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Wer bestimmt, was gesagt werden darf - und worüber geschwiegen werden muss? Meinungsfreiheit ist hierzulande durch das Grundgesetz garantiert. Aber wie sieht es damit im Alltag aus? Dort begegnen wir immer wieder Denk- und Redeverboten und sind recht schnell an den Grenzen des Sagbaren angelangt. Thilo Sarrazin analysiert den grassierenden Meinungskonformismus und stellt fest: Wer Dinge ausspricht oder Zusammenhänge herstellt, die nicht ins gerade vorherrschende Weltbild passen, der wird gerne als Provokateur oder Nestbeschmutzer ausgegrenzt.
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Seitenzahl: 559
Thilo Sarrazin
Der neue Tugendterror
Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland
In memoriam
Hans Christian Sarrazin
Manfred Sarrazin
»Wenn alle Menschen frei sind, sind alle gleich; wenn sie gleich sind, sind sie gerecht.«
Louis Antoine de Saint-Just, 1791
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Alle Rechte vorbehalten
E-Book Produktion und Satz (Vorwort neu): Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-7844-8402-3
Inhalt
Vorwort zur Paperback-Ausgabe
Einleitung
Wie gehe ich weiter vor?
1 Was ist Meinungsfreiheit, und wie bestimmen sich ihre Grenzen?
Meinungsfreiheit ist relativ
Zur Rolle der Medien
Medien und Politik
Der Begriff der »Political Correctness«
Zur aktuellen Axiomatik des Tugendterrors in Deutschland
Der Einfluss des Tugendterrors auf die Meinungsfreiheit
2 Wie ich mit der Meinungsherrschaft in Konflikt kam: Eine Fallstudie
Kernthesen
Tabuverletzungen
Reaktion von Medien und Politik
Sanktionen
Skandal und publizistischer Konflikt
3 Elemente der Meinungsbildung
Was Machiavelli uns heute noch zu sagen hat
Der frühe Tugendterror: Tocqueville zur Demokratie in Amerika
Zur Psychoanalyse des Tabus
Die Schweigespirale
Meinungsherkunft und Meinungsbildung im Journalismus
Wie sich der Mensch in der Gesellschaft anpasst: Die Neue Verhaltensökonomik
4 Die Sprache als Instrument des Tugendterrors
Sprache, Herrschaft und soziale Normen
Ethnische Benennungen
Die Sprache der Märchen: Negerkönige und Chinesenmädchen
Die geschlechtergerechte Sprache
Die gleichgeschlechtliche Ehe
Unschärfe, Euphemismus, Verballhornung
Soziale Unwörter: alleinerziehend, arbeitslos, Wirtschaftsflüchtling
Dekadenz der Sprache – Dekadenz des Denkens
5 Der Kult des Wahren, Guten und Schönen: Tugendterror im Wandel der Zeiten
Die Christianisierung und der Untergang des antiken Götterhimmels
Die heilige Inquisition
Hexer und Hexen
Der Terror in der Französischen Revolution
Sonnenfinsternis
Abgesunkenes Kulturgut: Tugendterror in der Gegenwart
Exkurs Moral und Gewissheit
Die Relativität (fast) aller Moral
Die Rolle sozialen Mutes
6 Vierzehn Axiome des Tugendwahns im Deutschland der Gegenwart
1. Ungleichheit ist schlecht, Gleichheit ist gut.
2. Sekundärtugenden sind nicht wichtig, Leistungswettbewerb ist fragwürdig.
3. Wer reich ist, sollte sich schuldig fühlen.
4. Unterschiede in den persönlichen Lebensverhältnissen liegen meist an den Umständen, kaum an den Menschen.
5. Die menschlichen Fähigkeiten hängen fast ausschließlich von Bildung und Erziehung ab.
6. Völker und Ethnien haben keine Unterschiede, die über die rein physische Erscheinung hinausgehen.
7. Alle Kulturen sind gleichwertig, insbesondere gebührt den Werten und Lebensformen des christlichen Abendlandes und der westlichen Industriestaaten keine besondere Präferenz.
8. Der Islam ist eine Kultur des Friedens. Er bereichert Deutschland und Europa.
9. Für Armut und Rückständigkeit in anderen Teilen der Welt tragen westliche Industriestaaten die Hauptverantwortung.
10. Männer und Frauen haben bis auf ihre physischen Geschlechtsmerkmale keine angeborenen Unterschiede.
11. Das klassische Familienbild hat sich überlebt. Kinder brauchen nicht Vater und Mutter.
12. Der Nationalstaat hat sich überlebt. Die Zukunft gehört der Weltgesellschaft.
13. Alle Menschen auf der Welt haben nicht nur gleiche Rechte, sondern sie sind auch gleich, und sie sollten eigentlich alle einen Anspruch auf die Grundsicherung des deutschen Sozialstaats haben.
14. Kinder sind Privatsache, Einwanderung löst alle wesentlichen demographischen Probleme.
SchlussbetrachtungIdeologie, Wirklichkeit und gesellschaftliche Zukunft
Anhang
Anmerkungen
Rechtenachweis
Register
Vorwort zur Paperback-Ausgabe
Aufgewachsen im freien westdeutschen Meinungsklima der Fünfziger- und Sechzigerjahre, hatte mich das Thema Meinungsfreiheit nie sonderlich interessiert. Die Bedrohung der Meinungsfreiheit war für mich in der Vergangenheit angesiedelt, z.B. in der überwundenen Nazidiktatur oder im damaligen Ostblock, also außerhalb unserer Zeit oder jenseits unserer Grenzen. Es war tragisch, dass die Rostocker Stasi 1971 meinen Onkel ins Gefängnis warf und er danach statt als Wissenschaftler als Landarbeiter tätig sein musste. Es war empörend, dass die Romane von Alexander Solschenyzin nicht in der Sowjetunion erscheinen durften. Aber als die Berliner Mauer fiel und der Ostblock zusammenbrach, schien es für die Ausbreitung von Meinungsfreiheit über die ganze Welt keine Grenzen mehr zu geben. So dachte ich, und so dachten Millionen andere. Die anhaltende Unterdrückung von Meinungsfreiheit im größten Teil der islamischen Welt oder im kommunistischen China erschien als lokale Problematik, die sich hoffentlich über die Zeit auch lösen würde, aber uns in der freien Welt, die jetzt auch Osteuropa umschloss, nicht betraf.
Diese aus heutiger Sicht etwas naive Einstellung behielt ich bis zu dem Mediensturm, der 2010 mit der Veröffentlichung von Deutschland schafft sich ab über mich hereinbrach. Angestoßen durch meine teils verstörenden Erfahrungen und Erlebnisse, begann ich, mich mit den Bedingungen und Grenzen von Meinungsfreiheit näher zu beschäftigen, und griff dabei weit in die Geistesgeschichte aus. Ergebnis ist das vorliegende Buch, das 2014 erstmals erschien. Es hatte in den vergangenen sieben Jahren einen stetigen Verkaufserfolg und ist mittlerweile vergriffen. Das ist der Anlass für diese Neuausgabe und für dieses Vorwort.
Die Analysen des Buches haben grundsätzlichen Charakter und sind unverändert gültig. Leider ist die darin behandelte Frage, wie es in der westlichen Welt um die Meinungsfreiheit steht und durch welche Entwicklungen sie bedroht ist, in den letzten Jahren immer aktueller geworden. Am Ende von Kapitel 1 schildere ich meinen Eindruck, »dass die Bandbreite der im Sinne der politischen Korrektheit als akzeptabel geltenden Meinungen eher abgenommen hat. Und besonders stromlinienförmig kommen mir dabei die mittleren und jüngeren Jahrgänge vor. Paradoxerweise haben die Jahrzehnte des Wohlstands und der freiheitlichen Demokratie weniger den Mut als das Desinteresse, die Anpassungsbereitschaft und das Streben nach Unauffälligkeit genährt«. (S. 48)
Diese Verengung hat sich in den letzten Jahren offenbar verstärkt. Einer weitverbreiteten Passivität und Indifferenz stehen wachsender Fanatismus und zunehmende Empörungsbereitschaft kleiner Minderheiten gegenüber. Gleichzeitig nimmt insbesondere in den Medien, aber auch in den Geisteswissenschaften, eine Tendenz zur Ideologisierung zu. So wird die uns überwiegend vermittelte Weltsicht immer einseitiger.
Bereits als Studenten hatten meine Freunde und ich in Bezug auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk über den »Rotfunk« gespöttelt. Seit den 1970er-Jahren ist aus den Untersuchungen von Elisabeth Noelle-Neumann und Hans Mathias Kepplinger bekannt, dass Journalisten in ihren politischen Einstellungen überwiegend deutlich links von der Gesellschaft und vom politischen Mainstream stehen (S. 134ff.) Diese Entwicklung hat sich in den letzten Jahren eher noch verstärkt, und sie beeinflusst Berichterstattung sowie Kommentierung. Für die Zukunft ist ein Nachlassen dieser Tendenz nicht erkennbar, wahrscheinlich trifft eher das Gegenteil zu: Eine im April 2020 unter den Volontären von ARD und Deutschlandradio durchgeführte Umfrage ergab, dass der Anteil der Frauen unter ihnen bei 60 Prozent und der Anteil mit Migrationshintergrund bei 30 Prozent liegt. 70 Prozent sind in Akademikerhaushalten aufgewachsen, 95 Prozent haben selber studiert. Unter den Volontären würden 57 Prozent die Grünen, 23 Prozent die Linke, 12 Prozent die SPD, und nur 3 (!) Prozent die CDU/CSU sowie 1,2 Prozent die FDP wählen.1 Von einer journalistischen Tätigkeit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk fühlen sich also weit über 90 Prozent Linke und Grüne angezogen. So kann man auch für die Zukunft davon ausgehen, dass die politische Tendenz im öffentlich-rechtlichen Rundfunk weit links von der Gesellschaft, aber auch links von der übrigen Medienlandschaft sein wird.
Deutschland ist in Bezug auf die Entwicklung des Meinungsklimas keine Insel, sondern wird – wie schon in der gesamten Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg – stark geprägt von den geistigen Strömungen der angelsächsischen Welt. Dort hat sich in den letzten Jahren in den Geisteswissenschaften und in den Medien ein Hang zur Intoleranz ausgebreitet, die abweichenden Weltsichten grundsätzlich die Legitimation abspricht, wenn sie diese nicht ganz ausblendet. Die Beispiele dafür verteilen sich mittlerweile über die ganze westliche Welt und zahlreiche deutsche Universitäten.2
Für diese Tendenzen hat sich der Begriff der »Cancel-Culture« herausgebildet: Standpunkte, die das eigene Weltbild gefährden könnten, will man nicht zur Kenntnis nehmen. Wissenschaftler mit ungeliebten Standpunkten werden an Vorträgen gehindert, ihre Vorlesungen werden gestört, ihre akademischen Karrieren gefährdet oder zerstört. Möglich ist die »Cancel-Culture« selbstverständlich nur in den Geisteswissenschaften. Mehr als 150 prominente Schriftsteller und Wissenschaftler aus den USA und Großbritannien geißelten diese Entwicklung im Juli 2020 in einem offenen Brief:
»Editors are fired for running controversial pieces; books are withdrawn for alleged inauthenticity; journalists are barred from writing on certain topics; professors are investigated for quoting works of literature in class; a researcher is fired for circulating a peer-reviewed academic study; and the heads of organizations are ousted for what are sometimes just clumsy mistakes. Whatever the arguments around each particular incident, the result has been to steadily narrow the boundaries of what can be said without the threat of reprisal. We are already paying the price in greater risk aversion among writers, artists, and journalists who fear for their livelihoods if they depart from the consensus, or even lack sufficient zeal in agreement.«3
Zur »Cancel-Culture« gehören auch Auswüchse einer ins Maßlose gesteigerten Rassismus-Debatte und die Extreme einer Gender-Ideologie, die Grundtatsachen der menschlichen Biologie leugnet und ihre Aggressionen gegen jene richtet, die das nicht mitmachen.
Auch J.K. Rowling, bekannt geworden durch ihre Harry-Potter-Romane und mit 500 Millionen verkauften Büchern die erfolgreichste britische Schriftstellerin der Gegenwart, unterzeichnete den Brief der 150. Sie wurde im September 2020 Opfer eines Internet-Mobbings mit inszenierter Bücherverbrennung und fingierter Schändung ihres Grabes, weil sie eine Trans-Feindin sei. In ihrem jüngsten Kriminalroman tritt nämlich ein Transvestit als Serienmörder auf, und sie hatte in einem Aufsatz darauf bestanden, dass es zwei klar unterscheidbare biologische Geschlechter gibt.
Die Geschichte wird über die »Cancel-Culture« hinweggehen. Sie hat zwar viel Schaden angerichtet und wird das noch für einige Zeit weiter tun. Aber letztlich rennen radikale Geisteswissenschaftler vergeblich gegen ihre eigene Ohmacht an: Der Erkenntniszuwachs in den Informationstechnologien, der Automatisierung, der Medizin, der Genetik, den Naturwissenschaften geht, während die »Cancel-Culture« wütet, ungebremst weiter und treibt die Gesellschaft fortwährend in neue, unbekannte Gefilde. Der technische Fortschritt kann wegen des internationalen Forschungszusammenhangs, der bis nach China reicht, und wegen der Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Volkswirtschaft auch durch die »Cancel-Culture« nicht dauerhaft behindert werden. Für die durch das technische Wissen getriebene Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und ihr Verhältnis zur »Cancel-Culture« gilt das vom ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl gern benutzte Sprichwort: »Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter.«
Die »Cancel-Culture« ist auch an mir nicht spurlos vorbeigezogen: In den letzten Jahren wurden Lesungen von mir zunehmend erschwert oder unmöglich, weil Gewalttäter schon im Vorfeld Fassaden beschmierten oder Fenster einwarfen und die Veranstalter einschüchterten. Die SPD, der ich 47 Jahre lang angehört hatte, schloss mich 2020 aus, weil ich 2018 mit Feindliche Übernahme den Islam grundsätzlich kritisiert hatte.
Personen des öffentlichen Lebens, die ich nicht kannte und die mit Sicherheit nie eine Zeile von mir gelesen hatten, maßten sich Urteile über meine Thesen und meine Person an, die sowohl unsinnig als auch beleidigend waren. So fragte die Rektorin der Universität Düsseldorf, Prof. Dr. Anja Steinbeck, im Frühling 2020 in einem Aufsatz, den sie in der Zeitschrift Forschung und Lehre veröffentlichte: »Was ist zu tun, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass der Redner oder die Rednerin im Rahmen der Veranstaltung verfassungsfeindliche Thesen vertreten wird? Diese Gefahr war wohl nicht von der Hand zu weisen, als der Publizist und ehemalige Politiker Thilo Sarrazin an die Universität Siegen eingeladen wurde.« Sie bezog sich auf den Umstand, dass ich im Januar 2019 auf Einladung des Neukantianers Prof. Dr. Dieter Schönecker in seinem Seminar an der Universität Siegen einen Vortrag gehalten und anschließend mit den Studenten diskutiert hatte. Ich schrieb ihr daraufhin im Mai 2020 an ihre Dienstadresse:
»Als Rektorin der Universität Düsseldorf sind Sie eine mit großer Amtsautorität ausgestattete Person des öffentlichen Lebens. Als Volljuristin und Professorin haben Sie zudem juristische und wissenschaftliche Autorität.
Umso schwerer wiegt Ihr öffentlich erhobener Vorwurf, ich verträte verfassungsfeindliche Thesen. In allen meinen Veröffentlichungen steht kein einziger verfassungsfeindlicher Satz. Bitte teilen Sie mir mit wörtlichem Zitat und Fundstelle mit, auf welche Aussage in meinen bislang veröffentlichten sieben wissenschaftlichen Sachbüchern Sie sich dabei stützen.
Oder kann es sein, dass Sie einfach unverantwortlich und opportunistisch dahergeredet bzw. entsprechend geschrieben haben? Dann hätten Sie Ihrem Amt und Ihrem wissenschaftlichen Ruf keinen guten Dienst getan.«
Eine Antwort bekam ich nicht. Dafür war die Rektorin und Volljuristin Prof. Dr. Anja Steinbeck sich zu fein oder zu feige. Auch ein solches Verhalten ist gelebte »Cancel-Culture«. Das Verhalten der Rektorin passt zum geistigen Klima an den deutschen Universitäten, in dem die Meinungsfreiheit leicht zur bedrohten Spezies wird.
Eine Untersuchung der Einstellungen von Studierenden der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt4 ergab im Sommer 2018, dass 30 bis 40 Prozent von ihnen Gastvorträge von Referenten unterbinden wollten, sofern diese kritisch gegenüber dem Islam oder gegenüber Einwanderung waren oder die Auffassung vertraten, es gebe biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen. 20 bis 30 Prozent wollten sogar Bücher mit entsprechenden Inhalten aus den Universitätsbibliotheken entfernen.5 Dabei sind die Studenten umso intoleranter, je linker ihre politische Grundeinstellung ist.6
Im Oktober 2020 trennte sich der Verlag S. Fischer von seiner Autorin Monika Maron. Er hatte die Bücher der ehemaligen DDR-Bürgerrechtlerin vierzig Jahre lang seit Anfang der 1980er-Jahre veröffentlicht. Maßgebend für die Trennung war letztlich der Umstand, dass sie in Fragen wie Einwanderung und Islam Positionen vertrat, die der Verlagsleitung politisch missfielen, auch wenn das mit dem Inhalt ihrer Bücher wenig bis gar nichts zu tun hatte. Zur Mechanik der Ausgrenzung bemerkt die Autorin: Mit der Kennzeichnung als »umstritten fängt es an, dann ist man ›rechts‹ oder ›neurechts‹. Das schreibt so lange einer beim anderen ab, bis es als bewiesene Tatsache gilt.«7 Monika Maron beobachtet in Deutschland »ein Klima, in dem alle dreimal überlegen, was sie sagen dürfen, ohne dass man über sie herfällt. Repressionen sind dazu gar nicht nötig. Ich glaube, auf diese Schere im Kopf, auf den vorauseilenden Meinungsgehorsam, reagieren besonders DDR-Bürgerrechtler allergisch. Wer das damals nicht aushalten konnte, kann und will es heute, in einer freien Gesellschaft, erst recht nicht aushalten«.8
Damit weist Monika Maron auf einen zentralen Punkt hin: In einer Demokratie wie der Bundesrepublik Deutschland hängen Umfang und Qualität der Meinungsfreiheit davon ab, dass und wie die Bürger sie in Anspruch nehmen. Niemand muss sich in jene Schemata einfügen, die uns die Kommentare und die Nachrichtenauswahl im öffentlichen-rechtlichen Rundfunk und in den etablierten Presseorganen so gerne ans Herz legen. Es kommt darauf an, selbst zu denken und sich entsprechend zu äußern. Nur so erweist sich die Geltung von Immanuel Kants Wort, Aufklärung sei »der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«.
Einleitung
Am 10. September 2012, ziemlich exakt zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Deutschland schafft sich ab, erschien im Spiegel ein Interview mit drei jungen Persern, die als Flüchtlingskinder nach Deutschland gekommen waren. Darin fragte der Spiegel-Redakteur Maximilian Popp unter anderem: »Trifft es Sie, wenn Politiker wie Thilo Sarrazin behaupten, Migranten seien faul und hätten ohnehin kein Interesse, dieses Land mitzugestalten?« Die Antwort fiel erwartungsgemäß aus: »So etwas schmerzt mich, doch Sarrazins Thesen haben mich nicht überrascht. Aus ihnen spricht genau jener Rassismus, den wir jahrelang erfahren haben.« Der Fragesteller schien zufrieden, denn mit dieser Antwort endete das Interview.1
Ich schrieb daraufhin an die Spiegel-Redaktion:
»Diese Wiedergabe angeblicher Aussagen von mir ist frei erfunden und weder in mündlichen noch in schriftlichen Äußerungen von mir zu finden. Entweder liegt Unkenntnis oder die Absicht zur Diffamierung zugrunde. In beiden Fällen erscheint eine Richtigstellung oder Entschuldigung angebracht. Ihrer Reaktion (oder auch nicht) sehe ich mit Interesse entgegen.«
Nach einer Woche kam die Antwort des Redakteurs Maximilian Popp. Er führte darin eine Reihe von Zitaten aus Deutschland schafft sich ab an, die zwar alle richtig wiedergegeben waren, nur eines nicht enthielten, nämlich eine Bestätigung seiner Behauptungen. Er rechtfertigte sich mit folgenden Sätzen:
»Sie stellen fest, diese Aussage sei von Ihnen nie getroffen worden. Das allerdings behaupte ich in dem Artikel auch nicht. Vielmehr werden einige Ihrer Äußerungen in der Vergangenheit pointiert zusammengefasst. … Deshalb würde ich eine Richtigstellung auch für unangemessen halten.«2
Im Klartext meinte der Spiegel-Redakteur wohl: Wenn es darum geht, Thilo Sarrazin in die »richtige« Ecke zu stellen und damit gewissermaßen höheren tugendhaften Zwecken zu dienen, dann muss man es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, sogar die absichtsvolle Verdrehung der Fakten ist nach dieser Logik offenbar erlaubt, selbst auf die Gefahr hin, einen verleumderischen Eindruck hervorzurufen. Schließlich gelang es ja auf diese Art, dem jungen Perser den Rassismus-Vorwurf zu entlocken.
An diesem Tag entschied ich mich, dieses Buch zu schreiben. Die zitierte Spiegel-Geschichte, obwohl vielleicht besonders skandalös, spiegelt nämlich einen Zeittrend wider. In wachsendem Maße wird die freie Betrachtung der menschlichen Gesellschaft in vorgefasste Raster gepresst. Der Wahrheitsbegriff wird dabei so lange relativiert, bis seine Konturen verschwimmen. Wenn sich die Wirklichkeit dem eigenen Denkmuster nicht fügen will, werden auch in seriösen Zeitungen notfalls die Gesetze der Statistik auf den Kopf gestellt. Im Dienste einer höheren »moralischen« Wahrheit ist dann auch der »freie Umgang« mit Fakten durch Auslassen, Entstellen und notfalls freihändiges Ignorieren von Tatsachen zulässig. Wer das nicht glaubt, schaue sich das obige Beispiel genau an. Es fand offenbar die Billigung der Spiegel-Redaktion, denn an diese hatte ich geschrieben, und Maximilian Popp hatte mir geantwortet.
Mit meinen Lesern teile ich wohl die Dankbarkeit darüber, dass wir nicht mehr, wie noch vor wenigen Jahrhunderten, wegen falschen Glaubens als Ketzer verbrannt werden können. Auch sind die Zeiten vorbei, als die heilige Inquisition von uns – notfalls unter Folter – verlangen konnte, falschen Meinungen zu entsagen. Es ist allerdings erst 380 Jahre her, dass Galileo Galilei unter dem Druck der Inquisition die Erkenntnis widerrief, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Als die Inquisitoren gerade nicht hinhörten, soll er halblaut gemurmelt haben: »Und sie bewegt sich doch.« Recht hatte er. Meinungen ändern nämlich keine Tatsachen. Meinungsdruck – in welcher Form auch immer – ändert höchstens die gesellschaftliche Wahrnehmung von Tatsachen.
Gesellschaften, die wichtige Aspekte der Wirklichkeit leugnen oder sie wegen der Dominanz einer bestimmten Weltsicht gar nicht wahrnehmen, bezahlen dafür mit beschränkter Weltsicht und beschränkten Erkenntnismöglichkeiten. Sie verzichten damit häufig auf Entwicklungspotentiale und bleiben rückständig. Historisch gesehen ist das Scheitern von Gesellschaften aufgrund ihrer inneren Beschränktheit eher die Regel als die Ausnahme.
Das antike Griechenland, häufig als Wiege der Demokratie bezeichnet, war so demokratisch gar nicht. Frauen, Unfreie und alle jene, die nicht Bürger einer Polis waren, konnten sich an der politischen Meinungsbildung nicht beteiligen. Das geistige Klima aber war frei. Der griechische Götterhimmel mit seinen mehreren Tausend Göttern und seinem notorisch untreuen und philandernden Chef-Gott Zeus bildete die menschlichen Widersprüche im Himmel ab. Zwischen der Liebe, dem Hass, der Ruhmsucht und der Eifersucht, die die Götter den Menschen vorlebten, konnte auf Erden nahezu alles gedacht und getan werden. All dies zu leben war die Stärke der griechischen Völker, und so wurden sie zum Ursprung der abendländischen Kunst, Philosophie und der Naturwissenschaft.
Das hinderte sie nicht an heftigen Kriegen untereinander. Gewalt gab es reichlich, sie war sozusagen endemisch, und doch blühte die Freiheit der Gedanken. Wurde allerdings ein Gedankenträger übermäßig lästig, machte man auch schon damals kurzen Prozess. Sokrates musste im Jahr 399 vor Christus in Athen den Schierlingsbecher trinken, weil seine Philosophie den Mächtigen missfiel. Er musste ihn nicht etwa trinken, weil er der Knabenliebe anhing. Die war damals gang und gäbe und sozusagen gesellschaftlich anerkannt.
Für minderschwere Fälle störender Meinungen kannte man in Athen den Ostrakismos, das Scherbengericht. Wer sich mit seinen Ansichten und Handlungen über ein bestimmtes Maß hinaus unbeliebt gemacht hatte, konnte auch als Bürger von Athen in die Verbannung gezwungen werden, damit er den gesellschaftlichen Frieden nicht weiter störte. Der Widerspruch zwischen Gedankenfreiheit und gesellschaftlicher Norm wurde im antiken Griechenland mithin pragmatisch, aber keineswegs immer gewaltfrei gelöst.
In der modernen Demokratie westlicher Prägung ist es nicht mehr so leicht, Meinungen und Einstellungen, die nicht gefallen oder als sozial schädlich angesehen werden, mit Gewalt zu unterdrücken. Aber es gilt auch nicht einfach »anything goes«. Es haben sich verdeckte Formen der Formierung und Kontrolle von Meinungen herausgebildet. Der gesellschaftlich akzeptierte Kreis des Sagbaren und Denkbaren kann auch auf diese Weise wirksam begrenzt werden. Diese informellen Prozesse sind mit Machtausübung verbunden – mit Medienmacht, mit politischer Macht.
Die meisten Menschen wollen gerne im Konsens leben. Sie spüren den von dieser informellen Meinungskontrolle ausgehenden Druck und beugen sich ihm auch zu einem gewissen Grad. So kann es immer wieder geschehen, dass die gesellschaftliche Diskussion und insbesondere die veröffentlichte Meinung Fragestellungen verkürzen und einschränken bzw. bestimmte Fragen und mit ihnen verbundene Antworten unter ein Tabu stellen. Wer solche Grenzen zu überschreiten scheint, muss zwar heute nicht mehr den Schierlingsbecher trinken oder in die Verbannung gehen. Aber er darf sicher sein, dass bestimmte Medien versuchen, ihn und seinesgleichen öffentlich an den Pranger zu stellen. Das funktioniert umso leichter, je vermachteter die Struktur der Medien ist und je größer der Teil der Bürger ist, die Medienmeinung für bare Münze nehmen, soweit sie überhaupt von den Medien erreicht werden.
Mein Interesse an diesen Fragen war immer schon vorhanden, denn die dahinterstehende gesellschaftliche Mechanik spielt eine zentrale Rolle bei den meisten Katastrophen, die sich Gesellschaften selber zufügen:
Warum kam es vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in einigen Gebieten in Europa zu einer auffälligen Anhäufung von Hexenverbrennungen? Wie konnte es im August 1914 zum plötzlichen Ausbruch von Kriegsbegeisterung in allen beteiligten europäischen Staaten kommen? Carl Zuckmayer beschreibt in seinen Memoiren, wie dieser soziale Bazillus ihn, der wenige Tage nach Kriegsausbruch aus Holland nach Deutschland zurückkehrte, gegen seinen Willen selbst ansteckte, so dass er sich als Kriegsfreiwilliger meldete.Welche soziale Lähmung in der russischen Gesellschaft war dafür verantwortlich, dass sie die unbeschreibliche Steigerung des stalinistischen Terrors ab Mitte der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts so widerstandslos hinnahm?Wie konnte es geschehen, dass nahezu alle deutschen Vereine in einer kollektiven Anpassungshandlung im Frühling 1933 ihre jüdischen Mitglieder ausschlossen – zu einer Zeit, da sich der Naziterror noch gar nicht richtig entfaltet hatte?Warum ließ die amerikanische Gesellschaft, die doch eigentlich demokratisch gefestigt war, von 1951 bis 1954 die inquisitorischen Aktivitäten des Komitees gegen unamerikanische Umtriebe, initiiert von Senator McCarthy, so widerstandslos über sich ergehen?Welche sozialen Mechanismen in vorher unauffälligen Gesellschaften fielen aus, damit es zum Völkermord in Kambodscha oder Ruanda kommen konnte?Das ist nur eine sehr subjektive Auswahl, aber sie zeigt, worum es mir geht. In meinen pessimistischen Momenten halte ich das tragende Gerüst unserer zivilen Gesellschaft für recht schwach und den Firnis der Zivilisation für ziemlich rissig. Der Mensch ist mit empfindlichen sozialen Antennen ausgestattet. Das hat neben der Intelligenz der Gattung den Aufstieg der Menschheit und ihre heutige Dominanz auf der Erde ermöglicht. Die soziale Intelligenz des Individuums ist aber an starke Überlebensinstinkte und einen dadurch bedingten großen Opportunismus gekoppelt. Das macht die Menschen offenbar immer wieder zu Opfern – häufig unbewusst, manchmal auch willfährig – sozialer Strömungen oder gesellschaftlicher und politischer Moden, mögen diese auch noch so verderblich sein. Antoine de Rivarol schrieb Ende des 18. Jahrhunderts mit Blick auf die Französische Revolution: »Trotz aller Bemühungen eines philosophischen Jahrhunderts werden die zivilisiertesten Reiche immer der Barbarei ebenso nahe sein wie das am sorgfältigsten polierte Eisen dem Rost. Nationen wie Metall glänzen nur an der Oberfläche.«3
Der individuelle Mut, im Widerspruch zu den wechselnden gesellschaftlichen Grundströmungen zu handeln, zu denken und zu leben, scheint mir in den letzten Jahrzehnten nicht stärker geworden zu sein, sondern hat, so fürchte ich, eher abgenommen. Keine Garantie gibt es, dass wir uns als Gesellschaft weiser und couragierter verhalten als 1914 oder 1933, sollten ähnliche Situationen in Zukunft auftreten.
Natürlich ist das Deutschland der Gegenwart eine funktionierende Demokratie, wie wir sie besser und stabiler niemals hatten, und dafür muss man dankbar sein. Es ist aber auch in vieler Hinsicht eine Schönwetterveranstaltung. Die prägende Kraft vorherrschender Meinungen verhindert, dass wichtige Fragen in ihrer ganzen Breite wahrgenommen und deshalb auch in der Breite analysiert und beantwortet werden. Grundsätzlich ist dies zwar in allen Gesellschaften so. Die spezifische Ausprägung der jeweiligen Gesellschaft macht aber das Meinungsklima mal offener und mal enger, mal zukunftstauglich und mal weniger zukunftsgeeignet.
Oft sind Staaten, Völker und Gesellschaften daran gescheitert, dass sie von außen militärisch besiegt und letztlich zerstört wurden. Ebenso oft aber gingen sie zugrunde, stagnierten oder verkümmerten, weil sie nicht offen genug waren, weil sie sich in ihrem selbstformulierten gesellschaftlichen Code verfingen.4 Solche Risiken bestehen zu jeder Zeit in jeder menschlichen Gesellschaft. Sie sind mal mehr und mal weniger ausgeprägt, und ihre Ausdrucksformen wechseln im Zeitablauf und von Gesellschaft zu Gesellschaft.
Zum Wesen eines gesellschaftlichen Codes scheint es zu gehören, dass er rational nicht hinterfragt wird, sondern verinnerlicht und emotional kollektiv verankert ist. Auch seine Verletzung wird oft nicht an rationalen Maßstäben gemessen, sondern emotional als Angriff auf das eigene Wertsystem wahrgenommen. Die dadurch ausgelöste Wut kann sich in modernen demokratischen Gesellschaften nicht mehr in staatlicher Unterdrückung, Lynchmorden oder Hexenverbrennungen äußern. Stattdessen gibt es Rufmord, Ignorieren und Totschweigen, üble Nachrede und den Versuch des öffentlichen Prangers.
Wer ungeliebte, emotional berührende Tatsachen ausspricht oder Zusammenhänge analysiert, die nicht ins herrschende »Weltbild« passen, wird dann zum »Provokateur« oder zum »Spalter«. Es sind dies übrigens Vokabeln, die man im 19. Jahrhundert einem »Nestbeschmutzer« wie Heinrich Heine oder in den letzten Jahren der Weimarer Republik den »vaterlandslosen Gesellen« der jüdisch dominierten linksliberalen Presse entgegenschmetterte. Salman Rushdie beobachtet eine weltweit wachsende Tendenz, dass Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler, die sich gegen eine herrschende Meinung oder religiöse Orthodoxie wenden, Opfer von persönlicher Diffamierung werden und als Volksverhetzer gelten. Er kritisiert: »Denjenigen, die zu anderen Zeiten für ihre Originalität oder Unabhängigkeit gepriesen worden waren, wirft man nun vor, sie brächten Unruhe in die Gesellschaft.«5
Zur Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter schreibt Bernhard Pörksen, es lasse sich
»eine Moralisierung aller Lebensbereiche beobachten, eine Neigung zum Tugendterror, die Maß und Mitte verloren hat. Wieso ist das so? Moralische Empörung suggeriert ein Ad-hoc-Verstehen, liefert die Möglichkeit, sich über den anderen zu erheben und im Moment der kollektiven Wut Gemeinschaft zu finden. Sie kommt dem allgemein menschlichen Bedürfnis nach Einfachheit, der Orientierung am Konkreten, Punktuellen und Personalisierbaren entgegen, bedient die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, dem Sofort-Urteil und der Instant-Entlarvung.«6
Pörksens Beobachtung passt tatsächlich bestens auf die Reaktion von Medien und Politik, als Ende August 2010 Deutschland schafft sich ab erschien.
Das menschliche Verhalten in sozialen Kontexten ist zwar ungeheuer vielfältig, aber nichts davon ist wirklich neu. Es lässt sich vielmehr zumeist erklären aus Konstanten der Conditio humana. Nassim Taleb schreibt in Antifragilität, für ihn seien als Gegenstand (für ein Buch) nur Ideen akzeptabel, die sich in ihm über einen langen Zeitraum ausgebildet hätten und die aus der Wirklichkeit kämen.7 Das ist auch meine Devise für dieses Buch.
Wie gehe ich weiter vor?
Kapitel 1 enthält, basierend auf meinen Erfahrungen, einige prinzipielle Betrachtungen zum Thema Meinungsfreiheit. Die beschriebenen Erlebnisse und Erfahrungen bewirkten nämlich, dass ich in den letzten drei Jahren über Mechanismen der Meinungsbildung und Grenzen der Meinungsfreiheit immer wieder nachdachte. Für mich brach dort eine Problematik auf, die viel weiter ging und auch grundsätzlicher war als nur die Diskussion um ein einzelnes Buch. Ich vermeinte, eine Verengung und Kartellierung der Meinungsbildung in Deutschland zu erkennen, die den Blick auf die Welt unzulässig und letztlich für den Einzelnen und die Gesellschaft nachteilig beschränkt.
Kapitel 2 untersucht die konkreten Erkenntnisse und Erfahrungen zur Bildung (und Manipulation) öffentlicher Meinung, die ich aus der Diskussion um Deutschland schafft sich ab gewann, gewissermaßen als Fallstudie. Die konkreten Mechanismen, die dabei zutage traten, hatten für mich einen hohen Erkenntniswert. Sie haben die Konzeption dieses Buches wesentlich geprägt. Der Leser verliert aber auch nicht den Faden der Argumentation, wenn er gleich von Kapitel 1 zu Kapitel 3 übergeht.
Kapitel 3 befasst sich mit einigen Ansatzpunkten, die Geschichte, Psychologie, Soziologie, Ökonomie, Philosophie und Politikwissenschaft zur Erklärung von gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozessen, von Meinungsfreiheit, aber auch von Meinungsherrschaft und Unterdrückung liefern können. Natürlich werde ich hier nicht die ganze europäische Ideengeschichte wiederholen. Ich greife vielmehr einiges heraus, was mir für meine Fragestellung nützlich erscheint.
In Kapitel 4 beschreibe ich den Zusammenhang zwischen Tugendterror und Sprache.
In Kapitel 5 analysiere ich beim Blick in die Geschichte einige historische Ausprägungen des Tugendterrors. Daran schließt sich ein Exkurs zu Fragen der Moral im Kontext von Politik und Gesellschaft an.
Kapitel 6 untersucht die Wirkung der von mir beobachteten Einengung des Meinungsklimas in Deutschland auf die Wahrnehmung wichtiger Gegenstände in Politik und Gesellschaft. Welche inneren Zusammenhänge lassen sich dabei herstellen? In nur leicht polemischer Überspitzung forme ich daraus eine deutsche Axiomatik8 des Tugendterrors. Ich formuliere vierzehn Felder des gesellschaftlichen und politischen Erkenntnisinteresses, auf denen dieser Tugendterror besonders wirksam ist. Auf jedes dieser Felder gehe ich in der Sache ein. Ich zeige, dass die Perspektive des Tugendterrors eine geradezu groteske Verzerrung der Wirklichkeit mit sich bringt. Das hat Folgen für Politik und Gesellschaft.
1
Was ist Meinungsfreiheit, und wie bestimmen sich ihre Grenzen?
Immanuel Kant bestimmt in seiner oft zitierten Schrift »Was ist Aufklärung?« diese als den »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, und er nennt diese Unmündigkeit »selbstverschuldet«, wenn ihre Ursache »nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen«.1 Dieser Halbsatz wird übrigens vergleichsweise selten zitiert. Er stellt nicht auf äußere Freiheiten, sondern auf den subjektiven Willen ab. Wo dieser fehlt, sitzt man im selbstgemachten geistigen Käfig. Alexander Gauland beklagt zwar ganz zu Recht, in Deutschland habe »sich ein Hang zur Intoleranz breitgemacht« mit der Tendenz, »die vom Mainstream abweichende Position ins moralische Aus zu drängen«.2 Dies geht aber nur dort, wo sich jemand aus Mangel an Mut und Entschlusskraft auch drängen lässt.
Meinungsfreiheit ist relativ
Rein formal werden die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland durch das Grundgesetz ausreichend bestimmt. Der Artikel 5 des Grundgesetzes hat aus der Urfassung bis heute unverändert überlebt und ist deshalb von jener schönen und schlichten Klarheit, die neuere Textpassagen, wie z.B. jene zur Schuldenbremse, leider nicht auszeichnet. Er lautet:
»Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
Kunst und Wissenschaft. Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.«
Doch so einfach ist es nicht. Die tatsächlich gelebte und praktizierte Meinungsfreiheit weist andere Grenzen auf als jene des Gesetzes. Diese Grenzen sind nicht formalisiert, aber doch deutlich enger. Sie ergeben sich aus informellen Regeln gesellschaftlicher Gruppen, aus spezifischen Bestimmungen staatlicher und privater Institutionen und aus den jeweils geltenden Grenzen von Anstand und Sitte. Sie sind letztlich Ausdruck eines komplexen gesellschaftlichen Codes. Dieser verändert sich im Zeitablauf und kann zum gleichen Zeitpunkt in derselben Gesellschaft für unterschiedliche Gruppen ganz unterschiedlich sein. Diese Codes unterliegen keinem allgemeinen Trend. Es kann sein, dass sich die Grenzen gesellschaftlich nicht sanktionierter Äußerungen auf bestimmten Gebieten verengen und gleichzeitig auf anderen Gebieten erweitern.3
So sind die Grenzen für Meinungsäußerungen und explizite Darstellungen bei sexuellen Themen heute wesentlich weiter gesteckt als noch vor vierzig Jahren. Aber ein verfehlter Scherz zur Nazi-Diktatur oder zu Frauenrechten kann im Gegensatz zur Zeit vor vierzig Jahren heute jemanden im öffentlichen Amt oder in einer anderen hervorgehobenen Position durchaus die Karriere kosten. Dagegen enden heute Karrieren nicht mehr wegen außerehelicher Affären oder einer bestimmten sexuellen Neigung.
Dieses Netz komplexer Regeln, das die Grenzen der tatsächlich ausübbaren Meinungsfreiheit bestimmt, ändert sich im Zeitablauf ständig. Es wird nicht gebildet durch gesellschaftliche Beschlüsse, sondern durch den impliziten Konsens meinungsbildender Gruppen, der bisweilen allerdings auch eine formale Ausprägung erfährt. Es ist das Wesen solcher vorgesetzlichen Grenzen der freien Meinungsäußerung, dass sie dem Einzelnen oft gar nicht bewusst sind. Er richtet sich mit seinen Äußerungen spontan an dem jeweils für ihn geltenden gesellschaftlichen Code aus.
Der Verlauf dieser Grenzen einer gesellschaftlich tolerierten Meinungsäußerung kann zur selben Zeit in derselben Gesellschaft für unterschiedliche Gruppen ganz unterschiedlich sein. Was in einer bestimmten Nische der Pop- und Jugendkultur an Äußerungen oder Verhaltensweisen toleriert oder sogar bejubelt wird, kann in einer anderen Gruppe oder einem anderen Kontext zur gesellschaftlichen Ächtung führen.
Die impliziten Grenzen freier Meinungsäußerung schwanken nicht nur im Zeitablauf oder weisen gruppenspezifische Unterschiede auf. Auch in westlichen Demokratien gibt es vielmehr themenbezogen deutliche Unterschiede von Staat zu Staat, von Nation zu Nation. Während z.B. in Schweden die Inanspruchnahme käuflicher sexueller Dienste verboten und auch entsprechend gesellschaftlich geächtet ist, hat es den Wahlchancen des italienischen Ministerpräsidenten in Italien lange Zeit nicht geschadet, dass seine privaten Partys auch von Prostituierten besucht werden. Erst als der Verdacht aufkam, einige von diesen seien minderjährig, bekam Berlusconi Probleme.
Äußerungen, die in einem Land als berechtigte sachliche Kritik völlig akzeptabel scheinen, solange sie belegbar sind, können in einem anderen Land schon deshalb kaum getan werden, weil sie Kritik enthalten und Kritik einen Gesichtsverlust des Kritisierten bedeutet. Die Bedeutung solcher Normen sah man an der zögerlichen Art, mit der in Japan im März 2011 in den ersten Tagen der Atomkatastrophe die Probleme kommuniziert wurden.
Das fein gesponnene und sich ständig verändernde Netz gesellschaftlicher Normen, die die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung begrenzen, kann sich bei manchen Themen verdichten bis zum gesellschaftlichen Tabu. Hier kann es sein, dass nicht nur bestimmte Meinungsäußerungen, sondern sogar bestimmte Fragen verboten sind und geächtet werden. Diesen Tabus folgt die Mehrheit der Menschen zumeist ganz unbewusst.
Der Historiker Volker Reinhardt meint dazu:
»Offenbar ist der Mensch so organisiert, dass er einem übergeordneten Rechtgläubigkeitsverband angehören will. Das müssen gar keine Religionen sein. Er möchte einer Gemeinschaft angehören, die die Welt richtig sieht. Dadurch wird er anfällig, Abweichler zu denunzieren.«4
Freiheit der Meinungsäußerung und Freiheit des Denkens sind miteinander untrennbar verwoben und wirken aufeinander ein. Das Denken des Menschen ist auf Mitteilung gerichtet. Wo ihn etwas interessiert, möchte er sich anderen mitteilen. Und auf Gebieten, wo Mitteilung nicht möglich ist, stellen die meisten Menschen auch das Denken ein. Die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Diktaturen richtet sich auf die Unterdrückung angeblich falschen Denkens mindestens genauso wie auf die Unterdrückung falscher Meinungen. Wo man nicht denkt, können auch keine Meinungen entstehen.
Wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Fortschritt ging immer damit Hand in Hand, dass in gewissem Umfang freies Denken möglich war. Selbst in autokratischen Regierungs- und Gesellschaftsformen kann es ja weite Bereiche geben, in denen der denkende Geist frei schweifen und sich auch mitteilen kann.
Gesellschaften, die ein Übermaß an Mitteilungs- und Denkverboten praktizieren, behindern ihre eigene Entwicklung. Häufig allerdings sind diese Verbote tief in den historischen, kulturellen und religiösen Traditionen dieser Gesellschaften angelegt. Dann sind sie ein nicht hinterfragter, integraler und selbstverständlicher Teil des gesellschaftlichen Seins und des Bewusstseins ihrer Menschen. Solche Gesellschaften sind sich ihrer eigenen Grenzen gar nicht bewusst und können diese folglich auch nicht überwinden. Das gilt für die heilige Kuh bei den Hindus genauso wie für die untergeordnete abhängige Rolle der Frau in den meisten islamischen Gesellschaften.
Der Aufstieg des westlichen Abendlandes wurde ermöglicht durch die Freiheit des Denkens und Forschens, die seit der frühen Renaissance auf allen Gebieten um sich griff. Die formale Garantie von Meinungsfreiheit im Rahmen der Gewährung bürgerlicher Freiheiten stand am Ende, nicht am Anfang dieses Prozesses. Zuerst kam die Inanspruchnahme von Meinungsfreiheit, dann ihre Kodifizierung im Gesetz.
Umgekehrt gilt auch: Wenn der implizite gesellschaftliche Konsens die Grenzen zur freien Meinungsäußerung verengt, dann verengt er gleichzeitig die Grenzen des Denkens, und dies wiederum beeinflusst Richtung und Inhalt der gesellschaftlichen Diskussion und der künftigen gesellschaftlichen Entwicklung.
Denken ist Macht, und wo um gesellschaftliche Macht gerungen wird, da wird gleichzeitig auch immer um den Umfang und das Ausmaß gesellschaftlicher Denkverbote gerungen. Diese wiederum werden durchgesetzt über die gesellschaftlichen Regeln zu den Grenzen der freien Meinungsäußerung. Solche Prozesse werden nicht planvoll gesteuert. Sie laufen weitgehend unbewusst ab, aber sie prägen das Verhalten aller Beteiligten.
Von gesellschaftlichen Einwirkungen auf ihre Meinung am unabhängigsten sind die Menschen stets dort, wo sie eine eigene fachliche Kompetenz haben, das heißt im Kernbereich ihrer Berufsausübung. Das gilt für den Tischler genauso wie für den Arzt oder den Physiker. Je weniger die Menschen dagegen zu einer Sache ein eigenes Urteil haben, umso mehr verlassen sie sich auf jene, die aus ihrer Sicht Experten für die jeweiligen Fragen sind. Da die meisten normalen Menschen lieber im Konsens als im Dissens leben und zudem sozial möglichst wenig anecken möchten, neigen sie dazu, auf allen Gebieten, auf denen sie keine Experten sind, jene Meinungen zu teilen, die sie als Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft oder in der eigenen Bezugsgruppe wahrnehmen. So entstehen Moden des Denkens genauso wie Moden der Kleidung.
Insgesamt gibt es in der deutschen Bevölkerung nach den Erkenntnissen aus Meinungsumfragen
»ein bemerkenswert großes Maß an Intoleranz gegenüber Meinungen…, die den eigenen Vorstellungen von einer moralisch angemessenen Haltung widersprechen. Bei zehn der insgesamt 21 zur Auswahl vorgelegten Aussagen sind erhebliche Teile von mindestens einem Drittel der Bevölkerung der Meinung, man müsse sie verbieten. Der G bedanke, dass das im Grundgesetz verankerte Prinzip der Meinungsfreiheit auch für abseitige Meinungen, für Tabubrüche und moralisch vielleicht schwer erträgliche Positionen gilt, liegt vielen Menschen offensichtlich fern.«5
Zur Rolle der Medien
Bei einer Reihe von Themen meinen die Befragten der Allensbach-Umfrage zwar, hier könne man sich den Mund verbrennen. Doch ist das Gefühl, dies sei so, »wesentlich ausgeprägter als die tatsächliche gesellschaftliche Intoleranz. Dies ist besonders bei Aussagen der Fall, die das Thema Einwanderung oder auch die Geschlechterrollen betreffen.« Als Erklärung für die »Diskrepanz zwischen der tatsächlichen und gefühlten Intoleranz« bleibt aus der Sicht der Meinungsforscher »letztlich nur die Berichterstattung der Medien übrig«.6
Gesellschaftliche Diskussionen werden eben nicht von der breiten Masse berufstätiger Menschen bestimmt, egal ob es sich um einen Bauarbeiter, einen Manager oder eine Grundschullehrerin handelt. Gesellschaftliche Diskussionen werden bestimmt von der Klasse der Sinnvermittler. Dies waren in früheren Jahrhunderten die Theologen, dann die Philosophen und Dichter, später auch die Presse. Heute sind es vor allem die Vertreter der Medien, angereichert durch den ein oder anderen medientauglichen Schriftsteller oder Wissenschaftler.
Der größte Teil der im Medienbereich Tätigen hat Politikwissenschaft, Germanistik oder Geschichte studiert. Soweit sie Experten sind, sind sie Experten für Kritik und Sinngebung, nicht aber für Problemlösungen in der sozialen und physischen Wirklichkeit. Bedingt durch Ausbildung und Tätigkeit, haben Mitglieder dieser Gruppe oft auch keinen ausgeprägten Sinn für Zahlen, Proportionen oder die Widerspenstigkeit realer Sachzusammenhänge. Ihre Aufgabe sehen die medialen Sinnvermittler in der wertenden Kommentierung des Weltgeschehens und des Geisteslebens. Bei der Abgabe ihrer Wertungen und der Tendenz ihrer Analysen folgen sie oft herrschenden Moden und unterliegen dabei auch einem gewissen Herdentrieb. Es gibt eine Hackordnung unter den Protagonisten und eine Rangordnung der vertretenen Meinungen und der Werte. Diese wechselt mit der Zusammensetzung der Gruppe und den Moden des Zeitgeistes.7
Die sinnstiftende Medienklasse hat als meinungsbildendes Kollektiv Macht und übt sie auch gerne aus: Dort, wo die Bürger nicht beruflich bedingt selbst Experten sind (oder eine hohe eigene emotionale Beteiligung haben bzw. einen großen Problemdruck spüren), folgen sie nämlich unabhängig von ihrem Bildungsgrad zum größten Teil den Meinungen, die ihnen in den Medien angeboten werden.
Wenn sich bei einem Thema die öffentliche Meinung anders entwickelt, als sich das in den Medien vorherrschende Meinungsbild das vorstellt, so führt das dort oft nur zu kurzfristiger Verunsicherung, ansonsten aber zur Tendenz, die öffentliche Meinung als unaufgeklärt an den Pranger zu stellen und gegen »notorische Gleichschaltungsparanoiker« zu polemisieren, denn natürlich halten sich die Medien für aufgeklärter als das Volk.8
Das menschliche Hirn speichert Informationen umso nachhaltiger und zuverlässiger ab, je öfter diese wiederholt werden. Es vergisst allerdings nach einiger Zeit ihre Quelle und behält insbesondere nicht, ob diese Quelle vertrauenswürdig war oder nicht.9 Das heißt: In der menschlichen Erinnerung schlägt die häufig wiederholte falsche oder unzuverlässige Information stets die seltener erhaltene richtige Information. Falsche Berichterstattungen über einen Sachverhalt werden also, wenn sie an Zahl deutlich überwiegen, in der Erinnerung der Menschen die richtige Berichterstattung verdrängen. Wenn und insoweit Medien also Politik machen wollen, ist es völlig rational, falsche Tatsachen unablässig zu wiederholen, wenn sie dem angestrebten Zweck dienen. Sie werden in der Erinnerung das Richtige überlagern und verdrängen.
Von daher ist es nachvollziehbar, wenn auch verwerflich, dass bestimmte Medien krasse Falschbehauptungen über meine Thesen ständig wiederholten. Denn nicht die Wahrheit wird am Ende gewinnen, sondern die hochfrequente Information, auch wenn sie falsch ist. Darin liegen die Versuchung – und der Fluch – jedweder Propaganda.
Medien und Politik
Trotz allen Streites entlang der Parteigrenzen und um Einzelthemen sind Politikerklasse und Medienklasse stark aufeinander bezogen. Erstere brauchen die Letztere, weil die mediale Zustimmung weitgehend über den Erfolg des Politikers und seine Chancen zum Aufstieg und zur Wiederwahl bestimmt. Letztere brauchen die Erstere, weil die Kommentierung von Politik gleichzeitig deren Beeinflussung ermöglicht und damit Macht gibt.10
Medien und Politik beteiligen sich beide an dem Spiel, ungeliebte störende Tatsachen in bloße Meinungen und – umgekehrt – erwünschte Meinungen in angebliche Tatsachen umzuwandeln. Wenn aber jede Tatsache zur Meinung und jede Meinung zur Tatsache gemacht werden kann, wird alles möglich.11
Volker Zastrow schreibt dazu: »Der ultimative Sieg im politischen Meinungskampf ist, Menschen dafür blind zu machen, dass es sich bei der Entscheidung, die man durchsetzen will, überhaupt um eine handelt.« Stattdessen geht es um »Sachzwänge« und Entscheidungen, die »alternativlos« sind. Dabei hilft, dass »die Deutungsmuster aus Politik und politischer Publizistik im Wesentlichen identisch sind. Die Übereinstimmung hat, wenn nicht alles täuscht, in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen.«12
Die Präferenzen des Bürgers bleiben dabei leicht auf der Strecke. Die Medienklasse glaubt mehrheitlich, sie sei aufgeklärter und politisch reifer als der gemeine Bürger, und der typische Politiker glaubt dies im Grunde auch. Darum war das erfolgreiche Volksbegehren gegen die Schulreform in Hamburg so eine Überraschung. Auch die Berliner Landespolitik kam ziemlich durcheinander, als die mit einer Verfassungsänderung 2006 neu eingeführten Möglichkeiten zum Volksbegehren und Volksentscheid tatsächlich genutzt und auch gegen die Regierungspolitik eingesetzt wurden. In der Schweiz hat es gegen die Mehrheit der Medien und der Politik zwei erfolgreiche Volksabstimmungen zum Minarettverbot (2009) und zur sogenannten Ausschaffungsinitiative für kriminelle Ausländer (2010) gegeben. Nach der vorherigen Medienberichterstattung hätte es diese Abstimmungsergebnisse eigentlich gar nicht geben dürfen, auch die Umfragen gaben ein solches Ergebnis nicht her.
Die Allensbach-Chefin Renate Köcher stellt etwa resigniert fest, dass die politische Meinungsforschung »zu einseitig unter dem Aspekt der Popularität von Personen und Parteien gesehen und genutzt« werde. Dagegen nutze die Politik die Demoskopie kaum dazu, die Interessen und Meinungen der Bevölkerung besser zu verstehen und notwendige Reformen besser vorzubereiten.13
Bei meinem Interview in Lettre International im September 2009 und der Veröffentlichung meines Buches Deutschland schafft sich ab im August 2010 gab es beide Male eine Entwicklung, mit der weder die Politikerklasse noch die Medienklasse gerechnet hatten. In beiden Fällen waren die negativen Voraburteile aus politischem Munde und in den Kommentarspalten praktisch bereits gesprochen oder gedruckt, ehe die Druckerschwärze der Zeitschrift bzw. des Buches überhaupt trocken war. Und beide Male gab es einen völlig unerwarteten anhaltenden Mediensturm bei Lesern und Zuschauern zugunsten meiner Aussagen. Das führte dazu, dass Politik und Medien ihre Positionen teilweise korrigierten. An dieser Stelle geht es nicht um die Frage, ob ich Recht oder Unrecht hatte, sondern allein darum, dass in diesem Ausnahmefall die weitgehende einvernehmliche Ablehnung meiner Analysen und Aussagen durch Politik und Medien letztlich bei den meisten Menschen keinen durchschlagenden Erfolg hatte.
So etwas geschieht immer dann, wenn Tabus der politischen Diskussion, die häufig unter dem Begriff der »politischen Korrektheit« subsumiert werden, verhindern, dass eine Frage, die viele Bürger intensiv bewegt, tatsächlich auch politisch diskutiert wird. Das führt zu einem Stau in den Unterströmungen des nicht sichtbaren politischen Diskurses, der sich Bahn brechen kann, wenn das tabuisierte Thema doch sichtbar wird.
Eine Tabuisierung von bestimmten Fragen oder Antworten erhöht auf Dauer die Distanz und das Misstrauen zwischen der Politik und den Bürgern. Ähnliches kann aber auch geschehen, wenn sich die Präferenzen der Bürger allmählich ändern und die Politik davon nichts mitbekommt. Letzteres war der Fall bei der Auseinandersetzung um »Stuttgart 21« – als sich Bürger letztlich mit Erfolg gegen die Meinung von Politik und Medien zur Geltung brachten.
Den Frust von Politik und Medien über unerwünschte Reaktionen aus der Bevölkerung brachte der Spiegel-Redakteur Dirk Kurbjuweit im Herbst 2010 auf einen Begriff: Er erfand den »Wutbürger«. Die Befürworter meines Buches wurden auch deshalb zu den Wutbürgern gezählt, weil sich einige von ihnen bei einer Lesung in München zu Missfallenskundgebungen gegen einen Journalisten, der mich kritisiert hatte, hinreißen ließen. Darüber erregte sich die Süddeutsche Zeitung sehr und sah flugs Gefahren für die Demokratie.
Der Wutbürger also ist ein Bürger, der sich aus egoistischen Antrieben oder allgemeinem Frust gegen die Beschlüsse der Politik und die Meinungsbildung der Medien wendet. Er ist, folgt man der Beschreibung seines Erfinders, meist arriviert, häufig älter, wenig aufgeklärt und jedenfalls ein barbarischer Rückschritt gegenüber einer Zeit, als die Medien und die Politik die öffentlichen Angelegenheiten unter sich ausmachten.
Mit dieser wenig wohlwollenden Interpretation der Kritik am Wutbürger habe ich natürlich überspitzt, aber das fördert vielleicht den Erkenntnisgewinn. Im Begriff des »Wutbürgers« ist bereits die Diffamierungsabsicht erkennbar: Wer die Wut hat, hat sich nicht unter Kontrolle, dessen Rationalität ist eingeschränkt, möglicherweise ist er für seine Handlungen auch nicht voll verantwortlich, und er ist auf seine Wut reduziert. Von solcher Art sind eben jene Bürger, die die von Politik und Medien gemeinsam ausgestellten Wechsel nicht einfach querschreiben.
Die bis hierher beschriebenen Mechaniken wirken grundsätzlich in jeder demokratisch verfassten Gesellschaft, so dass die tatsächlich ausgeübte und ausübbare Meinungsfreiheit immer nur eine Teilmenge der gesetzlich möglichen Meinungsfreiheit ist. Hier findet subtile soziale Kontrolle statt, die in einer freiheitlichen Gesellschaft keineswegs nur negativ zu bewerten ist. Der einzelne Bürger beobachtet mit feinen Antennen, »ob er mit seiner Meinung gesellschaftlich akzeptiert ist oder nicht, und richtet sein Handeln danach aus«. Eine wesentliche Informationsquelle bilden dabei die Medien. »Senden sie andere Signale aus als die Bevölkerung selbst, kann es passieren, dass sich bestimmte Gruppen isoliert fühlen, obwohl sie es gar nicht sind.«14
Der Unterschied zwischen der gesellschaftlich akzeptierten und der rechtlich zulässigen Ausübung von Meinungsfreiheit ist ein in seinen Grenzen unscharfer und selten genau bestimmbarer Raum. Wer sich mit seinen Meinungsäußerungen in diesem Raum bewegt, hat zwar keine rechtlichen Sanktionen zu gewärtigen, er muss aber mit gesellschaftlichen Sanktionen rechnen. Dazu gehört alles von moralischer Verurteilung und gesellschaftlicher Ächtung bis hin zu übler Nachrede, persönlicher Diffamierung, Lächerlichmachen der Person, Verleumdung und Mobbing.
Wegen des wahrgenommenen Tabubruchs, der in einer Meinungsäußerung außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses liegt, sehen sich viele Kritiker und insbesondere deren Mitläufer auch der Notwendigkeit enthoben, sich mit den Inhalten der kritisierten Äußerung seriös auseinanderzusetzen oder sich auch nur der Anstrengung zu unterziehen, diese geistig aufzunehmen und inhaltlich zu verstehen.
So wird aus Toleranz leicht Intoleranz: Wer seine Kleinkinder nicht schon mit zwölf Monaten bei der Krippe abgeben will, bezieht eine »Herdprämie«, wer die Ehe für eine Sache zwischen Mann und Frau hält, ist für Diskriminierung und Schwulenfeindlichkeit. Wer die katholische Position zur Homosexualität darlegt, wird in Talkshows ausgegrenzt.15 Die Einforderung von Toleranz schlägt auf diese Weise leicht um in Intoleranz gegenüber jenen, die zwar abweichende Meinungen tolerieren, sie aber deshalb noch nicht als gleichwertig akzeptieren. Zum elementaren Inhalt eines jeden religiösen Glaubens gehört nämlich, dass er Aussagen für unwahr und moralische Werte für falsch hält, die dem eigenen Glauben widersprechen.16 Darum wird das Verhältnis zwischen Religion und offener Gesellschaft stets widersprüchlich und konfliktreich bleiben. Wäre dem nicht so, so handelte es sich entweder nicht um Religion oder nicht um eine offene Gesellschaft.
Bei der Sanktionierung einer gesellschaftlich nicht akzeptierten, obzwar legalen, Meinungsäußerung herrschen die emotionalen Gesetze einer vormodernen Stammesgesellschaft. Wer sich durch falsche Meinungen zum Außenseiter des Stammes machte, der wurde verstoßen und auf unterschiedliche Weise malträtiert, oft auch getötet. Die bereits etwas aufgeklärten antiken Athener hielten für schwere Fälle gesellschaftlich unakzeptabler Meinungen den bereits erwähnten Schierlingsbecher bereit, für leichtere Fälle gab es die Verbannung.
An die Stelle des Stammes tritt in der modernen Gesellschaft eine virtuelle Werte- oder Gesinnungsgemeinschaft. Diese umfasst in den meisten Fragen stets nur Teile der Gesellschaft. Es ist das Kennzeichen der modernen Gesellschaft, dass in ihr ganz unterschiedliche Werte- und Gesinnungsgemeinschaften nebeneinander existieren, die sich teilweise überlappen, teilweise ignorieren, teilweise ständig aneinander reiben. Derselbe Mensch kann in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen oder unterschiedlichen Teilaspekten seiner Persönlichkeit ganz unterschiedlichen Werte- und Gesinnungsgemeinschaften angehören.
Die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher Werte- und Gesinnungsgemeinschaften produziert innere Widersprüche in großer Zahl. Darum hat das Geistesleben in einer liberalen, offenen Gesellschaft immer auch etwas Chaotisches, und das ist gut so. Die Formen der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Werte- und Gesinnungsgemeinschaften sind zu keiner Zeit besonders vornehm gewesen, da sie aus den beschriebenen Gründen vorwiegend gefühlsgesteuert sind und ihren emotionalen Antrieb aus sehr ursprünglichen Schichten tief im menschlichen Stammhirn gewinnen.
Besonders heftig wird die emotionale Abstoßung dort, wo nicht ohne weiteres zu widerlegende Fakten oder einfache logische Überlegungen wesentliche Inhalte einer Werte- und Gesinnungsgemeinschaft in Frage stellen können. Die heilige Inquisition hatte für solche Fälle den Scheiterhaufen, die Sowjetunion nahm in den siebziger Jahren Rückgriff auf die Irrenhäuser, nachdem Massenerschießungen oder Lagerhaft mittlerweile als politisch inkorrekt galten.
Ich empfand es in diesem Zusammenhang als eine besonders schöne Pointe, dass der Feuilletonchef der Frankfurter Rundschau, Arno Widmann, Anfang Oktober 2009 in einem vor Wut schäumenden Kommentar zu meinem Interview in der Zeitschrift Lettre International erklärte, Thilo Sarrazins Ansichten könnten gar nicht ernsthaft diskutiert werden: »Der Mann ist verrückt, und sonst gar nichts.«17 Er war sich der Parallele zur späten Sowjetunion offenbar nicht bewusst, dort erklärte man gerne missliebige Kritiker für verrückt und steckte sie folgerichtig in die Anstalt.
Die Schriftstellerin Monika Maron, die noch die DDR erlitten hatte, hat ein Vierteljahrhundert später erneut den Eindruck, dass die »deutsche Öffentlichkeit… an Denk- und Sprechverboten« krankt:
»Wer an der Klimapolitik zweifelt, wird schnell zum Klimaleugner. Wer diese Euro-Rettung und Europapolitik nicht will, gilt als europafeindlich oder nationalistisch, auf jeden Fall als populistisch. Wer den Islam in seiner derzeitigen Verfassung für nicht kompatibel mit einer offenen, demokratischen Gesellschaft hält, wird als islamophob oder sogar fremdenfeindlich diffamiert. Wir leben in einer freien Gesellschaft mit verfassungsrechtlich geschützter Meinungsfreiheit, und ich verstehe nicht, wie ein solches Meinungsdiktat, das ja durch die Bevölkerungsmehrheit nicht gedeckt ist, überhaupt zustande kommen kann.«18
Es bestimmt eben nicht die Bevölkerungsmehrheit, sondern die Sinn vermittelnde Medienklasse weitgehend darüber, wie weit oder eng der Korridor gesellschaftlich zulässiger Meinungsäußerungen ist.19 Allerdings wirkt auch der Bürger mit, je nachdem, wie intensiv er solchen Vorgaben Widerstand leistet oder eben nicht. Darüber wird noch zu sprechen sein. Dass der Widerstand gegenwärtig wächst und die Medienklasse darüber unzufrieden ist, haben wir an der Diffamierungsvokabel »Wutbürger« gesehen.
Das beunruhigt die Medien. Der Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo beklagte in einem Gespräch mit dem FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, dass er »in den deutschen Medien seit einiger Zeit einen besorgniserregenden Hang zum Gleichklang« beobachte. Der komme »aus unserer eigenen Mitte, er geht von den Journalisten, Lesern und Zuschauern aus«. Etwas später lobte er dann, dass die FAZ den Abdruck des Israel-Gedichts von Günter Grass abgelehnt habe, und kritisierte, dass die FAZ Sarrazin so viel Raum gegeben habe. Schirrmacher verteidigte dies etwas lahm mit dem Hinweis auf Meinungsunterschiede zwischen Feuilleton und Politik. Die implizite Komik dieser Debatte schien keinem von beiden aufzugehen. Schließlich kam heraus, was sie beide bedrückte: Der Gegenwind bei den Lesern und aus dem Internet hatte ihre Freiheit beschränkt, im Fall Sarrazin einen ganz harten Kurs zu fahren, und diese Einmischung von außen sahen sie auch bei anderen Themen.20 Was Giovanni di Lorenzo einen »besorgniserregenden Hang zum Gleichklang« nannte, war tatsächlich die in der Bevölkerung wachsende Gegenwehr gegen Meinungsvorgaben aus den Leitmedien. Darin sahen die beiden Diskutanten eine Bedrohung der Medienmacht. In der Ausgabe davor hatte die Zeit gezeigt, wie sie gerne Einfluss nimmt. Ein Interview mit mir wurde wie folgt angekündigt:
»Was soll das, Herr Sarrazin? Nach seinem umstrittenen Buch ›Deutschland schafft sich ab‹ hat Thilo Sarrazin jetzt eins über die Währung geschrieben: ›Europa braucht den Euro nicht. Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise geführt hat.‹ Will der Mann schon wieder zündeln?«21
Günther von Lojewski beschreibt, wie sich das Verständnis in den Medien in den letzten Jahrzehnten immer weiter von der möglichst objektiven Berichterstattung zum Versuch der parteilichen Einflussnahme verschoben hat. Er spricht vom »Machtanspruch der Medienmacher« und fragt: »Diktieren wir etwa nicht der Politik die Agenda? Kommt uns etwa nicht über die veröffentlichte Meinung die Meinungsführerschaft im Lande zu?« Er fürchtet, Politik verenge sich »zusehends zu einem Wettbewerb um die veröffentlichte Meinung«, wobei die Medien als »Kontrolleure selbst von niemandem mandatiert sind«.22 Wer wie Günther von Lojewski fünfzig Jahre in den Medien an meist leitender Stelle tätig war, sollte es eigentlich wissen.
Die schrecklichen Verirrungen des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Nationalsozialismus, haben in Deutschland besonders große mentale Verwüstungen angerichtet. Die Entwicklung in Deutschland war aber auch nur Teil eines allgemeinen Trends, der hier besonders ausgeprägt war. Die Verunsicherung des Bürgertums und der Wunsch nach einer heilenden Utopie führten dazu, dass antiautoritäres, linksliberales und teilweise auch marxistisches, in jedem Falle aber antibürgerliches Gedankengut die Werte und Gesinnungen in der Medienklasse weitaus stärker prägte als in der Gesellschaft insgesamt.
Der Begriff der »Political Correctness«
Daraus entstand ein recht hermetischer Code des Guten, Wahren und Korrekten, der große Teile der Medienklasse dominiert. Die Kritik an diesem Code kommt im Begriff der »Political Correctness« zum Ausdruck. Die militanteren Vertreter der Medienklasse setzen ihren Begriff des politisch Korrekten mit den Grenzen des Anstands gleich. Wer sich ihren Wertungen nicht fügt, hat die Grenzen des Anstands eben verletzt und ist schon aus diesem Grund seriöser Auseinandersetzung nicht wert. So verfährt z.B. Patrick Bahners in seinem Buch Die Panikmacher bei seiner Kritik an den Islamkritikern.
Jacques Schuster sieht in den deutschen Debatten zu Themen wie Beschneidung, Sexismus, Annette Schavans Doktorarbeit oder Rassismus eine spezifisch deutsche Neigung zum Furor und zur Dünkelhaftigkeit und zitiert Elias Canetti:
»Das nationale Gefühl der Niederländer symbolisierten die Deiche, das der Briten verkörpere das Meer. Für die Deutschen aber stünde der Wald: ›Das Rigide und Parallele der aufrecht stehenden Bäume‹ stehe für die deutsche Art zu denken.«23
Nationale Eigenheiten ändern aber nichts daran, dass »Political Correctness« zu einem transnationalen Phänomen des Abendlandes geworden ist, welches zumindest in Europa eher von der linken Ecke des politischen Meinungsspektrums geprägt wird.
Die verstorbene italienische Journalistin Oriana Fallaci nannte in ihrer Streitschrift die Vertreter der politischen Korrektheit in den Medien angesichts ihrer ausdauernden Gesänge »die Zikaden«, »diese Insekten, bei denen an die Stelle der marxistischen Ideologie die Mode der politischen Korrektheit getreten ist«, die »Mode oder wohl eher die Demagogie, die im Namen der Gleichheit (sic!) Leistung und Erfolg, Werte und Wettbewerb negiert, die eine Mozart-Symphonie und eine Monstrosität namens Rap oder einen Renaissancepalast oder ein Zelt in der Wüste auf ein und derselben Ebene ansiedelt.«24 Man muss den polemischen Impuls von Oriana Fallaci nicht teilen, um den Kern ihrer Kritik zu verstehen.
Regeln der politischen Korrektheit haben einen gleitenden Übergang zu Regeln des Anstands und des gesellschaftlich akzeptierten Benehmens. In diesem Sinne gab es sie zu allen Zeiten.
Die heutige Tradition der politischen Korrektheit wurde in den achtziger Jahren in den USA geprägt. Auch die Namensgebung stammt von dort. Die bevormundende Tendenz zur politischen Korrektheit ist im linken politischen Spektrum zwar besonders stark verbreitet, aber mindestens in den USA hat auch »die Rechte ihre eigene Form von PC – patriotische Korrektheit, wenn man so will, die ganz genauso auf die Verschleierung unschöner Wahrheiten abzielt«.25 Bei der Diskussion über politische Korrektheit dürfen zwei Dinge nicht verwechselt werden:
Zunächst ist politische Korrektheit ein Strukturprinzip. Als solches regelt es mit impliziter oder expliziter Verbindlichkeit den Kreis des Sagbaren und die dabei zu wählende Ausdrucksweise. Das kann zudem nach Situationen, sozialen Gruppen, Altersklassen etc. variieren. Das Strukturprinzip als solches ist unabhängig von Inhalten. Die Intensität der Vorgaben politischer Korrektheit kann unabhängig von ihren Inhalten variieren.Sodann versteht man unter den Regeln der politischen Korrektheit einen konkreten, in Zeit und Raum auf eine bestimmte Gesellschaft bezogenen Satz von Regeln über das, was man sagen oder nicht sagen soll, oder wie man es sagen muss.Es ist wichtig, beide Ebenen auseinanderzuhalten. Die Klage über »politische Korrektheit« ist in den letzten Jahren zu einem Kampfbegriff geworden, dessen Aussagekraft durch seine inflationäre Verwendung nicht gewonnen hat. Dabei ging vor allem der erwähnte Doppelcharakter unter:
Einerseits die Vorprägung und Einengung des Sagbaren und Denkbaren an und für sich – dies kann bis zur Einteilung in zulässige und unzulässige Gefühle gehen – und die Intensität der dabei direkt oder indirekt ausgeübten Zensur.Zum anderen der spezifische Kanon von Denkverboten, Sprachregelungen und Verhaltensvorschriften, der in einer konkreten historischen Situation – bezogen auf eine bestimmte Gesellschaft oder eine bestimmte soziale Gruppe in dieser Gesellschaft – zur Anwendung kommt.Zur aktuellen Axiomatik des Tugendterrors in Deutschland
Zu Beginn des Kapitels 2 beschreibe ich die Tabus, die ich bei Fragestellung und Analyse in Deutschland schafft sich ab offenbar verletzt hatte:
Gruppenbezogene UnterschiedeEinfluss der Religion auf die IntegrationErblichkeit von menschlichen EigenschaftenFolgen unterschiedlicher Geburtenraten von sozialen GruppenCharakter von Völkern und GesellschaftenGleichheitNeidSucht man nach der überwölbenden Norm, die hinter diesen Tabus steht, so stößt man auf das Gleichheitspostulat. Nicht im Sinne einer Gleichheit vor dem Gesetz, auch nicht im Sinne von Chancengleichheit, auch nicht im Sinne von Gleichwertigkeit.
Es geht vielmehr um eine Einstellung, die am liebsten alle Unterschiede zwischen Menschen, Religionen und sozialen Gruppen grundsätzlich verneinen will. Wo die Verneinung solcher Unterschiede schlechterdings nicht möglich ist, sollen die Unterschiede zumindest unter keinen Umständen mit wertenden Attributen versehen werden. Moralisch ganz unzulässig ist es in dieser Perspektive, Unterschiede in der Entwicklung von Gesellschaften und Individuen, insbesondere Unterschiede im Bildungserfolg und im wirtschaftlichen Erfolg mit den Eigenschaften von Gruppen und Individuen in Verbindung zu bringen, egal ob diese angeboren oder kulturell erworben sind.
Nach dieser Ideologie ist der Mensch wie eine »leere Schiefertafel«,die von der Erziehung und den sozialen Verhältnissen mehr oder wenig beliebig beschrieben werden kann. Nachhaltige kulturelle Einflüsse, die biologisch geprägten Elemente der menschlichen Natur, der Einfluss der natürlichen Evolution und die Rolle der Genetik werden in dieser Sichtweise gänzlich verneint oder so weit als möglich ins Unbedeutende und Äußerliche verdrängt. Der amerikanische Psychologe Steven Pinker widmete dieser Ideologie der »leeren Schiefertafel« (blank slate) ein ganzes Buch und zeigte ihre grundsätzlichen Blindheiten und Irrtümer auf, die in krassem Widerspruch zu den immer weiter wachsenden gegenteiligen Erkenntnissen aus Psychologie, Biologie und Genetik stehen.26
In der Gleichheitsideologie, die im Bild der leeren Schiefertafel zum Ausdruck kommt, ist die Entwicklung von Unterschieden zwischen Menschen stets ein Ausdruck mangelhafter sozialer Gerechtigkeit, also eine moralische Frage. Alexis de Tocqueville, ein Skeptiker der Gleichheitsideologie, schrieb dazu 1840 in schöner Ambivalenz: »Die Gleichheit ist zwar vielleicht weniger erhaben; sie ist aber gerechter, und ihre Gerechtigkeit macht ihre Schönheit und Größe aus.«27
Alles, was Ungleichheit befördert oder auch nur einer vorhandenen Ungleichheit analytischen Ausdruck verleiht, ist unmoralisch. Alle Ungleichheit bewirkenden Kräfte sind böse, alles, was Gleichheit bewirkt, ist gut. Der Geschäftsführer des katholischen Hilfswerks Misereor, Pirmin Spiegel, würdigt im Interview nicht etwa, dass heute die Welt dreimal so viel Menschen ernährt wie bei Gründung des Hilfswerks und dass der Anteil der absolut Armen stetig sinkt. Er sieht vielmehr die »Ursachen von Hunger und Krankheit in der Welt« in ungerechter Verteilung und einem falschen Wachstumsmodell.28
Das ist der Kern des Tugendterrors: Die Ideologie (oder Religion) der Gleichheit erklärt alle sich manifestierenden Unterschiede in den Leistungen und im materiellen Erfolg von Individuen und Gruppen zum Ausfluss von Ungerechtigkeit, letztlich zum Ergebnis des Bösen, das in dieser Welt wirkt: Das Böse bewirkt, vergrößert, erklärt und rechtfertigt Ungleichheit. Das Gute kämpft gegen das Böse und damit gegen Ungleichheit in jeder Form.
Dahinter steht zunächst ein verinnerlichter und unreflektierter religiöser Impuls. Gleichzeitig handelt es sich aber auch um eine Frage der gesellschaftlichen Definitionsmacht, denn zu allen Zeiten haben sich religiöse Fragen mit Machtfragen verbunden. Gegen diese Art von säkularer, unbewusster Religion brauchen wir eine neue Art von Religionsfreiheit.
Wo trotz der neuen Gleichheits-Religion Unterschiede partout nicht geleugnet werden können, dürfen sie nach Meinung der Gläubigen keinesfalls mit Zuschreibungen versehen werden, die man als wertend verstehen könnte. Dabei gilt häufig schon die konkrete Beschreibung eines Sachverhalts als unzulässige Wertung und wird deshalb gern umgangen.29