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Aus einer spontanen gemeinsamen Nacht bei einer Studentenparty wird eine Beziehung, schließlich eine Ehe. Es folgen viele gemeinsame Jahre. Bertram und Jutta. Obwohl Bertram seit seiner Schülerzeit ein anderes Mädchen liebt. Vor diesem Mädchen jedoch verspürt er Hemmungen wegen eines körperlichen Makels und so hält er zu ihr Distanz, versteckt seine Gefühle. Der Makel ist eigentlich völlig unbedeutend, und doch prägt er sein Verhalten und somit auch seinen Lebenslauf. Diese feinsinnige Geschichte erzählt Bertrams Lebensgeschichte in vier Stationen. Sie beleuchtet die Geschehnisse aus unterschiedlichen Perspektiven und zeigt damit, welch umfassende Wirkung die Handlungsweise eines Einzelnen entfaltet. - Und wie die Zeit alles wieder verändern kann.
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Seitenzahl: 26
Eine Erzählung in vier Lebenslandschaften
1.
Bertram erwachte. Seine linke Schulter wurde gestreichelt. Nein, er wollte die Augen nicht öffnen. Die Zärtlichkeit Juttas empfand er als angenehm; dennoch hatte er sich angespannt, als sie ihm bewusst geworden war. Jutta zeichnete mit einem Finger kleine Kreise auf seine Haut. Mit jeder Schleife zog sie weiter abwärts. Sie erreichte den Oberarm.
Sie lagen in einem Dachzimmer im Ferienhaus von Manuelas Eltern. Manuela studierte wie Bertram im zweiten Semester Philosophie. Sie kannten sich aus der Schulzeit. Beide hatten sie nicht gewusst, wie es nach dem Abitur weitergehen sollte, beide wollten sie der Gefahr begegnen, in einem öden Bürojob zu stranden, und so hatten sie beschlossen, ein Philosophiestudium zu beginnen. Keine sehr vernünftige Idee, wie sie selbst fanden, aber zumindest ein Einstieg, der nicht einengte.
Jutta gehörte zu Manuelas „Girlsclique“, wie sie die Gruppe mit ihren fünf Freundinnen nannte. Gemeinsam gingen sie seit Jahren auf Partys, ins Kino und auf Volksfeste.
Manuela war vor zwei Tagen zwanzig geworden. Übers Wochenende hatten ihr die Eltern das Ferienhaus zum Feiern überlassen. Natürlich war die „Girlsclique“ eingeladen, aber auch eine Handvoll Kommilitonen.
Die Partygäste hatten sich für die Nacht auf die Zimmer im oberen Stock verteilt. Vermutlich waren auch einige im Wohnzimmer geblieben, im Dunst der leeren Bier- und Weinflaschen, im kalten Zigarettenrauch. Irgendwann zwischen eins und zwei war Bertram Jutta ganz nach oben in das Dachzimmer gefolgt. Er kannte Jutta fast so lange, wie er Manuela kannte. Sie stammte aus einem Tapezier- und Malergeschäft, soweit er wusste, und sie arbeitete im Büro der Eltern. Von Manuelas Freundinnen hat sie ihm immer am besten gefallen. Dass er die Nacht mit ihr verbringen würde, hatte er nicht angestrebt, aber es war eben beinahe von selbst so gekommen.
Inzwischen strich Jutta über das Handgelenk. Sie musste längst bemerkt haben, dass er wach geworden war, denn er lächelte weich, um ihr zu zeigen, wie sehr ihm diese Liebkosung gefiel.
Bald werde sie mit seinen Fingern spielen, ging es Bertram durch den Kopf. Bald werde sie auch den kleinen Finger der linken Hand einbeziehen. Dessen vorderstes Glied fehlte. Diesen Moment fürchtete er, und doch wollte er ihre Zärtlichkeit nicht abbrechen. Eine solche Reaktion hätte gewiss noch eine viel ärgere Bloßstellung zur Folge. Jutta war der Finger vermutlich ohnehin schon früher aufgefallen; bei einer der Unternehmungen mit Manuela und der „Girlsclique“. Obwohl Bertram meist die linke Hand in der Hosentasche verbarg. Spätestens seit dieser Nacht wusste sie mit Bestimmtheit davon.
Jutta flocht ihre Hand in seine Hand, und schließlich zog sie ihre Linien auch über den verkürzten Finger. Bertram öffnete jetzt die Augen. Er spürte, sie würde im nächsten Moment danach fragen.
„Ist das lange her?“
„Muss ich das jetzt erzählen?“ Bertram sagte das liebevoll. Er wollte weder antworten noch Jutta brüskieren.
„Nein, natürlich nicht“, gab sie zurück und küsste seine Schulter.
„Vor vier oder fünf Jahren habe ich eine Maschine repariert und zwei Schalter miteinander verwechselt. Zack, da ging ein Räderwerk los, mit einer scharfen Kante.“ Bertram erzählte dies ernst und schnell. Er wollte es so rasch wie möglich ausgesprochen haben.
Jutta kicherte kurz, sammelte sich und lächelte: „So was kommt vor.“ Dann drückte sie sich fest an seine Seite.
„Ja, so was kommt vor“, dachte Bertram. Ein nachvollziehbares Malheur, eine vielleicht belanglose Entstellung, ein winziger Makel. Trotzdem. Trotzdem. Trotzdem.