Der Teufel von Stockenfels - Rolf Stemmle - E-Book

Der Teufel von Stockenfels E-Book

Rolf Stemmle

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Beschreibung

Wirklichkeit? Oder Sagenwelt? Ein schauriger Psychothriller Er hätte nicht hierher kommen sollen, in die Nähe dieser verruchten Burg. Anton braucht eine Auszeit. Der Stress an der Uni und der Konkurrenzkampf mit einem Kollegen haben ihn ausgelaugt. Er nimmt Quartier in einer Pension in einer abgeschiedenen Gegend. Hier hofft er auf Entspannung. Doch die Schwärmerei für eine undurchsichtige Dorfwirtin lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Durch sie lernt er auch die Sagen kennen, die über eine nahegelegene Burgruine erzählt werden. Zunächst hält er sie für alberne Geschichten. Doch er verstrickt sich in sie und merkt es viel zu spät. Messerscharf zeichnet der Autor in diesem Psychothriller die Lebenswelt seines Protagonisten. In einem atemlosen Wettlauf zwischen Wirklichkeit und Selbsttäuschung verwirrt sie sich unheilvoll mit der Sagenwelt der berühmt-berüchtigten Burg Stockenfels, gelegen in der bayerischen Oberpfalz. Es beginnt eine spannende und schaurige Jagd am Rande des Abgrunds. www.rolf-stemmle.de

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Über den Autor

1.

München. Von dort aus über die A9 und die A93 nach Regensburg. An Regensburg vorbei bis zur Ausfahrt Teublitz. Anton bog nach rechts in die Landstraße Richtung Bruck. „Bis zum Schild Kuchenpfalter 1 km“, hatte Markus gesagt. „Du musst durch ein Waldstück und über eine kleine Brücke, über den Kuchenpfalter Bach, dann siehst du schon das dunkelgrüne Haus. Das hebt sich kaum ab vom Wald dahinter.“

Antons Sohn Markus hatte hier mit seiner Frau und den Kindern ein paar Urlaubstage verbracht. Die Pension sei, so Markus, ein idealer Ausgangspunkt für Wanderungen und Ausflüge, und sie böte das, was Anton jetzt vordringlich brauche: Ruhe.

Eine gute Wahl, dachte Anton, als er Blicke durch die Autofenster warf. Die Gegend war dünn besiedelt, dunkle Waldflächen zergliederten die Landschaft und schufen damit abgeschlossene Welten. Durch die Felder schlängelten sich schmale Wege, nur wenige davon waren asphaltiert. Hier und da saßen Krähen. Auch sie betrachtete Anton als Zeichen für Abgeschiedenheit.

Auf zwei Dinge konnte Anton dennoch nicht verzichten: einen Internetanschluss sowie ein Klavier. Dass er beides hier nutzen konnte, hatte er bei der telefonischen Zimmerreservierung geklärt. Die Pensionswirtin, eine Frau Feicht, hatte ihm zugesichert, ihr Sohn habe in eines der Gästezimmer einen Internetanschluss gelegt. Dieses Zimmer könne er haben. Auf dem Speicher stünde zudem ein Klavier, auf dem er außerhalb der Nacht- und Mittagsruhe spielen dürfe.

Anton musste sich erholen. Dringend. Doch gleichzeitig hatte er eine Arbeit voranzubringen. Recherchen im Internet und Selbstversuche mit einem Onlinespiel waren hierfür erforderlich. Und er hatte ein neues Konzertprogramm einzustudieren. Schon in fünf Wochen würde er einen Künstlerfreund und Sänger bei einem Liederabend begleiten. Anton war kein Profi auf seinem Instrument, immerhin aber ein versierter Laienpianist. Im Musizieren sah er einen wohltuenden Ausgleich zum Betrieb an der Uni.

Früher als erwartet entdeckte Anton den Wegweiser: Kuchenpfalter 1 km. Er bremste stark ab und riss das Lenkrad herum. Die Aktion gelang. Der Audi steuerte auf die kleine Straße, die auf ein Waldstück zuführte. Der Morgennebel hing noch immer in den Wipfeln, obwohl die Uhr neben dem Tacho bereits 11:13 Uhr zeigte. Während der Fahrt auf der Autobahn war Anton nicht aufgefallen, wie schwer das nasskalte Novemberwetter auf die Landschaft drückte, doch nun, kurz vor dem Ziel, entwickelte er Aufmerksamkeit für die Natur und ihre Stimmung. Sie würde ihn durch die nächsten zwei oder drei Wochen begleiten, seine Befindlichkeit vielleicht sogar wesentlich beeinflussen, dachte er.

Wenige Meter vor dem Waldstück schossen drei Krähen auf. Sie überquerten im Tiefflug die Fahrbahn. Anton hatte sie nicht bemerkt. Sie hatten im verwachsenen Feldrain gesessen. Nur knapp entkamen die Vögel dem Wagen. Dann stießen sie in die Höhe und verschwanden hinter der Silhouette des Waldes.

Anton hatte wegen der Vögel nicht gebremst. Der Asphalt war feucht, und glitschige Blätter lagen darauf. Die Gefahr war zu groß gewesen, die Spur zu verlieren. Doch plötzlich stockte der Motor. Als würde eine unverwundbare Hand in kurzen Abständen in das Getriebe greifen. Anton erschrak und bremste den Wagen ab, bis er schließlich stand.

„Utzberg!“, blitzte es in Antons Kopf. „Das war Utzberg!“ Aber ihm war klar, dass es keine Beweise geben würde.

Er stieg fluchend aus und öffnete die Motorhaube. Ratlos verfolgte er den Verlauf der Schläuche und Kabel. Es fehlten ihm die nötigen Kenntnisse und Erfahrungen, um eine Ursache für die Störung ausfindig machen zu können.

Er blickte über die Straße und das Feld. Niemand war zu sehen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Wagen an den Straßenrand zu schieben, sodass er keine Gefahrenquelle und kein Hindernis darstellte. Dann versperrte er die Türen. Missmutig machte er sich zu Fuß auf den Weg. Bis nach Kuchenpfalter konnten es nur ein paar Minuten sein. Beim Marschieren zogen düstere Gedanken durch seinen Kopf.

So weit sei es also schon gekommen, dass Utzberg auf diese schäbige Weise gegen ihn vorging. Wäre die Sabotage auf der Autobahn wirksam geworden, hätte das den Tod bedeuten können! Utzberg hatte keine Moral, das wusste Anton schon immer. Er war rücksichtslos in allem, was er tat. Ganz besonders beim Wegdrängen des Konkurrenten.

Anton erreichte den geschotterten Hof der Pension. In einem geöffneten Holzschuppen, der das Grundstück auf der linken Hofseite begrenzte, befanden sich landwirtschaftliche Maschinen und Geräte. Vor dem Schuppen stand ein roter Opel. Das gegenüberliegende Pensionsgebäude war zweistöckig, vermutlich in den siebziger Jahren erbaut. Der dunkelgrüne Putz bröckelte an einigen Stellen von der Wand. Die Fenster glichen gläsernen, quadratischen Augen.

Aus dem Schuppen drang ein metallisches Schlagen. Anton ging hinüber, trat durch das Tor.

Hinter dem Traktor arbeitete an einer Werkbank ein etwa sechzigjähriger Mann. Mit einem kleinen Hammer klopfte er auf einen Amboss. Offenbar wollte er ein längeres Metallteil wieder brauchbar machen.

„Hallo!“, rief Anton.

Der Mann unterbrach sofort seine Tätigkeit und sah auf. „Ja?“ Er legte den Hammer und das Metallteil beiseite und wischte mit den Händen über den grauen Kittel.

„Ich bin Ihr Pensionsgast.“

„Ah ja, der Herr Wiesmeier aus München, gell?“

„Ja, genau.“

Der Mann kam vor den Traktor und bot Anton seine Hand. Anton schüttelte sie.

„Schön, dass Sie uns besuchen. Meine Frau zeigt Ihnen das Zimmer. Gehen Sie einfach hinein, die Tür ist offen.“

„Ich habe noch ein Problem. Mein Auto steht ein paar hundert Meter von hier. Irgendwas war mit dem Motor.“

Herr Feicht kratzte sich am Kopf. „Ja, so was. Ich hab mich schon gewundert. Normal kommt man hier mit dem Auto.“

„Ja, eben“, gab Anton zurück.

„Dann holen wir am besten den Kettele Udo. Der hat eine kleine Werkstatt, drüben in Fischbach.“

Anton zog sein Smartphone aus der Hosentasche. „Wissen Sie die Nummer?“, fragte er Herrn Feicht. Doch dann bemerkte er, dass das Gerät keinen Empfang hatte. „Gibt es hier kein Netz?“, fluchte Anton. Seine Hände wurden feucht. „Ich muss doch telefonieren können!“

„Nana“, lachte Herr Feicht. Er blieb gelassen. Ähnliche Reaktionen kannte er offenbar von anderen Gästen. „Der Empfang ist manchmal ein bisserl schlecht.“

Anton steckt das Smartphone zurück.

„Wir haben ja noch das normale Telefon“, schob Herr Feicht nach.

Anton unterdrückte seine Missstimmung. Er wollte hier auf dem Land weder anspruchsvoll noch hochmütig wirken. Und die Feichts seien ja herzensgute Leute, hatte sein Sohn gesagt.

Herr Feicht wies auf das Haus: „Fragen S’ meine Frau.“

Anton war es dringender, seinen Wagen zu bergen und die Reparatur in Gang zu bringen, als das Zimmer zu beziehen. Wenn er schon auf sein Smartphone verzichten musste, so wollte er wenigstens mobil bleiben. Und er befürchtete, dass Ortskundige waghalsig rasten und nicht mit Pannenfahrzeugen rechneten. Womöglich mitschuldig an einem Unfall zu sein, war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte!

Frau Feicht, die in der Küche gerade einen Kuchenteig knetete, begrüßte ihren Gast mit allergrößter Liebenswürdigkeit. Sie telefonierte sofort über das Festnetz mit jenem Udo Kettele, der in einer halben Stunde vor Ort sein wollte.

Anton marschierte zurück zum Wagen.

Der Automechaniker traf zuverlässig und pünktlich ein. Anton hatte bereits die Motorhaube geöffnet, als er in einem älteren BMW-Sportwagen heranbrauste. Der Motor war hörbar getunt. Mit quietschenden Bremsen kam er einen Meter vor dem Pannenfahrzeug zum Stehen.

Ein etwa dreißigjähriger, hochgewachsener Mann sprang Anton entgegen. „Was kann ich helfen?“, fragte er mit geübter Kundenfreundlichkeit.

Anton erzählte von seinem unerklärlichen Malheur.

„Wahrscheinlich die Benzinzufuhr“, mutmaßte Udo Kettele. Dabei rückte er an seiner riesigen Hornbrille. Nachdem er einen Blick auf das Autokennzeichen geworfen hatte, bemerkte er: „Ah, Sie sind aus München.“

„Ja, ich mache zwei oder drei Wochen Urlaub hier.“

„Schöne Stadt, dieses München.“ Kettele schob seinen langen Oberkörper in den Motorraum und rüttelte an Metallteilen und Schläuchen. „Ich war schon mal am Oktoberfest. Die Museen muss ich mir erst noch ansehen. Habe ich aber fest vor.“

Anton überlegte, ob er ihm die aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle München empfehlen sollte, aber er ließ den Gedanken rasch wieder fallen.

Kettele verkündete ein erstes Resümee seiner Untersuchung. „Das ist alles ganz ordentlich.“ Dann fragte er: „Hat er das öfter?“

Anton verneinte. „Kann es auch sein“, fuhr Anton zögernd fort, „dass jemand absichtlich …“

Kettele fixierte Anton verwundert: „Sabotage meinen Sie? Naja…möglich ist viel …“

Die Reaktion hatte Anton verunsichert. „Könnte ja mal sein, oder?“

Kettele kroch noch tiefer in den Motorraum, prüfte und bog sich dann wieder gerade. „Da ist nix zu sehen?“ Er gab sich erkennbar Mühe, seine Verwunderung mit Kundenfreundlichkeit zu kaschieren. „Lassen S’ mal an“, bat er schließlich.

Anton setzte sich hinter das Steuer und steckte den Schlüssel in den Anlasser. Der Motor sprang sofort an.

„Hö! Geht ja!“, rief Kettele.

Anton kam aus dem Wagen. „Grad vorhin…“

„Ja mei! So was hab ich schon öfter gehabt. Ich mach das Geschäft seit Jahren. Glauben Sie mir, da erlebt man einiges.“ Er schob seine Hornbrille zurecht. „Vielleicht war’s ja auch ein Poltergeist.“ Er lachte kurz. „Dann haben wir’s, oder?“

Anton entschuldigte sich vielmals, dass er ihn ohne Grund geholt hatte, und hielt ihm einen Zwanzig-Euro-Schein entgegen.

Kettele wehrte ab: „Passt schon.“ Während er zu seinem Sportwagen ging, bemerkte er noch: „Gäste sind uns allerweil willkommen. Wenn Sie mich mal wieder brauchen, ich hab meine Werkstatt in Fischbach.“ Er verschwand im Inneren. Der Motor heulte auf, und Kettele jagte davon.

Anton schlug die Motorhaube zu. Der Motor lief noch immer. Der Automechaniker hatte das Geld verweigert. Anton hatte dem hilfsbereiten Mann viel Zeit gestohlen. Grundlos. Er hätte ihm das Geld aufdrängen müssen, dachte er. Jetzt war es zu spät. Er konnte ihm unmöglich hinterherfahren. Das wäre albern gewesen.

Albern. Anton fühlte sich plötzlich albern. Der Fremde aus der Großstadt München hatte gleich bei seiner Ankunft gezeigt, dass er völlig unfähig war, praktische Probleme zu lösen. Schlimmer noch: dass er Probleme erzeugte, die es gar nicht gab. Falsch. Dieses Problem war lediglich nicht beweisbar. „Utzberg!“ Utzberg musste den Motor manipuliert haben. Aber Utzberg fehlte es am nötigen Können! Die Sabotage war stümperhaft ausgeführt. Er atmete tief durch. Er hatte sein Auto wieder. Das erleichterte ihn, denn sein Audi war die beste Waffe gegen den schlechten Mobilfunk-Empfang, der hier herrschte.

2.

Ebenso wichtig: der Internetanschluss.

Frau Feicht wusste sofort Bescheid. Schließlich hatte er mit ihr seinen Wunsch vorweg am Telefon besprochen. Das betreffende Zimmer sei für ihn reserviert. Anton bedankte sich für die Zuverlässigkeit und ging hinauf.

Es entsprach seinen Vorstellungen: schlicht, aber gepflegt. Ein Bett, ein Schrank, ein Holztisch. Alle Möbel, hellbraun furniert, stammten wohl aus den siebziger oder achtziger Jahren. Die Wände waren mit einem hellgrünweißen Streifenmuster tapeziert.

Anton drängte es, den Internetanschluss auszuprobieren. Seit gestern Abend hatte er keinen Blick in das Onlinespiel monsterkiller geworfen. Er wollte wissen, ob sich das Ranking durch seine Passivität gravierend verschlechtert hatte. Die ausführlichen Studien zu seinem Aufsatz hatten zu einer guten Position geführt, die er keinesfalls verlieren wollte.

Er rückte rasch den Holztisch an das Fenster. Er sollte ihm als Schreibtisch dienen. Dabei verschaffte er sich einen kurzen Eindruck von der Aussicht. Die Rückseite des Hauses war einem Waldstück zugewandt. Dazwischen erstreckte sich eine schmale Wiese, auf der die Pensionswirte zwei Ziegen hielten. Sie lagen faul im Gras.

Die Ungeduld und die Neugier trieben ihn voran. Er brachte die Toilettentasche in das kleine Badezimmer, verstaute Jacken, Hosen und Wäsche. Endlich holte er seinen Laptop aus dem Koffer, verlegte das Stromkabel und schaltete ihn an. Dann suchte er das Internetkabel. Er fand die Wandbuchse. Das Kabel war angeschlossen und steckte, in weite Schlingen gerollt, hinter dem Kleiderschrank. Anton führte es zu seinem Laptop. Aber es wurde keine Netzverbindung angezeigt. Anton zog den Wandstecker, drückte ihn nochmals in die Buchse, rüttelte daran. Doch nichts geschah. Hastig fuhr er auf, um zu Frau Feicht zu gehen. Der üble Verdacht, dass man ihn betrogen hatte, stieg in ihm auf. Es gab hier kein Internet! Man hatte ihm wohl nur einen Internetzugang versprochen, damit er nicht zu einer Konkurrenz-Pension abwanderte.

Auf dem Weg nach unten zügelte er sich. Immerhin hatte er im Zimmer tatsächlich ein Kabel vorgefunden. Der Gedanke machte ihm Hoffnung. Also war ja offenbar die nötige Infrastruktur vorhanden. Nur das Signal fehlte.

Frau Feicht war noch immer in der Küche beschäftigt. Sie spülte Geschirr.

„Kann es sein, dass das Internet nicht funktioniert?“, hielt er ihr vor. Er bemühte sich, entspannt und höflich zu wirken.

Frau Feicht blieb ruhig. „Ganz bestimmt geht das! Ganz bestimmt! Ich hab mit meinem Sohn alles ausführlich besprochen. Nur den Knopf am Kasterl im Keller muss man noch drücken.“

„Ach so“, gab Anton zurück. Die Bemerkung, warum das nicht längst geschehen sei, verbiss er sich.

„Ich sag meinem Mann Bescheid. Der ist in zehn Minuten wieder da. Er ist nur schnell zum Nachbarn.“

„Kann ich nicht rasch …“, schlug Anton vor.

„Das wär meinem Mann nicht recht. Technik ist seine Sache.“

„Ach so“, sagte Anton entwaffnet. „Ja, dann warte ich oben.“

Zehn Minuten. Für Anton dauerten die zehn Minuten eine Ewigkeit. Er starrte auf den Bildschirm und die Meldung: „Fehler: Server nicht gefunden“. In kurzen Abständen führte er den Mauszeiger zum Aktualisierungssymbol, probierte, ob die Startseite von monsterkiller. de endlich geladen werden konnte, doch die Fehleranzeige blieb beharrlich. Schließlich stand er auf, ging hinaus auf den Flur und blickte durch ein kleines Fenster in den Hof, hinüber zum Schuppen. Der rote Opel fehlte. Herr Feicht war also immer noch beim Nachbarn. „Was, zum Teufel will er nur so lange beim Nachbarn!“, fluchte Anton in sich hinein.

Das Fenster war geschmückt mit einer Blumenampel. Eine penibel gepflegte Pflanze schwoll in sattem Grün vor Antons Augen. Anton begann, das Kraut zu hassen, als trage es die Schuld für dieses Warten. Es hatte keinen Sinn, zurück an den Laptop zu gehen. Bevor Herr Feicht nicht heranfuhr, ausstieg und zum „Kasterl“ im Keller ging, gab es kein Internet. Anton verharrte hinter der Grünpflanze und observierte den Hof.

Seine Gedanken wanderten zu Utzberg. Klemens Utzberg. Anton hatte sich nichts vorzuwerfen. Was er getan hatte, war gerecht. Doktor Hummel würde ihm jetzt vielleicht widersprechen. „Herr Wiesmeier, Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht überreagieren. Sie wissen, Sie neigen manchmal dazu“, hatte er gesagt. Aber das war lange her. „Kommen Sie sofort, wenn Sie das Gefühl haben, Sie verlieren die Kontrolle über sich.“ Anton hatte über Monate hinweg keinen Anlass gesehen, einen neuen Termin zu vereinbaren. Er hatte sich ja unter Kontrolle. Und seine Reaktion auf die Attacke von Utzberg war keine „verlorene Kontrolle“, sondern eine angemessene und natürliche Reaktion gewesen.

Klemens Utzberg war wie Anton Professor am Lehrstuhl für Soziologie an der Uni München. Anton galt als Nachfolger des Dekans, immerhin bekleidete er bereits seit vier Jahren das Amt des Prodekans. Doch Klemens Utzberg hatte kürzlich eine Studie über Zukunftsvisionen von Jugendlichen veröffentlicht, die in Fachkreisen große Resonanz und Anerkennung ausgelöst hatte. Seitdem wurde Utzberg von einigen Kollegen und Studenten offen bevorzugt. Diese Entwicklung beunruhigte Anton. Dennoch vertraute er auf die Unterstützung der Kollegenmehrheit.

Anton fand die Ergebnisse von Utzbergs Studie fragwürdig. Er bezweifelte, dass die Datenerhebungsmethode wissenschaftlichen Standards entsprach. In einem Gespräch unter vier Augen hatte er Utzberg seine Zweifel dargelegt. Zu einer öffentlichen Kritik allerdings hatte er sich nicht entschließen können. Aus Feingefühl. So jedenfalls begründete er seine Untätigkeit vor sich selbst. In Momenten, in denen er schonungsloser mit sich selbst verfuhr, gestand er sich ein, dass er lediglich den Arbeitsaufwand, der für eine solche Attacke erforderlich gewesen wäre, scheute.

Utzberg hingegen griff rücksichtslos an.

Antons Aufsatz „Virtualisierung des Alltags am Beispiel des Onlinespiels monsterkiller“ war vor einem halben Jahr im Fachmagazin Soziologie aktuell erschienen. Im Kern wollte Anton darin am Beispiel des Onlinespiels die Gefahren für das soziale Gefüge prognostizieren.

Wenige Wochen später veröffentlichte Klemens Utzberg in einer anderen Fachzeitschrift einen Artikel, in dem er versuchte, Antons fachliche Integrität zu zerstören. Seine Herangehensweise war intelligent, sein Text wirkte, wenn man nicht im Thema drinsteckte wie Anton, durchaus schlüssig und überzeugend. Jene Kollegen, die Anton bereits kritisch gegenüberstanden, ließen sich auch prompt dadurch bestärken.

Utzbergs Verhalten war niederträchtig. Er hatte eine Axt in ein Regal mit Porzellan geworfen. Aus purer Karrierelüsternheit!

Der Konflikt zwischen Anton und Utzberg verschärfte sich. Sie sprachen nur noch über organisatorische Dinge. Private Themen vermieden sie, erst recht die fachlichen, die Reibungspunkte enthielten.

Irgendwann fing Utzberg an, Anton auch im persönlichen Umgang zu provozieren. Auf völlig unterschiedlichen Ebenen. Ein Außenstehender mochte in den Vorkommnissen nichts Auffälliges bemerken, aber Anton nahm die böse Absicht wahr, die dahintersteckte. Er ganz allein.

Als ein Teil der Kollegenschaft nach einer Fakultätssitzung in die Mensa ging, schnappte sich Utzberg die letzte Schale mit Pommes frites von der Ausgabetheke, obwohl er sonst niemals welche aß; Anton hingegen häufig. Utzberg belegte Antons bevorzugten Seminarraum, ohne Notwendigkeit und ohne sich mit Anton abzusprechen. Bald darauf verschmierte Utzberg das Türschild von Anton. Niemand hatte es gesehen, aber Anton war davon überzeugt, Utzbergs Handschrift zu erkennen. Die Blumen im Vorgarten von Antons Haus verwelkten, ohne dass ein Grund auszumachen gewesen war. Antons Mensacard verschwand.

Schließlich begegneten sich die beiden im Lesesaal der Bibliothek. Anton tippte an einem Arbeitstisch wichtige Daten in seinen Laptop. Utzberg lief vorüber, musste einem Studenten ausweichen und streifte mit seinem Laptop, den er unterm Arm trug, den Bildschirm von Antons Computer. Dieser wurde durch den Stoß um mehrere Zentimeter verschoben. Anton explodierte. Mit rotem Kopf fuhr er auf und schrie: „Lass mich in Ruhe, du Aasgeier!“ Die übrigen Nutzer der Bibliothek blickten auf. Im Lesesaal fiel gewöhnlich kein lautes Wort. Anton stürzte auf Utzberg, riss dessen Laptop an sich und schleuderte ihn über zwei Tische hinweg. Beim Aufschlagen klappte er auf, das Bildschirmglas zerbrach, die Tastatur sprang aus dem Gehäuse. Die Festplatte blieb weitgehend unbeschädigt. Zumindest konnte ein Spezialist alle Daten retten.

Das Verhältnis der beiden war ab diesem Vorfall unwiederbringlich zerstört. Der Dekan ordnete an, Anton möge sich für ein Monat von einem Assistenten vertreten lassen, Erholung und Ablenkung suchen sowie ärztlichen Rat einholen.

Die erste Auflage musste er umsetzen, dazu hatte ihn der Dekan gezwungen. Auf die Erfüllung der zweiten bestanden Katja und sein Sohn. Über die dritte wollte sich Anton hinwegsetzen. Er kannte die Ratschläge von Dr. Hummel! Er wusste, dass er seinen Wutausbruch gegenüber Utzberg verstehen würde.

Es genügte also, selbst die Dinge in die Hand zu nehmen und einen eigenen Therapieplan zu erstellen. Anton musste Abstand erzeugen und seine Souveränität zurückgewinnen. Den Kampf gegen Utzberg konnte er nicht aufgeben, aber er musste ihn klüger und effektiver führen. Wer schreit und unkontrolliert handelt, bringt sich schnell in ein schiefes Licht. Das war Anton klar. Er musste also hier in diesem Urlaubsort zur Ruhe kommen und mit den Mitteln seines Intellekts zurückschlagen. Er wusste, es würde nicht leicht werden, das Blendwerk, das Utzberg in seinem Gegenartikel entfaltet hatte, mit messerscharfer Beweisführung zu enttarnen. Das bedeutete konzentrierte Arbeit. Aber er würde es schaffen!

Doch dazu benötigte er einen Zugang zum Onlinespiel monsterkiller!

Anton starrte noch immer in den Hof. Herr Feicht ließ auf sich warten. Die zehn Minuten waren längst vorbei.

Im oberen Stockwerk ging eine Tür. Vermutlich kam im nächsten Moment ein anderer Gast die Treppe herab. Anton wollte niemandem begegnen. Er verschwand rasch in seinem Zimmer.