede auf. Aber alle werden gleichzeitig durch die Fortschritte in Wissenschaft, Technik und Medizin betroffen. Alle spüren die Wirkungen der anhaltenden Bevölkerungsexplosion in den weniger entwickelten Teilen der Welt und – wenn auch unterschiedlich je nach geografischer Situation – die Folgen des Klimawandels.

Wie sie das alles meistern und ihre eigenen Entwicklungen gestalten, ist zum Teil zufallsbestimmt. Die lineare Übertragung westlicher Entwicklungsmodelle ist oft überhaupt nicht zielführend. Aber einige universal gültige Regeln und Grundsätze gibt es eben doch.

Kapitel 2

Voraussetzungen einer gelungenen Gesellschaft

Im Folgenden gehe ich auf sechs aus meiner Sicht unverzichtbare Voraussetzungen für ein gelungenes Zusammenleben der Menschen in einer bestimmten Gesellschaft ein. Ihr notwendiger Erfüllungsgrad hat niemals einen absoluten, sondern immer einen gleitenden Charakter. Darum ist kaum eine Gesellschaft, in der Menschen irgendwie zusammenleben, in jeder Hinsicht völlig misslungen, und ebenso wenig ist irgendeine real existierende Gesellschaft in jeder Hinsicht völlig gelungen.

Auch ändern sich ständig die Maßstäbe, die Menschen an die Gesellschaft, in der sie leben, anlegen. Sie werden tendenziell umso schärfer und kompromissloser, auch gegenüber kleinen oder nur vermeintlichen Unvollkommenheiten, je mehr die Gesellschaft als Ganzes zufriedenstellend funktioniert und krasse Armut, Hunger oder größere Ungerechtigkeiten erfolgreich vermeidet.

Herrschaft des Gesetzes

Unter der »Herrschaft des Gesetzes« verstehe ich, dass es in einer Gesellschaft feste, transparente und für alle verbindliche Regeln gibt, die den Einzelnen vor Gewalt und Willkür schützen – gleichgültig ob diese von Individuen, Gruppen oder staatlichen Organen ausgehen – und den Raum seiner individuellen Handlungsfreiheit verbindlich bestimmen.

Die »Herrschaft des Gesetzes« ist das zentrale Element einer jeden funktionierenden Gesellschaft – unabhängig davon, wie die Gesetze zustande kommen, wer sie erlässt und was ihr Inhalt ist. Ein autoritäres Herrschaftssystem, das Gesetze mit Bindungskraft für die Handlungen der Bürger und des Staates erlässt sowie deren Beachtung wirksam gewährleistet, tut mehr für den Rechtsfrieden und das sichere Zusammenleben der Bürger als eine politische Demokratie, in der geltende Regeln nicht wirksam durchgesetzt werden können.

Am schlimmsten ergeht es Gesellschaften, die diktatorisch von gewaltsam herrschenden Eliten regiert werden, die nur an ihr eigenes Wohlergehen denken und staatliche Regelungen für ihre Zwecke missbrauchen, ohne den Schutz und die Rechtssicherheit der Bürger im Auge zu haben. Besonders krasse Beispiele der Gegenwart sind gescheiterte Staaten wie Haiti oder Somalia, in denen die uneingeschränkte Herrschaft gesetzloser Banden eher zur Regel als zur Ausnahme gehört. Aber auch das gegenwärtige Russland ist von solchen Strukturen stark geprägt.

Zur »Herrschaft des Gesetzes« gehört auch eine gesetzestreu agierende, funktionierende staatliche Verwaltung, deren Rechtsakte nachprüfbar und deren handelnde Vertreter weitgehend frei von Korruption sind. Dazu bedarf es keiner Demokratie.

Im autoritär regierten Königreich Preußen des 18. Jahrhunderts oder auch in der Habsburger Monarchie derselben Zeit gab es in diesem Sinne weitgehend eine »Herrschaft des Gesetzes«. Im gleichzeitigen Großreich des russischen Zaren gab es diese dagegen weitgehend nicht, dort herrschten über weite Strecken Korruption und staatliche Willkür. Die Unterschiede der gesellschaftlichen Kulturen sind auch heute noch spürbar, wie die politischen Erfahrungen der Gegenwart zeigen.

Im autoritär regierten China der Gegenwart kann der Bürger, soweit er die jeweils geltenden Gesetze beachtet und sich bei politischen Meinungsäußerungen zurückhält, weitgehend in Ruhe und Sicherheit sein Leben führen, seinen Geschäften nachgehen und dabei auch zum Millionär werden. Im derzeit demokratisch regierten Mexiko der Gegenwart setzen dagegen rivalisierende gewalttätige Narko-Banden in weiten Teilen des Landes das staatliche Recht außer Kraft und haben die Macht praktisch an sich gerissen. Ein Ausdruck davon ist eine der höchsten Mordraten der Welt. Eine wirksame »Herrschaft des Gesetzes« gibt es also gegenwärtig eher in China als in Mexiko.

Eine »Herrschaft des Gesetzes« ist ohne eine grundsätzlich gesetzestreue, weitgehend von Korruption freie und allein dem Gesetz verpflichtete Bürokratie nicht möglich. Dazu gehören die Kontrolle des Verwaltungshandelns und der Schutz der Bürger durch eine unabhängige Justiz, die allein dem Gesetz verpflichtet ist und dieses möglichst sachgerecht interpretiert.9 In einer entwickelten Demokratie gehört auch die demokratische Wahl der gesetzgebenden Körperschaften, die die Gesetze erlassen und die Regierung berufen, dazu. Notwendige Bedingung für eine »Herrschaft des Gesetzes« ist aber nicht eine demokratische Regierungsform, sondern eine funktionsfähige Machtbalance zwischen den Spitzen der Regierung, der an das Gesetz gebundenen, aber in diesem Rahmen weisungsabhängigen Verwaltung und der ebenfalls an das Gesetz gebundenen, aber weisungsunabhängigen Justiz.

Die »Herrschaft des Gesetzes« ist ein formales Prinzip. Wo es beachtet wird, setzt es der Willkür der politischen Herrschaft und der Bürokratie Grenzen beziehungsweise schließt sie aus. So wird der Bürger geschützt und kann in einem berechenbaren Freiraum seine Ziele verfolgen.

Die »Herrschaft des Gesetzes« schließt aber nicht aus, dass es gute und schlechte Gesetze geben kann. Sie ist auch kein Mittel gegen ein Übermaß an Bürokratie oder gegen die Schädlichkeit beziehungsweise Widersprüchlichkeit vieler gesetzlicher Bestimmungen. Eine gute Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist vielmehr ein kollektives gesellschaftliches Produkt. Ihre Geltung in der jeweils bestimmten Form wird durch die Herrschaft des Gesetzes sichergestellt – nicht mehr und nicht weniger. Die Qualität und die Leitlinien einer gesellschaftlichen Ordnung können sich nur im gesellschaftlichen Diskurs entwickeln. Viele fachliche und politische Details, die dazugehören, lassen sich auch gar nicht aus allgemeinen Prinzipien, sondern nur aus der Sachlogik des jeweiligen Gegenstands entwickeln.

Zu den nur scheinbar selbstverständlichen Normen gehört auch die »Gleichheit vor dem Gesetz«. Sie ist als handlungsleitendes Prinzip für Justiz und Verwaltung unmittelbar einleuchtend, gibt aber noch keine unmittelbare Antwort darauf, wie mit religiösen, kulturellen und intellektuellen Unterschieden der Menschen umzugehen ist.10

Menschenrechte

Die politische Menschenrechtsdebatte ist in vielerlei Hinsicht misslich befrachtet und wird von mir an dieser Stelle ausgeklammert. Unter Menschenrechten verstehe ich das moralische Recht eines jeden auf dieser Erde als Mensch geborenen Lebewesens, frei von Hunger und Not sowie unbedroht an Leib und Leben aufzuwachsen und sein Leben nach seinen Bedürfnissen im Rahmen der geltenden Gesetze frei zu gestalten.

Zur Gewährleistung der individuellen Menschenrechte ist zuerst die staatliche Gemeinschaft beziehungsweise die Gesellschaft berufen, in die ein Mensch hineingeboren wird, in der er aufwächst und sein weiteres Leben verbringt. Die Gewährleistung der Menschenrechte ist unabhängig von der Regierungsform sowie von der Frage, ob es sich um eine Demokratie handelt oder nicht. Es gibt kein Menschenrecht darauf, in einer Demokratie oder überhaupt in einer bestimmten Regierungsform zu leben.

Strittig ist für mich die Frage, ob ein bestimmter Staat oder eine bestimmte Gesellschaft darauf verpflichtet werden kann, für die Einhaltung von Menschenrechten außerhalb des eigenen Staatsgebiets zu sorgen beziehungsweise Menschen bei sich aufzunehmen, die wegen Menschenrechtsverletzungen aus ihren Staaten fliehen. Generell gilt hier natürlich das allgemeine moralische Gebot menschlicher Barmherzigkeit. Aber es gilt auch die Notwendigkeit pragmatischen Handelns im Sinne des Wohls der eigenen Bürger und der Interessen des eigenen Staats.

Wo sich alle für alles zuständig fühlen, endet die Welt schnell in Krieg und Chaos. Die gut gemeinten Interventionen der USA und westlicher Verbündeter in Schurkenstaaten wie dem von Saddam Hussein beherrschten Irak, dem von den Taliban beherrschten Afghanistan und dem von Gaddafi beherrschten Libyen haben jeweils in der Summe und trotz guter Absichten weitaus mehr Leid und Chaos hervorgebracht, als sie durch den Umsturz der Herrschaftsform beseitigt haben. Es ist deshalb aus meiner Sicht unbedingt geboten, den Einsatz für Menschenrechte auf den Territorien fremder Staaten und Völker pragmatisch zu dosieren. Eine menschenrechtlich noch so ungerechte Ordnung ist häufig auch in menschenrechtlicher Hinsicht dem Leid und dem Chaos, das durch Regimesturz bewirkt wird, vorzuziehen.

In den westlich geprägten Industriestaaten mit ihren entwickelten Demokratien herrscht oft ein besonders ausgeprägter Begriff von den Menschenrechten vor. Das ist als Leitlinie für die internationale Politik grundsätzlich auch nicht zu beanstanden. Gefahren ergeben sich jedoch in dreierlei Hinsicht:

Staaten und Gesellschaften, die (noch) keine entwickelte Demokratie sind beziehungsweise eine andersartige kulturelle Prägung haben, werden an Maßstäben gemessen, die für sie nur teilweise oder gar nicht passen. Das führt zu Missverständnissen und Spannungen und kann die internationale Zusammenarbeit beeinträchtigen.Einwanderer aus fremden Kulturen tragen ihre Sitten und Wertmaßstäbe in unsere Gesellschaften. Dazu gehören häufig auch Fanatismus, Intoleranz und Unterdrückung der Frauen. Westlicher liberaler Geist ist gegen solche importierten Menschenrechtsverletzungen häufig wehrlos, weil er nicht zu seiner eigenen Liberalität in Widerspruch geraten will. Der weit verbreitete Unmut darüber gibt seit einigen Jahren populistischen Bestrebungen Auftrieb.Die westliche Interpretation der Menschenrechte hat in Verbindung mit der konkreten Ausformung des Asylrechts die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen, dass kulturfremde Masseneinwanderung, insbesondere aus Afrika und aus dem Nahen und Mittleren Osten, im westlichen Europa in großem Stil ermöglicht und durch die Exekutive und Judikative abgesichert wird, sobald die Migranten die EU oder Großbritannien erreicht haben. Problematisch ist nicht, dass alle Menschen auf der Erde dieselben Menschenrechte haben, sondern dass sie diese aufgrund der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention in ein konkretes Aufenthaltsrecht in den Staaten Europas ummünzen können, sobald sie europäischen Boden erreicht haben. Das überfordert die westeuropäischen Gesellschaften und kann sie auch zerstören.

In den westlichen Gesellschaften wollen Ideologen und Gutmenschen die Gesellschaft als Ganzes in eine moralische Rigorosität treiben, die diese mehrheitlich nicht zu leisten bereit ist. Darum geht es hauptsächlich bei dem erbitterten Streit um die Grenzen des Asylrechts und das erträgliche Ausmaß kulturfremder Einwanderung.

Meinungsfreiheit

Der Begriff der Freiheit, angewandt auf das menschliche Individuum und die Gesellschaft, in der er lebt, schillert in seiner Bedeutung. Es führt leicht zu Missverständnissen, wenn man nicht ausreichend exakt umreißt, um welchen Aspekt von Freiheit es geht. Der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmannsegg unterscheidet den Freiheitsbegriff nach drei zentralen Aspekten:

Die Freiheit, sich in einem vom Staat geschützten Raum nach eigenem Ermessen selbst entfalten zu können. Dazu gehört auch die Freiheit, auf die Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten weitgehend zu verzichten.Die Freiheit, sich an der Gestaltung des Gemeinwesens politisch zu beteiligen.Die Sicherung der materiellen Verhältnisse, die es dem Einzelnen erst ermöglichen, frei von materieller Not sein Leben in Freiheit zu gestalten.

Die Freiheit zu Punkt 1 kann auch im autoritären Rechtsstaat verwirklicht werden. Die Freiheit zu Punkt 2 setzt irgendeine Form von Demokratie voraus. Die Freiheit zu Punkt 3 hat zum modernen Sozialstaat geführt.11

Quer über allen Freiheitsarten liegt der Aspekt der Meinungsfreiheit. Dazu gehört nicht nur die Freiheit, sich seine eigene Meinung selbst zu bilden und entsprechend freien Zugang zu Informationen zu haben, sondern insbesondere auch die Freiheit, die eigene Meinung innerhalb bestimmter Grenzen, die sich aus Anstand und Sitte ergeben, im privaten Kreis und öffentlich frei zu äußern, ohne dass dies zu Sanktionen des Staates oder der Gesellschaft führt. Wo man sich nicht über seine Gedanken mit anderen austauschen kann beziehungsweise Repressionen befürchten muss, ist die eigene Geisteswelt in Gefahr zu verkümmern, denn der menschliche Geist entfaltet sich im Austausch.

Politische und gesellschaftliche Freiheit muss sich tatsächlich immer zuerst an der Meinungsfreiheit bewähren. Das geistige Leben in jeder Gesellschaft ist immer auch ein Wettkampf zwischen unterschiedlichen Denkweisen. Diese kommen teils als dickflüssige Zeitströmungen, teils als Modewellen daher – vergleichbar einem Ozean, in dem es Grundströmungen wie den Golfstrom oder den Labradorstrom gibt, die von den Ereignissen lokaler Winde und Stürme überlagert werden.

Dickflüssigkeit und universale Präsenz von Zeitströmungen beeinflussen häufig auch das Denken kritischer und unabhängiger Geister. Es ist schwer, sich solchen Zeitströmungen zu entziehen. Wer dies gleichwohl mit Erfolg tut, wird häufig trotz bester Argumente nicht gehört, weil er dem Zeitgeist widerspricht. So wird der unabhängige Geist schnell zum sprichwörtlichen »Rufer in der Wüste«. Es fällt den meisten Menschen subjektiv schwer, sich beim eigenen Denken vom Zeitgeist zu lösen oder ihm gar zuwiderzuhandeln. Für einzelne Menschen oder kleine Gruppen ist es zudem objektiv schwer bis unmöglich, den herrschenden Zeitgeist nennenswert zu beeinflussen oder ihn gar in eine andere Richtung zu drängen.12

Bisweilen helfen schockartige Ereignisse wie Putins Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 oder der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023:

Putins Überfall auf die Ukraine desavouierte den in großen Teilen des Westens, vor allem aber in Deutschland grassierenden naiven Pazifismus und führte zumindest verbal zu der von Bundeskanzler Scholz im Bundestag am 27. Februar 2022 verkündeten »Zeitenwende«. Von dieser war allerdings zwei Jahre nach Scholz’ Rede immer noch unklar, ob und in welchem Tempo sie zu praktischen Konsequenzen bei der Ertüchtigung der Bundeswehr führen würde.Der Terrorangriff der Hamas auf Israel und der Jubel darüber überall in der islamischen Welt, aber auch unter vielen Muslimen in Europa, zerstörte nicht nur die Hoffnung, dass Antisemitismus eine aussterbende politische Ideologie ist, sondern auch die Illusion, dass die Muslime in Europa mehrheitlich gut integriert und auf dem Weg zur kulturellen Übernahme westlicher Werte sind.

Aber solche schockartigen Ereignisse, die der menschlichen Lernfähigkeit unmittelbar auf die Sprünge helfen, bleiben die Ausnahme, und die Erinnerung an sie verblasst schnell. Deshalb ist es eher die Regel, dass die Gesellschaft schleichenden Gefahren, die zu den gerade herrschenden Denkmoden nicht passen, durch Verdrängung und Nicht-wissen-Wollen so lange ausweicht, bis irreparable Schäden entstanden sind. Welches Ereignis, in seiner schockartigen Wirkung mit Putins Krieg vergleichbar, wäre zum Beispiel geeignet, in der deutschen Politik eine kritischere Haltung zum politischen Islam und seinen Gefahren für die deutsche Zukunft zu bewirken? Der Terrorangriff der Hamas auf Israel und der anschließende Jubel in den islamischen Stadtvierteln Europas haben dazu offenbar nicht ausgereicht. Gegenüber schleichenden Prozessen ist die öffentliche Meinung vor allem dann besinnungslos und lässt es an Risikobewusstsein mangeln, wenn durch die Anerkennung des Problems ein beliebtes vorherrschendes Narrativ gefährdet scheint.

Geistige Moden und vorherrschende Medienströmungen können zu einer Dominanz schiefer beziehungsweise falscher Berichterstattung führen – mit der Folge, dass sich auch das vorherrschende Meinungsklima in einer Gesellschaft falsch ausrichtet und von der Wirklichkeit löst. Darum ist in jeder Diktatur die Herrschaft über Medien und Propagandainstrumente so wichtig. Aber auch in einer Demokratie kann dominierende Propaganda für gewaltige Schieflagen sorgen: