Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Übrigens: Das ist meine neue Freundin!" Der Schock bei Eltern ist immer noch groß, wenn dieser Satz von ihrer Tochter kommt und nicht von ihrem Sohn. Homosexualität wird zwar gesellschaftlich längst nicht mehr verteufelt, doch wenn es um das eigene Kind geht, sieht alles anders aus. Angst vor Aids, Trauer um Enkelkinder, Erklärungsnöte gegenüber Verwandten und Nachbarn - all diese Gefühle sind plötzlich da. Der Psychoanalytiker Udo Rauchfleisch nimmt diese Sorgen und Fallbeispiele geht er auf die spezifischen Probleme ein, präsentiert das aktuelle psychologische und sexualwissenschaftliche Wissen über Homosexualität und gibt Eltern homosexueller Kinder ganz konkrete Tipps, wie sie mit den auftauchenden Schwierigkeiten umgehen können.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 271
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Buch lesen
Cover
Haupttitel
Inhalt
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Udo Rauchfleisch
Mein Kind liebt anders
Ein Ratgeber für Eltern homosexueller Kinder
Patmos Verlag
Einleitung: Warum ein Ratgeber für Eltern homosexueller Kinder?
1. Was ist Homosexualität?
Auf den Punkt gebracht
2. »Unser Kind ist so anders – ist es etwa homosexuell?«
Auf den Punkt gebracht
3. Konflikte zwischen den Eltern wegen der Homosexualität des Kindes
Auf den Punkt gebracht
4. »Welche Probleme kommen auf unser homosexuelles Kind zu?«
Gewalt in der Schule
Gewalt in der Öffentlichkeit
Gewalt im beruflichen Bereich
Diskriminierungen in den christlichen Kirchen
Homosexualität und Islam
Die Beziehungen homosexueller Menschen – ein Problem?
Rechtliche Probleme
HIV-Gefährdung
Probleme im Zusammenhang mitder Homosexualität Ihres Kindes
Auf den Punkt gebracht
5. Coming-out des Kindes undReaktionen der Umwelt
Auf den Punkt gebracht
6. »Was sagen wir der Familie und den Bekannten?« – Coming-out der Eltern
Auf den Punkt gebracht
7. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind und mögliche Veränderungen
Auf den Punkt gebracht
8. »Wie sollen wir mit ihrer Partnerin/seinem Partner umgehen?«
Auf den Punkt gebracht
9. Bisexuelle Kinder
Auf den Punkt gebracht
10. »Jetzt wollen die beiden auch noch ein Kind!« – »Regenbogenfamilien«
Auf den Punkt gebracht
11. Lesbische Mütter/schwule Väter und ihre homosexuellen Kinder
Auf den Punkt gebracht
12. Homosexualität als einebesondere Begabung?
Schluss: Das Wichtigste auf einen Blick
Anhang
Weiterführende Literatur
Hilfreiche Adressen
Anmerkungen
Wenn Sie dieses Buch in die Hand nehmen, tauchen wahrscheinlich verschiedene Fragen in Ihnen auf: Ist ein solcher Ratgeber nötig? Wird heute nicht schon so viel über Homosexualität geschrieben, dass Sie inzwischen längst alles Wichtige darüber wissen? Ist es außerdem nicht völlig gleichgültig, ob ein Kind hetero-, bi- oder homosexuell ist? Könnte man nicht sogar sagen, dass es diskriminierend ist, einen Ratgeber speziell für Eltern homosexueller Kinder zu schreiben? Müsste es dann nicht auch einen geben, der speziell die Heterosexualität in den Blick nimmt (einen solchen Ratgeber gibt es aber nicht)?
Alle diese Fragen haben eine gewisse Berechtigung. Fundiertes Wissen über gleichgeschlechtliche Orientierungen und Lebensweisen ist allerdings nicht so verbreitet, wie man im Allgemeinen annimmt. Wissen Sie wirklich, was in einem jungen Menschen vor sich geht, wenn er entdeckt, dass er homo- und nicht heterosexuell ist? Und mit welchen Problemen er sich konfrontiert sieht, wenn er seine Umgebung über seine Homosexualität informieren möchte?
Selbstverständlich kennen Sie Ihr Kind am besten und wissen, wie Sie mit ihm umgehen sollten. Aber sind Sie wirklich darauf vorbereitet, ihm auf seinem Weg zum offenen Umgang mit seiner Homosexualität zur Seite zu stehen? Und haben Sie schon einmal überlegt, wie Sie selbst als Eltern eines homosexuellen Kindes mit Ihren Verwandten und Bekannten über die gleichgeschlechtliche Orientierung Ihrer Tochter oder Ihres Sohnes sprechen wollen?
Dies sind nur einige der Fragen, mit denen Sie sich als Eltern eines homosexuellen Kindes konfrontiert sehen. Sicher werden Sie bei einer selbstkritischen Reflexion bemerken, dass Sie vieles zwar ungefähr wissen, im Gespräch mit Ihrem Kind oder mit Dritten aber manchen Fragen ziemlich hilflos gegenüberstehen. Vermutlich ist Ihnen auch schon längst klar geworden, dass es eben nicht das Gleiche ist, ob ein Mensch hetero- oder homosexuell ist, und dass Menschen mit einer homo- oder bisexuellen Orientierung in unserer stark heterosexuell geprägten Gesellschaft eine spezifische Entwicklung durchlaufen und sich im sozialen Bereich Problemen gegenübersehen, die Heterosexuelle in dieser Art nicht haben.
Der vorliegende Ratgeber möchte Ihnen helfen, Ihr Wissen über gleichgeschlechtliche Orientierungen und Lebensweisen zu erweitern und sich in differenzierter Weise mit den Problemen auseinanderzusetzen, mit denen Ihr lesbisches, schwules oder bisexuelles Kind und Sie als Eltern konfrontiert sind.
Vielleicht haben Sie gegenüber Homosexualität keine Vorbehalte, kennen das Thema bisher aber nur aus Medienberichten oder aus Filmen. Es kann aber auch sein, dass Sie eine Abneigung homo- und bisexuellen Menschen gegenüber verspüren.
Wie auch immer Ihre Einstellung zum Thema »Homosexualität« aussieht, wird die Mitteilung Ihrer Tochter oder Ihres Sohnes, dass sie lesbisch bzw. dass er schwul sei, für Sie ein mehr oder weniger großer Schock sein und Sie zwingen, sich intensiver mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Sie bemerken dann vielleicht, dass Sie über das Leben von Lesben und Schwulen wenig informiert sind und sich vor allem auch nicht recht vorstellen können, wie Ihre Rolle als Eltern eines homosexuellen Kindes aussehen soll.
In diesem Prozess der Klärung und Neuorientierung möchte der vorliegende Ratgeber Ihnen Hilfe bieten. Gewiss lassen sich Einstellungen nicht lediglich durch die Lektüre eines Buches verändern. Doch kann die Information über die Entwicklung gleichgeschlechtlicher Orientierungen und über die Besonderheiten des Lebens als Lesbe oder Schwuler in unserer Gesellschaft Ihnen den Weg zu einem besseren Verständnis Ihres Kindes öffnen, so dass Sie ihm bei seinem Coming-out-Prozess hilfreich zur Seite stehen und sich konstruktiv mit Ihrer Rolle als Eltern auseinandersetzen können.
Selbstverständlich braucht es neben der Information auch die persönliche Begegnung mit homosexuellen Menschen. Eine solche Begegnung müssen Sie nun nicht mehr mühsam suchen, sondern Sie haben in Ihrer eigenen Familie im Dialog mit Ihrem Kind die Chance, mehr über homosexuelle Menschen zu erfahren. Außerdem werden Sie homosexuelle Freundinnen und Freunde Ihres Kindes und Eltern, die sich in einer ähnlichen Situation wie Sie befinden, kennenlernen – beispielsweise in einer Selbsthilfegruppe für Eltern homosexueller Kinder. Auch auf solche Begegnungen möchte dieser Ratgeber vorbereiten.
Das Ziel dieses Buches ist zum einen, dafür zu sensibilisieren, was die Homosexualität Ihres Kindes für Sie als Eltern, für Ihr Kind und für die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Tochter oder Ihrem Sohn bedeutet; zum anderen will es zeigen, wie mögliche Probleme sich zum Nutzen aller Beteiligten lösen lassen. Wichtig scheint mir dabei, dass Sie als Eltern erkennen, dass die gleichgeschlechtliche Orientierung Ihres Kindes nicht ein »zu tolerierendes Schicksal«, sondern eine Chance für Ihre ganze Familie ist.
In den folgenden zwölf Kapiteln wird thematisch ein weiter Bogen gespannt: Es geht um die Fragen, was Homo- und Bisexualität eigentlich sind und was aus wissenschaftlicher Sicht über ihre Entstehung bekannt ist, um die Auswirkungen von Homosexualität auf familiäre Beziehungen, die Sorgen, die Sie sich möglicherweise um Ihre Tochter oder Ihren Sohn machen, und darum, wie Ihr Kind seinen Coming-out-Prozess bewältigt, aber auch wie Sie als Eltern mit der Homosexualität Ihres Kindes in Ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis umgehen.
Außerdem werden die Partnerschaft Ihres Kindes, die Begegnung mit seinen homosexuellen Freundinnen und Freunden und der mögliche Kinderwunsch Ihrer Tochter oder Ihres Sohnes thematisiert. Ein weiteres Kapitel richtet sich an Eltern, die selbst eine offen gelebte oder verheimlichte homo- oder bisexuelle Orientierung haben.
Die dargestellten Beispiele sollen eine Brücke zwischen theoretischer Information und dem realen Leben von Familien mit einem homosexuellen Kind schlagen.
Am Ende jedes Kapitels werden die wichtigsten Aspekte noch einmal angeführt und im letzten Kapitel die Hauptthemen dieses Ratgebers thesenartig zusammengefasst.
Der Adressteil im Anhang listet die wichtigsten Verbände und Organisationen auf, bei denen Sie Information und Unterstützung finden können.
Möge dieser Ratgeber Ihnen als Eltern eine Hilfe auf Ihrem Weg zur Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Orientierung Ihres Kindes sein und dazu beitragen, dass Sie einander besser verstehen und gemeinsam den Weg eines erfolgreichen, für Sie alle fruchtbaren Coming-out gehen.
Im Herbst 2012
Udo Rauchfleisch
Homosexualität ist heute keineswegs mehr ein tabuisiertes Thema, über das hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Bürgermeister und Politiker stehen offen zu ihrer Homosexualität, und viele international bekannte Frauen und Männer, die in Politik, Film, Fernsehen, Kunst und Wissenschaft in der Öffentlichkeit stehen, geben sich als gleichgeschlechtlich empfindend zu erkennen. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen in Filmen und Theaterstücken verklemmte Lesben und Schwule dargestellt wurden, die unter ihrer Homosexualität litten und ein bemitleidenswertes Leben führten. Und schließlich findet sich heute, auch im wissenschaftlichen Bereich, eine Fülle von Literatur zum Thema »Homosexualität«, die darstellt, dass Homosexualität nichts mit Krankheit, Sünde oder Erziehungsfehlern zu tun hat, sondern eine normale Variante der sexuellen Ausrichtung ist.
Dennoch werden Sie als Eltern, die sich mit der Homosexualität Ihres Kindes konfrontiert sehen, vielleicht realisieren, dass Sie »eigentlich« nicht viel über die gleichgeschlechtliche Orientierung wissen. Es erscheint mir deshalb wichtig, in diesem Kapitel einen Überblick über den heutigen Wissensstand zu geben und etliche noch immer weit verbreitete, wissenschaftlich aber nicht haltbare Vorurteile auszuräumen.
Zunächst ein paar Worte zu den von mir verwendeten Begriffen. Homosexualität oder gleichgeschlechtliche Orientierung bezeichnen die sexuelle Ausrichtung auf das gleiche Geschlecht. Frauen, die ihre gleichgeschlechtliche Orientierung akzeptieren und offen leben, bezeichnen sich als Lesben, Männer bezeichnen sich als Schwule. Diesen Begriff mag mancher als entwertend empfinden; Schwule selbst aber bezeichnen sich so aus einem gewissen Trotz heraus, indem sie diesen sie ursprünglich diskriminierenden Begriff heute stolz zur Charakterisierung ihrer homosexuellen Identität benutzen.
Mit der Frage »Ist mein Kind homosexuell?« verbindet sich meist das Thema der Entstehung von Homosexualität. Dies scheint selbstverständlich zu sein, ist es aber keineswegs. Welche Eltern fragen sich schon: Wie entsteht die Heterosexualität unseres Kindes? Da der größte Teil der Bevölkerung heterosexuell ist (der Anteil homosexueller Menschen liegt allerdings bei mindestens 10%), wird die gegengeschlechtliche Orientierung als etwas Selbstverständliches betrachtet, während die davon abweichende Homosexualität erklärungsbedürftig erscheint.
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hat mit Recht darauf hingewiesen, wenn nach der Ursache der Homosexualität gefragt werde, müsse konsequenterweise auch die Frage nach der Entstehung der Heterosexualität gestellt werden. Dies geschieht aber in der Regel nicht. Selbst im wissenschaftlichen Bereich ist der Frage, wie die heterosexuelle Orientierung entsteht, nicht nachgegangen worden. Überhaupt müssen wir feststellen, dass wir eigentlich kein gesichertes Wissen über die Ursachen und die Entwicklung der verschiedenen sexuellen Orientierungen besitzen.
Was die Homosexualität betrifft, sind zwar etliche Theorien formuliert worden, wobei aber letztlich keine einer kritischen Sichtung standhält. Die diesen Theorien zugrunde liegenden Beobachtungen stammen im Allgemeinen von psychisch Kranken, deren psychische Störungen – fälschlicherweise – als Ursache ihrer gleichgeschlechtlichen Orientierung angesehen wurden. Dass dies ein absurder Schluss ist, wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass niemand auf die Idee kommen würde, bei psychisch kranken heterosexuellen Menschen zu postulieren, ihre Heterosexualität sei durch ihre psychische Störung bedingt. Eine Unterdrückung der gleichgeschlechtlichen Orientierung kann indes zu psychischen Störungen führen. Darauf werde ich später noch eingehen.
Was sagen die – wenn auch wenigen – uns vorliegenden Untersuchungen zur Entwicklung der sexuellen Identität, womit nicht nur die Entwicklung der homo- und bisexuellen, sondern auch die der heterosexuellen Identität gemeint ist? Die Geschlechtsidentität setzt sich aus drei »Bausteinen« zusammen: der Kern-Geschlechtsidentität, den Geschlechterrollen und der GeschlechtspartnerInnen-Orientierung.1 Die Grundlage bildet die Kern-Geschlechtsidentität. Sie beinhaltet die tief in uns Menschen verwurzelte Gewissheit, weiblich oder männlich zu sein, und entwickelt sich aufgrund des komplexen Zusammenwirkens von biologischen und Umwelteinflüssen ab der Geburt.
Was die Homosexualität betrifft, sind in der wissenschaftlichen Literatur verschiedene biologische Ursachen diskutiert worden (z. B. hormonelle Einflüsse in der intrauterinen Entwicklung und genetische Faktoren). Diese Untersuchungen haben aber letztlich keinen eindeutigen Faktor bestimmen können, der für die Ausrichtung der sexuellen Orientierung verantwortlich ist. Einzig der scheinbar triviale Befund, dass in einzelnen Familien gehäuft Menschen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen zu finden sind, während in anderen Familien eindeutig die Heterosexualität dominiert, weist auf einen genetischen Faktor hin.
Die Umwelteinflüsse auf die Kern-Geschlechtsidentität wirken spätestens von Geburt an auf das Kind ein, und zwar dadurch, dass die Eltern – letztlich schon vor der Geburt – entsprechend ihren Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit auf das Kind reagieren und es entsprechend behandeln. Die Gewissheit des Kindes, männlich oder weiblich zu sein, ist, soweit wir heute wissen, gegen Ende des zweiten Lebensjahres etabliert und nicht mehr veränderbar. Aus diesem Befund resultiert, dass homosexuelle, bisexuelle und heterosexuelle Frauen nicht an ihrer Weiblichkeit und homosexuelle, bisexuelle und heterosexuelle Männer nicht an ihrer Männlichkeit zweifeln. Es ist deshalb eine wissenschaftlich nicht haltbare Annahme, Schwule seien weiblich und Lesben männlich identifiziert. Ich werde in Kapitel 2 noch ausführlicher auf diese Fehlannahmen eingehen, die dem Wesen homosexueller Menschen absolut nicht gerecht werden.
Den zweiten »Baustein« der Geschlechtsidentität bilden die Geschlechterrollen. Dies sind die Vorstellungen, die uns von Kindheit an über »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« vermittelt werden. Die Tatsache, dass verschiedene Kulturen Weiblichkeit und Männlichkeit unterschiedlich definieren und dass die Vorstellungen von »typisch« männlichem und »typisch« weiblichem Verhalten auch in unserer Kultur einem steten Wandel unterworfen sind, lässt erkennen, dass Geschlechterrollen keine unveränderbare Größe darstellen, sondern sozial definiert werden.
Im Zusammenhang mit der Frage nach der Entwicklung lesbischer, schwuler, bisexueller und heterosexueller Ausrichtungen ist zu beachten, dass sich die Geschlechterrollen in unserer Kultur durch eine Aufspaltung in zwei sich gegenseitig ausschließende Kategorien von »typisch männlich« und »typisch weiblich« auszeichnen. Gerade in der Gegenwart unterliegen die Rollen von Mann und Frau jedoch einem erheblichen Wandel und haben viel von ihrer früheren Rigidität verloren.
Wenn sich bei Lesben zum Teil ein eher burschikoses Verhalten und bei Schwulen (wie sonst vielfach bei Frauen) ein gesteigertes Interesse an Kunst und Literatur beobachten lässt, heißt dies nicht, Lesben seien in ihrer Kern-Geschlechtsidentität männlich und Schwule weiblich ausgerichtet. Bei diesen Vorlieben und Verhaltensweisen geht es vielmehr um die Geschlechterrollen, die ein Stück weit am Gegengeschlecht orientiert sind.
Letztlich können wir aber nicht von »der typischen« Lesbe und »dem typischen« Schwulen sprechen. In jeder dieser Gruppen findet sich vielmehr – wie bei Heterosexuellen auch – ein weites Spektrum von Menschen mit unterschiedlichsten Rollen und Verhaltensweisen. Wenn Lesben, vor allem in der Vergangenheit, ähnlich den Frauen aus der Emanzipationsbewegung, oft ein »männlich« anmutendes Verhalten an den Tag legten, war dies vor allem dadurch bedingt, dass sie sich nicht als Frauen präsentieren wollten, deren Ziel es ist, den Männern zu gefallen (weil dies nicht ihrer sexuellen Orientierung entspricht). Und wenn Schwule zum Teil eher »weiblich« anmutende Interessen zeigen, rührt dies vor allem daher, dass sie spüren, keine heterosexuelle Ausrichtung zu haben. Sie orientieren sich deshalb eher an Verhaltensweisen, die als nicht männlich gelten, was in unserer Kultur, die von einem Zwei-Geschlechter-Modell ausgeht, »weiblich« bedeutet. Wie schon erwähnt, heißt dies jedoch nicht, Lesben seien männlich und Schwule weiblich identifiziert. Sie erleben sich in ihrer Kern-Geschlechtsidentität nicht anders als heterosexuelle Frauen und Männer. Lediglich ihre Geschlechterrollen weichen zum Teil von denen heterosexueller Menschen ab.
Heute gelten diese Geschlechterrollen, die Lesben und Schwule in der Vergangenheit oft gezeigt haben, nicht mehr in dieser Form. Ihre Rollen haben sich, wie bei heterosexuellen Menschen auch, stark verändert und lassen nun ein weites Spektrum unterschiedlichster Ausprägungen erkennen. Wie Claus Donate es anschaulich beschrieben hat, kennt man »den schwulen Modeschöpfer und den effeminierten Friseur, der in Herrenwitzen auf den Namen ›Detlef‹ hört – aber es gibt auch den schwulen Automechaniker mit den öligen Fingerkuppen und den schwulen Metzger mit den breiten Schultern. Man kennt den zarthüftigen Balletttänzer und den kreischenden Damenimitator, aber niemand erahnt im Goldmedaillengewinner des Zehnkampfes oder im Bundesliga-Star den Mann, der Männer liebt. Es gibt auch den schwulen Straßenkehrer und den schwulen Penner – aber es gibt auch den schwulen Asylanten, den schwulen Behinderten, den schwulen Skin.«2
Der dritte »Baustein« der Geschlechtsidentität ist die GeschlechtspartnerInnen-Orientierung. Sie entscheidet darüber, ob sich das Begehren eines Menschen auf das gleiche Geschlecht (Homosexualität), das Gegengeschlecht (Heterosexualität) oder auf beide Geschlechter (Bisexualität) richtet. Wie es zur Ausbildung der verschiedenen GeschlechtspartnerInnen-Orientierungen kommt, wissen wir allerdings nicht. Auch dazu sind die verschiedensten Theorien entwickelt worden, ohne dass eine dieser Annahmen sich letztlich als Ursache bestätigen lässt, bis auf die bereits oben erwähnte genetische Komponente. Ob die gleichgeschlechtliche Veranlagung jedoch von der betreffenden Person wahrgenommen und gelebt wird, hängt weitgehend von Umweltfaktoren ab, vor allem davon, ob Homosexualität von der Umgebung geduldet oder abgelehnt wird.
Die sexuelle Orientierung selbst scheint spätestens mit der Pubertät festzustehen. Viele homosexuelle Menschen berichten allerdings, schon längst vor der Pubertät gespürt zu haben, dass sich ihre erotischen und sexuellen Fantasien auf das gleiche Geschlecht richten.
Es sei in diesem Zusammenhang noch auf ein Phänomen hingewiesen, das bei heterosexuellen Menschen immer wieder zu Erstaunen führt. Es ist die Tatsache, dass eine Frau oder ein Mann jahrelang in einer Ehe gelebt hat und dann »plötzlich« – wie es in solchen Fällen oft von der Umgebung formuliert wird – bemerkt, lesbisch, schwul oder bisexuell zu sein. Spricht man ausführlich mit solchen Frauen und Männern über ihre Entwicklung und erkundigt sich nach ihren erotischen und sexuellen Fantasien in Kindheit und Jugend sowie im Erwachsenenalter, so berichten sie in der Regel übereinstimmend, dass die gleichgeschlechtlichen Fantasien bei ihnen von jeher bestanden haben. Sie haben diese Fantasien allerdings immer wieder beiseitegeschoben, um nicht in innere Konflikte zu geraten und ihre Ehe nicht zu gefährden. Im Allgemeinen hat die Beziehung zum heterosexuellen Ehepartner für sie auch »gestimmt«. Das heißt, es war für die betreffende lesbische oder bisexuelle Frau bzw. den schwulen oder bisexuellen Mann eine für sie befriedigende Liebesbeziehung, auch wenn die gleichgeschlechtlichen Fantasien und das auf das gleiche Geschlecht gerichtete Begehren immer eine gewisse Rolle gespielt haben. Insofern entspricht die Interpretation des Umfeldes, sie seien »plötzlich« lesbisch, schwul oder bisexuell geworden, nicht der Realität.
Im Verlauf der kindlichen Entwicklung verschmelzen die drei genannten »Bausteine« miteinander und bilden zusammen mit den erotischen und sexuellen Fantasien, den sozialen Präferenzen (mit wem fühlt der betreffende Mensch sich besonders wohl) und der Selbstdefinition (hetero-, bi- oder homosexuell zu sein) ein komplexes Gebilde, das wir Geschlechtsidentität nennen.
Wie bereits erwähnt, ist es in Bezug auf die erotischen und sexuellen Fantasien entscheidend, ob diese sich auf das gleiche Geschlecht (Homosexualität) oder auf das Gegengeschlecht (Heterosexualität) oder auf beide Geschlechter (Bisexualität) richten. Menschen mit einer homosexuellen Ausrichtung berichten im Allgemeinen davon, dass in ihren erotischen und sexuellen Fantasien von Anfang an Personen des gleichen Geschlechts eine zentrale Rolle spielten, auch wenn es nicht zu gleichgeschlechtlichen sexuellen Kontakten kam.
Ich habe oben bereits darauf hingewiesen, dass es von der Umgebung abhängt, ob die gleichgeschlechtliche Orientierung von den Betreffenden selbst wahrgenommen und gelebt wird oder nicht. Vor allem von fundamentalistischen religiösen Kreisen wird Homosexualität strikt abgelehnt; zum Teil werden sogar »Umpolungsaktivitäten« angeboten. Von Menschen, die solchen Versuchen ausgesetzt waren, wissen wir, dass manche – zumindest für eine gewisse Zeit – ihre gleichgeschlechtlichen Handlungen unterdrücken konnten. Ihre inneren Bilder und Fantasien bleiben aber von gleichgeschlechtlichem Begehren geprägt. Deshalb postulieren solche fundamentalistischen Gruppierungen auch eine sich über lange Zeit erstreckende, letztlich lebenslange »Begleitung«, um dem gleichgeschlechtlichen Begehren entgegenzuwirken.
Dies belegt noch einmal, dass sich zwar das manifeste Verhalten in einem gewissen Maß steuern lässt, die inneren Bilder sich jedoch nicht verändern.Viele Menschen, die an solchen »Umpolungsaktivitäten« teilgenommen haben, führen nach einigen Jahren wieder ein homosexuelles Leben. Viele von ihnen haben aber zum Teil schwere psychische Störungen – etwa Depressionen und Ängste, körperliche (psychosomatische) Beschwerden, bis hin zur Suizidalität – davongetragen und leiden mitunter lebenslang an den Verletzungen, die ihnen durch solche Versuche, ihre Geschlechtsidentität zu verändern, zugefügt worden sind. Dies ist verständlich, da sie in der Zeit ihrer Mitgliedschaft in solchen Gruppierungen permanent an ihrer eigentlichen sexuellen Orientierung vorbeigelebt haben. Zugleich waren sie von massiven Schuldgefühlen gequält, weil ihr gleichgeschlechtliches Begehren von ihrer fundamentalistischen Bezugsgruppe strikt abgelehnt und als »Sünde« oder »Krankheit« bezeichnet wurde.
Außer den drei »Bausteinen« (Kern-Geschlechtsidentität, Geschlechterrollen, GeschlechtspartnerInnenorientierung) sowie den erotischen und sexuellen Fantasien sind für die Geschlechtsidentität schließlich noch die sozialen Präferenzen und die Selbstdefinition von Bedeutung. Die sozialen Präferenzen beinhalten die Vorstellungen und Gefühle, die wir im Umgang mit anderen Menschen haben. Das Spektrum reicht von Ablehnung und Sich-unwohl-Fühlen in der Gegenwart bestimmter Menschen über Gleichgültigkeit bis hin zum Sich-Wohlfühlen und dem Wunsch, möglichst intensiven Kontakt mit den betreffenden Personen zu pflegen.
Ferner spielt für die Geschlechtsidentität auch die Selbstdefinition eine wesentliche Rolle. Was die homo- und bisexuelle Orientierung angeht, ist es von entscheidender Bedeutung, wie eine Person sich selbst definiert. Nehmen wir das Beispiel von drei Männern, die das gleiche Beziehungsverhalten zeigen, indem sie intime Kontakte sowohl zu Frauen als auch zu Männern unterhalten. In diesem Fall kann der eine Mann sich als heterosexuell bezeichnen und den gleichgeschlechtlichen Kontakt als »Ausrutscher« oder »Experiment« und als für seine sexuelle Identität unwichtig betrachten. Der zweite Mann hingegen kann sich als bisexuell definieren, da sich sein Begehren in gleicher Weise auf Frauen wie auf Männer richte. Der dritte Mann schließlich kann sich als schwul bezeichnen, da er das gleichgeschlechtliche Begehren als den wesentlichen Teil seiner sexuellen Orientierung empfindet und für ihn die Beziehung zu einer Frau ein »Ausrutscher« oder »Experiment« ist.
Dieses Beispiel lässt erkennen, dass die Selbstdefinition einen wesentlichen Teil der Geschlechtsidentität ausmacht und gleichsam eine Synthese der übrigen genannten Anteile der Geschlechtsidentität darstellt. Dabei ist indes zu berücksichtigen, dass die Selbstdefinition sich beispielsweise im Verlauf eines Coming-out-Prozesses durchaus verändern kann, indem die betreffende Person, die ihr gleichgeschlechtliches Begehren zwar spürt, aber weit in den Hintergrund drängt, sich zunächst als heterosexuell definiert, sich mit zunehmendem Gewahrwerden und größer werdender Selbstakzeptanz als bisexuell bezeichnet und schließlich spürt, dass bei ihr eigentlich eine gleichgeschlechtliche Orientierung besteht, und sich dann als homosexuell definiert.
In der bisherigen Darstellung habe ich nicht zwischen der homosexuellen und der bisexuellen Orientierung unterschieden. Gerade das zuletzt erwähnte Beispiel einer sich ändernden Selbstdefinition (von hetero- über bi- bis zu homosexuell) könnte den Eindruck erwecken, Bisexualität sei lediglich eine Zwischenstufe oder eine Position, welche Menschen einnehmen, die sich ihrer sexuellen Orientierung unsicher sind und Angst haben, sich eindeutig als homosexuell zu bezeichnen, oder die gleichgeschlechtliche Kontakte als »exotische sexuelle Ausflüge« erleben möchten. Dies sind Vorwürfe, denen sich bisexuelle Menschen immer wieder ausgesetzt sehen. Mit einer solchen Auffassung werden wir der bisexuellen Orientierung indes in keiner Weise gerecht. Wir müssen vielmehr davon ausgehen, dass die Bisexualität eine eigenständige sexuelle Orientierung ist, die neben der Heterosexualität und der Homosexualität einen dritten Kristallisationspunkt auf dem Kontinuum von Hetero- zu Homosexualität darstellt. Bisexuelle Menschen sehen sich insofern in einer besonderen Situation, als sie selbst – wie die Menschen in unserer Gesellschaft im Allgemeinen – davon ausgehen, dass es entweder ein gleich- oder ein gegengeschlechtliches Begehren gibt. Zu erleben, dass sich die erotischen und sexuellen Fantasien und das Begehren auf beide Geschlechter richten, ist eine sie selbst häufig sehr verunsichernde Erfahrung.
Unter dem Einfluss der heterosexuellen Majorität wird im Allgemeinen im Verlauf der Entwicklung zunächst der heterosexuelle Orientierungsanteil gelebt, und erst später treten dann die gleichgeschlechtlichen Gefühle stärker hervor und drängen darauf, in konkreten Beziehungen verwirklicht zu werden. Das Problem liegt für bisexuelle Menschen selbst sowie für ihre Partnerinnen und Partner darin, dass ihre Partnerschaften stets von der Unsicherheit begleitet sind, ob die gegenwärtig gepflegte Beziehung von Dauer ist oder der andere Teil des sexuellen Begehrens in den Vordergrund drängt und in einer Partnerschaft gelebt werden möchte. Auf die spezielle Situation bisexueller Menschen werde ich noch ausführlicher in Kapitel 9 eingehen.
Ich habe bisher in erster Linie die innere Situation der lesbischen und bisexuellen Frau und des schwulen und bisexuellen Mannes beschrieben. In diesem Prozess kommt vor allem dem Gewahrwerden der gleichgeschlechtlichen Orientierung und ihrer Akzeptanz eine zentrale Rolle zu. Sind diese Entwicklungsschritte getan, so sehen sich Lesben und Schwule einer weiteren Aufgabe gegenüber, nämlich die wichtigsten Bezugspersonen im persönlichen wie im beruflichen Umfeld über die gleichgeschlechtliche Orientierung zu informieren und zu einem entsprechenden Lebens- und Beziehungsstil zu finden.
Das Gewahrwerden und die Selbstakzeptanz der eigenen Homo- und Bisexualität sowie das Hinaustreten damit an die Öffentlichkeit sind zwei Schritte, die wir als Coming-out bezeichnen. Lesben, Schwule und Bisexuelle sehen sich dieser Aufgabe letztlich lebenslang gegenüber. Denn immer wieder ist im beruflichen wie privaten Umfeld zu entscheiden, wem was in welcher Form zu welcher Zeit im Hinblick auf die eigene Homo- oder Bisexualität gesagt werden soll und kann.
Vielleicht denken Sie als Eltern eines homosexuellen Kindes, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen doch seine Privatsache sei und es für Lesben, Schwule und Bisexuelle keinen zwingenden Grund gebe, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Dies scheint ein durchaus logisches Argument zu sein, zumal Sie vermutlich ja auch nicht mit anderen über Ihre (hetero-)sexuelle Ausrichtung sprechen.
Der Unterschied zwischen Heterosexuellen einerseits und Homo- und Bisexuellen andererseits liegt allerdings darin, dass in unserer vorwiegend heterosexuellen Gesellschaft eine »heterosexuelle Vorannahme« besteht. Das heißt: Wenn wir einer Person begegnen, gehen wir im Allgemeinen wie selbstverständlich davon aus, sie sei heterosexuell, es sei denn, sie sagt oder lässt erkennen, dass sie homo- oder bisexuell ist.
Wenn Lesben, Schwule und Bisexuelle als diejenigen wahrgenommen werden möchten, die sie tatsächlich sind, müssen sie, im Gegensatz zu Heterosexuellen, explizit darauf hinweisen. Da trotz größerer gesellschaftlicher Akzeptanz der Homosexualität gegenüber Lesben und Schwulen nach wie vor vielfach Ablehnung und Vorurteile bestehen, ist es für sie notwendig, sich jeweils genau zu überlegen, wann und wem gegenüber sie ihre gleichgeschlechtliche Orientierung offenlegen. Ich werde noch ausführlich in Kapitel 5 auf den Coming-out-Prozess eingehen.
Was bedeuten die bisherigen Ausführungen für Sie als Eltern eines homosexuellen Kindes im Hinblick auf das Verständnis der gleichgeschlechtlichen Orientierung?
Die uns vorliegenden Untersuchungen an homo- und bisexuellen Menschen weisen eindeutig darauf hin, dass die gleichgeschlechtliche Orientierung nichts mit psychischer Krankheit zu tunhat. Die Weltgesundheitsorganisation hat deshalb die Diagnose Homosexualität bereits vor vielen Jahren aus dem Katalog der psychischen Erkrankungen gestrichen und damit darauf hingewiesen, dass es nicht berechtigt ist, Homosexualität in einen ursächlichen Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen zu bringen. Hetero-, Bi- und Homosexualität sind sexuelle Orientierungen, die jeweils mit dem ganzen Spektrum von psychischer Gesundheit bis Krankheit einhergehen können.
Da die gleichgeschlechtliche Orientierung nicht Ausdruck einer psychischen Erkrankung ist und sich offensichtlich genetisch bedingte Häufungen in bestimmten Familien finden, ist die Annahme, Homosexualität sei Folge vonErziehungsfehlern, absolut nicht haltbar. Die vor allem von Müttern immer wieder gestellte Frage: »Habe ich in der Erziehung etwas falsch gemacht? Bin ich schuld an der Homosexualität meines Kindes?«, ist aus fachlicher Sicht eindeutig mit Nein zu beantworten. Als Eltern sollten Sie sich nicht mit völlig unnötigen Schuldgefühlen belasten, sondern sich darüber klar sein, dass Sie gute Eltern sind und die Homosexualität Ihres Kindes nichts mit wie auch immer gearteten Erziehungsfehlern zu tun hat.
Die uns vorliegenden Forschungsbefunde weisen darauf hin, dass Homosexualität eine tief in den betreffenden Menschen verwurzelte Veranlagung ist, die nach Verwirklichung im Leben drängt. Wird sie unterdrückt, kann dies zu psychischen Störungen wie Depression, Angst, körperlichen (psychosomatischen) Beschwerden bis hin zur Suizidalität führen. Suchen Sie deshalb nicht zu verhindern, dass Ihr Kind seine Homosexualität lebt, sondern fördern Sie die Verwirklichung seiner gleichgeschlechtlichen Orientierung und der daraus resultierenden Lebensweise.
Die gleichgeschlechtliche Orientierung wird von den so Veranlagten im Allgemeinen früh, zumeist schon vor der Pubertät, als Angezogen-Sein durch Personen des gleichen Geschlechts gespürt, auch wenn die Kinder in diesem Alter ihre Gefühle noch nicht als »homosexuell« benennen können. Ab der Pubertät liegt die gleichgeschlechtliche Orientierung mehr oder weniger fest und kann – wie die Heterosexualität – nicht mehr verändert werden. Ob die betreffenden Menschen sie akzeptieren und leben, hängt allerdings von den Umweltbedingungen ab. In einem die Homosexualität akzeptierenden Milieu können Eltern und Kind relativ früh die gleichgeschlechtliche Orientierung wahrnehmen, und die Kinder und Jugendlichen können einen unproblematischen Coming-out-Prozess durchlaufen.
In einer konservativen, homosexualitätsfeindlichen Umgebung hingegen kann es zu vielfältigen Problemen bis hin zur völligen Unterdrückung der gleichgeschlechtlichen Orientierung kommen. Eine solche Situation führt aber zu erheblichen, sich körperlich wie psychisch auswirkenden Belastungen des betreffenden Menschen, der spürt, dass er seine Identität verleugnet und gleichsam an sich »vorbeilebt«. Aus diesem Grund sind die bereits erwähnten »Umpolungs«-Aktivitäten (mit dem Ziel der Veränderung der homosexuellen in die heterosexuelle Orientierung) mancher fundamentalistischen Gruppierungen aus psychologischer Sicht als untherapeutisch und unethisch zu bezeichnen, da sie die betreffenden Menschen dazu drängen, ihre eigentliche, nämlich gleichgeschlechtliche Identität zu verleugnen. Unterstützen Sie deshalb Ihr Kind darin, zu seiner gleichgeschlechtlichen Orientierung zu stehen und sie zu leben. Damit helfen Sie ihm, ein glücklicher erwachsener Mensch zu werden.
Neben der hetero- und homosexuellen Orientierung gibt es eine eigenständige bisexuelle Ausrichtung. Die erotischen und sexuellen Fantasien sowie das Begehren bisexueller Menschen richten sich auf beide Geschlechter.
Wie bereits erwähnt, widerspricht die geschilderte Entwicklungstheorie der Geschlechtsidentität der Annahme, lesbische und bisexuelle Frauen seien männlich, schwule und bisexuelle Männer hingegen weiblich identifiziert. Wenn es zum Teil Unterschiede im geschlechtsspezifischen Verhalten und in den Interessen von homosexuellen und heterosexuellen Menschen gibt, so beruhen diese nicht auf irgendwelchen Störungen der Geschlechtsidentität, sondern sind Ausdruck der voneinander abweichenden Geschlechterrollen. Auf diese Fragen wird noch ausführlicher im nachfolgenden Kapitel eingegangen.
Ist es wirklich so, dass der später schwule Mann als Kind ein Röckchen tragen und sich schminken möchte und die später lesbische Frau als Kind raue Sportarten bevorzugt und sich ausgesprochen jungenhaft gibt? Vielleicht haben Sie als Eltern sich schon solche Fragen gestellt oder mit einer gewissen Sorge das Verhalten Ihres Kindes beobachtet.
Auch wenn es sehr klischeehaft klingt, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass etliche vergleichende Untersuchungen an Lesben, Schwulen und Heterosexuellen diese Annahme teilweise bestätigen. Zumindest gilt dies für die Vergangenheit. Die Zukunft wird zeigen, ob sich die Situation mit zunehmender Akzeptanz der Homosexualität verändern wird. So weisen etwa erste Beobachtungen auf ein zunehmendes, mitunter sogar ausgesprochen großes Interesse von Schwulen an sportlichen Aktivitäten und auf eine Offenheit von Lesben auch gegenüber sogenannten »typisch weiblichen« Rollen hin. Bei homosexuellen Kindern erleben wir aber eben noch vielfach die beschriebene Orientierung an den Interessen und am Verhalten des Gegengeschlechts.
Viele Eltern, vor allem die Mütter, die ihre Kindern im Allgemeinen viel intensiver erleben als die Väter, berichten, ihnen sei mitunter schon im Vorschulalter und später besonders in der Pubertät aufgefallen, dass sich die Tochter nicht »mädchenhaft« und der Sohn nicht »jungenhaft« verhalten habe. So berichtet die Mutter von Markus, einem heute 25-jährigen schwulen Mann (in diesem und in allen nachfolgenden Beispielen wurden die Namen und personenbezogenen Details zur Anonymisierung verändert):
»Markus war kein ›richtiger‹ Junge. Irgendwie habe ich immer gespürt, dass er ›anders‹ ist. Schon im Kindergarten hat er sich eher den Mädchen angeschlossen und war ausgesprochen ängstlich, wenn es um raue Bubenspiele ging. Vor allem das Fussballspielen war ihm ein Graus. Und als mein Mann beschloss, ihn im Sportverein anzumelden, wehrte sich Markus mit Händen und Füßen dagegen. Er ist dann zwar brav ein halbes Jahr wöchentlich dorthin gegangen. Ich habe aber gemerkt, dass er sich dort überhaupt nicht wohl gefühlt hat. Er wurde von den anderen Buben zunehmend ausgeschlossen und als ›Angsthase‹ und ›Heulsuse‹ verspottet, weil er so ängstlich und wehleidig war.
Mein Mann hat versucht, Markus‹ Interesse für Fußball zu wecken, indem er ihn im Alter von 8 und 9 Jahren mit zum Fußballplatz genommen hat. Aber schon bald musste er einsehen, dass dies vergeblich war. Markus fand immer neue Ausreden, warum er nicht mitgehen könne, und weigerte sich schließlich ganz offen, mit dem Vater zusammen zum Fußballplatz zu gehen.
Mein Mann war sehr enttäuscht darüber, dass Markus kein ›richtiger‹ Junge war, und hat sich daraufhin mehr und mehr von seinem Sohn zurückgezogen.«
Umgekehrt erfahren wir von der Mutter der heute 20-jährigen lesbischen Hanna, die Tochter sei den Eltern schon früh als ausgesprochen »jungenhaft« aufgefallen:
»Während die anderen Mädchen mit Puppen gespielt und sich gerne herausgeputzt haben, war Hanna an schönen Kleidern und an der Gesellschaft von Mädchen überhaupt nicht interessiert. Sie hat sich von früh auf den Jungen angeschlossen und wilde Spiele geliebt. Selbst an Festtagen hat sie es abgelehnt, einen Rock anzuziehen. Wenn wir mit ihr in den Ferien waren, wurde Hanna von Fremden wegen ihrer Kleidung und ihres Verhaltens immer wieder für einen Jungen gehalten.«
Diese beiden Berichte scheinen das weit verbreitete Klischeebild vom »weiblichen« Schwulen und von der »männlichen« Lesbe zu bestätigen. Wie es die Mütter von Hanna und Markus beschreiben, haben die beiden sich in der Kindheit »anders« als ihre Geschlechtsgenossinnen und -genossen verhalten. Die Kinder sind den Eltern schon früh dadurch aufgefallen, dass Hanna kein »richtiges« Mädchen und Markus kein »richtiger« Junge war. Müssen wir aus solchen Berichten und aus den eingangs erwähnten Studien also doch schließen, Lesben seien männlich und Schwule weiblich identifiziert?
Wie ich bereits im vorausgehenden Kapitel ausgeführt habe, ist dies keineswegs so. Keine lesbische Frau zweifelt an ihrer Weiblichkeit und kein schwuler Mann an seiner Männlichkeit. Hanna und Markus sind nur im Hinblick auf ihr Rollenverhalten »anders« als ihre Kameradinnen und Kameraden. Sie haben sich in ihren Interessen und ihrem Verhalten nicht an den Standards orientiert, die für Mädchen bzw. Jungen in ihrer Umgebung maßgebend waren, sondern haben ein Verhalten gezeigt, das eher dem Gegengeschlecht entsprach. Dies betrifft aber nur das Rollenverhalten und hat nichts mit dem innersten Wesen dieser Kinder, ihrer Kern-Geschlechtsidentität (vgl. Kapitel 1, S. 12f.), zu tun.
An dieser Stelle der Diskussion stellen Sie als Eltern sich vielleicht die Frage, warum Kinder mit einer gleichgeschlechtlichen Orientierung oft ein nicht-geschlechtskonformes Rollenverhalten zeigen. Wir können uns dies am ehesten dadurch erklären, dass sie schon früh, mitunter sogar schon in der Vorschulzeit, sicher aber in der Vorpubertät und Pubertät, spüren, dass sie »anders« empfinden als ihre heterosexuellen Kameradinnen und Kameraden. Im Allgemeinen können sie ihre Gefühle aber noch nicht als »homosexuell« wahrnehmen und benennen. Sie spüren lediglich ihre andersartige sexuelle Ausrichtung und stehen deshalb unter dem Eindruck, sie müssten sich dann auch »anders« als ihre Geschlechtsgenossinnen und -genossen verhalten.