Wenn Beziehung abhängig macht - Udo Rauchfleisch - E-Book

Wenn Beziehung abhängig macht E-Book

Rauchfleisch Udo

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Beschreibung

»Ohne dich kann ich nicht leben!« – ein Mensch, der sich in seiner Beziehung abhängig fühlt, wird immer wieder von großen Ängsten und Selbstzweifeln gequält. Sein Partner oder seine Partnerin ist meist von den hohen Erwartungen überfordert und leidet ebenfalls an der Situation. Familie und Freunde reagieren meist mit Unverständnis und Vorwürfen, wodurch das Selbstwertgefühl des beziehungsabhängigen Menschen noch mehr geschädigt wird. Anhand vieler Fallbeispiele erklärt Udo Rauchfleisch anschaulich das Phänomen Beziehungsabhängigkeit und gibt ganz konkrete Tipps, was Beziehungsabhängige, ihre Partner, Angehörigen und Freunde tun können, um destruktive Beziehungsmuster aufzulösen. Ein Buch, das Paaren hilft, in Liebe an- und miteinander zu wachsen.

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Udo Rauchfleisch

Wenn Beziehung abhängig macht

Ein Ratgeber

Patmos Verlag

Inhalt

Einleitung: Warum ein Ratgeber für beziehungs­abhängige Menschen und ihre Angehörigen?

1. Was ist Beziehungsabhängigkeit?

2. »Ich mache immer alles falsch!« – »Ich habe genug von ihrer andauernden Fragerei!«

3. »Ich halte es nicht alleine aus!« – »Ich bin doch nicht sein Babysitter!«

4. »Ich komme nicht los von diesem Menschen« – »Wie kann man sich nur so abhängig machen?«

5. »Ich mag anderen nicht widersprechen und will keine Konflikte« – »Man weiß bei ihr nie, woran man ist«

6. »Ich mach mein Ding!« – »Wenn jemand unabhängig ist, dann er …«

7. »Die Gemeinschaft gibt mir endlich ein Gefühl von Familie« – »Wir haben jeglichen Einfluss auf sie verloren«

8. »Ich fühle mich so wohl im Elternhaus« – »Unglaublich, wie er es sich im ›Hotel Mama‹ bequem macht!«

9. »Ich kann ohne dich nicht leben!« – »Ich muss sie retten!«

10. »Ich kann mich nicht vom Sexchat losreißen« – »Er ist sexsüchtig!«

11. »Ich kann mich nicht von ihm trennen!« – »Wie kann sie das nur weiter aushalten?«

12. Gibt es Rettung aus Abhängigkeitsbeziehungen?

Schluss: Das Wichtigste auf einen Blick

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Einleitung: Warum ein Ratgeber für beziehungs­abhängige Menschen und ihre Angehörigen?

Wir Menschen sind, wie schon Aristoteles sagte, soziale, auf Gemeinschaft angelegte Wesen und können ohne Beziehungen zu anderen Menschen letztlich nicht existieren. Martin Buber hat dies mit den Worten beschrieben: »Der Mensch wird am Du zum Ich.«1 Diese zentrale Bedeutung der Beziehungen beschränkt sich indes nicht auf den Menschen, sondern gilt auch für die höheren Säugetiere, deren ungestörte Entwicklung davon abhängt, ob sie eine Beziehung zu den sie aufziehenden Elterntieren aufbauen können.

Neben den Beziehungen, die für die Entwicklung von uns Menschen wichtig sind, gibt es aber auch Beziehungsformen, die eine unheilvolle, destruktive Wirkung haben. Eine davon ist die Beziehungsabhängigkeit.

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, den Begriff »Abhängigkeit« hören oder lesen, denken Sie sicher fast automatisch und ausschließlich an Menschen, die von Alkohol, Drogen oder allenfalls bestimmten Tätigkeiten wie Arbeit (Workaholic) oder Glücksspielen (Spielsüchtige) abhängig sind. Selten hingegen verbinden wir mit diesem Begriff die Situation der Menschen, die Abhängigkeiten im Beziehungsbereich aufweisen. Oft ist diese Art von Abhängigkeit auch weniger offensichtlich. Aber das damit verbundene Leiden und die Folgen für die Betreffenden selbst sowie für ihre Angehörigen und Freunde sind keineswegs weniger schwerwiegend als die der stoffgebundenen Abhängigkeiten.

Zu Beziehungsabhängigkeit kommt es vor allem bei Personen, die sich wenig zutrauen und deshalb stark auf den Rat und die Unterstützung anderer angewiesen sind. Oft klammern sie sich aus Angst vor dem Alleinsein an andere Menschen und harren selbst dann in einer Beziehung aus, wenn sie dort Opfer von Gewalt werden. Beziehungsabhängige sind jedoch keine spezifische Personengruppe. Eigentlich kennen wir alle, sofern wir uns auf emotional intensive Beziehungen einlassen, derartige Abhängigkeitsgefühle. Und selbst diejenigen, die ängstlich Abstand zu anderen Menschen halten, können beim Hineinspüren in ihre Furcht wahrnehmen, dass es die Abhängigkeit von anderen ist, vor der sie Angst haben, wenn sie eine Beziehung eingehen.

Da bei Abhängigkeitsverhältnissen immer mindestens zwei Personen beteiligt sind, ist die Zahl derer, an die sich dieser Ratgeber richtet, keineswegs klein. Darüber hinaus bringen derartige Beziehungskonstellationen oft großes Leid für die Abhängigen selbst und ihre Interaktionspartner, aber auch für die ihnen nahestehenden Menschen mit sich, und so hoffe ich, mit diesem Buch viele Menschen erreichen und ihnen Hilfestellungen geben zu können.

Während Personen mit einer Beziehungsabhängigkeit die Anlehnung an andere Menschen bewusst suchen und ihnen diese Nähe zumindest einige Zeit lang innere und äußere Sicherheit vermittelt, empfinden Sie als Partnerin oder Partner eines beziehungsabhängigen Menschen eine solche Beziehung vielleicht schon bald als sehr ein­engend und fühlen sich darin unter Umständen gefangen. Anfangs mögen Sie als Partner beispielsweise gedacht haben, es sei eine eher distanzierte Beziehung und Sie würden dem anderen Menschen »etwas unter die Arme greifen«. Aber dann merken Sie plötzlich, dass Sie sich durch die Erwartungen, die die abhängige Person an Sie hat, überfordert fühlen und ihre Ansprüche Ihnen fast die Luft abschnüren. In einer solchen Situation, vor allem, wenn Sie spüren, wie verzweifelt sich die abhängige Person an Sie klammert, erleben Sie sich unter Umständen wie in einer Falle.

In diesem Buch geht es um drei Gruppen von Menschen: um Sie, die oder der Sie sich in einer Beziehung abhängig fühlen und abhängig machen; um Sie, die oder der Sie Partnerin oder Partner einer abhängigen Person sind; und um Sie als Angehöriger, Freundin oder guter Bekannter einer beziehungsabhängigen Person.

Die erste Gruppe der beziehungsabhängigen Menschen ist keineswegs klein. Wenn Sie selbst unter solchen Problemen leiden, wissen Sie aus eigener Erfahrung um die großen Ängste und Selbstwertzweifel, die Sie immer wieder quälen. Vielfach erfahren Sie indes von den Menschen Ihrer Umgebung keinen Trost und keine Unterstützung, sondern sehen sich häufig sogar noch mit Vorwürfen konfrontiert, etwa dass Sie doch »endlich mal selbstständig werden« sollten, »sich zusammenreißen« müssten oder »selbst schuld« seien, wenn Sie sich nicht aus Beziehungen lösen, die Ihnen schaden. Vielleicht haben Sie als Angehörige oder Freund auch schon einmal mit derartigen Vorwürfen Ihrem Unmut Luft gemacht.

Um auf die schwierige Situation aufmerksam zu machen, in der Sie sich als Mensch mit einer Beziehungsabhängigkeit, als Partnerin bzw. Partner oder als Person aus dem Kreis der Angehörigen und Freunde befinden, um Ihnen Hilfen zu bieten, aus Ihrer verzweifelten Lage herauszufinden bzw. um Sie als Außenstehende für die Probleme des Paares zu sensibilisieren – dafür habe ich dieses Buch geschrieben.

In diesem Ratgeber werde ich in zwölf Kapiteln die wichtigsten Fragen und Probleme diskutieren, die im Umkreis von Beziehungsabhängigkeit auftauchen. Dabei stehen sowohl die Probleme des unter der Abhängigkeit leidenden Menschen im Zentrum als auch die seiner Partnerin bzw. seines Partners, außerdem die Fragen, mit denen sich seine Angehörigen und Freunde konfrontiert sehen. Diese Betrachtungsweise liegt nahe, weil das Phänomen Abhängigkeit in sich bereits die Beziehungsthematik enthält. Zur Abhängigkeit gehören stets zwei Personen: eine abhängige und eine, von der der Betreffende abhängig ist. Beziehungsabhängigkeit entfaltet sich, wie das Wort selbst schon deutlich macht, immer in einer Beziehung und wird von beiden Beziehungspartnern gestaltet. Um dies immer wieder deutlich zu machen, sind die Kapitelüberschriften jeweils aus der Sicht beider Interaktionspartner formuliert.

Zur Veranschaulichung dienen Beispiele, die das Erleben und Verhalten realer Personen beschreiben. Dabei habe ich aber jeweils Teile aus verschiedenen Lebensgeschichten zu einem Beispiel zusammengefügt, so dass die Anonymität der einzelnen Personen absolut gewährleistet ist. Die verwendeten Namen sind fiktiv.

Im ersten Kapitel werde ich darstellen, was wir aus psychologischer Sicht unter einer beziehungsabhängigen Persönlichkeit verstehen. Es geht hier, wie im gesamten Ratgeber, nicht um Menschen mit einer krankhaften Persönlichkeitsentwicklung, sondern um Beziehungsformen, die wir bei uns allen in der einen oder anderen Form finden können oder in die wir unter bestimmten Umständen geraten können. Ich werde in diesem Zusammenhang auch darauf eingehen, was wir heute über die Ursachen dieser Entwicklungen wissen.

Ein Exkurs in diesem Kapitel ist der Frage gewidmet, ob Liebe nicht immer eine Art von Abhängigkeit ist. Sind die uns verzehrende Sehnsucht nach der geliebten Person und die »rosarote Brille«, durch die wir sie im Zustand der Verliebtheit wahrnehmen, nicht immer auch Ausdruck von Abhängigkeit? Oder zeichnet sich echte Liebe durch eine besondere Art von Abhängigkeit aus, die sich von der in diesem Ratgeber geschilderten Beziehungsabhängigkeit unterscheidet? Diesen Fragen werde ich in diesem Exkurs nachgehen.

Eine keineswegs seltene Form von Abhängigkeit zeigt sich bei Menschen, die sich an ihren Partner oder ihre Partnerin binden, weil sie unsicher sind und befürchten, »immer alles falsch zu machen«. Diese Art von Beziehung und die zumeist ablehnenden Reaktionen des sozialen Umfelds schildere ich im zweien Kapitel.

Oft kommt es auch deshalb zu Abhängigkeit in Beziehungen, weil Menschen es nicht aushalten, allein zu sein. Auch hier sind die Reaktionen anderer meist ablehnend. Um eine solche Beziehungsdynamik geht es in Kapitel drei.

Mitunter kann die Abhängigkeit eine Intensität annehmen, die bei der Umgebung ungläubiges Kopfschütteln auslöst. In einer solchen Situation befindet sich der Mann, dessen Schicksal ich im Kapitel vier darstelle. Er hat zwar selbst den Eindruck, sich um Kopf und Kragen zu bringen. Aber er kann von seiner Bezugsperson nicht lassen.

Manchmal machen sich Menschen von anderen abhängig, weil sie Angst haben, anderen zu widersprechen. Sie möchten keine Konflikte haben und passen sich übermäßig an, riskieren dafür aber, kritisiert zu werden, man wisse bei ihnen nie, woran man sei. Dies ist das Thema von Kapitel fünf.

Nicht immer werden indes die Unsicherheit und Ängstlichkeit, die einer Abhängigkeitsbeziehung oft zugrunde liegen, sichtbar. In Kapitel sechs stelle ich eine Person vor, die nach außen gerade das Gegenteil darstellt: Sie kämpft – aus Angst vor Abhängigkeit – in überkompensierender Weise vehement für ihre Unabhängigkeit und wird von anderen auch als unabhängig wahrgenommen.

Abhängigkeitsbeziehungen entwickeln sich nicht immer nur zwischen zwei Personen, sondern können auch zwischen einem Individuum und einer Gruppe entstehen. In Kapitel sieben schildere ich die Schwierigkeit einer jungen Frau, die Mitglied einer charismatisch-fundamentalistischen Freikirche ist, sich aus der Abhängigkeit von dieser Gruppierung wieder zu befreien.

Das »Hotel Mama« ist ein Bild, das in der Gegenwart vielfach vor allem für junge Männer verwendet wird, die, mitunter weit bis ins Erwachsenenalter hinein, im Elternhaus verweilen. Diesem Thema ist das Kapitel acht gewidmet.

Bei den stoffgebundenen Abhängigkeiten ist in Bezug auf die Angehörigen oft die Rede von Co-Abhängigkeit. Auch im Bereich der Beziehungsabhängigkeit gibt es derartige Konstellationen. Hier steht, wie in Kapitel neun beschrieben, das sich anklammernde Verhalten der einen Person dem Bedürfnis des Partners, sie zu »retten«, gegenüber.

Da in der Gegenwart der Internetkonsum eine immer größer werdende Rolle bei Erwachsenen, aber auch bei Jugendlichen und sogar Kindern spielt, habe ich in Kapitel zehn die Situation eines exzessiven Chattens auf Sexseiten beschrieben. Die Betreffenden täuschen sich oft lange Zeit darin, wenn sie meinen, nicht vom Internetkonsum abhängig zu sein, während Angehörige und Freunde längst sehen, dass es hier um ein suchtartiges Verhalten geht.

Eine tragische Abhängigkeitsbeziehung besteht bei Menschen, die zwar vom Kopf her wissen, dass sie sich in einer für sie unheilvollen Beziehung befinden, deren Gefühle sich aber »querstellen«, so dass sie wider besseres Wissen und entgegen allen Ratschlägen ihres sozialen Umfelds in dieser destruktiven Beziehung ausharren. Eine Situation dieser Art schildere ich in Kapitel elf.

Ich möchte diesen Ratgeber nicht abschließen, ohne etwas ausführlicher auf die Möglichkeiten einzugehen, wie Menschen sich aus Abhängigkeitsbeziehungen, wie ich sie hier schildere, befreien können. Diesem Thema ist das zwölfte Kapitel gewidmet.

Am Ende eines jeden Kapitels werden die wichtigsten Aspekte noch einmal zusammengefasst und »auf den Punkt gebracht«. Außerdem formuliere ich Hinweise für ein konstruktives Verhalten unter den Rubriken »Was Sie als beziehungsabhängige Person tun können« sowie »Was Sie als Angehöriger oder Freundin tun können«.

Den Abschluss des Ratgebers bildet eine kurze thesenartige Zusammenfassung der Hauptthemen. Ganz am Ende finden Sie Angaben zu weiterführender Literatur.

Möge dieser Ratgeber eine Hilfe sein, zu einem sensiblen Umgang mit dem Phänomen »Beziehungsabhängigkeit« zu finden, und dazu beitragen, problematische Beziehungsmuster aufzulösen, damit Paare in Liebe an- und miteinander wachsen können.

Im Frühjahr 2021

Udo Rauchfleisch

1. Was ist Beziehungsabhängigkeit?

Das Phänomen der Beziehungsabhängigkeit ist weitverbreitet. Es umfasst ein breites Spektrum, das von Wünschen, sich an andere Menschen anzulehnen und sich ihnen weitgehend zu überlassen, bis hin zu quälenden Abhängigkeiten emotionaler und finanzieller Art reicht. Oft bemerken die betreffenden Menschen selbst nicht, dass sie sich in einer Abhängigkeitsbeziehung befinden, und auch die Umgebung steht unter dem Eindruck, die beiden betreffenden Menschen verbinde eine innige Beziehung, die aber keinerlei Abhängigkeit voneinander erkennen lässt.

Erst wenn es zu Konflikten zwischen den beiden Partnern kommt oder wenn die eine oder die andere Person sich eingeengt und in ihrer Entwicklung behindert fühlt, taucht die Frage auf, ob es hier um eine Abhängigkeitsdynamik geht. Oft wird auch erst im Augenblick der Trennung sichtbar, dass der Abschied voneinander nicht in angemessener Weise gelingt, sondern mitunter jahrzehntelang tiefe Wunden hinterlässt und der abhängigen Person erst dann klar wird, in welchem starken Maße sie sich an die Partnerin oder den Partner gebunden hat.

Wenn es um eine Abhängigkeitsstörung mit Krankheitswert geht, sprechen wir von einer abhängigen/dependenten/asthenischen »Persönlichkeitsstörung«, wie sie in den internationalen Diagnosekatalogen ICD und DSM beschrieben werden. Schätzungen gehen davon aus, dass in den westlichen Ländern etwa 2,5% der Gesamtbevölkerung darunter leiden. Die Häufigkeit des Auftretens bei Frauen und Männern ist ungefähr gleich.

Ein Vergleich der Merkmale, die in der ICD-10 und im DSM-5 genannt werden, zeigt hinsichtlich der Symptome der abhängigen Persönlichkeitsstörung weitgehende Übereinstimmungen. Es spielen vor allem die Angst und die Gefühle der Hilflosigkeit und Ohnmacht eine zentrale Rolle. Menschen mit einer abhängigen/dependenten Persönlichkeitsstörung werden als selbstunsicher und in starkem Maße aufUnterstützung durch andere angewiesen und unter Versagensängsten leidend geschildert.

Obwohl dies in den Diagnosekatalogen ICD und DSM nicht erwähnt wird, liegt es nahe, als Grundlage einer solchen Entwicklung eine zentrale Selbstwertstörung zu vermuten, die sich in Ängstlichkeit, Unsicherheit, mangelndem Selbstvertrauen und Angewiesensein auf Bestätigung und Unterstützung durch andere manifestiert. Auch die Angst vor dem Zerbrechen von Beziehungen passt in das Bild einer solchen verletzbaren Persönlichkeit mit einem instabilen Selbstwertgefühl.

Eine Folge der Selbstunsicherheit dieser Menschen ist ihre Neigung, sich an ihre Bezugspersonen anzuklammern, sind sie doch auf deren Bestätigung und Unterstützung angewiesen. Aus diesem Grund passen sie sich oft extrem an andere Menschen an und sind unfähig, eigene Vorstellungen zu entwickeln und durchzusetzen. Mitunter wird ihnen deshalb auch eine »mangelnde Willenskraft« unterstellt und es wird ihnen vorgeworfen, sie seien »überangepasst« und würden sich, im Positiven wie im Negativen, jeweils völlig an den Meinungen und dem Verhalten der Menschen ihres sozialen Umfelds orientieren.

Nicht immer leiden Menschen mit derartigen Persönlichkeitszügen indes unter einer Persönlichkeitsstörung mit Krankheitswert. Bei einer weniger ausgeprägten Form der Abhängigkeit sprechen wir von einem »dependenten Persönlichkeitsstil«.2 Zu dieser Gruppe gehört eine weitaus größere Zahl von Menschen, die in ihren Beziehungen eine Abhängigkeitsdynamik aufweisen. Es sind Personen, die gewisse Züge der Abhängigkeit zeigen, anderen gegenüber sehr loyal sind, ihre eigenen Wünsche denen anderer Menschen unterordnen und gegenüber ihnen nahestehenden Menschen sehr anhänglich sind. Sie ­können sich gut in andere Menschen hineinversetzen und mit ihnen kooperieren, zeichnen sich durch große Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit aus und sind im Allgemeinen beliebt.

Verglichen mit den großen Selbstwertproblemen von Menschen mit einer abhängigen Persönlichkeitsstörung ist das Selbstwertgefühl von Personen mit einem dependenten Persönlichkeitsstil stabiler. Auch wenn sie ebenfalls ängstlich, unsicher und unselbstständig sind, weisen sie im Allgemeinen doch eine größere Unabhängigkeit von ihrem sozialen Umfeld auf und passen sich nicht in dem extremen Ausmaß anderen an wie Menschen mit einer abhängigen Persönlichkeitsstörung. Indes sind die Übergänge zwischen der dependenten Persönlichkeitsstörung im engeren Sinne und dem dependenten Persönlichkeitsstil fließend.

Die folgenden Merkmale kennzeichnen Menschen mit einem dependenten Persönlichkeitsstil:

große Angst, Verantwortung zu übernehmen,bei Missgeschicken anderen die Verantwortung dafür geben,Zurückstellen eigener Bedürfnisse und große Nachgiebigkeit gegenüber den Wünschen anderer, um sich deren Zuwendung zu erhalten,Schwierigkeit, Entscheidungen zu treffen, und Angewiesensein auf Bestätigung durch andere,Angst, eine eigene Meinung zu vertreten,sich selbst als schwach, hilflos und inkompetent erleben,Angst, verlassen zu werden, und anklammerndes, symbiotisches Verhalten anderen gegenüber.

Die Ursachen der Ausbildung eines dependenten Persönlichkeitsstils sind vielfältiger Art. Neben gewissen hereditären Komponenten3, also vererbten Dispositionen, werden Faktoren im sozialen Umfeld genannt, etwa Zurückweisung und Entmutigung im Elternhaus und in der Schule sowie das Erleben von Mobbing und Ausgrenzung. Auch ein extrem ängstliches, dem Kind nichts zutrauendes Milieu mit einem übertrieben fürsorglichen »overprotective« Erziehungsstil kann zu derartigen Persönlichkeitszügen führen. Als das Gemeinsame ­dieser Faktoren können wir annehmen, dass diese Menschen nicht ­bedingungslos, nicht um ihrer selbst willen geliebt, akzeptiert und ermutigt worden sind und aus diesem Grund kein stabiles Selbstwert­gefühl entwickeln konnten.

Es wäre indes eine verhängnisvolle Fehlinterpretation, wenn wir aus dieser Formulierung den Schluss zögen, die Eltern seien »schuld« an der so verlaufenen Entwicklung ihrer Kinder. Auch wenn die später unter einer Beziehungsabhängigkeit leidenden Menschen in ihrer Kindheit und Jugend nicht die nötige Bestätigung und Ermutigung erhalten haben, die für den Aufbau eines stabilen Selbstwertgefühls notwendig sind, kann man dies nicht einfach den frühen Bezugspersonen als persönliches Versagen anlasten. Ursächlich bestehen hier zwar Zusammenhänge. Wir würden mit einer solchen Sicht jedoch der Realität dieser Familien nicht gerecht. Im Allgemeinen haben wir es in diesem Fall mit Eltern zu tun, die aufgrund von ökonomischen Problemen, Konflikten in ihren Ehen und eigenen psychischen Schwierigkeiten nicht in der Lage waren, ihren Kindern gerecht zu werden. Zur Entmutigung der Kinder kann auch beigetragen haben, dass die Eltern aus einem bildungsfernen Milieu stammten, den Forderungen, welche die Schule an ihre Kinder stellte, hilflos gegenüberstanden, und durch ihre sozial instabile Position selbst verunsichert waren. Solche Eltern können ihren Kindern beim besten Willen kein Selbstvertrauen vermitteln. Ich werde bei der Schilderung der verschiedenen Beispiele noch ausführlicher auf diese Fragen eingehen.

Exkurs: Ist Liebe nicht immer eine Art von Abhängigkeit?

Beim Lesen der bisherigen Ausführungen mögen Sie sich gefragt haben, ob es nicht eine allzu einseitige negative Sicht ist, wenn ich von Abhängigkeit spreche und es doch eigentlich um eine »ganz normale Liebe« gehen könnte. Stellt Liebe nicht immer eine Form von Abhängigkeit dar? Machen wir uns, wenn wir uns auf »echte Liebe« einlassen, nicht gegenseitig und sogar mit Wonne voneinander abhängig?

Solche Fragen sind durchaus berechtigt. Denn vor allem das Anfangsstadium einer Liebesbeziehung mit dem Zustand der Verliebtheit trägt Züge, die für Nicht-Beteiligte oft geradezu pathologisch anmuten. Denken Sie an das »rauschartige« Gefühl, das uns in der ersten Verliebtheit erfüllt. Schon die Bezeichnung »rauschartig« deutet die Nähe zur Sucht an.

Auch die körperlichen »Symptome« des Herzklopfens, des Errötens und der Schweißausbrüche, welche die Gegenwart oder nur schon der Gedanke an die geliebte Person auslösen, zeigen Gemeinsamkeiten mit der Alkohol- und Drogenabhängigkeit. Pathologisch erscheint Außenstehenden auch die totale Einengung des Denkens und der Aufmerksamkeit auf die geliebte Person sowie die Unfähigkeit, realistische Urteile zu fällen und ausgewogene Entscheidungen zu treffen, wenn die Liebe uns sprichwörtlich »blind« macht. Beispiele dafür werde ich Ihnen noch in späteren Kapiteln schildern.

Liebeskummer und Trennungsschmerz können die davon betroffenen Menschen körperlich und psychisch Höllenqualen durchleben lassen und die Sehn-Sucht nach dem unerreichbaren geliebten Menschen kann man mit Recht mit den Abstinenzsymptomen des Drogen- oder Alkoholabhängigen vergleichen, dem das Suchtmittel nicht zugänglich ist. Ähnlich ist es bei Menschen mit Verhaltenssüchten, etwa Spielsüchtigen oder süchtigem Internetkonsum (vgl. Kapitel 10). Im Fall der Sucht ist die hier bestehende Abhängigkeit eklatant. Wir sprechen deshalb ja auch von »Abhängigkeits«erkrankungen.

Sind Zustände des Verliebtseins und der Liebe also identisch mit der emotionalen Abhängigkeit, wie die Menschen, um die es in diesem Ratgeber geht, sie erleben? Meine Antwort lautet: Nein. Sicher nicht! Es gibt zwar Ähnlichkeiten, vor allem im Stadium der ersten Verliebtheit. Aber auch dann besteht ein wesentlicher Unterschied in der Tatsache, dass Verliebtheit und Liebe im Allgemeinen einen Gefühlszustand darstellen, an dem beide Interaktionspartner in gleicher Weise beteiligt sind. Die emotionale Abhängigkeit hingegen ist – ganz besonders in Hörigkeitsbeziehungen (vgl. Kapitel 4) – ein einseitiger Gefühlszustand.

Wir sprechen von einer Liebesbeziehung, wenn zwei Menschen in einem partnerschaftlichen Verhältnis zueinander stehen, sich also auf Augenhöhe begegnen und die Autonomie des/der anderen respektieren. Sie mögen einander zwar sagen: »Ich tue alles für dich«, »Ich kann ohne dich nicht leben«, oder: »Du bist ein Teil von mir.« Trotz des starken Gefühls der Verbundenheit, das in solchen Formulierungen zum Ausdruck kommt, bleibt aber immer noch eine gewisse Grenze zwischen den Liebenden bestehen. Diese Grenze mag zwar in gewissen Momenten der innigen Nähe oder der rauschartigen sexuellen Ekstase verschwimmen. Aber schon bald etabliert sich die Grenze wieder, ohne dass das Gefühl der Zusammengehörigkeit zerstört würde.

Die Gleichwertigkeit und Gegenseitigkeit der Gefühle von Liebenden haben seit Urzeiten die Dichterinnen und Dichter beschäftigt. Eindrücklich beschreibt Karl Friedrich Wilhelm Herrosee (1754–1821) diese wechselseitige enge Verbindung in seinem bekannten Gedicht »Ich liebe dich, so wie du mich«, dessen erste Strophe lautet:

»Ich liebe dich, so wie du mich,

Am Abend und am Morgen,

Noch war kein Tag, wo du und ich

Nicht teilten unsre Sorgen.«

In diesem Gedicht, das später von Ludwig van Beethoven vertont wurde, werden die Zeitlosigkeit (»am Abend wie am Morgen«) und die Gegenseitigkeit der Liebe (»... so wie du mich«) sowie die gegenseitige Sorge der Liebenden um- und füreinander (»... teilten unsre Sorgen«) dargestellt. Es ist eine Beziehung auf Augenhöhe, die sich durch Partnerschaftlichkeit auszeichnet.

Anders ist es hingegen in Abhängigkeitsbeziehungen. Hier besteht charakteristischerweise keine Partnerschaftlichkeit, und die Autonomie von beiden an der Beziehung Beteiligten ist nicht gewährleistet, und zwar deshalb nicht, weil solche Abhängigkeitsbeziehungen einseitiger Art sind. Oft bestehen sie nur in der Vorstellung und in den Gefühlen der abhängigen Person, während der andere Interaktionspartner gefühlsmäßig wenig bis unter Umständen gar nicht beteiligt ist. Dies gilt in besonderem Maße für Beziehungen vom Charakter der Hörigkeit (vgl. vor allem Kapitel 4 und 11). In diesem Fall erlebt der bestimmende Partner unter Umständen sogar überhaupt keine positiven Gefühle und verfolgt aus egoistischen Motiven ausschließlich das Ziel, die abhängige Person auszunutzen.

Menschen mit einer Neigung zu Abhängigkeitsbeziehungen befinden sich im Grunde in einem höchst ambivalenten Zustand: Einerseits begeben sie sich in Abhängigkeitsverhältnisse und fühlen sich unfähig, ohne die ihnen aus solchen Beziehungen erwachsende Absicherung zu leben. Deshalb bezeichnen wir sie ja auch als »abhängige« Persönlichkeiten. Andererseits aber fürchten sie gerade diese Abhängigkeit und sind eigentlich permanent auf der Flucht vor ihr.

Diese Zwiespältigkeit ist insofern verständlich, als die dependenten Menschen spüren, dass sie sich in den Abhängigkeitsbeziehungen verlieren, sich bis zur Selbstaufgabe an andere Personen anpassen, ihre eigene Autonomie unterhöhlen und damit ihre Eigenständigkeit einbüßen. Sie suchen die symbiotische Nähe und fliehen gleichzeitig davor, so dass ihr Leben ein permanenter Kampf zwischen der Sehnsucht nach intensiver Beziehung und der gleichzeitig bestehenden Angst vor eben dieser Nähe ist. Es ist ein tief in ihrer Persönlichkeit verwurzelter Konflikt, den Burnham und Mitarbeiter4 als »Sehnsuchts-Angst-­Dilemma« beschrieben haben.5

Psychisch reife Menschen sind dagegen in der Lage, sich in intensiven emotionalen Beziehungen ein Stück weit in Abhängigkeit zu begeben. Charakteristischerweise geschieht dies ohne Angst, sich dadurch an die Partnerin bzw. den Partner zu verlieren und die eigene Individualität auszulöschen. Zu einer solchen positiven Abhängigkeit sind Menschen fähig, die ein stabiles Selbst ausgebildet haben, das ihnen Konstanz und Kohärenz vermittelt. Sie haben ihre eigene Mitte gefunden, die ihnen eine sichere Basis bietet, von der aus sie sich auf eine intensive Liebesbeziehung einlassen und sich einem anderen Menschen überlassen können.

2. »Ich mache immer alles falsch!« – »Ich habe genug von ihrer andauernden Fragerei!«

Eine der großen Schwierigkeiten im Leben von beziehungsabhängigen Menschen ist, dass sie unter dem Eindruck stehen, »immer alles falsch zu machen«. Wie in Kapitel 1 beschrieben, sind diese Menschen aufgrund ihrer großen Unsicherheit von dem Gefühl beherrscht, permanent Fehler zu machen, sich »dumm anzustellen« und deswegen von ihrem sozialen Umfeld Vorwürfe gemacht zu bekommen. Die einzige Möglichkeit, sich davor zu schützen, scheint ihnen darin zu liegen, sich permanent Rückversicherung bei anderen Menschen zu holen. Aber selbst diese Absicherungen vermögen ihre Zweifel und ihre Unsicherheit nicht aus der Welt zu schaffen. Insofern ist die Rückversicherung letztlich ein Fass ohne Boden.

Annika Müller leidet seit ihrer Kindheit unter dem quälenden Gefühl, nichts recht zu machen und immer die falsche Wahl zu treffen, um was es auch geht. Waren es in Kindheit und Jugend ihre extreme Unsicherheit und dauernden Selbstzweifel, die sie vor jeder Entscheidung zurückschrecken ließen, so äußert sich ihre Unsicherheit heute in Form eines unstillbaren Dranges, sich bei allem und jedem, auch bei – von außen gesehen – noch so unwichtigen Entscheidungen, bei ihren Bezugspersonen rückzuversichern, dass diese ihre Wahl richtig ist.

In der Schulzeit fiel Annika ihren Lehrerinnen und Lehrern dadurch auf, dass sie am Ende der Schulstunden immer wieder mit der Lehrperson ein Gespräch zu führen versuchte, in dem sie bestätigt bekommen wollte, dass das, was sie sich während des Unterrichts notiert hatte, richtig war. Anfangs erhielt sie dafür sogar Anerkennung, weil sie so bestrebt schien, gute Leistungen zu erbringen. Doch schon bald empfanden die Lehrerinnen und Lehrer das Verhalten der Schülerin als aufdringlich und anspruchsvoll und versuchten, diese Gespräche kurz zu halten bzw. sie schließlich total zu unterbinden.

Annika erlebte diese Distanzierung der Lehrpersonen als kränkende Zurückweisung und reagierte darauf mit verschiedenen anderen Versuchen, sich die Rückversicherung zu holen, die sie benötigte, um sich wenigstens für kurze Zeit sicher zu fühlen. So meldete sie sich während des Unterrichts immer wieder und bat beispielsweise die Französischlehrerin darum, den Satz, den Annika eben geschrieben hatte, anzuschauen und ihr zu sagen, ob alles richtig sei. Oder sie legte dem Mathematiklehrer ihr Heft mit den Hausaufgaben am Ende der Stunde auf das Pult und bat, er möge die Lösungen auf ihre Richtigkeit überprüfen, und verließ, noch ehe der Lehrer sie zurückrufen konnte, das Klassenzimmer. Als er sie bei einem dieser Versuche, ihn zu zwingen, die Aufgaben zu kontrollieren, zurückrief, brach sie in Tränen aus und flehte ihn an, ihr zu sagen, ob sie alles richtig gemacht habe.

Den Lehrerinnen und Lehrern fiel auch auf, dass Annika sich weigerte, mit Tinte oder einem Kugelschreiber zu schreiben, sondern darauf bestand, einen Bleistift zu benutzen. Dabei schrieb sie mit schwachem Druck und extrem klein, so dass die Lehrpersonen große Mühe hatten, ihre Schrift zu lesen. Oft mussten sie mehr raten als dass sie wissen konnten, was die Schülerin geschrieben hatte. Einer Lehrerin, zu der Annika ein gewisses Vertrauen hatte, gestand sie einmal in einem Gespräch, sie schreibe nur mit dem Bleistift, weil sie dann das Geschriebene jederzeit ausradieren könne. »Denn sicher ist es falsch, was ich geschrieben habe. Und wenn ich es ausradiere, sieht es keiner, dass es vorher falsch war.«

Annikas Eltern legten großen Wert auf gute schulische Leistungen ihrer Tochter. Die Mutter hatte keinen Beruf erlernen können und trug durch Putzarbeiten zum Unterhalt der Familie bei. Der Vater hatte eine Lehre als Elektromechaniker absolviert und sich in der Firma, in der er seit Abschluss der Lehre tätig war, zum Vorarbeiter emporgearbeitet. Obwohl sie finanziell ein gutes Auskommen hatten, waren beide Eltern sehr unzufrieden mit ihrem Leben. So vermieden sie in Gesprächen mit Fremden jeglichen Hinweis auf ihre Berufstätigkeiten und schärften Annika ein, mit niemandem darüber zu sprechen. Annika war klar, dass sich die Eltern ihres sozialen Status schämten.

Damit es ihre Tochter einmal besser hätte als sie, so die Begründung der Eltern, legten sie größten Wert darauf, dass Annika gute Schulleistungen erbrachte. »Gut« hieß für die Eltern jedoch nicht die Note »gut« oder »befriedigend«, sondern es musste unbedingt und in allen Tests und Prüfungen ein »sehr gut« sein. Aus diesem Grund war der Schulalltag für Annika eine permanente Belastung und sie zitterte vor jeder Prüfung und jedem Zeugnis.

Wenn die Leistungen der Tochter nicht dem hohen Anspruch der Eltern genügten, strafte die Mutter sie mit tage- bis wochenlangem Schweigen. Es waren sogenannte »stille Wochen«, in denen die Mutter der Tochter nur die nötigsten Informationen mitteilte. Kein »Guten Morgen« oder »Gute Nacht« und keine Verabschiedung, wenn Annika das Haus verließ. Bei den Mahlzeiten unterhielten sich die Eltern miteinander so, als ob Annika gar nicht anwesend wäre. Wenn sie mitunter versuchte, sich in das Gespräch einzuklinken, reagierten die Eltern überhaupt nicht darauf und redeten weiter, als ob Annika gar nichts gesagt hätte. Es liegt auf der Hand, dass dieses elterliche Verhalten, das einem Psychoterror gleichkam, eine die Tochter zutiefst traumatisierende Situation war.

Dies hatte zur Folge, dass Annika Müller im Verlauf ihrer weiteren Entwicklung immer ängstlicher und unsicherer wurde. Mitunter dachte sie, sie würde sich vor der harschen Kritik der Eltern schützen können, wenn sie sie um Rat fragen würde. Die Eltern verweigerten ihr jedoch im Allgemeinen jeglichen Rat und wiesen die Tochter darauf hin, das müsse sie alleine wissen. Tatsächlich waren sie aber in vielerlei Hinsicht selbst sehr verunsichert und waren gar nicht in der Lage, Annika in schulischer Hinsicht oder später bei beruflichen Problemen in irgendeiner Weise zu unterstützen.

Die Folge war eine extreme Verunsicherung von Annika. Als sie nach Abschluss der Schule eine Lehre als kaufmännische Angestellte aufnahm, zogen sich die Eltern völlig von ihr zurück und ließen sie spüren, dass sie die Eltern durch diese Berufswahl, welche die Eltern als »minderwertig« empfanden, zutiefst enttäuscht und verletzt hatte.

In der Ausbildung durchlitt Annika die gleichen Qualen wie in der Schulzeit und versuchte nun geradezu verzweifelt, von anderen, ihr nahestehenden Personen Unterstützung zu erhalten. Durch ihr aufdringliches Verhalten, das sie dabei zeigte, erreichte sie jedoch, wie bei ihren Lehrerinnen und Lehrern, nur das Gegenteil: Nachdem Freundinnen und Kolleginnen ihr anfangs versuchten zu helfen, empfanden sie Annikas andauerndes Nachfragen und ihre permanenten Rückversicherungsversuche schon bald als lästig und zogen sich zurück. Annika Müller fühlte sich dadurch nicht nur im Stich gelassen und gekränkt, sondern interpretierte den Rückzug der betreffenden Personen auch als Bestätigung ihrer seit der Kindheit bestehenden, tief in ihr verwurzelten Befürchtung: »Ich mache immer alles falsch.«

Als sie einer älteren Arbeitskollegin in einem Gespräch von dieser Befürchtung berichtete, war diese sichtlich erschüttert von dem, was ihr die junge Frau erzählte. Schließlich fragte sie Annika, ob sie spüre, aus welchem Grund sie sich dauernd rückversichern müsse, ob sie es richtig mache. Annika Müller war über diese Frage höchst erstaunt, denn sie selbst hatte dieses Verhalten bisher nie als problematisch empfunden. Obwohl ihr rational klar war, dass nicht alle Menschen ihrer Umgebung sich wie sie selbst verhielten, war sie bis jetzt nie auf den Gedanken gekommen, ihre Angst vor Entscheidungen und ihr permanentes, geradezu verzweifeltes Suchen nach Bestätigung könnten Ausdruck psychischer Probleme sein. Völlig verwirrt war sie schließlich, als die Kollegin die Vermutung äußerte, ob Annika vielleicht Angst davor habe, die Konsequenzen des eigenen Handelns zu tragen, und sich deshalb dauernd rückversichern wolle, ob sie es richtig mache.