Ihr wisst, warum ihr sterben müsst! - Udo Rauchfleisch - E-Book

Ihr wisst, warum ihr sterben müsst! E-Book

Rauchfleisch Udo

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Beschreibung

Der 8. Fall des Kommissars Jürgen Schneider, der mit seinem Partner und ihrem 11jährigen Sohn in Basel lebt. In einer Anlage wird die Leiche einer älteren Frau gefunden, in ihrem Mund eine faule Orange. Neben ihr ihr kleiner Hund mit durchschnittener Kehle. Es gibt zwar einige Personen, die dem Kommissar verdächtig erscheinen, aber bei keiner Person ist ein klares Motiv für dieses brutale Verbrechen erkennbar. Kurz darauf wird in der gleichen Anlage die Leiche eines jungen Mannes entdeckt, in dessen Mund Zigarettenkippen gestopft worden sind, so dass er daran erstickt ist. Für diesen Mord gibt es etliche Verdächtige, die ihn gehasst und damit ein starkes Motiv für den Mord haben. Jürgen Schneider fragt sich, ob die beiden Verbrechen vom gleichen Täter begangen worden sind. Die Kommissare können jedoch beim besten Willen keine Verbindung zwischen den beiden Opfern erkennen. Die Situation spitzt sich dramatisch zu, als wenig später ein schwuler Aktivist in der gleichen Anlage tot aufgefunden wird. Treibt ein Serienkiller sein Unwesen in Basel? Neben dem Toten liegt eine zerrissene Regenbogenfahne. Alle drei Morde sind mit speziellen Inszenierungen verbunden. Sie sind also offenbar vom gleichen Täter verübt worden, der mit seinen Inszenierungen etwas ausdrücken will. Aber nach wie vor lässt sich keine Verbindung zwischen den Opfern erkennen und auch kein Motiv. Intensive Vernehmungen aller Verdächtigen und schließlich die Beobachtung, die eine ältere Frau eines Abends gemacht hat, führen zum Täter. Nach hartnäckigem Leugnen muss er unter dem Druck eindeutiger Beweise zugeben, die Verbrechen begangen zu haben. Sein mitleidloser Kommentar am Ende der Vernehmungen: „Sie wussten alle, dass sie sterben mussten!“

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Udo Rauchfleisch (Jahrgang 1942) ist emer. Professor für klinische Psychologie an der Universität Basel und Psychoanalytiker. Er hat in verschiedenen psychiatrischen Kliniken gearbeitet und ist jetzt als Psychotherapeut in privater Praxis in Basel tätig. Publikationen u. a. zu Homosexualität und Transidentität. www.udorauchfleisch.ch

Bereits erschienen:

Der Tod der Medea - Ein musikalischer Mord

ISBN print 978–3–86361–599–4

Mord unter lauter netten Leuten

ISBN print 978–3–86361–656-4

Narzissten leben gefährlich

ISBN print 978–3–86361–708-0

Schwarz ist der Tod

ISBN print 978–3–86361–705-9

Tödliche Gefahr aus dem All

ISBN print 978–3–86361–807-0

Lasst mich so sein, wie ich bin

ISBN print 978-3-86361-810-0

... und plötzlich bist du tot

ISBN print 978-3-86361-855-1

Hass verjährt nie

ISBN print 978-3-86361-876-6

Alle Titel auch als Ebook

Himmelstürmer Verlag, Ortstr.6 31619 Binnen

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de E–mail: [email protected] Originalausgabe, Oktober 2021

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Cover: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik–Designer AGD, Hamburg.

www.olafwelling.de

Alle Orte und Handlungen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind unbeabsichtigt und rein zufällig".

ISBN print 978–3–86361–948-0 ISBN epub 978–3–86361–949-7

ISBN pdf: 978–3–86361–950-3

Udo Rauchfleisch

Ihr wisst, warum ihr sterben müsst!

Roman

Personen

Jürgen Schneider,

Kriminalkommissar, Leiter der Basler Mordkommission, biologischer Vater von Antonio

Mario Rossi,

Partner von Jürgen Schneider, Inhaber einer Herrenboutique, sozialer Vater von Antonio

Anita Leupin,

leibliche Mutter von Antonio

Sandra Frey,

soziale Mutter von Antonio

Antonio,

elfjähriger Sohn von Anita Leupin und Jürgen Schneider, lebt in einer Regenbogenfamilie

Bernhard Mall,

Mitarbeiter von Jürgen Schneider

Walter Steiner,

Psychologe, Leiter der Ehe- und Familienberatungsstelle in Basel

Edith Steiner,

Frau von Walter Steiner, Prokuristin in einer Privatbank

1.

Leise öffnete Margarethe Meissner die Haustür, schaute sich suchend auf der Straße um und zog Moni, ihren kleinen Hund, hinter sich her. Moni war eine Promenadenmischung aus Dackel, Schnauzer „und sie hat auch ein bisschen West Highland White Terrier dabei“, pflegte Margarethe Meissner auf Fragen nach der Rasse ihrer Moni voller Stolz hinzuzufügen.

In einer Hand trug sie eine Plastiktüte mit den Abfällen, die sich an diesem Tag angesammelt hatten. Vor allem das Papier, in dem der Fisch eingepackt gewesen war, musste sie loswerden. Die ganze Küche stank schon nach diesem Papier. Außerdem war eine der Orangen, die sie vor einigen Tagen gekauft hatte, völlig verschimmelt und roch ebenfalls unangenehm.

Seit etlichen Stunden regnete es und ein kalter Wind trieb die letzten Blätter über die Bürgersteige. Ein ungemütlicher Novemberabend, an dem man am liebsten zu Hause im warmen Zimmer mit einem heißen Tee war.

Für Margarethe Meissner war das Wetter aber ideal. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Moni war zwar keineswegs begeistert gewesen, als ihr Frauchen die Leine genommen und mit ihr die Wohnung verlassen hatte.

„Es geht schnell“, flüsterte Margarethe Meissner ihrem Liebling zu. „Nur schnell ein Pipi da vorne im Vorgarten, wo wir immer hingehen, wenn wir es eilig haben. Dann noch ein paar Schritte bis zum Winkelriedplatz, damit wir unseren Müll loswerden. In zehn Minuten sind wir wieder zu Hause. Und dann ab ins Körbchen.“

Widerwillig folgte Moni ihrem Frauchen. Die Hündin kannte die Stelle, an der sie sich erleichtern durfte. Dies erlaubte ihr Frauchen aber nur, wenn es dunkel war. Denn dieses Privat-Hunde-Klo war im Vorgarten eines Mehrfamilienhauses. Margarethe Meissner hatte an einem Abend, als sie in Eile war, zufällig entdeckt, dass Moni dort ihr Geschäft verrichten konnte und sie nicht noch einen längeren Spaziergang machen mussten. Ein Vorteil dieses Ortes war auch, dass sie den Kot dort nicht, wie an anderen Stellen in der Öffentlichkeit, entfernen musste. Es wusste niemand, dass der von ihrer Moni stammte. Margarethe Meissner war klar, dass die Hausbewohner empört sein würden, wenn sie das sähen. Deshalb durfte Moni den Vorgarten nur bei Dunkelheit für ihr Geschäft benutzen.

Als das erledigt war, mussten die beiden nur noch ein paar Schritte machen, bis sie zur Bushaltestelle Winkelriedplatz kamen, wo Margarethe Meissner jeweils im Schutz der Dunkelheit eine Tüte mit ihrem Müll in einem kleinen Abfallbehälter entsorgte. Auf diese Weise sparte sie das Geld, das die Basler Bevölkerung für die gebührenpflichtigen Abfallsäcke ausgeben musste. Margarethe Meissner wusste, dass es nicht erlaubt war, privaten Müll in die Abfallbehälter zu werfen, und dass sie, sollte sie von der Polizei dabei erwischt werden, sogar mit einer Geldbuße rechnen musste. Sie stellte es jedoch so klug an, dass nie jemand sah, dass sie blitzschnell eine Plastiktüte in dem Behälter verschwinden ließ.

Heute waren offenbar auch andere Bewohner auf die gleiche Idee gekommen, ihren Abfall auf diese Weise zu entsorgen. Denn der Behälter quoll bereits über vor Müll. Kurz entschlossen stellte Margarethe Meissner ihre Plastiktüte unter den Behälter. Die Männer von der Straßenreinigung würden die Plastiktüte schon sehen und sie mitnehmen. Hauptsache, sie war den Müll, vor allem das stinkende Fischpapier und die verschimmelte Orange, los!

2.

Jürgen Schneider erwachte aus tiefem Schlaf, als sein Diensthandy läutete. Ein Blick auf das Handy zeigte ihm, dass es der 20. November um sechs Uhr morgens war. Er seufzte. Ein Anruf so früh am Morgen versprach nichts Gutes.

Er nahm das Handy und ging auf den Flur, um seinen Partner, Mario Rossi, nicht zu stören. Auf dem Display sah Jürgen, dass sein Kollege Bernhard Mall ihn anrief.

„Hier Jürgen. Hallo Bernhard. Was gibt es Gutes, dass du mir so früh am Morgen dringend mitteilen musst?“

„Guten Morgen, Jürgen. Gutes kann ich dir leider nicht mitteilen. Eher etwas Grausiges: Die Kollegen haben die Leichen einer älteren Frau und ihres Hundes in der Anlage beim Winkelriedplatz im Gundeldinger Quartier gefunden. Ich muss dich warnen: Die Leichen sind in einem schrecklichen Zustand. Ich kann dich abholen. Ist es in Ordnung, wenn ich in zehn Minuten bei dir bin?“

„Ja. Bis gleich.“

Jürgen war fertig, als er hörte, dass Bernhards Wagen vor der Tür hielt.

Jürgen Schneider, Ende 40, und Mario Rossi, Mitte 30, lebten seit 15 Jahren in einer eingetragenen Partnerschaft. Vor etlichen Jahren hatten sie ein Reiheneinfamilienhaus in der Nufenenstraße im Neubad Quartier von Basel gekauft und wohnten dort mit ihrem inzwischen elfjährigen Sohn Antonio. Mit einem Lesbenpaar, Anita Leupin und Sandra Frey, hatten die beiden Männer eine Regenbogenfamilie gegründet, wobei Anita und Jürgen die leiblichen Eltern von Antonio waren. Antonio lebte jeweils eine halbe Woche bei den Müttern und eine halbe Woche bei den Vätern.

Der Weg von Jürgens Haus im Neubald Quartier bis zum Winkelriedplatz, einer kleinen Anlage im Gundeldinger Quartier, war nicht weit. Was Bernhard Jürgen auf der Fahrt dorthin berichtete, war äußerst merkwürdig: Ein Mann, der früh morgens mit seinem Hund durch die Anlage vom Winkelriedplatz gelaufen sei, habe die Leiche einer älteren Frau entdeckt. Den von ihm alarmierten Polizisten habe sich ein grausiger Anblick geboten: im Mund des Opfers habe eine verfaulte Orange gesteckt. Neben dem Leichnam der Frau habe ein kleiner Hund mit durchschnittener Kehle gelegen.

„Offenbar ein sadistischer Täter“, überlegte Jürgen. „So etwas haben wir glücklicherweise lange nicht mehr in Basel erlebt!“

Jürgen Schneider war Leiter der Basler Mordkommission, Bernhard Mall sei engster Mitarbeiter. Die beiden arbeiteten seit vielen Jahren zusammen. Immer wieder auch hatten Jürgen, Mario und ihr Sohn Antonio Bernhard und dessen Frau und ihre Kinder bei privaten Anlässen getroffen.

Der Winkelriedplatz war eine kleine Anlage im Gundeldinger Quartier von Basel.

„Winkelriedplatz“ sinnierte Jürgen. „Der Name der Anlage geht doch auf die legendäre Gestalt von Arnold von Winkelried, einer mythischen Figur des 14. Jahrhunderts zurück. Ich erinnere mich gut, dass unser Geschichtslehrer im Gymnasium uns erzählt hat, dass der historisch nicht gesicherten Überlieferung gemäß Winkelried in der berühmten Schlacht von Sempach im Juli 1386 ein Bündel der habsburgischen Lanzen genommen haben soll und, sich selbst aufspießend, den Eidgenossen dadurch eine Bresche geöffnet habe. Seinem Opfer sei der Sieg der Eidgenossen über die Habsburger zu verdanken.“

„Diese Geschichte haben wir im Geschichtsunterricht auch diskutiert“, stimmte Bernhard Jürgen zu. „Es ist interessant, wie an der historischen Realität dieser Gestalt festgehalten wird, und wenn immer jemand an der historischen Realität des Selbstopfers von Winkelried zweifelt, das gleich hohe Wellen wirft. Du erinnerst dich vielleicht: Als ein Historiker einmal darauf hingewiesen hat, dass es die Art von Lanzen, die in Abbildungen von Winkelried immer wieder dargestellt werden, am Ende des 14. Jahrhunderts gar nicht gab, hat sich doch ein wahrer Shitstorm gegen ihn gerichtet und er wurde als Nestbeschmutzer beschimpft.“

„Ja, ich erinnere mich an diese Diskussion. Unser Geschichtslehrer hat uns auch berichtet, dass Winkelried im 19. und 20. Jahrhundert Gegenstand einer regelrechten Heldenverehrung geworden ist. Dies ging sogar so weit, dass in der Zeit des Nationalsozialismus der Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine Karl Dönitz den Begriff ‚Winkelried’ als Ehrenname für alle die Angehörigen der Kleinkampfverbände der Kriegsmarine geprägt hat, die sich im Kampf ‚für Führer, Volk und Vaterland’ in voller Suizidbereitschaft geopfert haben.“

„Unglaublich!“, meinte Bernhard. „Winkelried ist übrigens auch 1970 von dem damaligen Schweizer Nationalrat James Schwarzenbach benutzt worden, als Schwarzenbach auf dem Schlachtfeld von Sempach seine berüchtigte Überfremdungsinitiative als ‚Winkelriedstat’ angepriesen hat. Eigenartig, dass Winkelried für alle diese Dinge herhalten musste! Und an dem Platz, der an diesen legendären Winkelried erinnern soll, werden wir jetzt zu den Leichen einer älteren Frau und ihres Hundes gerufen. Schon absurd, nicht wahr?“

Jürgen nickte.

Als Jürgen und Bernhard am Winkelriedplatz angekommen waren, sahen sie, dass die Polizisten die Anlage weiträumig abgesperrt hatten. Der Gerichtsarzt, Dr. Ralph Elmer, war mit der Untersuchung der Leiche beschäftigt.

„Mal etwas Anderes als immer nur erstochene oder erschossene Opfer“, meinte er, betont wohlgelaunt. „Hier hat jemand ganze Arbeit geleistet“, ergänzte er grinsend.

Jürgen war durch die jahrelange Zusammenarbeit mit Ralph Elmer zwar an diese Art von Kommentaren gewöhnt. Er hatte aber immer noch Mühe damit und fragte sich, wie jemand bei der Untersuchung von Menschen, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren, solche Sprüche klopfen konnte. Dies mochte durchaus eine Abwehrstrategie sein, um sich bei der Art von Tätigkeit, die ein Gerichtsarzt ausübt, emotional nicht zu tief berühren zu lassen. Trotzdem fand Jürgen es unpassend und den Opfern gegenüber respektlos angesichts einer Gewalttat dieser Art.

Jürgen reagierte deshalb nicht auf diese Begrüßung des Gerichtsarztes, sondern fragte betont sachlich, ob Ralph Elmer ihm schon etwas über den Todeszeitpunkt und die Art sagen könne, wie die Frau zu Tode gekommen sei.

„Todeszeitpunkt zirka 22 Uhr gestern Abend. Abwehrspuren sehe ich bis jetzt nicht. Sie ist offenbar erwürgt worden. Das Maul wurde ihr erst nach dem Tod mit einer faulen Orange gestopft.“

Das war zu viel für Jürgen. „Könntest du deine Sprüche für dich behalten, Ralph! Verschon’ uns bitte damit!“

„Oh je, der zartbesaitete Herr Kommissar ist heute Morgen offenbar mit dem linken Bein aus dem Bett gestiegen“, meinte Ralph Elmer süffisant grinsend. „Details wird euch mein Chef später nach der Obduktion mitteilen“, fuhr er im sachlichen Ton fort, da er merkte, dass er mit seinem letzten Kommentar den Bogen offensichtlich überspannt hatte.

Mit den Worten „Und das Hündchen der Dame musste auch sein Leben lassen, ihm wurde die Kehle durchgeschnitten“, packte der Gerichtsarzt seine Sachen zusammen und verließ, lustig vor sich hin pfeifend, die Anlage.

„Je länger, desto weniger kann ich Ralphs blöden Sprüche ertragen“, gestand Jürgen Bernhard. „Ich weiß schon, dass das seine Art ist, sich gegen die Gefühle zu schützen, die er wahrscheinlich erlebt, wenn er Tag ein Tag aus mit Leichen zu tun hat. Aber er könnte sich wirklich etwas respektvoller ausdrücken.“

„Du hast völlig recht“, stimmte Bernhard ihm zu. „Bei diesen grausigen Tatumständen zu sagen, der Täter habe der Frau das Maul gestopft, ist wirklich zu viel gewesen. Wenn du nichts gesagt hättest, hätte ich es gemacht.“

„Ich habe seinem Chef, Professor Martin Hofer, schon ein paar Male gesagt, er soll Ralph mal in den Senkel stellen. Aber der seufzt nur und hat resigniert. In seiner Gegenwart beherrscht Ralph sich etwas mehr als bei uns. Aber ändern kann Martin Hofer ihn nicht. Immerhin ist Ralph fachlich offenbar sehr gut. Das stimmt seinen Chef etwas milder.“

Die Kollegen von der Spurensicherung waren damit beschäftigt, die Leichen der Frau und des Hundes zu fotografieren und in der Anlage nach Spuren zu suchen.

In der Manteltasche des Opfers fand Jürgen ein Schlüsseletui. In einer Seitentasche des Etuis war eine Karte mit dem Namen Margarethe Meissner, der Adresse Güterstraße und einer Telefonnummer.

„Das erleichtert uns natürlich die Identifizierung des Opfers“, meinte Jürgen. „Wahrscheinlich sind das ihr Name und ihre Adresse. Die Güterstraße ist ja ganz in der Nähe. Gehen wir mal dort vorbei und schauen uns da um. Außerdem müssen wir mit den Hausbewohnern sprechen. Ich hoffe, wir bekommen von denen Hinweise, die uns weiterhelfen.“

3.

Das Haus in der Güterstraße, dessen Adresse im Schlüsseletui des Opfers gestanden hatte, war ein Gebäude mit drei Stockwerken und insgesamt sechs Wohnungen. Tatsächlich fanden Jürgen und Bernhard an einem Klingelschild im zweiten Stock den Namen M. Meissner. Mit einem der Schlüssel im Schlüsseletui, das sie bei der Toten gefunden hatten, ließ sich die Haustür aufschließen.

Die Kommissare stiegen die Treppen bis zur zweiten Etage hinauf und schlossen mit dem zweiten Schlüssel die Wohnungstür auf. Es war eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung, Jürgen schätzte sie auf höchstens 40 Quadratmeter.

Im Schlafzimmer standen ein großer Schrank, eine kleine Kommode und ein Bett. Ein Blick in den Schrank und die Kommode wies auf eine mustergültige Ordnung hin. Auf Bügeln hingen im Schrank einige Kleider, Röcke, Blusen und Hosen. In den Fächern lagen Pullover, Unterwäsche und Strümpfe. Die Kommode hatte verschiedene Fächer für Schuhe. Dort befanden sich aber nur zwei Paare leichte Sommerschuhe, ein Paar Stiefel und Hausschuhe.

Die Bettdecke war aufgeschlagen. Offenbar hatte Frau Meissner das Bett schon für die Nacht vorbereitet, als sie sich auf den Abendspaziergang mit ihrem Hund gemacht hatte. Neben dem Bett stand ein Hundekörbchen. Vor dem Bett lag ein dünner Teppich, der aber nur einen kleinen Teil des Holzbodens bedeckte und eher wie eine Matte aussah. Abgesehen von einem Heiligenbild an der Wand neben dem Bett fanden sich im Schlafzimmer keine Bilder.

Ähnlich kärglich präsentierte sich der Wohnraum. Auch hier keine Bilder. In der Mitte des Raumes stand ein Esstisch mit vier Stühlen. Auf dem Tisch lag eine Spitzendecke und darauf stand eine kleine Vase mit künstlichen Blumen von undefinierbarer Farbe. In einer Ecke des Raumes standen zwei Sessel vor einem niedrigen Holztisch, der auf einem dunkelbraunen, dünnen Teppich stand.

An einer Wand des Wohnraumes befand sich eine Vitrine, in deren Fächern kleine Figürchen, ein paar Bücher und ein Service mit Mokkatassen standen. Im unteren Teil der Vitrine waren Fächer, in denen Decken, Servietten, ein Essservice und Bestecke lagen. In einer Schublade entdeckten Jürgen und Bernhard einige Briefe, Schreibzeug und die Identitätskarte von Frau Meissner.

Auch in der Küche herrschte eine perfekte Ordnung. Teller, Tassen und Gläser waren in den Hängeschränken versorgt, Bestecke in den Schubladen und in den Fächern darunter Töpfe und Pfannen. Im Kühlschrank befanden sich Milch, Butter, ein halbvolles Glas Marmelade und ein kleines Päckchen mit Fleisch, wahrscheinlich für den Hund, vermuteten Jürgen und Bernhard. An einer Wand hing ein kleiner Kalender.

„Unser Opfer war offensichtlich nicht mit Reichtümern gesegnet“, konstatierte Bernhard, als sie das Badezimmer in Augenschein genommen hatten. „Alles ist sauber und ordentlich, aber doch eher ärmlich, nicht wahr?“

Jürgen nickte.

„Die Kollegen von der Spurensicherung sollen sich die Wohnung einmal genau anschauen. Die Briefe, die in der Schublade im Wohnraum liegen, nehmen wir am besten gleich mit ins Präsidium. Vielleicht geben sie uns Hinweise darauf, ob Frau Meissner Verwandte oder ihr nahestehende Freundinnen und Freunde hatte. Lass’ uns jetzt versuchen, mit den Hausbewohnern zu sprechen. Vielleicht sind einige um diese Zeit noch zu Hause. Willst du die Wohnungen im ersten Stock übernehmen, Bernhard? Dann versuche ich es hier im zweiten Stock bei den Nachbarn von Frau Meissner und dann bei den Wohnungen im Parterre.“

Die Kommissare verschlossen die Wohnung von Frau Meissner. Sie würden den Schlüssel dann später den Kollegen von der Spurensicherung geben. Nun stand zunächst die Tour durch das Haus an.

Rechts neben Frau Meissners Wohnung lag eine Wohnung, an deren Tür der Name „D. Martinez“ stand. Als Jürgen geläutet hatte, verging einige Zeit, bis eine Frauenstimme fragte: „Wer ist da?“

Jürgen nannte seinen Namen und als Dienststelle lediglich „Kriminalpolizei“, um die Bewohnerin nicht durch den Hinweis „Mordkommission“ in Panik zu versetzen.

Wenig später öffnete eine etwa 50-jährige korpulente Frau die Tür. Sie musterte Jürgen mit einem gewissen Misstrauen und schaute sich seinen Ausweis genau an, den er ihr gab.

„Darf ich kurz hineinkommen, Frau Martinez? Ich möchte Ihnen ein paar Fragen wegen ihrer Nachbarin stellen.“

„Wegen Margarethe Meissner? Was ist denn los? Ihr ist doch hoffentlich nichts passiert!“, ergänzte sie mit vor Schreck geweiteten Augen.

Jürgen seufzte. Trotz jahrelanger Tätigkeit als Leiter der Mordkommission fiel es ihm immer noch enorm schwer, Angehörigen oder Bekannten von Opfern die Nachricht vom Tod der ihnen nahestehenden Person zu überbringen.

„Es tut mir sehr leid, ihnen mitteilen zu müssen, dass wir heute früh am Morgen Frau Meissner tot aufgefunden haben.“

„Was sagen Sie? Margarethe tot aufgefunden? Das kann doch nicht sein! Ich habe sie gestern Abend doch noch gesehen, als sie mit ihrer Moni Gassi gehen wollte. Hatte sie einen Unfall?“

„Nein“, fuhr Jürgen fort. „Frau Meissner ist Opfer eines Gewaltverbrechens geworden.“

Frau Martinez sank in einen Sessel und begann hemmungslos zu weinen. Immer wieder stammelte sie: „Das kann doch nicht sein! Wer macht denn so etwas?“

„Sie haben eben erwähnt, dass Sie Frau Meissner gestern Abend gesehen haben, als sie mit ihrem Hund Gassi gehen wollte. Wann war das?“

Langsam fasste Frau Martinez sich wieder. „Das muss gegen zehn Uhr gewesen sein. Ich hatte im Wohnzimmer noch gelüftet und als ich das Fenster zugemacht habe, habe ich Margarethe auf der Straße gesehen. Sie geht oft um diese Zeit noch einmal mit ihrer Moni Gassi. Wo ist übrigens Moni? Das arme Tier! Sie wird das nicht überleben, dass ihr Frauchen tot ist.“

„Wir haben den Hund von Frau Meissner tot neben ihr gefunden.“

„Das ist ja grauenvoll! Moni ist auch umgebracht worden?“

Jürgen nickte.

„Haben Sie irgendetwas Besonderes beobachtet, als Sie Frau Meissner weggehen gesehen haben?“

„Nein. Sie hatte den Mantelkragen hochgeschlagen. Es war kalt und hat geregnet. In der Hand hatte sie eine Plastiktüte, wenn ich das recht gesehen habe.“

„Haben Sie eine Ahnung, was in der Plastiktüte war?“, fragte Jürgen.

Frau Martinez lächelte unter Tränen. „Margarethe war äußerst sparsam und meinte, sie könne die Abfälle doch getrost in dem Abfallbehälter vom Winkelriedplatz entsorgen. Sie müssen wissen, Herr Kommissar – das bleibt aber doch unter uns? – das machen wir alle hier im Haus. Es ist doch Wahnsinn, dass wir die offiziellen teuren Abfallsäcke mit der Vignette kaufen sollen, die wir mit den wenigen Abfällen ja nicht einmal in einer Woche füllen können. Wahrscheinlich wollte Margarethe beim Gassigehen mit Moni den Abfall wegbringen.“

Jürgen nickte. Er hatte immer wieder gehört, dass vor allem alleinstehende ältere Menschen ihre Küchenabfälle in den Abfallbehältern bei den Tram- und Bushaltestellen und in den Parks entsorgen. Das wäre eigentlich auch nicht schlimm gewesen. Es ärgerte Jürgen aber, wenn mitunter die Abfallbehälter überquollen und dann darunter sogar noch diverse Tüten und Flaschen abgestellt wurden. Diese Art, Abfälle zu entsorgen, war also keineswegs etwas Besonderes, was lediglich Frau Meissner anging.

„Haben Sie sonst bei Frau Meissner etwas Auffallendes in den vergangenen Tagen beobachtet?“, setzte Jürgen das Gespräch fort.

Frau Martinez dachte angestrengt nach und schüttelte den Kopf.

„Wissen Sie, ob Frau Meissner Verwandte hatte?“

„Nein. Zumindest keine näheren Verwandten, zu denen sie Kontakt gehabt hätte. Es gibt, glaube ich, noch eine Cousine mütterlicherseits. Die lebt in einem Pflegeheim in Österreich. Die beiden hatten aber keinen Kontakt miteinander.“

„Und Freundinnen und Freunde?“, fuhr Jürgen fort.

„Eigentlich auch nicht. Margarethe hat sehr zurückgezogen gelebt. Kontakt hat sie nur mit mir und mit Marlis Brunner, die auch hier im Haus wohnt, gehabt. Wir sind ein richtiges Frauentrio“, ergänzte sie mit schalkhaftem Lächeln.

Jürgen war froh, dass Frau Martinez sich wieder gefangen zu haben schien. Da er im Moment keine weiteren Informationen von Frau Martinez bekommen konnte, verabschiedete er sich von ihr und gab ihr seine Karte mit der Bitte, ihn zu benachrichtigen, wenn ihr noch etwas einfalle.

„Ich habe noch eine Frage, Herr Kommissar“, meinte Frau Martinez unter der Tür. „War es ein Raubmord?“

Jürgen schüttelte den Kopf. „Nein. Darauf weist nichts hin.“

„Aber wer bringt denn dann eine Frau wie Margarethe um?“

„Das fragen wir uns auch“, gestand Jürgen. „Und an der Aufklärung dieses Verbrechens arbeiten wir.“

4.

Während Jürgen mit Frau Martinez sprach, hatte Bernhard im ersten Stock an der Wohnung unter der von Frau Meissner geläutet. An der Tür war ein Klingelschild mit dem Namen „M. Brunner“ angebracht.

„Wer ist da?“, ertönte kurz darauf die leise Stimme einer Frau.

„Ich bin Bernhard Mall von der Kriminalpolizei“, antwortete Bernhard. Auch er ließ, wie Jürgen, die genauere Bezeichnung seiner Dienststelle „Mordkommission“ weg, um Frau Brunner nicht zu erschrecken. „Dürfte ich kurz mit Ihnen sprechen, Frau Brunner?“

Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet und eine Frau, die Bernhard auf etwa 50 Jahre schätzte, schaute ihn misstrauisch an. Um sie zu beruhigen, reichte Bernhard ihr seinen Dienstausweis.

Kurze Zeit später öffnete Frau Brunner die Tür und ließ Bernhard eintreten. Abwartend blieb sie im Flur stehen und schaute Bernhard fragend an.

„Können wir uns kurz setzen, Frau Brunner?“, begann Bernhard. „Ich habe ein paar Fragen an Sie.“

Frau Brunner nickte und führt den Kommissar in den Wohnraum. Bernhard schaute sich erstaunt um. Der Raum quoll über von Büchern. Bücher in den Regalen an den Wänden, Bücher auf dem Ess- und dem Couchtisch, Bücher auf dem Sofa und auf den Sesseln und Stapel von Büchern auf dem Boden.

„Sie müssen entschuldigen, dass hier solch ein Durcheinander herrscht“, meinte sie und räumte die Bücher weg, die auf dem Sessel lagen, den sie Bernhard anbot. „Ich bin eine Leseratte und kaufe immer wieder neue Bücher, obwohl ich längst nicht alle gelesen habe, die hier liegen.“

Frau Brunner selbst hatte sich einen Platz auf dem Sofa geschaffen, indem sie die dort liegenden Bücher zur Seite geschoben hatte.

„Es geht um Frau Meissner“, begann Bernhard.

Frau Brunner schaute ihn erschrocken an. „Ist ihr etwas passiert?“

Bernhard nickte und berichtete Frau Brunner, dass Frau Meissner heute Vormittag tot aufgefunden worden sei.

„Tot aufgefunden?“, wiederholte Frau Brunner. „Hatte Margarethe einen Unfall? Oder was ist passiert?“

„Nein. Frau Meissner hatte keinen Unfall. Sie ist Opfer einer Gewalttat geworden.“

Frau Brunner starrte Bernhard fassungslos an. „Gewalttat“, stammelte sie. „Wie und wo?“

Möglichst schonungsvoll, unter Auslassung aller Details berichtete Bernhard ihr, dass Frau Meissner in der Anlage vom Winkelriedplatz gefunden worden sei.

„Wann haben Sie Frau Meissner denn zum letzten Mal gesehen?“

Frau Brunner überlegte. „Das muss gestern gegen Mittag gewesen sein. Sie kam vom Einkaufen zurück und hat mir begeistert erzählt, dass sie im Sonderangebot wunderbares Lachsfilet im COOP-Supermarkt gekauft habe. Sie wollte den Lachs abends essen. Danach habe ich Margarethe nicht mehr gesehen.“

Frau Brunner war sichtlich erschüttert und barg ihr Gesicht in den Händen.

„Aber warum tut ihr denn jemand so etwas an?“, murmelte sie. „Margarethe war doch so eine liebe Frau, die niemandem etwas zuleide getan hat.“

„Und doch muss jemand sie gehasst haben“, wendete Bernhard ein und dachte dabei an die grausame Art, wie sie umgebracht worden war. „Hat Frau Meissner Feinde gehabt?“

Frau Brunner dachte angestrengt nach und schüttelte den Kopf. „Nein. Feinde hatte Margarethe sicher nicht!“

„Wissen Sie, ob Frau Meissner Verwandte hat?“, setzte Bernhard das Gespräch fort.

Frau Brunner schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Sie hat zumindest nie irgendwelche Verwandte erwähnt.“

Frau Brunner stockte und schaute Bernhard entsetzt an. „Um Gottes Willen! Was ist denn mit Moni? Das ist Margarethes kleiner Hund“, fügte sie erklärend hinzu. „Wer kümmert sich denn nun um sie?“

„Der Hund von Frau Meissner ist ebenfalls umgebracht worden. Wir haben ihn neben ihrer Leiche gefunden.“

„Grauenvoll!“, flüsterte Frau Brunner. „Wer macht nur so etwas?“

Bernhard ließ Frau Brunner seine Karte da und bat sie, ihn anzurufen, wenn ihr noch etwas einfalle. Er merkte, dass er von ihr zumindest im Moment keine weiteren Informationen erhalten konnte.

Als Bernhard die Wohnung von Frau Brunner verließ, kam ihm Jürgen auf der Treppe entgegen. Jürgen war auf dem Weg ins Parterre, um die dort wohnenden Bewohner zu befragen.

„Hast du etwas erfahren, das uns weiterhelfen könnte?“, fragte Bernhard ihn.

Jürgen schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Und du?“

„Ich auch nicht. Frau Brunner, die Frau, bei der ich eben war, meint, Frau Meissner sei eine liebe Person gewesen, die sicher keine Feinde gehabt habe.“

„Das Gleiche habe ich auch von Frau Martinez gehört“, ergänzte Jürgen. „Ich frage noch die Leute im Parterre. Wir treffen uns in 20 Minuten vor dem Haus und fahren dann zusammen ins Kommissariat. Bis gleich.“

5.

Bernhard läutete in der Wohnung neben der von Frau Brunner. Am Klingelschild stand „Gisin-Meier.“ Also eine Familie, dachte Bernhard, denn ein Doppelname mit Bindestrich wies nach guter alter Schweizer Sitte auf ein Ehepaar hin, bei dem die Frau, eine geborene Meier, den Namen ihres Ehemannes, Gisin, angenommen hatte.

Auf Bernhards Läuten hin blieb alles ruhig. Er läutete noch einmal. Wieder keine Reaktion. Wahrscheinlich sind die Leute schon zur Arbeit gegangen, dachte er, und wollte hinuntergehen, als er ein Geräusch hinter der Tür hörte.

„Wer ist da?“, fragte eine Frauenstimme unwirsch.

Bernhard nannte, wie schon bei Frau Brunner, seinen Namen und lediglich „Kriminalpolizei“ und bat, der Frau ein paar Fragen stellen zu dürfen.

Zuerst wieder keine Reaktion. Dann die spürbar widerwillige Antwort: „Augenblick. Ich bin gleich da.“

Es vergingen sicher fünf Minuten, bis die Tür geöffnet wurde. Vor Bernhard stand eine korpulente Frau. Bernhard schätzte sie auf 50, in einem Morgenmantel.

„Entschuldigen Sie meinen Aufzug“, meinte sie und führte Bernhard in eine kleine Küche, wo sie ihm einen Hocker anbot. „Ich bin Pflegefachfrau und hatte Nachtdienst und war eingeschlafen, als Sie geläutet haben. Worum geht es denn?“

Wieder berichtete Bernhard in möglichst schonenden Worten vom Mord an Frau Meissner und ihrem Hund. Frau Gisin schien zwar durch diese Nachricht betroffen zu sein, verhielt sich aber nach Bernhards Eindruck erstaunlich distanziert.

Auf Bernhards Frage nach möglichen Feinden schüttelte Frau Gisin den Kopf.

„Frau Meissner Feinde? Nein. Das glaube ich nicht.“

Auch bezüglich Verwandten konnte sie Bernhard keine Angaben machen. Frau Gisin vermutete, Frau Meissner habe keine Verwandten mehr gehabt.

Bernhard fiel auf, dass Frau Gisin im Gegensatz zu Frau Brunner nicht den Vornamen der Ermordeten, sondern nur den Familiennamen benutzte. Also waren die beiden Frauen wohl nicht eng befreundet gewesen, vermutete er.

„Frau Meissner hat sehr zurückgezogen gelebt“, erklärte Frau Gisin ihm. „Ich hatte nur flüchtig Kontakt mit ihr. Vielleicht können Ihnen Frau Martinez und Frau Brunner mehr über sie berichten. Die drei kannten sich recht gut und waren oft zusammen. Die drei bildeten ein Trio und waren eifrig damit beschäftigt, sich die neusten Klatschgeschichten zu berichten“, fügte sie mit einem gehässigen Unterton hinzu.

„Wie meinen Sie das mit den neusten Klatschgeschichten?“, hakte Bernhard nach.

„Wie ich es gesagt habe!“, antwortete Frau Gisin, spürbar gereizt. „Die drei haben halt viel Zeit und stecken ihre Nasen in alles Mögliche hinein, auch wenn es Dinge sind, die sie überhaupt nichts angehen.“

„Damit schafft man sich wohl keine Freunde“, gab Bernhard zu.

„Wenn alle Schwatzbasen und Lästermäuler umgebracht würden, sähe unsere Bevölkerungspyramide aber anders aus“, gab Frau Gisin trocken zurück. „Deshalb bringt man doch niemanden um.“

„Das hängt von der Geschichte ab, die jemand über andere erzählt, und davon, über wen geklatscht wird“, wendete Bernhard ein.

Frau Gisin warf ihm einen scharfen Blick zu, dessen Bedeutung Bernhard indes nicht ausmachen konnte. War es ein verächtlicher Blick, weil er eine solche Vermutung geäußert hatte? Oder war es ein wütender Blick, weil Frau Gisin sich ärgerte, dass sie so viel von ihrer Meinung über Frau Meissner preisgegeben hatte? Oder war es ein vorsichtig-misstrauischer Blick, weil sie spürte, dass sie mit ihren Aussagen Bernhard Anlass zur Vermutung gegeben hatte, dass Frau Meissner doch Feinde hatte und Frau Gisin mehr wusste, als sie zu erkennen gab?

Bernhard startete einen neuen Versuch: „Können Sie sich an eine solche Klatschgeschichte erinnern, von der Sie in letzter Zeit erfahren haben?“

Frau Gisin schüttelte unwillig den Kopf. „Ich war ja kein Mitglied in diesem Tratschgrüppchen! Mir haben die nichts erzählt. Das hätte mich auch nicht interessiert!“, fügte sie dezidiert hinzu.

„Aber wenn Sie erwähnen, dass die drei Frauen über andere getratscht haben, wird Ihnen ja doch etwas zu Ohren gekommen sein“, bohrte Bernhard weiter.

Frau Gisin schnaufte sichtlich verärgert und presste die Lippen zusammen.

Schließlich meinte sie, spürbar bemüht, ihre Antwort möglichst emotionslos und knapp zu formulieren: „Ich habe vor einiger Zeit von einer Bekannten, die auch hier im Gundeldinger Quartier wohnt, gehört, dass Frau Meissner sich sehr negativ über eine Kassiererin geäußert hat, die im COOP-Supermarkt am Bahnhof arbeitet. Ich glaube, sie hatte sogar einmal eine Auseinandersetzung mit dem Partner dieser Frau, als sie sich zufällig in der Stadt begegnet sind. Genaues weiß ich aber nicht.“

In der Art, wie Frau Gisin ihre Antwort gab, war spürbar, dass für sie damit das Thema Klatschbasen beendet war. In Anbetracht ihrer ersten gehässigen Kommentare über das Opfer vermutete Bernhard zwar, dass Frau Gisin ihm durchaus weitere Informationen geben könnte. Er entschied sich aber, das Gespräch an dieser Stelle erst einmal zu beenden. Frau Gisin schien im Moment nicht bereit zu sein, ihm mehr zu berichten. Jürgen und er könnten sie später immer noch einmal befragen und dann vielleicht mehr von ihr erfahren.

„Darf ich Sie noch etwas fragen, Frau Gisin? An Ihrem Klingelschild steht der Doppelname Gisin-Meier. Das heißt, Sie sind verheiratet?“

„Da liegen Sie völlig falsch!“, entgegnete Frau Gisin mit einem trockenen, sarkastischen Lachen. „Mein teurer Gatte ist schon vor etlichen Jahren an den Folgen seines Alkoholismus dahingerafft worden. Ich habe den Doppelnamen nur deshalb am Klingelschild stehen lassen, weil das Fremde denken lässt, hier lebe auch ein Mann. Auch wenn das eigentlich lächerlich ist, bietet das doch einen gewissen Schutz.“

Obschon Bernhard unangenehm von der Art berührt war, wie Frau Gisin von ihrem verstorbenen Mann sprach, ließ er sich nichts von seinen Gefühlen anmerken. Vielleicht haben sich die Klatschbasen ja über den Mann von Frau Gisin und seinen Alkoholkonsum ausgelassen, überlegte Bernhard. Das könnte ein Grund für Frau Gisins negative Äußerungen über das „Trio“ sein.

Es hatte aber keinen Zweck, jetzt diesen heiklen Punkt anzusprechen. Das könnten Jürgen und er später tun, entschied Bernhard. Er erhob sich, entschuldigte sich noch einmal dafür, dass er Frau Gisin aus dem Schlaf gerissen hatte und verabschiedete sich von ihr.

Frau Gisin rang sich ein Lächeln ab und murmelte: „Schon gut. Sie wussten ja nicht, dass ich Nachtschicht hatte.“

6.

Während Bernhard mit Frau Gisin sprach, läutete Jürgen im Parterre an einer Wohnungstür, auf deren Klingelschild die beiden Namen A. Ochsner und B. Furrer standen. Trotz mehrmaligem Läuten öffnete niemand. Wahrscheinlich waren die hier lebenden Leute schon zur Arbeit gegangen, vermutete er. Bernhard oder er müssten es dann am Abend bei ihnen versuchen.

Als Jürgen bei der Nachbarwohnung läuten wollte, öffnete ein äußerst attraktiver junger Mann, zirka Mitte 20, diese Wohnungstür. Jürgen hatte im Haus nur ältere Leute erwartet und war deshalb sehr erstaunt, einem jungen Mann gegenüberzustehen.

Der hatte Jürgens Erstaunen offensichtlich bemerkt, schaute den Kommissar amüsiert an und fragte: „Wollen Sie zu Alex Ochsner und Beat Furrer?“

Jürgen stellte sich vor, erwähnt aber diesmal gleich, dass er Leiter der Mordkommission sei, und erklärte den Grund seines Kommens. Der junge Mann stellte sich als Marcel Fricker vor, und bat Jürgen hereinzukommen.

„Alex und Beat sind um diese Zeit schon bei der Arbeit“, erklärte er, als er Jürgen einen Platz in einem Sessel im Wohnraum anbot. „Darf ich Ihnen Kaffee oder Tee anbieten?“, fragte er mit einem verführerischen Augenaufschlag, der Jürgens Blut in Wallungen brachte.

Um sich etwas sammeln zu können, nahm Jürgen das Angebot eines Kaffees gerne an. Während Marcel Fricker in die Küche ging, um den Kaffee aus der Maschine zu lassen, hatte Jürgen Zeit, sich im Raum umzuschauen. Es war ein gemütlich eingerichtetes Zimmer mit einem Couchtisch und drei Sesseln, einem großen Esstisch mit vier Stühlen und Bücherregalen.

An einer Wand entdeckte Jürgen zwei Bilder von muskelbepackten, halbnackten Männern, die er unschwer als Zeichnungen von Tom of Finland erkannte. Er erinnerte sich, dass diese homoerotischen Darstellungen von muskulösen Männern in Uniformen in den 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts große Verbreitung in Schwulenkreisen gefunden hatten. Dass Marcel Fricker zwei dieser Zeichnungen bei sich im Wohnraum aufgehängt hatte, ließ Jürgen vermuten, dass sein Gesprächspartner schwul war. Wahrscheinlich wie seine Nachbarn.

Kurze Zeit später kam Marcel Fricker mit einem Tablett mit zwei Kaffeetassen, Milch und Zucker zurück und reichte Jürgen eine Tasse.

„Sie sagen, Frau Meissner sei umgebracht worden?“, begann Marcel Fricker das Gespräch. „Sie war zwar nicht unsere Busenfreundin. Aber das ist schrecklich!“

„Sie sagen, Frau Meissner sei nicht Ihre Busenfreundin gewesen. Können Sie mir den Grund dafür nennen?“

„Mache ich mich jetzt dadurch verdächtig, dass ich meine Abneigung ihr gegenüber so unverhohlen äußere?“, meinte er grinsend.

„Nein, nicht unbedingt“, gab Jürgen, ebenfalls lächelnd, zurück. „Aber vielleicht können Sie mir ja erklären, warum Sie eine Abneigung gegen Frau Meissner haben.“

„Das kann ich Ihnen leicht erklären: Frau Meissner, Frau Martinez und Frau Brunner sind drei richtige Tratschweiber, die viel Zeit haben und ihre Nasen in alle möglichen Dinge hineinstecken, die sie gar nichts angehen. Als Alex, Beat und ich hier vor einem Jahr eingezogen sind, hat sie uns dauernd nachspioniert und hat schon bald herausgefunden, dass wir schwul sind. Wir machen auch kein Hehl daraus und leben offen. Sie hat diese Neuigkeit dann sofort an ihre Freundinnen weitergegeben. Und in Windeseile hat sich in unserer Straße herumgesprochen, dass hier im Haus drei schwule Männer leben.“

„Hatten Sie dadurch irgendwelche Nachteile?“

„Nicht direkt Nachteile. Aber vor zwei Monaten hat jemand an die Wand unseres Hauses gesprayt ‚Wir wollen hier keine schwulen Säue’!“

„Das wird aber sicher nicht Frau Meissner dahin gesprayt habe“, wendete Jürgen ein. „Und sicher keine der beiden anderen Frauen. Oder was meinen Sie?“

„Natürlich habe die drei Klatschweiber das nicht dahin gesprayt. Aber Alex, Beat und ich vermuten, dass irgendein homophober Typ von den Frauen gehört hat, dass wir schwul sind, und dann das an die Hauswand gesprayt hat. Insofern ist das doch etwas Negatives, was Frau Meissner ausgelöst hat.“

Jürgen nickte. Das wäre auf jeden Fall ein Mordmotiv, dachte er. Der Typ mag attraktiv aussehen und cool wirken. Aber das schließt noch lange nicht aus, dass er – oder seine Freunde von nebenan – eine solche Wut auf Frau Meissner gehabt haben, dass einer von ihnen sie umgebracht hat. Außerdem weiß ich ja nicht, was die Tote alles über die drei Männer erzählt hat, überlegte Jürgen. Vielleicht gibt es Dinge, über die Herr Fricker bisher nichts gesagt hat.

„Wissen Sie, was Frau Meissner über Sie und Ihre Freunde herumerzählt hat?“, fragte Jürgen.

„Keine Ahnung, was das im Detail war. Aber wahrscheinlich der übliche homophobe Scheiß: wir würden alles mögliche ‚Gesindel’ ins Haus holen, das hat sie einmal wortwörtlich zu Alex gesagt, wir würden den ganzen Tag rumficken, würden Jugendliche verführen und all diesen Unsinn. Bei homofeindlichen Menschen hat das sicherlich eine Wirkung gehabt. Das haben wir ja an den Schmierereien an unserem Haus gesehen!“, fügte Marcel Fricker wütend hinzu.

Jürgen spürte, dass sein Gegenüber doch nicht so distanziert Frau Meissner gegenüberstand, wie er sich anfangs den Anschein gegeben hatte. Offensichtlich hatte er nach wie vor eine ziemliche Wut auf sie.

„Wann haben Sie Frau Meissner zum letzten Mal gesehen?“, setzte Jürgen das Gespräch fort.

„Das ist schon ein paar Tage her“, meinte Marcel Fricker. „Ich bin ihr in der Waschküche begegnet. Ich hatte an diesem Tag Wäsche, das muss vorgestern gewesen sein“, erinnerte er sich. „Ich war tagsüber in der Musikakademie. Sie müssen wissen, ich bin Lehrer für Querflöte. Als ich um 20 Uhr nach Hause gekommen bin, habe ich die Wäsche aus dem Tumbler genommen. Da stand diese blöde Schnepfe plötzlich in der Waschküche und fauchte mich an, ob ich immer noch nicht gelernt hätte, dass es nicht gestattet sei, abends nach 19 Uhr zu waschen. Ich hätte ihr eine knallen können! Sie hat den ganzen Tag Zeit und x-mal habe ich bemerkt, dass sie abends um 22 Uhr ihre Wäsche aus der Waschküche holt. Und ausgerechnet sie mokiert sich über mich, der sehen muss, wie er sich an seinem Waschtag organisieren kann, und wirft mir vor, ich würde mich nicht an die Hausordnung halten!“

Marcel Fricker hatte sich in Rage geredet und funkelte Jürgen wütend an. Er fasste sich jedoch schnell wieder und versuchte, mit einem Grinsen die Situation zu entschärfen. „Ich nehme so etwas gar nicht ernst. Sie war nicht ganz dicht!“

Jürgen registrierte, dass Marcel Fricker innerlich noch immer kochte. Aber ob er deshalb einen Mord beginge?

Als ob er Jürgens Gedanken gelesen hätte, meinte Marcel Fricker: „Aber deshalb habe ich sie nicht umgebracht. Das können Sie mir glauben. Als schwuler Mann bin ich daran gewöhnt, dass es auch in unserer sonst einigermaßen aufgeklärten Zeit und hier in Basel doch immer wieder Menschen gibt, die homophob reagieren und uns gegenüber unverschämt sind. Wenn sie wissen, was ich damit meine.“

Klar weiß ich als schwuler Mann, was er damit meint, dachte Jürgen, gab aber keinen Kommentar dazu ab.

„Ihre Freunde von nebenan sind jetzt bei der Arbeit?“, setzte Jürgen das Gespräch fort.

„Ja. Alex arbeitet in einer Informatikfirma und Beat ist Lehrer. Sie kommen heute Abend gegen 18 Uhr nach Hause. Wir haben vereinbart, dass ich koche. Auch wenn die beiden ein Paar sind und ich Single, leben wir doch in einer Art Wohngemeinschaft zusammen.“

Dann leben die drei vielleicht in einer polyamoren Beziehung, dachte Jürgen. Das wäre interessant. Er hatte wiederholt von solchen Beziehungen gehört, in denen mehrere Partnerinnen und Partner zusammenleben, und zwar nicht nur in Form einer WG, sondern auch sexuelle Beziehungen miteinander haben. Jürgen erinnerte sich an ein Gespräch, das er mit seinem Partner Mario darüber geführt hatte, dass die polyamoren Beziehungen für alle daran Beteiligten transparent sind, also keine vor einem der Partner geheim gehaltene Nebenbeziehungen sind, sondern offen kommunizierte Beziehungen. Interessant, wenn die drei Männer in diesem Haus eine solche polyamore Beziehung pflegten.

„Dann verabschiede ich mich erst einmal und komme heute Abend gegen 18 Uhr vorbei, um mit Ihren Freunden zu sprechen.“

„Die werden Ihnen auch nicht mehr sagen können als ich“, entgegnete Marcel Fricker. „Sie haben eher noch weniger mit Frau Meissner zu tun gehabt als ich. Denn sie sind ja den ganzen Tag abwesend, während ich durch meine unregelmäßige Lehrtätigkeit öfter im Haus bin. Sie müssen sich eigentlich nicht die Mühe machen, wegen Alex und Beat noch einmal herzukommen.“

Merkwürdig, dachte Jürgen, dass er mich davon abzuhalten versucht, noch einmal zu kommen, um mit den beiden Freunden zu sprechen. Denn allein Sorge, dass ich mir zu viel Arbeit mache, wird sicher nicht das Motiv dafür sein, mir zu sagen, dass ich von den anderen beiden nicht mehr erfahren würde.

„Ich komme auf jeden Fall vorbei“, entgegnete Jürgen. „Denn wir müssen mit allen sprechen, die Frau Meissner näher gekannt haben. Danke für den Kaffee.“

„Schon gut“, murmelte Herr Fricker, begleitete Jürgen zur Tür und verabschiedete sich.

Offenbar gefällt es ihm gar nicht, dass ich mit seinen Freunden sprechen möchte, dachte Jürgen. Eigenartig! Dann bin ich ja gespannt, wie die sich verhalten werden und was sie mir zu berichten haben.

Vor dem Haus wartete Bernhard auf Jürgen. Er hatte die Zeit nach seinem Gespräch mit Frau Gisin genutzt, um eine Zigarette zu rauchen. Bernhard wollte sich zwar das Rauchen abgewöhnen und hatte schon einige Anläufe gemacht. Sobald er aber zu rauchen aufgehört hatte, hatte er begonnen, zwischendurch Schokolade und Pralinen zu essen, was seinem Gewicht nicht gut bekommen war. Bernhard hatte ohnehin schon ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen. Wenn das Gewicht nun wegen den Süßigkeiten in die Höhe ging, war das kein guter Erfolg. Er war dann jedes Mal wieder zum Rauchen zurückgekehrt.

Auf der Fahrt zum Kommissariat informierten Jürgen und Bernhard einander über die Gespräche, die sie mit den Hausbewohnern geführt hatten.

„Dann gibt es ja einige Verdächtige“, fasste Jürgen zusammen. „Auch wenn die Freundinnen von Meissner betont haben, sie sei eine so liebe Frau gewesen und habe sicher keine Feinde gehabt, zeichnen die Angaben der anderen Hausbewohner doch ein etwas anderes Bild des Opfers.“