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Der schwule Kommissar Schneider hätte nicht gedacht, dass er nach einer eindrücklichen Aufführung der Oper 'Medea' im Basler Opernhaus am nächsten Tag vor der Leiche der Sängerin der Titelpartie stehen würde. In der Theaterwelt mit ihren Affären und Intrigen gibt es eine Fülle von Verdächtigen. Kopfzerbrechen bereitet ihm aber nicht nur die Ermittlungsarbeit, sondern auch sein Partner, der skeptisch ist gegenüber Schneiders Projekt, zusammen mit einem Lesbenpaar eine Regenbogenfamilie zu gründen. Der Fall der 'Medea' spitzt sich zu, als ein zweiter Mord erfolgt. Und nun wendet sich auch noch das Lesbenpaar an Schneider und bittet ihn, über das schwule Netzwerk einer jungen Frau aus dem Irak, die wegen ihrer Homosexualität in ihrem Heimatland verfolgt wurde und in die Schweiz fliehen konnte, bei ihrem Asylgesuch zu helfen. In dieser turbulenten Situation ist es einem Zufall zu verdanken, dass der Kommissar das Rätsel der Morde zu lösen vermag.
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Udo Rauchfleisch
Der Tod der Medea
Ein musikalischer Mord
Udo Rauchfleisch (Jahrgang 1942) ist emer. Professor für Klinische Psychologie an der Universität Basel und Psychoanalytiker. Er hat in verschiedenen psychiatrischen Kliniken gearbeitet und ist jetzt als Psychotherapeut in privater Praxis in Basel tätig. Publikationen u. a. zu Homosexualität und Transidentität.
www.udorauchfleisch.ch
Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,
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E–mail: [email protected], März 2017
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Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.
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Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.
ISBN print 978–3–86361–599–4 ISBN epub 978–3–86361–600–7 ISBN pdf: 978–3–86361–601–4
Personen
Jürgen Schneider, schwuler Kriminalkommissar, leitet die Untersuchung
Mario Rossi, Partner von Jürgen Schneider, Inhaber einer Herrenboutique
Walter Steiner, Psychologe an einer Familienberatungsstelle, „Hobbykriminalist“
Edith Steiner, Frau von Walter Steiner, Prokuristin in einer Privatbank
Maria Castanella, junge Sopranistin am Theater Basel
Antonia Sianides, exzentrische Opernsängerin am Theater Basel
Ralph Robbins, Startenor am Basler Theater
Klaus Kuster, Intendant des Basler Theaters
Hans Ritter, Dirigent am Basler Theater
Sieglinde Moser, Bibliothekarin
Claire Monsch, Margret Dunker und Jasmin Rauler,Sängerinnen im Basler Theaterchor
Johanna Leiser, Gardrobiere im Basler Theater
Anita Leupin, Sandra Frey, Lesbenpaar, das mit Jürgen Schneider und Mario Rossi eine Regenbogenfamilie gründen will
Fatima,Freundin von Anita Leupin und Sandra Frey, hat in Basel Asyl beantragt wegen Verfolgung als lesbische Frau im Irak
Mit einem tiefen Seufzer ließ sich die junge Sängerin Maria Castanella in die Couch aus weißem Leder fallen. Als sie das erste Mal in dieses Zimmer ihres Freundes, des Tenors Ralph Robbins, gekommen war, hatte sie sich erschlagen gefühlt von der Protzigkeit dieses Raumes mit der großen Couchgarnitur aus weißem Leder, dem schweren Glastisch, dem neuesten Modell eines Fernsehsessels mit verstellbarem Kopf– und Fußende, dem kostbaren Perserteppich, den gestylten Möbeln und dem großen Fernsehapparat von Bang & Olufsen. Heute nahm sie jedoch nichts von all dem wahr, sondern war total erfüllt von ihren düsteren Gedanken.
Ralph hatte sich bereit erklärt, sie in der Notsituation, in der sie sich befand, für einige Tage bei sich aufzunehmen. Er setzte sich neben Maria, schloss sie in die Arme und redete ihr beruhigend zu: „Hier bist du in Sicherheit, mein Schatz. Niemand außer dem Dirigenten und dem Intendanten weiß, dass du bei mir bist. Nun ruh dich erst einmal aus. Dann wird die Welt schon wieder anders aussehen. Du musst auf jeden Fall heute Abend wieder fit sein für die zweite Aufführung der ‚Medea’“
Maria zitterte am ganzen Körper und schmiegte sich an den Freund. Ein Weinkrampf schüttelte sie, als sie an die Ereignisse des gestrigen Abends und des heutigen Tages dachte.
In der vergangenen Woche hatte der Intendant entschieden, dass sie, die erst 25jährige Sängerin, anstelle der erkrankten weltbekannten Sopranistin Antonia Sianides die Titelpartie in der Oper „Medea“ von Cherubini übernehmen solle. Dies war eine enorme Chance. Denn Maria hatte erst vor einem halben Jahr ihre Gesangsausbildung abgeschlossen und hatte das Glück gehabt, gleich ein Engagement am Basler Theater zu bekommen. Bisher hatte sie nur einige kleine Rollen gesungen. Und nun diese große Herausforderung!
Maria hatte sich mit enormem Eifer daran gemacht, die nicht nur gesanglich, sondern auch darstellungsmäßig schwierige Partie einzustudieren, die sie glücklicherweise in ihrem Studium schon kennengelernt hatte. Und gestern Abend war ihr das schier Unmögliche gelungen: Sie hatte eine unglaublich packende und in jeder Hinsicht überzeugende Medea gesungen, die heute in der Presse in den höchsten Tönen gepriesen worden war.
In der Neuen Zürcher Zeitung war sogar die Rede davon gewesen, dass diese Interpretation nicht einmal den Vergleich mit den berühmten Callas–Interpretationen zu scheuen brauche. Der jungen Sängerin wurde eine Weltkarriere prophezeit, und in der Basler Zeitung war der Kritiker so weit gegangen, zu schreiben: „Es ist zwar bedauerlich, dass die großartige Antonia Sianides erkrankt ist und deshalb die ersten Vorstellungen der Medea absagen musste. Im Grunde müssen wir aber für diese Erkrankung, so traurig sie für Frau Sianides selbst auch ist, eigentlich dankbar sein, hätten wir doch sonst vielleicht noch lange darauf warten müssen, Maria Castanella als unsere Primadonna assoluta feiern zu können.”
Nach diesem triumphalen Erfolg hatten der Intendant Klaus Kuster und der Dirigent Hans Ritter, Maria einen Vertrag vorgelegt, der sie auch für die nächsten Vorstellungen verpflichtete. So sehr sie sich einerseits darüber gefreut hatte, so beklommen war ihr beim Gedanken daran gewesen, wie ihre Konkurrentin Antonia Sianides darauf reagieren würde. Trotzdem hatte Maria den Vertrag unterschrieben.
Ein Schock war es dann aber für sie gewesen, als Klaus Kuster und Hans Ritter ihr einen anonymen Brief gezeigt hatten, den der Intendant erhalten hatte. Der Text bestand aus Druckbuchstaben, die aus Zeitungen ausgeschnitten und auf ein Blatt geklebt worden waren, und lautete:
„Ihr bejubelt als neue Primadonna assoluta ein Miststück, das diese Ehre nicht verdient. Sie ist eine ganz mittelmäßige Sängerin, ein Flittchen, das die Rolle nur durch das Bett dieses Frauenhelden Ralph Robbins ergattert hat. Sie soll sich vor mir in Acht nehmen. Ich warne sie nur einmal. Sie muss weg!”
Beim Gedanken an den Brief brach Maria erneut in Tränen aus und klammerte sich hilfesuchend an Ralph. „Nun beruhige dich doch, mein Kleines“, tröstete er sie. „Das ist ein Verrückter, der diesen Brief geschrieben hat. Wir alle haben schon solche Briefe bekommen. Den darfst du nicht ernst nehmen, sondern solltest über diesen Unsinn lachen.“
In Ralphs Armen beruhigte Maria sich langsam.
„Vielleicht hast du ja Recht. Es kann schon sein, dass ich diesen hässlichen Brief viel zu ernst nehme. Als bekannt wurde, dass ich bei der Premiere singen würde, gab es ja auch im Ensemble etliche Neiderinnen. Vielleicht ist die Schreiberin sogar eine von diesen Chorsängerinnen.”
„Oder er stammt aus der Feder deiner lieben Kollegin Antonia Sianides“, ergänzte Ralph. „Ihr würde ich so etwas durchaus zutrauen.”
„Das meinst du doch wohl nicht im Ernst. Sie ist sicher rasend vor Wut, dass sie die Partie bei der Premiere nicht singen konnte und ich solchen Erfolg damit hatte. Aber damit hatte ich ja im Grunde nichts zu tun. Ich bin ja nur für sie eingesprungen. Und als der anonyme Brief verfasst worden ist, wusste ja noch niemand, nicht einmal ich selbst, dass ich die Medea auch weiterhin singen werde. Antonia ist schon ein ekelhaftes Frauenzimmer. Etwas so Gemeines wie diesen Brief traue ich ihr nun aber doch nicht zu.”
„Du bist in den Intrigen des Theaterlebens noch reichlich unerfahren, mein Schatz“, meinte Ralph, die Diskussion abschließend. „Aber in einem kannst du sicher sein: Wer auch immer diesen Brief geschrieben hat, dir droht absolut keine Gefahr, erst recht nicht, wo du jetzt bei mir bist.”
„Nun schau dir deine Fanpost an“, meinte er und gab ihr einen Stoß von Briefen, die sie, als sie in Marias Wohnung ein paar Sachen für sie zusammengesucht hatten, dort vorgefunden und mitgenommen hatten. „Die werden dich auf andere Gedanken bringen. Und danach legst du dich hin und ruhst dich aus. Du brauchst deine Kräfte für die zweite Medea–Vorstellung heute Abend. Ich muss noch auf einen Sprung ins Theater und rufe dich später an. Wir treffen uns dann am besten in der Stadt und können vor der Vorstellung noch in ein Restaurant gehen und etwas essen.“
Als Ralph die Wohnung verlassen hatte, streckte Maria sich auf dem Bett aus. Hier fühlte sie sich sicher. Kein Mensch, außer Hans Ritter und Klaus Kuster, wusste, dass sie bei Ralph war. Und wahrscheinlich sah sie die ganze Angelegenheit wirklich zu dramatisch. Was bedeutete schon so ein lächerlicher Brief? Das waren doch nur leere Worte, übler Schmutz, mit dem jemand sie zu verletzen versuchte. Viel realistischer waren da doch die vielen Briefe, Karten und Blumen, die sie von Menschen erhalten hatte, die von ihrer Medea–Darstellung zutiefst berührt gewesen waren und ihr dafür dankten.
Und nun sogar noch eine so üppige Schachtel mit Pralinen, dachte sie und griff nach der Schachtel, die sie in ihrer Wohnung vorgefunden hatte. Am Etikett, das an der Schleife angeklebt war, erkannte Maria, dass die Pralinen aus einer der besten Confiserien Basels stammten. Neugierig öffnete sie den Brief, der an der Schleife hing. Er war in einer kleinen, zierlichen, aus irgendeinem Grund merkwürdig auf Maria wirkenden Schrift auf hauchdünnem Reispapier geschrieben und lautete:
„Teuerste, hochverehrte Maria Castanella,
ich war einer der Hörer, der sich so glücklich schätzen darf, Sie in der Premiere der Medea gehört zu haben. Welch ein Erlebnis! Ich habe diese Oper unzählige Male gehört, auf vielen Opernbühnen und als CDs mit den größten Interpretinnen unseres Jahrhunderts. Doch eine solche Interpretation wie die Ihre habe ich noch nie erlebt. Sie war eine wahre Offenbarung für mich. Mir fehlen die Worte, um meine Gefühle auszudrücken. Ich habe mit Ihnen, der von Schmerz und Verzweiflung erfüllten Medea, gelitten. Ich habe Ihren Rachedurst als den meinen erlebt und habe gespürt, dass die Wunde im zutiefst verletzten Herzen nur durch die Rache zu heilen ist.
Ich umarme Sie, geliebte Medea, und schicke Ihnen mit diesen Zeilen als kleines Zeichen meiner unendlichen Bewunderung und als Ausdruck meiner innigen Verbundenheit mit Ihnen die beiliegenden Pralinen. Genießen Sie jede einzelne von ihnen und denken Sie an mich wie auch Sie mir vor Augen stehen.”
Eine Unterschrift fehlte. Maria ließ den Brief sinken. Er berührte sie in einer merkwürdigen Weise und löste in ihr aus irgendeinem Grund geradezu ein Grauen aus. War es die überschwängliche Ausdrucksweise des Schreibers? Oder war es die vertrauliche Art des letzten Absatzes, von der Maria sich bedrängt fühlte? Sie konnte es nicht sagen. Nur eines wusste sie genau: Es lag etwas Schreckliches in diesem Brief, und es fröstelte sie, als sie sich dieser Tatsache bewusst wurde.
Wie um Trost in dieser Situation zu suchen, griff sie in die Pralinenschachtel und entnahm ihr eine der herrlich duftenden schwarzen Kugeln. Genussvoll ließ Maria sie auf der Zunge zergehen. Sie schmeckte so köstlich, dass sie nicht widerstehen konnte und eine zweite, mit weißem Puderzucker bestreute Kugel in den Mund steckte und langsam zerkaute. Plötzlich spürte sie einen bohrenden Schmerz in der Magengegend und rang verzweifelt um Atem. Sie versuchte sich aufzurichten, sank aber mit einem Röcheln wieder auf das Bett zurück und verlor das Bewusstsein.
Ralph Robbins fuhr von seiner Wohnung aus direkt ins Theater. Er hatte gestern und heute noch nicht seine an die Theateradresse geschickte Post geöffnet. Außerdem wollte er sich noch ein paar Stellen in der Partitur der ‚Medea’ anschauen, bei denen er sich nach wie vor unsicher fühlte. Und schließlich hoffte er, in seiner Garderobe etwas Ruhe zu finden, denn auch ihm hatten die Aufregungen um den anonymen Brief und seine Versuche, Marias Panik zu beschwichtigen, mehr zugesetzt, als er bisher wahrgenommen hatte.
Erst jetzt, wo er Maria in Sicherheit wusste und nicht länger den zuversichtlichen, unerschrockenen Beschützer spielen musste, spürte er, wie sehr auch er unter der Aufregung gelitten hatte und wie erschöpft er jetzt war. Er hoffte, dass er ungesehen und ohne mit jemandem reden zu müssen, in seine Garderobe schlüpfen und sich dort eine zeitlang hinlegen könnte.
Tatsächlich war die Pförtnerloge leer, und niemand begegnete ihm auf dem Weg in seine Garderobe. Eigentlich auch eine unmögliche Situation, dachte er, dass kein Aufsichtspersonal weit und breit zu sehen ist. Aber seitdem das Rauchen in den Gebäuden strikt verboten ist, nutzen die Raucher jede Gelegenheit, sich von Zeit zu Zeit abzusetzen und irgendwo, möglichst versteckt, draußen ihrer Sucht zu frönen.
Mich hat die Aufregung um Maria offenbar doch ziemlich mitgenommen, dachte Ralph, als er in seine Garderobe trat und sich im Spiegel betrachtete. Dort blickte ihm nicht, wie sonst, der strahlende, jugendlich wirkende Mann, Traum aller Frauen – wie Ralph sich selbst gerne definierte – entgegen, sondern er nahm dunkle Ringe unter seinen Augen und ein von Müdigkeit gezeichnetes Gesicht wahr. Zum Glück stehe ich abends ja nicht so auf der Bühne, sondern bin geschminkt, so dass all dies dem Publikum verborgen bleibt, tröstete er sich.
Ralph Robbins schaute die Post, die auf dem Tisch in seiner Garderobe lag, flüchtig durch. Es waren nur uninteressante Briefe, ein Schreiben seiner Agentur, Ankündigungen von Konzerten und Auftritten von Kollegen, eine Mitteilung der Direktion über das neue Abrechnungssystem der Theaterkantine sowie der Menüplan der Kantine für die jetzige Woche.
Ralph war jetzt zu müde, um sich noch die Partituren anzuschauen. Mit einem Seufzer ließ er sich auf seine Couch fallen, und es vergingen keine fünf Minuten, bis er in tiefem Schlaf lag.
Um vier Uhr erwachte Ralph. Er hatte so tief geschlafen, dass er einige Minuten brauchte, um sich zu orientieren, wo er war. Da er Maria noch etwas Ruhe gönnen wollte, entschloss er sich, einen Spaziergang zu machen, zumal heute wunderbares Frühlingswetter herrschte. Auch ihn hatten der anonyme Brief und Marias angstvolle Reaktion darauf sehr beunruhigt, und er spürte, dass auch er zur Ruhe kommen müsste, bevor er heute Abend bei der zweiten Medea–Aufführung auf der Bühne stehen würde.
Gemütlich schlenderte Ralph den Klosterberg hinauf, folgte dann der Elisabethenstraße, überquerte den Bankenplatz und bog nach dem Kunstmuseum links in die Rittergasse ein, die ihn zum Münsterplatz und von dort auf die Pfalz hinter dem Münster führte. Von hier hatte er einen herrlichen Ausblick über den Rhein und über das jenseits des Flusses liegende Kleinbasel mit dem neuen Roche–Tower bis hinüber zum Schwarzwald.
Ralph liebte diesen Aussichtspunkt und genoss die Ruhe, die heute hier herrschte. „Es wird schon alles gut werden“, murmelte er, sich selbst Mut und Zuversicht zusprechend, und machte sich auf den Weg hinunter zum Rheinufer. Da es unterhalb des Münsters keine begehbare Rheinpromenade gab – Ralph erinnerte sich vage an einen unsinnigen Streit zwischen der Stadt und dem Heimatschutz, der sich erfolgreich gegen den Bau eines Weges gewehrt hatte –, musste er den Weg zurück durch die Rittergasse und über die St. Alban–Vorstadt hinunter zum Rhein wählen.
Typisch Basel, dachte er verärgert, dass irgendein Verein sich, angeblich aus Sorgen um das Stadtbild, zum Sprachrohr der historischen „Reinheit“ macht und uns Spaziergängern unmöglich machte, auch auf der Großbasler Seite direkt am Rhein auf einer Promenade zu laufen.
Auf dem Weg am Rhein entlang waren jetzt am Nachmittag nur wenige Spaziergänger, und Ralph konnte ungestört seinen Gedanken nachhängen. Ihn beruhigte das stille Strömen des mächtigen Flusses zu seiner Linken und vermittelte ihm ein Gefühl der Sicherheit. Außerdem tat ihm die Bewegung an der frischen Luft gut, und schon bald fühlte er sich wieder weitgehend ausgeglichen und freute sich auf die zweite Medea–Aufführung, die sie heute Abend singen würden.
Gegen halb sechs versuchte er Maria telefonisch zu erreichen, um mit ihr zu besprechen, in welchem Restaurant sie sich zu einem kleinen Abendessen treffen wollten. Doch obwohl er es mehrmals versuchte, erreichte er sie nicht und hörte nur die automatische Ansage ihres Handys, der Teilnehmer sei zurzeit nicht erreichbar, der Anrufer möge seine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen.
Ralph sprach die Nachricht auf ihren Anrufbeantworter, Maria möge ihm doch sobald wie möglich Bescheid geben, wo sie sich zum Abendessen treffen wollten. Er nahm an, sie habe es wahrscheinlich nicht ausgehalten, allein in seiner Wohnung zu bleiben, und sei doch noch ausgegangen. Als um halb sieben noch kein Anruf von ihr gekommen war und er sie auch jetzt nicht erreichen konnte, vermutete er, dass sie schon direkt ins Theater gegangen sei und er sie dort treffen werde. Deshalb aß er schnell eine Kleinigkeit in einem Tea–Room und machte sich dann auf den Weg ins Theater.
Ralph traf dort kurz nach sieben ein und eilte sofort zu Marias Garderobe. Vor der zweiten Vorstellung würde sie jetzt sicher seine Unterstützung dringend benötigen. Er war sehr erstaunt, als auf sein Klopfen hin niemand antwortete und er die Tür verschlossen fand. Während er sich bei den vergeblichen Versuchen, sie telefonisch in seiner Wohnung zu erreichen, noch keine großen Gedanken gemacht hatte, war er nun doch beunruhigt. Er wusste, dass Maria stets außerordentlich pünktlich im Theater war. Und gerade heute hatte er erwartet, dass sie besonders früh käme, zumal sie sich nicht, wie eigentlich abgemacht, zum Abendessen gesehen hatten.
Was hatte das nur zu bedeuten, dass sie – es war mittlerweile zwanzig nach sieben geworden – immer noch nicht hier war? Ralph musste sich beherrschen, um nicht in Panik zu geraten. Eine düstere Ahnung stieg in ihm auf, dass etwas Schreckliches passiert sein könnte. Doch er versuchte diesen Gedanken mit aller Macht zu unterdrücken. Sicher gab es keinen Grund zur Aufregung, und sie würde jeden Moment eintreffen.
Er eilte zum Telefon und rief nun auf dem Festnetzanschluss seiner Wohnung an und ließ es lange läuten. Aber auch jetzt meldete sich niemand. Es war inzwischen bereits halb acht geworden und die anderen Mitglieder des Ensembles waren längst dabei, ihre Kostüme anzuziehen und geschminkt zu werden. Gerade als Ralph seine Garderobe verlassen und den Intendanten benachrichtigen wollte, klopfte es. Lisa Nader, die Darstellerin der Glauce, kam atemlos hereingestürmt.
„Weißt du, wo Maria ist? Alle warten auf sie. Ich habe heute Nachmittag schon einmal versucht, sie telefonisch zu Hause zu erreichen. Sie hat sich aber nicht gemeldet. Nun ist es schon halb acht, und sie ist immer noch nicht hier. Sie ist doch sonst immer so pünktlich.”
Da Ralph den anonymen Brief nicht erwähnen durfte, antwortete er ausweichend, er habe den Nachmittag mit Maria zusammen verbracht und sei direkt ins Theater gekommen, während sie noch kurz in ihre Wohnung gegangen sei.
Lisa und Ralph zuckten zusammen, als das Telefon klingelte. Es war aber nicht Maria, sondern der Intendant Klaus Kuster.
„Um Gottes willen, Ralph, wo ist denn Maria? Hans ist gerade bei mir. Auch er hat nichts von ihr gehört. Sie wohnt doch jetzt bei dir. Was ist denn bloß los? In wenigen Minuten beginnt die Vorstellung.”
„Ich verstehe das auch nicht“, antwortete Ralph. „Maria ist ja die Zuverlässigkeit in Person. Ich hoffe, es ist nichts passiert. Schick doch sofort jemand zu meiner Wohnung, um nachzusehen. Ich gebe ihm meinen Wohnungsschlüssel.”
Bereits wenige Minuten später war ein Assistent des Intendanten, Ernst Kalt, auf dem Weg zu Ralphs Wohnung. Ralph war inzwischen geschminkt und umgezogen und eilte in das Büro des Intendanten, wo er diesen und den Dirigenten Hans Ritter in großer Aufregung antraf.
„Wir verstehen das einfach nicht“, meinte Hans. „Maria wollte doch mit dir zusammen ins Theater kommen.”
„Sie war nach all den Aufregungen ziemlich erschöpft und wollte sich ausruhen. Deshalb habe ich sie nach dem Mittagessen allein gelassen. Ich bin noch ins Theater gekommen und habe mich hier etwas ausgeruht. Anschließend habe ich einen langen Spaziergang gemacht. Wir hatten vereinbart, dass wir zusammen essen gehen wollten. Es kam mir deshalb auch komisch vor, dass sie sich nicht gemeldet hat, als ich sie später am Nachmittag mehrmals telefonisch zu erreichen versucht habe. Ich nehme an, dass sie es allein nicht ausgehalten hat und vielleicht eine Freundin besucht oder sonst etwas unternommen hat. Nur hätte sie dann längst hier sein müssen. Hoffentlich ist nichts passiert“, fügte er sichtlich beunruhigt hinzu.
Die drei Männer schauten immer wieder auf die Uhr. Es war inzwischen zehn Minuten vor acht geworden.
„Ernst muss doch längst bei deiner Wohnung sei, Ralph“, meinte Klaus nach längerem Schweigen. „Wieso meldet er sich denn nicht?”
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Klaus nahm ab.
„Na endlich meldest du dich, Ernst. Was ist denn nun los?”
Er hörte auf die Antwort seines Assistenten, und sein Gesicht wurde leichenblass.
„Das ist doch nicht möglich“, stammelte er schließlich. „Das ist ja grauenvoll! Und du bist absolut sicher?”
Wieder lauschte er der Antwort des Anrufers und sank in seinen Stuhl. „Warte einen Augenblick, Ernst. Ich muss schnell mit Hans und Ralph besprechen, was wir nun tun sollen.”
Damit wandte Klaus Kuster sich den beiden zu, die ebenfalls kreidebleich geworden waren. Ihnen war klar, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste.
„Maria ist tot“, stieß Klaus dumpf hervor. „Ernst hat sie tot, auf ihrem Bett zusammengebrochen, gefunden.”
„Um Gottes willen!“, keuchte Ralph. „Wie konnte das denn nur passieren? Sie würde doch keinen Fremden in die Wohnung lassen, wo sie solche Angst wegen des anonymen Briefes hatte.”
„Wir müssen jetzt einen klaren Kopf behalten“, meinte Hans Ritter, mühsam um Fassung ringend. „Ernst soll als erstes die Polizei anrufen. Und du, Klaus, musst das Publikum darüber informieren, dass wir die heutige Vorstellung absagen müssen. Sag, du hättest gerade erst erfahren, dass Maria schwer erkrankt sei. Leider sei es uns angesichts der kurzen Zeit nicht mehr möglich gewesen, einen Ersatz für Maria zu finden.”
„Oh, nein“, stöhnte Klaus. „Ich bringe es nicht fertig, jetzt vor das Publikum zu treten. Kannst du das bitte für mich tun, Hans?”
„Also gut“, meinte Hans Ritter nach kurzem Zögern. „Sag aber auf jeden Fall Ernst, dass er sofort die Polizei benachrichtigt. Er soll in der Wohnung nichts anrühren und dort warten, bis die Polizei eintrifft.”
„Ich fahre sofort hin“, mischte sich nun Ralph, der fassungslos zugehört hatte, in das Gespräch ein.
„Warte, bis ich das Publikum informiert habe“, sagte Hans und legte tröstend den Arm um Ralphs Schulter. „Ich komme dann mit dir.”
Es war Punkt acht, als der Dirigent vor den Vorhang trat. Augenblicklich wurde es totenstill im Theater.
„Meine sehr verehrten Damen und Herren“, begann er und bemühte sich, das Zittern in seiner Stimme unter Kontrolle zu bringen. „Im Namen der Theaterleitung muss ich Ihnen eine traurige Mitteilung machen. Leider können wir die heutige Vorstellung nicht durchführen. Vor wenigen Minuten haben wir erfahren, dass die Sängerin der Titelpartie, Maria Castanella, ...“ Seine Stimme brach ab und Tränen traten in seine Augen.
Hans setzte von neuem an: „Leider ist Maria Castanella plötzlich schwer erkrankt und kann deshalb heute Abend nicht singen. Da wir diese Nachricht erst vor wenigen Minuten erhalten haben, ist es uns nicht möglich gewesen, eine Sängerin zu finden, die ihre Partie übernehmen könnte. Ich hoffe, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass Sie für unsere Entscheidung, die Vorstellung abzusagen, Verständnis haben. Sie können die Karten selbstverständlich umtauschen und erhalten Ersatz für eine spätere Vorstellung.”
Mit betroffenem Schweigen nahmen die Zuschauerinnen und Zuschauer die Nachricht entgegen und verließen zögernd und nur leise miteinander sprechend das Theater.
Hans Ritter und Ralph Robbins machten sich sofort auf den Weg zu Ralphs Wohnung. Da Ralph seinen Schlüssel Ernst Kalt gegeben hatte, mussten sie klingeln, als sie dort ankamen. Als Ernst ihnen aufdrückte, stürmten sie die Treppe hinauf. Ernst stand bleich in der Eingangstür und wies stumm auf die Tür des Gästezimmers, das Maria heute Morgen bezogen hatte.
Hans öffnete die Tür. Im Zimmer waren mehrere Mitarbeiter der Spurensicherung damit beschäftigt, Fotos zu machen und das Zimmer genauestens zu untersuchen. Maria lag, im Schmerz verkrümmt, quer über dem Bett. Ein Arm hing schlaff herab. Ralph, der Hans gefolgt war, stieß einen unterdrückten Schrei aus, als er Maria sah, und wollte sich auf sie stürzen.
„Bitte lassen Sie uns ungestört unsere Arbeit tun“, wandte sich ein Mann von der Spurensicherung an die beiden Männer. „Der Kommissar wird gleich hier sein und mit Ihnen sprechen wollen. Am besten setzen Sie sich ins Wohnzimmer und warten dort auf ihn. Aber bitte auch dort nichts anrühren!“
„Also hatte Maria doch recht mit ihrer Angst, die wir offensichtlich nicht ernst genug genommen haben”, murmelte Hans.
„Das heißt, du meinst, dass ihr Tod mit dem anonymen Brief zusammenhängt?“, fragte Ralph.
„Ja, das nehme ich zumindest an.”
„Aber ich verstehe nicht, wie konnte ihr denn jemand etwas antun?“, meinte Ralph. „Die Wohnung war doch, wie Ernst Klaus am Telefon gesagt hat, verschlossen, als er kam, und ich sehe nirgends Spuren von Gewalt. Vielleicht war es ja auch gar kein Mord, sondern ein Herzinfarkt.”
„Das glaube ich nicht. Hast du die Schachtel Pralinen neben dem Bett gesehen? Vielleicht haben wir da die Ursache von Marias Tod.”
„Um Gottes willen“, stöhnte Ralph, „die habe ich zusammen mit der Fanpost für sie aus ihrer Wohnung mitgenommen und habe ihr sogar noch geraten, bei den Süßigkeiten Trost in ihrer Verzweiflung zu suchen.”
In diesem Augenblick läutete es. Ernst hatte bereits aufgedrückt, und kurze Zeit später standen Kommissar Jürgen Schneider, ein Ende 30jähriger, 1,95 großer, durchtrainierter Mann, und sein Mitarbeiter Bernhard Mall sowie der Polizeiarzt Dr. Elmer in der Tür. Hans, Ralph und Ernst stellten sich vor, und die Beamten und der Arzt gingen in Marias Zimmer. Jürgen Schneider erkannte im ersten Moment in der Toten auf dem Bett nicht die Sängerin der Medea, die er am vergangenen Abend in so hinreißender Form auf der Bühne gesehen und gehört hatte. Sie hatte dunkelblondes, halblanges Haar und wirkte jetzt viel schmaler und zerbrechlicher als auf der Bühne, wo sie ihm mit ihrem langen schwarzen Gewand eher imposant erschienen war.
Der Kommissar kam ins Wohnzimmer und setzte sich zu Hans Ritter, Ralph Robbins und Ernst Kalt. Mit wenigen Worten schilderte Hans die Ereignisse der letzten Tage und Marias Angst wegen des anonymen Briefes.
Dr. Elmer schaute kurz ins Wohnzimmer. „Es ist offensichtlich ein Giftmord“, meinte er. „Wir haben eine Schachtel Pralinen gefunden, die wahrscheinlich vergiftet sind. Das wäre nicht das erste Mal, dass ein Mord mit Pralinen ausgeführt wird“, bemerkte er lakonisch. „Ich habe hier nichts mehr zu tun. Genauere Angaben über Zeit und Ursache des Todes kannst du erst nach der Obduktion erhalten, Jürgen“, sagte er und ging.
Ralph zuckte bei dem Wort Obduktion zusammen und warf Hans einen verzweifelten Blick zu.
„Ich würde jetzt gerne mit jedem von Ihnen sprechen”, sagte der Kommissar.
Erst jetzt löste sich langsam Ralphs Erstarrung, und er brach in ein hemmungsloses Schluchzen aus. Hans, in dessen Augen auch Tränen traten, ging zu ihm und legte ihm tröstend den Arm um die Schulter.
„Du musst jetzt tapfer sein, Ralph. Es ist schrecklich. Aber laß uns dem Kommissar alles das sagen, was er wissen muss, damit er Marias Mörder finden kann.”
Jürgen Schneider ergriff nun das Wort.
„Meine Herren, ich weiß nicht, in welchem Verhältnis Sie zu der Toten standen. Aber ich sehe, dass Ihnen ihr Tod sehr nahegeht. Bitte fassen Sie sich, und berichten mir ganz genau, was sich in den letzten Tagen ereignet hat.”
Ralph hatte sich inzwischen wieder etwas beruhigt, gab die nötigen Angaben zu Marias Person und berichtete von dem anonymen Brief, den der Intendant erhalten hatte und der bei Maria panische Angst ausgelöst hatte. Maria und er seien eng miteinander befreundet gewesen. Deshalb habe Maria in ihrer Angst bei ihm Schutz gesucht.
„Was für ein anonymer Brief war das?“, fragte Jürgen Schneider.
„Sie können ihn nachher bei uns im Theater anschauen. Der Intendant hat ihn“, antwortete Hans Ritter.
„Und trotz ihrer Angst wollte Frau Castanella den Nachmittag über allein in Ihrer Wohnung bleiben?“, fragte Jürgen Schneider, als Ralph sagte, dass er sie gegen halb zwei verlassen habe.
„Sie fühlte sich bei mir absolut sicher und wollte sich ausruhen, weil sie heute Abend wieder singen musste. Wäre ich doch nur gleich nach dem Theater wieder heimgegangen!“, stieß Ralph verzweifelt hervor. „Vielleicht hätte man sie ja noch retten können.”
„Das glaube ich kaum. Wahrscheinlich war es ein sofort tödlich wirkendes Gift. Können Sie mir noch sagen, wo Sie sich aufgehalten haben, nachdem Sie das Theater verlassen haben?”
„Ich?“, fragte Ralph erstaunt. „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich einen langen Spaziergang gemacht habe. Später, als ich mehrmals vergeblich versucht hatte, Maria telefonisch zu erreichen, habe in einem Restaurant etwas gegessen und bin dann ins Theater gegangen. Warum fragen Sie?”
„Wir fragen so etwas routinemäßig“, beschwichtigte der Kommissar ihn.
„Auf dem Spaziergang haben Sie nicht zufällig irgendwelche Bekannten getroffen, die Ihre Aussage bestätigen können?”
„Was soll denn das nun heißen?“, fuhr Ralph auf. „Es klingt ja so, als ob ich ein Alibi liefern sollte. Ich glaube, Sie sind verrückt geworden, mich so etwas zu fragen! Meine Freundin wird umgebracht, und Sie verdächtigen mich. Das ist eine Frechheit sondergleichen!”
Ralph Robbins war aufgesprungen und lief im Zimmer hin und her.
„Beruhigen Sie sich bitte, Herr Robbins“, beschwichtigte Jürgen Schneider ihn. „Ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass wir solche Fragen routinemäßig stellen müssen und dass das in keiner Weise heißt, dass ich Sie verdächtige.“
Ruhig fuhr der Kommissar fort: „Könnten Sie mir bitte noch eine andere Frage beantworten, Herr Robbins: Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie die Schachtel Pralinen in der Wohnung von Frau Castanella fanden, als Sie mit ihr dort ankamen. Sie sagten, die Putzfrau, Frau Meister, sei dort gewesen. Hat sie erwähnt, ob die Pralinen mit der Post geschickt oder von jemandem persönlich abgegeben worden sind?”
„Ich kann mich nicht erinnern, dass wir darüber gesprochen hätten“, antwortete Ralph, der sich inzwischen beruhigt hatte und wieder in seinem Sessel Platz genommen hatte. „Ich weiß nur, dass es eine in Geschenkpapier verpackte Schachtel mit einer großen Schleife war und dass an der Schleife ein Brief hing, den Maria zusammen mit den Pralinen in ihr Zimmer genommen hat.”
„Den werden wir später noch anschauen. Können Sie mir noch ein paar Informationen über die Putzfrau geben? Wer sie ist, bei wem sie sonst noch arbeitet, ob sie einen eigenen Schlüssel zur Wohnung von Frau Castanella hat und so weiter.”
Ralph dachte kurz nach, ehe er antwortete.
„Ich glaube, sie putzt noch bei einigen anderen Leuten vom Theater. Doch ich weiß nicht genau, bei wem. Maria hat sie von jemandem aus dem Ensemble vermittelt bekommen. Sie macht auf mich einen zuverlässigen Eindruck. Maria hatte volles Vertrauen zu ihr und hat ihr deshalb von Anfang an den Wohnungsschlüssel gegeben. So konnte sie kommen und putzen, unabhängig davon, ob Maria zu Hause war oder nicht.”
„Gut, wir werden ja noch mit Frau Meister sprechen“, entgegnete Jürgen Schneider.
Da Hans Ritter über die Angaben von Ralph Robbins hinaus keine weiteren Informationen liefern konnte, wandte sich der Kommissar noch Ernst Kalt zu. Dieser schilderte mit wenigen Worten, dass er gegen zehn Minuten vor acht in Ralphs Wohnung angekommen sei. Als auf sein Klingeln und Rufen niemand geantwortet habe, sei er mit Ralphs Schlüssel in die Wohnung gegangen, habe in die verschiedenen Zimmer geschaut und Maria dann tot im Gästezimmer entdeckt. Er habe daraufhin den Intendanten und anschließend die Polizei verständigt.
„Und Ihnen ist nichts Besonderes in der Wohnung aufgefallen?“, fragte der Kommissar.
„Nein. Höchstens die Pralinenschachtel, die neben Marias Bett stand. Ach ja, und der Brief auf dem Teppich neben dem Bett. Ich habe ihn aber nicht angerührt, weil der Intendant mir gesagt hat, ich müsse alles so lassen, wie ich es angetroffen habe.”
„Das ist gut“, lobte Jürgen Schneider ihn.
Mit der Frage „Hatte Maria Castanella Ihres Wissens Feinde?“ wandte der Kommissar sich nun wieder Ralph Robbins und Hans Ritter zu. Er bemerkte das Zögern der beiden, ehe sie antworteten, sagte aber nichts.
„Ja, sicher hat man Feinde, wenn man wie Maria mit einem Schlag berühmt wird“, begann Hans. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, wer ihr den Drohbrief geschrieben und sie dann umgebracht hat. So etwas Grauenvolles.”
„Ich habe dir heute morgen gesagt, dass ich die alte Hexe für fähig halte, so etwas zu tun“, stieß Ralph mit unverhüllter Heftigkeit hervor.
„Halt den Mund, Ralph!“, wies Hans ihn scharf zurecht.
„Nein, das müssen Sie nicht“, sagte Jürgen Schneider zu Ralph. „Teilen Sie mir bitte auch noch so vage Vermutungen mit. Sie können uns vielleicht weiterhelfen.”
„Ich habe Maria gesagt, dass ich Antonia für fähig halte, ihr zu drohen. Sie war erkrankt und konnte die Premiere nicht singen. An ihrer Stelle hat dann Maria die Medea gesungen und einen großartigen Erfolg errungen. Das wird Antonia rasend gemacht haben. Und wenn sie nun erst noch hört, dass Maria alle weiteren Vorstellungen singen sollte, wird sie ganz ausrasten.”
„Das konnte sie aber zu der Zeit, als Maria den Drohbrief erhielt, noch gar nicht wissen“, widersprach Hans Ritter. „Klaus und ich haben ja erst, als der Brief längst da war, mit Maria über die weiteren Vorstellungen gesprochen. Außerdem muss auch Antonia einsehen, dass wir nach diesem großartigen Erfolg Maria nicht wieder auswechseln konnten.”
„Ich war in der Premiere“, schaltete Jürgen Schneider sich wieder ein. „Ich bin zwar kein großer Opernkenner, aber auch ich habe gespürt, dass es tatsächlich eine ungemein packende Vorstellung war. Wenn Sie von Antonia sprechen, nehme ich an, dass Sie Antonia Sianides meinen, die ursprünglich die Medea hätte singen solle?”
„Ja“, zischte Ralph, „ihr traue ich alles zu, wenn sie sich gekränkt und zurückgesetzt fühlt. Wie konnte sie nur so etwas tun!“
„Noch wissen wir nichts Genaues über den Täter“, meinte der Kommissar. „Gibt es noch andere Personen, die Ihrer Meinung nach ein Motiv für den Mord gehabt haben könnten?“
„Es gab einige Chorsängerinnen, die sich recht negativ über Maria geäußert haben“, begann Hans zögernd. „Aber sie wären nie zu einem Mord fähig.“
„Du meinst Claire und Margret?“, fragte Ralph. „Diese beiden Giftspritzen scheuen sich nicht, ihre Kollegen zu verleumden. Warum sollten sie dann vor einem Mord zurückschrecken? Es sind zwei Chorsängerinnen, die enge Vertraute von Antonia sind“, erklärte Ralph dem Kommissar. „Ihnen traue ich durchaus einen Mord zu.”
„Nun hör aber auf, Ralph, alle möglichen Leute zu beschuldigen!“, unterbrach Hans Ritter ihn unwillig. „Ich finde das unfair.”
„Lassen Sie ihn nur“, meinte der Kommissar beschwichtigend. „Wir werden die Mitglieder des Ensembles verhören müssen und werden dann ohnehin auf solche Geschichten stoßen. Sie erleichtern uns die Arbeit, wenn Sie uns jetzt schon davon berichten. Wären Sie so freundlich, meinen Mitarbeiter und mich noch ins Theater zu begleiten? Ich hoffe, dass die meisten Mitglieder des Ensembles noch dort sind und wir wenigstens mit einigen von ihnen sofort sprechen können.“
Als die vier im Theater ankamen, herrschte dort große Aufregung. Die meisten Mitglieder des Ensembles saßen, lebhaft diskutierend, in der Caféteria. Der Intendant Klaus Kuster hatte auf alle Fragen nach dem Grund für Marias Nicht–Erscheinen ausweichend reagiert, was indessen keineswegs zur Beruhigung geführt, sondern die Irritation eher noch vergrößert hatte. Alle wussten, dass Maria sehr korrekt war und nie eine einzige Probe versäumt hatte.
Deshalb war allen klar, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein musste, wenn sie heute, ohne irgendeine Nachricht zu geben, einer Vorstellung ferngeblieben war. Denn es hatte sich inzwischen herumgesprochen, dass der Intendant bis gegen halb acht nichts von Maria gehört und dann einen Assistenten zu ihr nach Hause geschickt hatte.
Die Gespräche verstummten, als Jürgen Schneider und sein Mitarbeiter Bernhard Mall zusammen mit Hans Ritter und Ralph Robbins die Caféteria betraten. Der Kommissar informierte mit wenigen Worten über Marias Tod, ohne genauere Angaben über die Tatumstände zu machen, und bat die Anwesenden, sich für die Gespräche mit ihm und Bernhard Mall zur Verfügung zu halten. Die Mitglieder des Ensembles saßen wie vom Donner gerührt da. Sie hatten geahnt, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste. Aber niemals hätten sie an ein so grauenvolles Ereignis gedacht. Sie waren fassungslos.
Während Bernhard Mall die Gespräche mit den anderen Sängern der Medea–Aufführung, dem Bass Serge Rodnitzky, der Sopranistin Lisa Nader und der Altistin Luisa Wollner führte, bat Jürgen Schneider Hans Ritter, ihn zum Intendanten zu bringen.
Jürgen war völlig überrascht, als sie in das Büro von Klaus Kuster eintraten. Er hatte das Büro eines Intendanten völlig anders erwartet. In seiner Vorstellung wären die Wände voll mit Fotografien von berühmten Sängerinnen und Sängern, Schauspielerinnen und Schauspielern gewesen, mit persönlichen Widmungen der Künstler, sowie Bilder von früheren Inszenierungen. Das Büro, in das er nun eintrat, war hingegen äußerst sachlich, ja geradezu betont unpersönlich, wenn auch stilvoll, eingerichtet.
Jürgen Schneider blieb aber nicht lange Zeit, sich diesem Eindruck hinzugeben. Klaus Kuster begrüßte den Kommissar mit einem kurzen Händedruck und bot ihm einen Platz vor seinem Schreibtisch an. Dies ist sicher ein Platz, auf dem viele Bewerber für ein Engagement schon gezittert haben, dachte Jürgen, erst recht, wenn der Intendant sich selbst in einer solchen Situation wie heute so kühl und sachlich verhält. Klaus Kuster eröffnete das Gespräch mit der an den Kommissar gerichteten Frage:
„Sagen Sie mir nur, wer konnte so etwas Schreckliches tun? Das ist ja grauenhaft! Die arme Maria.”
„Ich habe etliches schon von Herrn Robbins und Herrn Ritter erfahren. Mich interessiert besonders der anonyme Brief, den Sie erhalten haben. Könnten Sie ihn mir bitte geben.”
Klaus Kuster zog den Brief aus seinem Schreibtisch und reichte ihn dem Kommissar.
„Ich befürchte allerdings, dass er Ihnen wenig Aufschluss über den Täter liefern wird.”
Nachdem Jürgen Schneider den Brief sorgfältig gelesen hatte, wandte er sich wieder Klaus Kuster zu:
„Ich möchte offen mit Ihnen reden, Herr Kuster. Herr Robbins deutete an, dass er Antonia Sianides für die Absenderin hält.”
„Unsinn!“, fiel Klaus Kuster ihm ins Wort. „Das ist völlig absurd. Antonia ist zwar eine temperamentvolle, exzentrische und manchmal geradezu hysterische Frau. Aber so etwas Infames wie einen Mord würde sie nie begehen! Sie dürfen es Ralph nicht übelnehmen, dass er so über sie redet. Er hat Maria sehr geliebt, und ihr Tod muss ihn schrecklich getroffen haben. Da ist es verständlich, dass er unter allen Umständen einen Schuldigen sucht und aus seinem Schmerz heraus unbedachte Dinge sagt.”
„Das mag zwar sein. Wir werden diesem Hinweis jedoch auf jeden Fall nachgehen. Frau Sianides hat zumindest ein handfestes Motiv für den Mord.”
„Das würde uns noch fehlen“, stöhnte der Intendant. „Ich sehe im Geiste schon die Schlagzeilen in der Presse: ‘Medea rächt sich an Medea’. Ich halte es für völlig ausgeschlossen, dass Antonia einen Mord begeht. Das ist eine absurde Idee!”
„Hatte Frau Castanella denn noch andere Feinde?“, fuhr der Kommissar fort.
„Sicher hatte sie im Ensemble nicht nur Freunde“, antwortete Klaus Kuster ausweichend. „Aber ich kann mir keine Person vorstellen, die ihr irgendetwas zuleide tun würde.”
„Und wer zählt zu der ‘Nicht–nur–Freunde–Gruppe’?“, fuhr Jürgen Schneider unbeirrt fort.