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Der brutale Mord an einer Afrikanerin bereitet dem schwulen Kommissar Jürgen Schneider aus Basel Kopfzerbrechen. Umso glücklicher ist er, dass es in seinem Privatleben gut läuft: Sein Partner und er haben große Freude an dem Sohn, der in einer Regenbogenfamilie im Wechsel bei ihnen und bei seinen Müttern aufwächst. Der Mordfall, den der Kommissar zu klären hat, ist jedoch kompliziert. Das Opfer ist weder bei den Schweizer Behörden noch in Deutschland oder Frankreich gemeldet. Wie konnte die Afrikanerin nach Basel kommen, ohne dass sie irgendwo registriert worden ist? Geht es um einen aus dem Heimatland der jungen Frau gesteuerten Racheakt oder um einen rassistischen Hintergrund? Jürgen Schneider und sein Mitarbeiter versuchen dem Rätsel über die Herkunft des Opfers auf die Spur zu kommen, indem sie Kontakt zu anderen in Basel lebenden Afrikanern aufnehmen. Könnte jemand von ihnen der Täter sein? Der Kommissar fragt sich, welches Motiv eine Person aus diesem Kreis haben könnte, findet aber keine Antwort. Die Ereignisse nehmen eine dramatische Wendung, als ein zweiter Mord, ebenfalls an einem Afrikaner, verübt wird. Die Ermittlungen führen Jürgen Schneider in die Schwulenszene von Basel und Zürich und leiten ihn auf eine heiße Spur. Der Kommissar ahnt, wer der Täter sein könnte, hat jedoch keine handfesten Beweise. Ein nächtlicher Einbruch bei Jürgen Schneider, seinem Partner und ihrem Sohn hätte ein böses Ende nehmen können, wenn der Kommissar nicht rechtzeitig erwacht wäre. Nun zieht sich die Schlinge um den Hals des Täters enger und enger ...
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Seitenzahl: 271
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Udo Rauchfleisch
Schwarz ist der Tod
Udo Rauchfleisch (Jahrgang 1942) ist emer. Professor für Klinische Psychologie an der Universität Basel und Psychoanalytiker. Er hat in verschiedenen psychiatrischen Kliniken gearbeitet und ist jetzt als Psychotherapeut in privater Praxis in Basel tätig. Publikationen u. a. zu Homosexualität und Transidentität.
www.udorauchfleisch.ch
Bereits erschienen:
Der Tod der Medea - Ein musikalischer Mord
ISBN print 978–3–86361–599–4
Mord unter lauter netten Leuten
ISBN print 978–3–86361–656-4
Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,
Himmelstürmer is part of Production House GmbH
www.himmelstuermer.de
E–mail: [email protected]
Originalausgabe, August 2018
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.
Cover: 123rf.com
Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik–Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.
Personen im Krimi „Schwarz ist der Tod“
Jürgen Schneider,
schwuler Kriminalkommissar, leitet die Untersuchung
Mario Rossi,
Partner von Jürgen Schneider, Inhaber einer Herrenboutique
Anita Leupin und Sandra Frey,
Lesbenpaar, mit dem Jürgen Schneider und Mario Rossi den 5-jährigen Sohn Antonio haben
Walter Steiner,
Psychologe in einer Ehe- und Familienberatungsstelle
Edith Steiner,
Frau von Walter Steiner, Prokuristin in einer Privatbank
Bernhard Mall,
Mitarbeiter von Jürgen Schneider
Ndidi Nwafor,
aus Nigeria stammende Friseuse
Adaeze Nwafor und Obinna Nwafor,
Tochter und Sohn von Ndidi Nwafor
Ulumma Eneli,
Der Regen prasselte auf ihren Schirm, so dass die junge Frau nicht einmal ihre eigenen Schritte auf dem Pflaster hören konnte. Ausgestorben lag die Rheinpromenade vor ihr und nirgends sah sie eine Möglichkeit, Schutz vor dem plötzlichen Wolkenbruch zu finden.
Die Frau beschleunigte ihre Schritte und atmete auf, als sie kurz vor der Mittleren Brücke rechts den Durchgang sah, der die Rheinpromenade mit der parallel verlaufenden Rheingasse verband.
In dem Moment, als sie den Durchgang erreicht hatte, hörte sie hinter sich Schritte. Offenbar gibt es noch jemanden, der hier Schutz vor dem Wolkenbruch sucht, dachte sie. Als sie sich umschauen wollte, spürte sie einen heftigen Schmerz im Rücken und brach mit einem Röcheln zusammen. Die andere Person stach noch mehrmals zu, um sicher zu sein, dass die Verletzung tödlich war, und verließ den Tatort mit schnellen Schritten.
Gerade als Kommissar Jürgen Schneider, Ende dreißig, 1.95, mit einem durchtrainierten Body, um den ihn seine Kollegen beneideten, das Haus verlassen wollte, begann Antonio, der fünfjährige Sohn, ein mörderisches Geschrei. Mario Rossi, Jürgens um einige Jahre jüngerer Partner, war eigentlich heute zuständig, Antonio anzuziehen und zur Kindertagesstätte zu bringen.
Die beiden Männer hatten zusammen mit einem Lesbenpaar, Anita Leupin und Sandra Frey, geplant, ein Kind zu haben und vor fünf Jahren war Antonio in diese Regenbogenfamilie geboren worden. Er lebte jeweils eine Woche bei den Müttern und eine Woche bei den Vätern.
Innerhalb ihrer Partnerschaft hatten Jürgen und Mario eine klare Regelung: An den Tagen, an denen Mario nicht frühmorgens in seiner Boutique für Herrenkleidung sein musste, versorgte er Antonio. An den anderen Vormittagen war Jürgen zuständig. Er hatte als Leiter der Basler Mordkommission die Möglichkeit von gleitenden Arbeitszeiten, die er seit Geburt des Sohnes auch nutzte.
Wenn Antonio jedoch wie heute so erbärmlich schrie, konnte Jürgen nicht einfach das Haus verlassen, so als ob nichts geschehen wäre. Zumindest musste er schnell schauen, was denn die Ursache des Geschreis war. Jürgen wusste zwar, dass Mario es nicht schätzte, wenn er sich in solchen Situationen „einmischte“, wie Mario es empfand. Doch vielleicht kann ich die Situation ja beruhigen, dachte er, indem ich Antonio durch einen Spaß ablenke und Mario dadurch entlaste.
Als Jürgen das Kinderzimmer betrat, fand er Antonio auf dem Bett sitzen und wütend die Hose wegschleudern, die Mario ihm offenbar hatte anziehen wollen.
„Was ist denn los Antonio?“
„Ich ziehe diese Hose nicht an“, schluchzte Antonio.
Jürgen nahm ihn in den Arm.
„Das ist ja auch nicht nötig, mein Schatz. Wir haben ja noch viele andere. Lass’ uns mal schauen, was noch im Schrank ist.“
Mario warf Jürgen einen vorwurfsvollen Blick zu, mischte sich aber nicht in die Diskussion ein. Offensichtlich war er froh, dass es Jürgen gelungen war, die Situation zu beruhigen.
„Was ist denn mit dieser schönen blauen Hose mit den roten Herzen? Die hat Mama dir doch geschenkt.“
Antonio betrachtete die Hose skeptisch und schüttelte den Kopf.
„Und diese grüne mit den bunten Blumen? Die hast du ja mit Sandra zusammen gekauft. Die sieht doch toll aus!“
Antonio schaute wiederum keineswegs begeistert und zog anstelle dessen eine einfarbige graue Hose aus der Schublade.
„Die will ich anziehen!“, entschied Antonio dezidiert und schaute Mario, der schweigend der Diskussion zugehört hatte, triumphierend an.
„Die findet Mario sicher auch ganz toll“, meinte Jürgen und zwinkerte seinem Partner zu.
„Doch, die ist super“, bestätigte Mario. „Das hättest du mir aber doch gleich sagen können und hättest nicht ein solches Geschrei loslassen müssen“, fügte er tadelnd hinzu. „Papa hat sicher gedacht, dass hier wer weiß was los ist.”
„Das ist schon in Ordnung“, beschwichtigte Jürgen ihn. „Jetzt sind wir ja alle drei zufrieden.”
Jürgen gab Mario und Antonio einen Kuss und machte sich auf den Weg ins Kommissariat.
Als er dort um halb neun eintraf, fand er eine Mitteilung auf seinem Schreibtisch, es sei die Leiche einer jungen Frau am Rhein in der Nähe der Mittleren Brücke gefunden worden. Er möchte dorthin kommen. Der Gerichtsarzt und die Kollegen von der Spurensicherung seien schon vor Ort.
Wahrscheinlich ein Mord aus dem Drogenmilieu, dachte Jürgen, denn er erinnerte sich daran, dass vor etlichen Jahren ein junger Mann bei der Übergabe von Drogen dort erstochen worden war.
Als der Kommissar am Tatort ankam, traf er dort den Gerichtsarzt Dr. Ralph Elmer, seinen Mitarbeiter Bernhard Mall und die Kollegen von der Spurensicherung an. Dr. Elmer hatte seine Untersuchung der Leiche bereits abgeschlossen und fasste seine bisherigen Befunde zusammen:
„Das Opfer ist eine circa 25-jährige Afrikanerin. Sie wurde durch mehrere Messerstiche in den Rücken getötet, wobei wahrscheinlich bereits der erste Stich tödlich war. Es scheint, als habe der Täter ganz sicher sein wollen, sein Opfer auch wirklich getötet zu haben, und hat deshalb mehrfach zugestochen.”
„Wahrscheinlich hat das Opfer den Angreifer bei dem heftigen Regen der vergangenen Nacht gar nicht gehört und ist deshalb ohne Gegenwehr von hinten erstochen worden“, fuhr Dr. Elmer fort. „Sonst gäbe es noch Verletzungen im Brustbereich. Aber Professor Hofer wird euch nach der Obduktion sicher noch genauere Informationen geben können.”
„Was meinst du zum Todeszeitpunkt, Ralph?“, fragte Jürgen.
„Ich schätze gegen Mitternacht. Genaueres, wie immer, nach der Obduktion. Und damit verabschiede ich mich mal und überlasse euch die weitere Arbeit. Details erfährst du von Professor Hofer. Ciao.”
Jürgen wandte sich nun seinem Mitarbeiter Bernhard Mall zu.
„Wer hat die Leiche gefunden, Bernhard?”
„Da sie in dem dunklen Durchgang zwischen der Rheinpromenade und der Rheingasse lag, ist sie erst heute Morgen gegen acht Uhr entdeckt worden. Eine Passantin, die mit ihrem Hund spazieren gegangen ist, hat die Polizei um kurz nach acht angerufen. Ich habe mit ihr gesprochen und ihre Personalien aufgenommen. Sie konnte uns aber keine weiteren Informationen liefern.”
„Und was kann die Spurensicherung uns verraten?“, fragte der Kommissar Bernhard Mall.
„Leider so gut wie gar nichts. Es hat in der vergangenen Nacht ja heftig geregnet. Deshalb können wir Fußspuren natürlich vergessen. Außerdem wissen wir vom Opfer nur, dass es eine Afrikanerin ist“, fuhr Bernhard fort. „Wir haben keinerlei Ausweise oder sonstige Papiere bei ihr gefunden. Auch keine Tasche.”
„Dann war es vermutlich ein Raubmord“, meinte Jürgen. „In diesem Durchgang ist vor einigen Jahren doch ein Mann bei der Übergabe von Drogen ermordet worden. Vielleicht erinnerst du dich noch daran.“
„Ja, ich erinnere mich gut daran. Aber damals haben wir das Opfer leicht identifizieren können. Der junge Mann hatte eine Identitätskarte bei sich und war den Drogenfahndern wegen etlicher Drogendelikte bestens bekannt. Ich hoffe, wir finden über die jetzt erstochene junge Frau in unseren Karteien oder über das Amt für Migration Angaben, so dass wir sie schnell identifizieren können.”
„Schon komisch, dass sie von hinten durch mehrere Stiche in den Rücken getötet worden ist und es offensichtlich keinen Kampf gegeben hat. Wenn es um die Übergabe von Drogen gegangen wäre, würde es doch ein Gespräch zwischen Täter und Opfer gegeben haben“, meinte der Kommissar, „und bei einem Streit wären es dann Verletzungen im Brustbereich gewesen.”
„Das habe ich mir auch überlegt“, entgegnete Bernhard. „Selbst wenn es um ein sexuelles Motiv bei diesem Mord gegangen wäre, hätte der Täter doch sicher mit der Frau zu reden versucht. So aber scheint sein einziges Ziel die Tötung des Opfers gewesen zu sein. Wirklich eigenartig!”
Weil auch die Kollegen von der Spurensicherung keine weiteren Informationen liefern konnten, machten sich Jürgen Schneider und Bernhard Mall, nachdem die Leiche in die Gerichtsmedizin gebracht worden war, auf den Weg in das Kommissariat.
Die Identifizierung des Opfers erwies sich jedoch als nicht so einfach, wie Jürgen es gehofft hatte. Die Fotos der jungen Frau und die von ihr genommenen Fingerabdrücke ergaben keine Hinweise auf ihre Identität. Auch lagen keine Vermisstenmeldungen vor, die auf die Afrikanerin zutrafen.
Jürgen hoffte deshalb auf die Informationen, die Martin Hofer, der Chef des Gerichtsmedizinischen Instituts in Basel, ihm liefern würde.
Außerdem hatte Bernhard eine Anfrage an das Amt für Migration gerichtet, ob das Opfer dort bekannt sei.
Um kurz vor zwölf läutete das Telefon bei Jürgen.
„Schneider, Mordkommission.”
„Das klingt ja grauenhaft, Jürgen. Ich erschrecke immer wieder, wenn ich das höre. Hier ist Anita. Ich hoffe, du sagst das nicht, wenn Antonio dich später mal anruft. Das arme Kind würde dadurch ja traumatisiert.”
„Nein, Anita. Keine Angst! Wenn unser Schatz mich anruft, würde ich das nicht sagen. Aber was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?“
„Ich wollte dich fragen, ob Antonio noch bis Samstagnachmittag bei euch bleiben kann. Sandra und ich gehen am Freitagabend ins Theater in Zürich. Eine tolle Inszenierung der Oper ‚Werther’ von Jules Massenet mit Juan Diego Florez in der Titelpartie.”
„Wow! Darum beneide ich euch aber“, unterbrach Jürgen Anita.
„Wir kommen dann erst spät in der Nacht nach Basel zurück und wären froh, wenn wir ausschlafen und Antonio erst am Nachmittag holen könnten.”
„Das ist absolut kein Problem. Wir können es dann am Samstagvormittag ruhig angehen lassen. Und du weißt ja: Antonio liebt es, nach dem Frühstück noch in Ruhe mit seinen Legos spielen zu können. Vielleicht hat er auch Lust, mit mir in die Stadt zu fahren. Ich möchte auf dem Markt Gemüse für das Wochenende kaufen. Und vielleicht essen wir dann sogar noch ein Eis bei Mövenpick. Das ist für Antonio ja das non plus ultra – und du weißt, ich genieße es auch, etwas mehr Zeit mit ihm zu verbringen“, fügte Jürgen hinzu.
„Dann haben wir die Situation ja zur Zufriedenheit aller bestens gelöst“, erwiderte Anita. „Jetzt will ich dich aber nicht länger stören. Du hast wahrscheinlich diverse Morde in Basel aufzuklären.”
„Ganz so schlimm ist es glücklicherweise nicht. Aber wir haben heute Vormittag einen neuen Fall bekommen, der uns einiges Kopfzerbrechen bereitet. Wir haben die Leiche einer jungen Afrikanerin im Wild Ma-Gässli – du kennst vielleicht den schmalen Durchgang von der Rheinpromenade zur Rheingasse – gefunden.”
„Was für ein schrecklicher Ort! Ich kenne diesen düsteren Durchgang und würde am Abend nie dort hindurchgehen. Und dazu noch dieser schaurige Name ‚Wild Ma-Gässli’!“
„Da hast du Recht, Anita, der Name klingt wirklich schaurig, obwohl der Wilde Maa in Basel eigentlich Teil von einer Art Volksfest ist, wenn er jeweils im Januar zusammen mit anderen archaischen Gestalten auf der Mittleren Brücke tanzt. Aber der Name kann einen schon erschrecken und der schmale Durchgang ist wirklich unheimlich. Ich mache mich mal wieder an die Arbeit. Dir dann noch einen schönen Tag. Liebe Grüße an Sandra und ciao.“
Da Jürgen am Vormittag erst um halb neun im Kommissariat angekommen war und schon um fünf Uhr gehen wollte, verzichtete er auf die Mittagspause und aß lediglich ein Sandwich, das er sich auf dem Weg vom Tatort zum Büro gekauft hatte.
Mario wollte Antonio heute von der Kindertagestätte abholen und Jürgen dann in der Stadt treffen. Antonio genoss es immer sehr, mit seinen Vätern im „Piadina“ am Barfüsserplatz eine Waffel mit Nutella essen zu dürfen. Wenn dazu noch ein Glas Limonade kam, war er im siebten Himmel.
Seine Mütter, Anita und Sandra, achteten stärker darauf, dass Antonio sich gesund ernährte und möglichst wenig gezuckerte Speisen und Getränke zu sich nahm. Sie hatten jedoch nichts dagegen, wenn es bei den Papas mal eine Ausnahme gab.
Für Antonio war es völlig selbstverständlich, zwei Mamas und zwei Papas zu haben. Bei der Anmeldung in der Kindertagesstätte, die Antonio seit dem Alter von einem Jahr besuchte, hatten Anita, Sandra, Jürgen und Mario die Betreuerinnen und Betreuer über ihre Regenbogenfamilie informiert und sich versichert, dass sie keine Vorbehalte ihrer Lebensform gegenüber hatten. Außerdem hatten sie die Eltern der anderen Kinder bei einem Elternabend ebenfalls informiert und waren auch bei ihnen auf völlige Offenheit gestoßen.
Mario, der ursprünglich Jürgens Wunsch, zusammen mit Anita und Sandra eine Regenbogenfamilie zu gründen, skeptisch gegenübergestanden hatte, war erstaunt gewesen, dass sie nirgends Ablehnung ihrer Familienform erlebt hatten.
„Wirklich toll, dass wir so viel Offenheit erfahren“, hatte Mario nach der ersten Elternversammlung, zu der sie zu viert gegangen waren, zu Jürgen gesagt. „Ich habe das nicht erwartet.”
„Du siehst, es ist alles viel unproblematischer, als du es dir vorgestellt hast“, hatte Jürgen entgegnet.
Da Mario es nicht lassen konnte, doch immer wieder einen ironischen Kommentar abzugeben, hatte er erwidert: „Da du die Rolle des Zuchtbullen freiwillig übernommen hast, war für mich das Haupthindernis ja überwunden. Und ich muss zugeben, jetzt, wo Antonio geboren ist, genieße ich es auch, sozialer Papa zu sein – was ich mir damals ja überhaupt nicht vorstellen konnte.”
Anita, Sandra, Jürgen und Mario hatten vor sechs Jahren beschlossen, dass Anita die leibliche Mutter sein würde und die Schwangerschaft mit Jürgens Sperma herbeigeführt werden sollte. Schon nach wenigen Versuchen war Anita schwanger geworden und hatte vor fünf Jahren Antonio zur Welt gebracht. Jürgen hatte die Vaterschaft bestätigt und Sandra und Mario waren die sozialen Eltern von Antonio. Die vier waren mit ihrer Regenbogenfamilie total zufrieden.
Anfangs hatte es einige Probleme mit den Großeltern gegeben. Marios Eltern hatten nach seinem Coming-out zwar immer wieder ihr Bedauern darüber ausgedrückt, dass sie von ihm nun keine Enkelkinder bekommen würden. Für sie als italienische Familie waren Kinder sehr wichtig. Als Mario ihnen dann aber mitgeteilt hatte, er werde bald ein Kind haben, waren sie völlig entsetzt gewesen. Mit dem Gedanken, Großeltern eines in einer Regenbogenfamilie aufwachsenden Kindes zu werden, konnten sie sich absolut nicht anfreunden.
Marios Eltern äußerten anfangs sogar, dass sie „dieses Kind“ nie treffen wollten, was Mario als sehr verletzend erlebte und seinerseits drohte, unter diesen Umständen den Kontakt zu seinen Eltern abbrechen zu wollen. Erst durch Jürgens Vermittlung war es gelungen, die Wogen wieder etwas zu glätten.
Als Antonio geboren war und Marios Eltern auf der Geburtsanzeige das Bild „dieses Kindes“ sahen, schmolzen indes alle Ressentiments, die sie gehabt hatten, in sich zusammen. Vor allem Marios Mutter konnte es nicht erwarten, das Enkelkind in ihre Arme zu schließen. Sie vergoss heiße Tränen, als Anita ihr Antonio in den Arm legte und der Kleine die Oma anstrahlte.
Bei diesem Anblick hatte es sich Mario nicht verkneifen können zu sagen, also sei „dieses Kind“ offenbar doch nicht so schrecklich, wie seine Mutter es sich vorgestellt hatte. Sie hatte darauf empört reagiert und sich bis zum Argument verstiegen, sie habe die Idee eines Kindes in der Regenbogenfamilie von Anfang an sehr gut gefunden und habe nie die geringsten Vorbehalte gehabt. Mario habe das „wieder mal“ frei erfunden.
Ähnlich war die Entwicklung in Anitas Familie verlaufen. Hier hatte der Vater, der schon auf Anitas Coming-out zuerst recht ablehnend reagiert hatte, die Idee, ein Kind zu haben und in einer Regenbogenfamilie aufzuziehen, als „absurd“ empfunden. Es sei rücksichtslos dem Kind gegenüber, es mit einer solchen Familienform zu konfrontieren. Es sei doch klar, dass ein solches Kind Opfer von Diskriminierungen und Ausgrenzungen sein werde, wenn das Umfeld wahrnehme, dass es in keiner „normalen“ Familie lebe, sondern zwei Mütter und zwei Väter habe.
Anitas Mutter hatte ihn zwar zu beschwichtigen versucht. Er war aber skeptisch geblieben. Erst als Antonio geboren war und Anitas Vater bei der Taufe, zu der alle vier Großelternpaare eingeladen waren, das Enkelkind kennengelernt hatte, waren auch alle seine Bedenken wie weggewischt gewesen.
Einen positiven Einfluss hatten auf ihn auch die Reaktionen der Eltern von Sandra und Jürgen gehabt. Diese beiden Großelternpaare zeigten ihre große Freude über die Geburt des Enkelkindes und vermittelten Anitas Vater, dass sie überhaupt keine Probleme in einer Regenbogenfamilie sähen.
Eindruck hatte es auf Anitas Vater außerdem gemacht, dass zur Taufe auch Jürgens Ex-Frau Annette und die aus der Ehe von Annette und Jürgen hervorgegangene Tochter Caroline gekommen waren. Auch sie zeigten ihre große Freude an der Geburt von Antonio.
Je älter der Enkelsohn geworden war, desto enger war die Beziehung zwischen Anitas Vater und Antonio geworden. Inzwischen war es auf ausdrücklichen Wunsch des Großvaters zur Gewohnheit geworden, dass er alle vierzehn Tage einen Nachmittag mit Antonio verbrachte. Sie gingen dann in den Basler Zoo, fuhren mit einem der Rheinschiffe von Basel nach Rheinfelden und zurück und gingen zu diversen Spielplätzen und im Sommer zum Baden in eines der Freibäder.
Vor einigen Monaten war der Großvater mit Antonio in ein Kindertheater gegangen. Antonio war davon total begeistert gewesen und wochenlang war dieser Theaterbesuch das Hauptthema für ihn.
Jürgen, Mario und Antonio waren zwar schon gegen halb acht wieder zu Hause gewesen. Es verging aber doch noch mehr als eine Stunde, bis Antonio endlich im Bett lag. Er war sehr geschickt darin, das Schlafengehen hinauszuzögern. Zuerst wollte er noch etwas trinken. Dann dauerte es relativ lange, bis er gewaschen war und seine Zähne geputzt hatte, und als er endlich um kurz vor halb neun im Bett lag, musste natürlich noch die Gutenachtgeschichte gelesen werden.
In den Tagen, in denen Antonio bei Jürgen und Mario war, lasen die Väter abwechselnd die Gutenachtgeschichte vor, saßen im Allgemeinen aber immer beide an Antonios Bett. Alle drei genossen diese Zeit zum Ausklang des Tages.
Zum Zeremoniell des Ins-Bett-Gehens gehörte am Ende noch das Aufziehen der Spieluhr, die das Lied „Guten Abend, gute Nacht“ spielte. Antonio hatte sie zur Taufe von Marios Eltern bekommen und bestand, egal um welche Zeit er ins Bett ging, darauf, dass das Gutenachtlied gespielt würde.
Als sich Jürgen und Mario von Antonio verabschiedet hatten, ließen sie die Tür zum Kinderzimmer einen Spalt offen. Antonio fand, er könne besser einschlafen, wenn das Licht vom Flur in sein Zimmer scheine. Leise gingen Mario und Jürgen hinunter in den Wohnraum im Parterre ihres Hauses.
Die beiden Männer hatten vor einigen Jahren dieses Haus im Neubadquartier gekauft. Ihre Freundinnen und Freunde hatten sich zum Teil lustig darüber gemacht, dass Jürgen und Mario in einem so spießigen „Pässe“-Quartier wohnten. Tatsächlich waren die Straßen in diesem Stadtteil nach Schweizer Pässen benannt, z. B. Furka-, Gotthard-, Nufenen- und Oberalpstraße.
„Es fehlt nur noch, dass ihr ins ‚Vögel-Quartier’ zieht“, hatte eine ihrer Freundinnen spöttisch gemeint. Auf Marios erstaunte Frage, was denn das sei, hatte Jürgen ihm erklärt, dass es in einem Teil vom Bruderholz, einer bevorzugten, teuren Wohngegend Basels, eine Reihe von Straßen gab, die nach Vögeln benannt waren: z. B. Amsel-, Drossel- und Lerchenstraße.
Inzwischen wohnten die beiden Männer seit etlichen Jahren hier und fühlten sich in ihrem Fünf-Zimmer-Haus sehr wohl. Von ihren Nachbarn waren sie zunächst etwas argwöhnisch beobachtet worden, und diese hatten sich hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert: „Stellt euch vor: Das Haus soll von einem Männerpaar gekauft worden sein!“ Einige Anwohner hatten sogar die Befürchtung geäußert, wenn jetzt „solche“ Leute ins Quartier zögen, müsse man ja „mit allem rechnen.”
Jürgen und Mario hatten dies gespürt und hatten ganz brav Antrittsbesuche bei den Nachbarn rechts und links und gegenüber gemacht und, sobald sie eingerichtet waren, die Bewohner der umliegenden Einfamilienhäuser zu einer Einzugsparty eingeladen. Spätestens nach dieser Einladung war das Eis geschmolzen, und nun hieß es von ihnen: „Ach, diese reizenden Männer! Was für ein Glück, dass wir solche netten Nachbarn bekommen haben!“
Einige ihrer schwulen Freunde hatten sich lustig über Jürgen und Mario gemacht und sich kritisch darüber geäußert, dass die beiden nun ganz „heterolike“ lebten. Und die beiden mussten sich auch die Frage gefallen lassen, ob es denn das Ziel schwuler Emanzipation sein könne, „wie ein Hetero-Ehepaar in einem Einfamilienhäuschen mit Garten zu leben“ und „mit dem Kinderwagen auf der Straße zu flanieren.”
Jürgen und Mario waren aber zufrieden mit ihrer Lebensweise und waren mehr oder weniger immun gegenüber solchen kritischen Anfragen.
„Nach außen mag es zwar so aussehen, als ob wir eine Heteroehe imitierten. Aber tatsächlich unterscheidet sich unsere Partnerschaft ja doch wesentlich von vielen Ehen Heterosexueller“, war das Gegenargument von Jürgen gewesen, und er hatte darauf hingewiesen, dass sie eine egalitäre Rollenverteilung hatten und nicht die hierarchische Struktur, wie sie in vielen traditionellen Ehen nach wie vor besteht.
„Wir wollen uns nicht an irgendwelche heterosexuellen Normen anpassen, um akzeptiert zu werden, sondern ein Leben führen, wie es uns behagt“, hatte Mario einem Freund geantwortet, der kritisch gefragt hatte, ob das Ziel der beiden nicht letztlich doch sei, sich so wenig wie möglich von den „Heten“ zu unterscheiden. „Sei mal ehrlich, Mario“, hatte der Freund gemeint, „nennst du das noch ein schwules Leben?“
Derartige Fragen wurden noch einmal intensiv im Freundeskreis diskutiert, als bekannt wurde, dass Jürgen und Mario sich mit dem Gedanken trügen, eine Regenbogenfamilie zu gründen.
Mario war zwar anfangs auch skeptisch hinsichtlich der Kinderfrage gewesen. Schließlich hatte er sich aber bereit erklärt, mit Jürgen, Anita und Sandra eine Regenbogenfamilie zu gründen. Sofort hatte Jürgen mit Begeisterung begonnen, eines der Zimmer im ersten Stock ihres Hauses als Kinderzimmer einzurichten. Immer wieder hatte sich Mario über ihn lustig gemacht, da in dieser Zeit Anita noch nicht einmal schwanger gewesen war. Aber Jürgen war von der Aussicht, ein Kind zu haben, so begeistert gewesen, dass er sich voller Eifer in die Planung der Einrichtung des Kinderzimmers gestürzt hatte.
Wider Erwarten war dann aber schon der fünfte Versuch, bei Anita eine Schwangerschaft herbeizuführen, erfolgreich gewesen. Deshalb war die frühzeitige Einrichtung des Kinderzimmers tatsächlich sinnvoll gewesen. Und nun waren Jürgen und Mario stolze Väter eines inzwischen schon fünfjährigen Sohnes.
Als in ihrer Straße bekannt geworden war, dass Jürgen und Mario Väter geworden waren, kam dies einer kleinen Sensation gleich. Von Regenbogenfamilien gehört und gelesen hatten schon einige der Nachbarn. Für die meisten war das aber ein Thema, mit dem sie sich nie intensiver beschäftigt hatten, geschweige denn, dass sie eine reale Regenbogenfamilie je getroffen hätten.
Jürgen und Mario hatten nur einem Ehepaar, mit dem sie näheren Kontakt hatten, von ihrem Plan, eine Regenbogenfamilie zu gründen, erzählt. Und ihnen hatten sie auch berichtet, dass Anita schwanger geworden war.
Als Antonio geboren war und die stolzen Väter mit ihm im Kinderwagen durch die Straße promenierten, sprach sich die Geburt des Kindes wie ein Lauffeuer herum. Alle wollten Antonio sehen und einige Frauen waren geradezu zu Tränen gerührt, als sie erfuhren, dass die beiden Männer mit einem Frauenpaar zusammen ein Kind hatten.
„Eigentlich haben wir einen wesentlichen Beitrag zum Abbau von Vorurteilen gegenüber Regenbogenfamilien geleistet“, hatte Jürgen eines Tages zu Mario gesagt. „Es ist immer das Gleiche: Die Leute sind skeptisch, wenn sie von einer Sache erfahren, die nicht aus ihrem unmittelbaren Umfeld stammt. Sobald sie damit aber näher in Kontakt kommen, sieht schon alles anders aus. Das ist ja auch mit uns als Männerpaar so gewesen. Zuerst: ‚Oh je, jetzt ziehen auch noch zwei Schwule hierher’ und heute: ‚Ach, diese reizenden Väter’!“
Mit diesen Gedanken ging Jürgen zusammen mit Mario die Treppe hinunter, nachdem sie Antonio ins Bett gebracht hatten.
„Es ist wirklich toll mit Antonio“, meinte Mario, als Jürgen und er auf dem Sofa Platz genommen hatten. „Und ich muss zugeben, es ist ein großer Gewinn, ein solches Kind zu haben. Tut mir leid, dass ich anfangs so skeptisch wegen der Regenbogenfamilie war, Caro.”
„Schon gut, Mario. Ich wusste, du würdest begeistert sein, wenn das Kind erst einmal da ist. Aber ich muss auch zugeben, dass es anstrengend mit so einem Kleinen ist. Ich hatte das total vergessen. Als ich noch mit Annette verheiratet war und Caroline klein war, hat Annette sie ja meist versorgt und ich habe höchstens manchmal abends die Gutenachtgeschichte vorgelesen oder bin mit Caroline am Samstag in den Zoo gegangen. Aber von dem täglichen Ablauf mit Wecken, Waschen, Anziehen, zum Kindergarten Bringen und so weiter hatte ich nichts zu tun. Das ist nun natürlich ganz anders, wo wir Antonio zusammen versorgen.”
„Da er ja jeweils eine Woche bei uns und eine Woche bei Anita und Sandra ist, ist es aber nicht so anstrengend, finde ich“, entgegnete Mario.
„Du hast Recht, Mario. Insofern ist eine Regenbogenfamilie wirklich ideal. Und wir nehmen viel mehr Anteil an Antonios Entwicklung, als ich das früher bei Caroline miterlebt habe. Oft schlief sie morgens noch, wenn ich von zu Hause weggegangen bin. Und abends hatten Annette und Caroline meistens schon gegessen, wenn ich heimkam. Mit Antonio erlebe ich nun zum ersten Mal den Alltag mit einem Kind. Das empfinde ich als eine enorme Bereicherung.”
„Und nun erzähl’ mal, Caro, wie du den Tag verbracht hast. Hast du wenigstens mal wieder einen schrecklichen Mord aufzuklären? Wer ist heute umgebracht worden? Der Bankier, die Köchin, der schwule Friseur oder ein Mafioso? Und wie? Erstochen, erschlagen, ertränkt oder erschossen?“
„Wenn du mich auch mal zu Wort kommen lässt, kann ich dir berichten. Es ist nicht ganz so dramatisch, wie du dir das vorstellst, Mario. Aber wir haben tatsächlich einen neuen Mord, der uns etliche Rätsel aufgibt. Das Opfer ist eine Afrikanerin, die wir erstochen am Rheinufer in der Nähe der Mittleren Brücke gefunden haben. Bisher haben wir nicht den geringsten Hinweis auf ihre Identität. Keine Tasche, kein Handy, kein Ausweis, keine Schlüssel, nichts, was uns etwas über sie sagen könnte. Soweit wir bis jetzt wissen, gibt uns auch die Kleidung der Toten keinen Hinweis auf ihre Identität.”
„Wirklich merkwürdig“, meinte Mario. „Und was sagt Martin Hofer? Der stößt ja oft bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung noch auf Hinweise, zum Beispiel auch auf DNA-Spuren vom Täter.”
„Martins Bericht werde ich morgen Vormittag bekommen. Ich bin gespannt, ob der mehr Klarheit bringen wird. Da das Opfer eine Ausländerin ist, haben wir auch eine Anfrage an das Migrationsamt geschickt. Vielleicht können die uns weiterhelfen.”
„Und ihr habt keine Vermisstenmeldung, die auf die Afrikanerin zutreffen könnte?”
„Nein. Auch in dieser Hinsicht Fehlanzeige.”
„Am Ende musst du wieder Walter Steiner konsultieren und dir bei ihm psychologischen Rat holen“, meinte Mario grinsend.
Walter Steiner war Psychologe, Leiter der Ehe- und Familienberatungsstelle in Basel. Jürgen und Mario waren seit vielen Jahren mit Walter und dessen Frau Edith, Prokuristin bei einer Privatbank, befreundet. Bei der Aufklärung einiger Mordfälle war Walter Jürgen behilflich gewesen, indem er auf die psychologischen Hintergründe der Taten hingewiesen hatte. Walter verstieg sich zwar leicht in wilde Spekulationen. Doch hatten sich seine Überlegungen letztlich doch immer als sehr hilfreich für Jürgen erwiesen.
„Im Moment sehe ich noch keine Notwendigkeit, Walter in die Ermittlungen einzubeziehen“, entgegnete Jürgen. „Zuerst müssen wir mal wissen, wer die Tote ist. Erst dann ist es an der Zeit, sich Gedanken über die Persönlichkeit des Täters und seine Motive zu machen. Und wie ist dein Tag verlaufen, Schatz?“
„Wir hatten in der Boutique ziemlich viel zu tun. Jean war bei uns und hat sich von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Das war zwar ein Supergeschäft für uns, aber auch ziemlich anstrengend. Du kennst ja diese Diva.“
„Ja. Das ist doch der Typ von Network der schwulen Organisation für Führungskräfte?”
Jürgen nickte und konnte sich gut vorstellen, wie nervenaufreibend es sein musste, Jean zu beraten. Er hatte ihn einmal bei einer Veranstaltung vom Network erlebt, als Jean einen Vortrag über den Komponisten Claude Debussy gehalten hatte. Jean war ihm extrem eitel vorgekommen und hatte geradezu nach Anerkennung gelechzt. Der Vortrag mit den geschickt eingestreuten Musikbeispielen war zwar brillant gewesen. Aber das gockelhafte Auftreten des Referenten hatte Jürgen lächerlich gefunden.
„Solch eine Diva zu bedienen, ist sicher kein Zuckerschlecken“, pflichtete Jürgen Mario bei. „Ich kann mir das Gegacker lebhaft vorstellen.“
„Das Gackern würde ja noch gehen, Caro. Am schlimmsten aber ist Jeans Unentschlossenheit. Er hatte einen tollen Anzug ausgesucht, ein perfekt dazu passendes Hemd und eine supermodische Krawatte, dann auch noch die passenden Strümpfe und sehr elegante Schuhe. Das Ganze hat uns satte zweieinhalb Stunden gekostet.“
„Aber stell dir vor“, fuhr Mario fort, und Jürgen musste grinsen, als er sich vorstellte, wie genervt Mario wohl gewesen war, „als Jean schon an der Kasse stand und zahlen wollte, meinte er plötzlich, vielleicht sei die hellbraune Farbe des Anzugs doch nicht so günstig für ihn. Er fürchte, die mache ihn etwas blass. Er wolle doch noch einmal ein anderes Modell mit dunklerem Braun probieren. Und damit fing die ganze Zeremonie wieder von vorne an! Neuer Anzug, neues Hemd, neue Krawatte, neue Strümpfe, neue Schuhe – und am Ende auch noch neue Unterwäsche. Das Ganze noch einmal geschlagene zweieinhalb Stunden!“
„Offenbar hat Jean einen neuen Lover, denn er legte enormen Wert darauf, dass die Unterwäsche sexy war“, fuhr Mario fort und schaute Jürgen vielsagend an. „Er hat einen stolzen Betrag bei uns liegen gelassen. Aber das ist wirklich hart verdientes Geld!”
„Soll das mit der sexy Unterwäsche ein Wink mit dem Zaunpfahl sein, dass ich mich auch mal bezüglich Unterwäsche von dir einkleiden lassen soll?“, meinte Jürgen lachend. „Meinst du, unser Sexleben müsste dadurch etwas angekurbelt werden, du Nimmersatt?”
„Es kann zumindest nie schaden, das Sexleben zu pflegen und zu beleben. Oder?”
„Dann begeben wir uns jetzt am besten schnellstens in das Schlafgemach und schauen, ob es noch eine Belebung braucht, mein Schatz“, antwortete Jürgen und gab Mario einen tiefen Kuss. Sie löschten die Lampen, warfen noch einen Blick ins Kinderzimmer, um sicher zu sein, dass Antonio schlief, und gingen eng umschlungen ins Schlafzimmer.
Als Jürgen am nächsten Vormittag in sein Büro kam, fand er auf dem Schreibtisch einen Zettel mit der Mitteilung, er möge den Gerichtsmediziner Professor Hofer anrufen.
Jürgen und Martin Hofer kannten sich seit etlichen Jahren. Sie hatten sich bei einem Network-Treffen schwuler Männer in Führungspositionen, kennengelernt und Martin hatte Jürgen erzählt, dass es in Basel, wie in vielen anderen Städten, eine Schwulengruppe der Polizei, die PinkCop, gebe. Jürgen hatte einige Male an Aktivitäten der PinkCop teilgenommen, konnte sich aber letztlich aus Zeitgründen doch nicht zum Beitritt zu dieser Gruppe entschließen, obwohl er ihre Ziele für wichtig hielt und die Mitglieder, die er kennengelernt hatte, sehr schätzte. Martin Hofer aber traf er immer wieder bei privaten Anlässen und hatte selbstverständlich auch im Beruf regelmäßig mit ihm zu tun.
Gespannt, ob Martin Hofer irgendwelche neuen Erkenntnisse hätte, wählte Jürgen die Nummer des Gerichtsmedizinischen Instituts.
„Gerichtsmedizin. Professor Hofer.”
„Hallo, Doc. Hier ist Jürgen Schneider. Wie geht es dir? Wohlauf mit den Leichen auf deinem Tisch?“
„Das will ich meinen, mein lieber Jürgen. Schön, dich zu hören. Schade, dass wir uns so selten sehen. Dein Mario und vor allem euer Sohn nehmen dich offensichtlich sehr in Anspruch.”
„So ist es, Martin. Es ist ganz schön aufreibend, Papa zu sein und gleichzeitig einen Fulltime-Job zu haben.”
„Als Regenbogenfamilie seid ihr aber immerhin vier Erwachsene, die sich um den Sprössling kümmern können. Und dazu noch acht Großeltern! Davon können Heteropaare ja nur träumen.”
„Du hast Recht. Wir kommen auch wirklich gut klar und genießen es alle vier, mitzuerleben, wie Antonio wächst und gedeiht.”
„Aber kommen wir zur Sache, weshalb du mich anrufst“, meinte Martin Hofer. „Ich kann dir leider auch nicht viel bei deinen Ermittlungen weiterhelfen. Wie du weißt, ist das Opfer eine Afrikanerin, vom Typ her wahrscheinlich aus Westafrika, circa 25 Jahre alt, umgebracht durch mehrere Messerstiche in den Rücken, wobei wahrscheinlich bereits der erste Stich tödlich gewesen ist. Dass der Täter noch mehrmals, und zwar mit großer Heftigkeit, zugestoßen hat, scheint mir auf eine stark emotional geprägte Situation hinzuweisen. Todeszeitpunkt: gegen Mitternacht. Aber das ist auch schon alles, was ich dir sagen kann, Jürgen.”
„Keine DNA-Spuren?”
„Leider haben wir auch diesbezüglich nichts finden können. Die Frau scheint vom Angreifer völlig überrascht worden zu sein. Deshalb gibt es auch keine Abwehrspuren.”
„Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass die Spurensicherung etwas gefunden hat, was uns weiter hilft“, meinte Jürgen lakonisch. „Außerdem lassen wir die Kleidung der Toten noch genau untersuchen. Vielleicht können wir wenigstens herausfinden, wo sie gekauft worden ist. Und unsere letzte Hoffnung ist dann das Amt für Migration, das die Frau ja sicher bei ihrer Einreise in die Schweiz registriert hat.”