Transsexualismus – Genderdysphorie – Geschlechtsinkongruenz – Transidentität - Udo Rauchfleisch - E-Book

Transsexualismus – Genderdysphorie – Geschlechtsinkongruenz – Transidentität E-Book

Rauchfleisch Udo

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Beschreibung

Das Phänomen Transidentität oder Transsexualismus begegnet uns heutzutage an vielen Orten. Transidente Menschen treten auch in Talkshows und Doku-Sendungen auf, wo sie über ihr Leben berichten in einer im Vergleich zu früheren Zeiten zwar toleranteren, aber noch längst nicht wirklich akzeptierenden Gesellschaft. Udo Rauchfleisch skizziert den Weg vom Pathologiekonzept »Transsexualismus« zur »Genderdysphorie« bis hin zur »Geschlechtsinkongruenz« und dem nichtpathologischen Begriff der »Transidentität«. Er fordert die absolute Selbstentscheidung der Transidenten über die von ihnen gewünschten Schritte in ihrer sogenannten Transition. Eine professionelle Begleitung Transidenter hat meist den Charakter eines transaffirmativen Coachings. Neben Transmenschen selbst und ihren Angehörigen richtet sich das Buch vor allem an Fachleute der verschiedenen Disziplinen, die an der Begleitung und Therapie von Transidenten beteiligt sind.

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Herausgegeben von Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Udo Rauchfleisch

Transsexualismus – Genderdysphorie – Geschlechtsinkongruenz – Transidentität

Der schwierige Weg der Entpathologisierung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Paul Klee, Kleinode, 1937/akg-images

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2566-6401

ISBN 978-3-647-90142-8

Inhalt

Vorwort zur Reihe

Vorwort zum Band

1 Einleitung

1.1 Vom »Transsexualismus« über die »Genderdysphorie« und »Geschlechtsinkongruenz« zur Transidentität

1.2 Exkurs zum Begriff der »Geschlechtsidentität«

2 Ätiologische Überlegungen

3 Der »traditionelle« Weg der Diagnostik und Behandlung von Trans*menschen

3.1 Diagnostik

3.2 Begleitende Psychotherapie / trans*affirmativer Coachingprozess

3.3 Der »Alltagstest«

3.4 Die hormonelle Behandlung

3.5 Chirurgische Interventionen

3.6 Vornamens- und Personenstandsänderung

4 Überlegungen zur Entwicklung transidenter Menschen

4.1 Erste Phase

4.2 Zweite Phase

4.3 Dritte Phase

4.4 Vierte Phase

4.5 Fünfte Phase

4.6 Sechste Phase

5 Die Behandlung von Trans*menschen mit psychischen Erkrankungen

6 Hauptthemen in der therapeutischen Begleitung von Trans*menschen

6.1 Klärung der Identität

6.2 Das Coming-out im beruflichen Bereich und in der Öffentlichkeit

6.3 Das Coming-out im privaten Bereich

6.4 Auseinandersetzung mit den zu erreichenden Zielen der Transition

7 Warum sehen sich transidente Menschen mit so viel Ablehnung konfrontiert?

8 Fazit

Literatur

Vorwort zur Reihe

Zielsetzung von PSYCHODYNAMIK KOMPAKT ist es, alle psychotherapeutisch Interessierten, die in verschiedenen Settings mit unterschiedlichen Klientengruppen arbeiten, zu aktuellen und wichtigen Fragestellungen anzusprechen. Die Reihe soll Diskussionsgrundlagen liefern, den Forschungsstand aufarbeiten, Therapieerfahrungen vermitteln und neue Konzepte vorstellen: theoretisch fundiert, kurz, bündig und praxistauglich.

Die Psychoanalyse hat nicht nur historisch beeindruckende Modellvorstellungen für das Verständnis und die psychotherapeutische Behandlung von Patienten hervorgebracht. In den letzten Jahren sind neue Entwicklungen hinzugekommen, die klassische Konzepte erweitern, ergänzen und für den therapeutischen Alltag fruchtbar machen. Psychodynamisch denken und handeln ist mehr und mehr in verschiedensten Berufsfeldern gefordert, nicht nur in den klassischen psychotherapeutischen Angeboten. Mit einer schlanken Handreichung von 70 bis 80 Seiten je Band kann sich die Leserin, der Leser schnell und kompetent zu den unterschiedlichen Themen auf den Stand bringen.

Themenschwerpunkte sind unter anderem:

–Kernbegriffe und Konzepte wie zum Beispiel therapeutische Haltung und therapeutische Beziehung, Widerstand und Abwehr, Interventionsformen, Arbeitsbündnis, Übertragung und Gegenübertragung, Trauma, Mitgefühl und Achtsamkeit, Autonomie und Selbstbestimmung, Bindung.

–Neuere und integrative Konzepte und Behandlungsansätze wie zum Beispiel Übertragungsfokussierte Psychotherapie, Schematherapie, Mentalisierungsbasierte Therapie, Traumatherapie, internetbasierte Therapie, Psychotherapie und Pharmakotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Ansätze.

–Störungsbezogene Behandlungsansätze wie zum Beispiel Dissoziation und Traumatisierung, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Borderline-Störungen bei Männern, autistische Störungen, ADHS bei Frauen.

–Lösungen für Problemsituationen in Behandlungen wie zum Beispiel bei Beginn und Ende der Therapie, suizidalen Gefährdungen, Schweigen, Verweigern, Agieren, Therapieabbrüchen; Kunst als therapeutisches Medium, Symbolisierung und Kreativität, Umgang mit Grenzen.

–Arbeitsfelder jenseits klassischer Settings wie zum Beispiel Supervision, psychodynamische Beratung, Soziale Arbeit, Arbeit mit Geflüchteten und Migranten, Psychotherapie im Alter, die Arbeit mit Angehörigen, Eltern, Familien, Gruppen, Eltern-Säuglings-Kleinkind-Psychotherapie.

–Berufsbild, Effektivität, Evaluation wie zum Beispiel zentrale Wirkprinzipien psychodynamischer Therapie, psychotherapeutische Identität, Psychotherapieforschung.

Alle Themen werden von ausgewiesenen Expertinnen und Experten bearbeitet. Die Bände enthalten Fallbeispiele und konkrete Umsetzungen für psychodynamisches Arbeiten. Ziel ist es, auch jenseits des therapeutischen Schulendenkens psychodynamische Konzepte verstehbar zu machen, deren Wirkprinzipien und Praxisfelder aufzuzeigen und damit für alle Therapeutinnen und Therapeuten eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, die den Dialog befördern kann.

Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Vorwort zum Band

Das Phänomen der Transidentität ist zunehmend in den Blickpunkt der Öffentlichkeit getreten. Immer wieder verblüffen Menschen mit einer Infragestellung der »binären Gendergrenzen« die Kunst- und Unterhaltungswelt, immer wieder versuchen Talkshows oder Dokumentationssendungen, für die Gruppe von Menschen mit Transsexualismus oder Geschlechtsinkongruenz Verständnis zu wecken, denn transidente Personen sind gesellschaftlich zwar toleriert, aber bis heute bei Weitem nicht tiefgehend anerkannt.

Fachlich ausgerichtete Gruppen von psychotherapeutischen Spezialisten bemühen sich, durch geeignete Definitionen und eine nicht diskriminierende und nicht pathologisierende Wortwahl den transidenten Menschen und ihren Lebensthemen gerecht zu werden. In diesem Buch versucht Udo Rauchfleisch, der sich seit 48 Jahren in Forschung und Praxis mit transidenten Menschen beschäftigt, die rechtlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Problemkreise aufzuzeigen, mit denen diese konfrontiert sind.

In einem ersten Kapitel wird eine Begriffsklärung vorgenommen und aufgezeigt, wie man in den unterschiedlichen Diagnosesystemen versucht hat, das Problem der »Geschlechtsdysphorie« anders zu erfassen, sodass eine Entpathologisierung des Phänomens möglich wird. Es scheint, dass sich die neue europäische Diagnosesystematik der ICD-11 auf den Begriff »Geschlechtsinkongruenz« einigen kann. Der Begriff »Transidentität« steht außerhalb aller Diagnosesysteme und trifft daher das Kernthema der »Trans*menschen« am besten, da es sich wohl um eine Variante der Identitätsentwicklung handelt und nicht um eine grundsätzliche Abweichung oder Störung.

Schließlich wird der traditionelle Weg der Diagnostik und Behandlung von Trans*menschen im Detail vorgestellt. Seit Oktober 2018 gibt es neue Leitlinien zur Diagnostik, Beratung und Behandlung in Deutschland. Das kann die medizinische Entscheidungssicherheit erhöhen. Die therapeutische Begleitung kann als ein »Coaching« angesehen werden, das versucht, mit dem Betroffenen die einzelnen Stadien einer Veränderung der persönlichen Identität zu begleiten. Dieser trans*affirmative Coachingprozess ist alles andere als unkompliziert. Wichtige Problemthemen werden im Buch angesprochen. Auch der sogenannte Alltagstest, also die Erprobung des gewünschten Geschlechts während 24 Stunden über sieben Tage pro Woche während mindestens eines Jahres, der in den herkömmlichen Leitlinien gefordert war, muss in seiner Absolutheit infrage gestellt werden. Denn bei einem Identitätswechsel im Alltag müssen unbedingt auch Diskriminierungspotenziale berücksichtigt werden. Hormonbehandlungen und chirurgische Interventionen werden erläutert und in diesen Kontext gestellt.

Die Entwicklung transidenter Menschen wird in Phasen dargestellt und verständlich gemacht. Der Behandlung von Trans*menschen mit psychischen Erkrankungen wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Schließlich wird die Klärung der Identität ins Zentrum gestellt. Das »Coming-out« in der Öffentlichkeit stellt einen eigenen Problemkreis dar. Zum Abschluss wird der Frage nachgegangen, warum auch heute noch den transidenten Menschen so viel Ablehnung entgegenschlägt.

Das Buch ist fachlich sehr informativ, klar geschrieben und von einer toleranten Haltung getragen. Therapeutinnen und Therapeuten finden darin viel Wissenswertes zu diesem Thema, das heute in der Psychotherapie immer noch ein Tabu darstellt.

Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

1Einleitung

Transidentität – oft auch noch »Transsexualismus« genannt – ist ein Phänomen, das uns in der Gegenwart an vielen Orten begegnet. Transidente Menschen haben sich in Verbänden organisiert, so in Deutschland im Bundesverband Trans*1 (BVT) und in der Deutschen Gesellschaft für Transsexualität und Intersexualität (dgti), in der Schweiz im Transgender Network Switzerland (TGNS) und in Österreich in Trans-Austria und TransX, und bringen ihre Anliegen zunehmend an die Öffentlichkeit.

Transidente treten aber auch in Talkshows und Doku-Sendungen auf und berichten über ihr Leben in einer gegenüber früheren Zeiten zwar toleranteren, aber noch längst nicht wirklich akzeptierenden Gesellschaft. Wir kennen auch etliche transidente Personen im Show-business: Eine der bekanntesten ist die israelische Sängerin Dana International, die 1998 im Eurovision Song Contest den ersten Platz erreichte; in Deutschland die Sängerinnen Kim Petras, die bereits im Alter von 16 Jahren eine operative Angleichung an das weibliche Geschlecht vornehmen ließ, und Romy Haag; in der Türkei die Sängerin Bülent Ersoy. Bekannt sind außerdem die beiden die binären Gendergrenzen sprengenden »Kunstfiguren« Georgette Dee und Conchita Wurst.

In der Öffentlichkeit bekannt sind schließlich auch Transidente, die im politischen Leben verschiedener Länder eine Rolle spielen oder gespielt haben, wie der ehemalige deutsche Bundestagsabgeordnete Christian Schenk und die polnische Politikerin Anna Grodzka sowie Transgender-Aktivist_innen2 wie Lynn Conway.

Auch im medizinischen und psychologischen Schrifttum werden seit etlichen Jahren immer wieder Diskussionen über die Diagnose des »Transsexualismus« (ICD-10) bzw. der »Genderdysphorie« (DSM-5) geführt. So hat in der Schweiz eine Arbeitsgruppe von (Trans*- und Cis3-)Fachleuten Beratungs- und Behandlungsempfehlungen bei Trans*personen (Garcia et al., 2014) formuliert, und in Deutschland hat eine ähnliche Fachgruppe im Oktober 2018 neue Behandlungsempfehlungen, die AMWF-S3-Leitlinie, veröffentlicht.

Angesichts dieses öffentlichen wie fachlichen Interesses am Phänomen Transidentität erscheint es sinnvoll, diesem Thema auch in der vorliegenden Reihe »Psychodynamik kompakt« einen eigenen Beitrag zu widmen. Hinzu kommt, dass ich selbst mich seit 48 Jahren in Forschung und Praxis mit transidenten Menschen beschäftige und in dieser Zeit tiefgreifende Veränderungen in der fachlichen, aber auch in meiner persönlichen Einschätzung der Transidentität erlebt habe. Es ist ein Weg, der sich durch eine zunehmende Entpathologisierung auszeichnet.

In diesem Buch möchte ich diese Veränderungen in der Auffassung von Transidentität anhand der verschiedenen Diagnosen »Transsexualismus« (ICD-10), »Genderdysphorie« (DSM-5), »Geschlechtsinkongruenz« (ICD-11) und »Transidentität« (ein Begriff, der in keinem international gebräuchlichen Diagnosesystem auftaucht) darstellen. Außerdem werde ich die verschiedenen ätiologischen Hypothesen (denn mehr als Hypothesen haben wir nicht) diskutieren, die wichtigsten Aspekte in der Entwicklung von Trans*menschen formulieren sowie die Hauptthemen in der therapeutischen Begleitung.

In den verschiedenen Ländern bestehen nach wie vor unterschiedliche rechtliche Bedingungen und voneinander abweichende Behandlungsempfehlungen. Auch darauf werde ich eingehen. Trotz einer heute größeren Toleranz erleben Trans*menschen nach wie vor – mitunter massive – Ausgrenzungen und werden zum Teil auch Opfer schwerer Gewalt. Es ist deshalb notwendig, sich auch mit den Gründen für diese gegen sie gerichtete Aggression auseinanderzusetzen. Den Abschluss des Buches bilden Visionen, die ich davon habe, wie sich die Beziehung zwischen Trans*menschen und Fachleuten in Zukunft verändern möge.

Nach meiner Erfahrung gibt es keine »typische« Biografie von Trans*menschen. Sie sind so unterschiedlich wie wir alle. Das einzig Verbindende ist die Tatsache ihrer Transidentität. Bei biografischen Berichten einzelner Transidenter entsteht in der Öffentlichkeit indes immer wieder der Eindruck, dies sei eine »typische« Lebens- und Entwicklungsgeschichte von Trans*menschen. Um dieser Gefahr zu entgehen, werde ich in diesem Buch keine umfassende Biografie schildern, sondern verschiedene kasuistische Vignetten lediglich zur Illustration einzelner Schritte bei der Begleitung auf dem Weg der Transition verwenden.

1.1Vom »Transsexualismus« über die »Genderdysphorie« und »Geschlechtsinkongruenz« zur Transidentität

Am Beginn der Beschäftigung mit dem Phänomen »Transsexualismus« stand eindeutig und ausschließlich die Pathologie im Zentrum der Überlegungen. So gilt die ICD-Diagnose Transsexualismus