Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter - Rauchfleisch Udo - E-Book

Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter E-Book

Rauchfleisch Udo

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Beschreibung

Die geschlechtliche Entwicklung spielt in medizinischen, psychologischen und pädagogischen Konzepten zwar eine zentrale Rolle, meist wird aber nur die heterosexuelle cis Identität berücksichtigt. Gleichgeschlechtliche Orientierungen und Transgeschlechtlichkeit bleiben hingegen unerwähnt. Anhand vieler Kasuistiken zeigt der Autor, wie wichtig es im Umgang mit lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans Kindern und Jugendlichen ist, die spezifischen Bedingungen, unter denen diese in unserer cis heteronormativen Gesellschaft aufwachsen, in Familie, Schule und Psychotherapie zu berücksichtigen, um sie beim Aufbau einer stabilen Selbstidentität unterstützen zu können.

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Der Autor

Udo Rauchfleisch studierte Psychologie an den Universitäten Kiel und Lubumbashi/Kongo. In den ersten vier Jahren seiner Berufstätigkeit arbeitete er in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im LKH Schleswig. Im Anschluss daran war er 30 Jahre Leitender Psychologe in der Psychiatrischen Universitätspoliklinik Basel und ist seit 1999 in Basel als Psychotherapeut für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in privater Praxis tätig.

Seine psychotherapeutische Ausbildung hat er 1981 am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) in Freiburg/Br. abgeschlossen. Er ist Mitglied der DPG und der DGPT sowie verschiedener anderer Fachgesellschaften.

Von 1978 bis zu seiner Emeritierung 2007 war er Professor für Klinische Psychologie an der Universität Basel, ist weiterhin als Dozent und Supervisor in der psychotherapeutischen Ausbildung und als Gastprofessor an verschiedenen in- und ausländischen Universitäten und Fachhochschulen tätig.

Seine Forschungsschwerpunkte sind neben Theorie und Praxis der Psychoanalyse Dissozialität, Persönlichkeitsstörungen, musikpsychologische und theologisch-psychologische Grenzgebiete sowie Homosexualität und Transidentität/Transgeschlechtlichkeit.

Udo Rauchfleisch

Sexuelle Orientierungen und Geschlechtsentwicklungen im Kindes- und Jugendalter

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039210-6

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-039211-3

epub:     ISBN 978-3-17-039212-0

mobi:     ISBN 978-3-17-039213-7

Inhalt

 

 

Vorwort

1   Wie entstehen die sexuellen Orientierungen und die Geschlechtlichkeiten?

1.1   Die Ausgangslage

1.2   Zur verwendeten Terminologie

1.3   Ein Modell der Geschlechtsentwicklung und der Entwicklung der sexuellen Orientierungen

1.4   Fazit

1.5   Welchen Nutzen haben die Fragen nach dem »Warum« und die verwendeten Kategorisierungen?

2   Gibt es Entwicklungsbedingungen von homosexuellen, bisexuellen und Kindern mit Transgeschlechtlichkeit, die von denen der cis und heterosexuellen Kinder abweichen?

2.1   Das Hineinwachsen in eine Welt, die sie anders erwartet als sie sind

2.2   Durchlaufen eines Coming Out-Prozesses

2.3   Auseinandersetzung mit negativen Klischeebildern

2.4   Diskriminierungen

2.5   Auslösen von Irritation in der Umgebung

2.6   Fehlende Vorbilder

3   Folgen des »Andersseins«

3.1   Das Erleben von Stress

3.2   Verinnerlichte Homo- und Transnegativität

3.3   Psychische Störungen als Folge des »Andersseins«

4   Segen und Fluch des Internets

5   Therapeutische Aspekte

5.1   Voraussetzung: gay- und transaffirmative Haltung der Professionellen

5.2   Behandlung psychischer Störungen

5.3   Bearbeitung der Traumatisierungen und der verinnerlichten Trans- und Homonegativität

5.4   Begleitung des Coming Out-Prozesses

5.5   Einbezug von Eltern, weiteren Angehörigen, Lehrer*innen, Arbeitgeber*innen und anderen wichtigen Bezugspersonen

5.6   Begleitung von Eltern, Verweis auf fachliche Hilfe für die Eltern

5.7   Vermittlung von LGBTIQ*-Gruppen

5.8   Unterstützung von trans Kindern und Jugendlichen bei medizinischen und juristischen Schritten

5.8.1 Medizinische Behandlungen

5.8.2 Juristische Schritte

5.9   Resilienzfaktoren und Ressourcen

6   Ein »gelingendes« Leben als trans, bi- und homosexueller junger Erwachsener

Literatur

Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

 

Ein Buch über die bi- und homosexuellen Orientierungen und die Transgeschlechtlichkeit bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mag für manche Leserinnen und Leser kein besonders dringliches Thema sein. Dreht sich in der Gegenwart in den Medien nicht schon enorm viel um die Sexualität mit ihren verschiedenen Spielarten? Bedeutet die Publikation eines Buches wie des vorliegenden in diesem Fall nicht lediglich, einem modischen Trend zu folgen?

Dies scheinen auf den ersten Blick berechtigte kritische Einwände zu sein. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass in den Medien zwar viel die Rede von sexuellen Orientierungen und von Geschlechtlichkeit ist. Diese Themen sind aber oft in reißerischer, eher oberflächlicher Form aufbereitet und betreffen nicht die tieferen emotionalen Schichten der Menschen, über die berichtet wird.

Hinzu kommt, dass das Thema Sexualität in der psychotherapeutischen Fachliteratur zwar im Rahmen von Darstellungen der menschlichen Entwicklung diskutiert wird. Es geht dabei aber fast ausschließlich um die heterosexuelle Orientierung und die für die Majorität der Gesellschaft geltende Cisidentität1, d. h. die Identität entspricht der nach der Geburt erfolgten Geschlechtszuweisung. Alle anderen sexuellen Orientierungen und Varianten der Geschlechtsentwicklung hingegen werden höchstens als »Abweichungen von der Norm« und damit häufig als »pathologisch« wahrgenommen und diskutiert.

Mit einer solchen verengten Sicht werden wir den verschiedenen Varianten der menschlichen Sexualität und Identität jedoch in keiner Weise gerecht. Es gilt vielmehr, die Fülle von Orientierungen und Identitäten wahrzunehmen und deren Bedeutung gerade im Hinblick auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu würdigen. Dazu gehört neben der heterosexuellen Orientierung und der Cisidentität auch die vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit den davon abweichenden Orientierungen und Identitäten.

Aus diesem Grund haben mich die Herausgeber*innen der Reihe »Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen« gebeten, das vorliegende Buch zu schreiben. Wir haben miteinander überlegt, ob auch das Thema »Regenbogenfamilien« in diesem Buch Platz fände. Gemeinsam haben wir aber beschlossen, dass dieses wichtige Thema nicht nur am Rande behandelt werden sollte, sondern ein eigenes Buchprojekt benötigt. Es passt auch letztlich nicht in den Kontext des vorliegenden Buches, da die in Regenbogenfamilien aufwachsenden Kinder ja mehrheitlich heterosexuell sind.

Das erste Kapitel ist der Frage gewidmet, wie die sexuellen Orientierungen und die Transgeschlechtlichkeit entstehen (Kap. 1). Es wird sich – vielleicht zum Erstaunen etlicher Leser*innen – zeigen, dass wir auf diese Frage kaum Antworten haben. Umso wichtiger ist es aber, dass wir uns mit diesen Entwicklungsprozessen auseinandersetzen, wenn es um Kinder und Jugendliche geht.

Es ist bekannt, dass Heranwachsende, die vom Mainstream abweichen, sich selbst oft als »anders« als ihre Peers erleben. In welchen Lebensbereichen und in welchen Formen sich dieses »Anderssein« präsentiert, werde ich in Kapitel 2. diskutieren. Die theoretischen Ausführungen werden hier wie auch in den anderen Kapiteln durch kasuistische Beispiele veranschaulicht. Dabei habe ich aus Diskretionsgründen jeweils Elemente aus den Biografien und Lebensumständen verschiedener Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien zu kasuistischen Beispielen zusammengefügt, so dass eine Identifikation bestimmter realer Personen nicht möglich ist (Kap. 2).

Das »Anderssein« in Form der Abweichung hinsichtlich der sexuellen Orientierungen und der Identitäten vom Mainstream hat allerdings für die betreffenden Heranwachsenden und ihre Familien negative, mitunter sogar verhängnisvolle Folgen. Diesen Folgen ist das Kapitel 3. gewidmet (Kap. 3).

Die heutige Welt ist, insbesondere für Kinder und Jugendliche, kaum noch vorstellbar ohne das Internet und die Social Media. Gerade für die Heranwachsenden, um die es in diesem Buch geht, spielt das Internet mit seinen Blogs und Foren eine wichtige Rolle. In Kapitel 4. werde ich aufzeigen, dass diese virtuelle Welt für sie Segen und Fluch zugleich ist (Kap. 4).

Im Alltag treffen wir in Kindertagesstätten und Schulen, in den Familien und in den verschiedenen anderen Kontexten zwar zumeist mit psychisch gesunden Kindern und Jugendlichen mit homosexuellen Orientierungen und Transgeschlechtlichkeit zusammen. Die in therapeutischen Berufen Arbeitenden haben es jedoch häufig mit einem anderen Segment, nämlich mit Heranwachsenden mit psychischen Störungen der verschiedensten Art und Ätiologie zu tun. Die bei diesen Kindern und Jugendlichen einzusetzenden therapeutischen Interventionen werde ich in Kapitel 5. darstellen. Dabei werde ich die Voraussetzungen diskutieren, die für konstruktive therapeutische Interventionen bei ihnen notwendig sind, werde auf die Behandlung von Heranwachsenden mit psychischen Störungen im engeren Sinne eingehen und werde darstellen, wie wichtig es gerade bei diesen Heranwachsenden ist, ein breiteres Umfeld mit in die Behandlung und Begleitung einzubeziehen (Kap. 5). Zu den therapeutischen Interventionen gehören schließlich auch die Suche und Aktivierung von Ressourcen und Resilienzfaktoren.

Die kindliche Entwicklung mündet in die Adoleszenz und das Erwachsenenleben. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob und wie es Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit von der Majorität abweichenden sexuellen Orientierungen und Identitäten gelingen kann, ein befriedigendes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Es geht dabei um Selbstakzeptanz und das, was auch als Gay- und Transpride, als Stolz auf die eigene Orientierung und Geschlechtlichkeit, bezeichnet wird (Kap. 6).

Das vorliegende Buch richtet sich nicht nur an Fachleute aus therapeutischen und pädagogischen Berufen. Es möchte daneben auch Eltern, junge Erwachsene und generell Menschen erreichen, die sich mit den Fragen nach den sexuellen Orientierungen und nach dem Wesen der Geschlechtsentwicklung auseinandersetzen wollen. Vielleicht regt es auch zu fruchtbaren Diskussionen zwischen den Generationen an.

 

Basel, im Sommer 2020

Udo Rauchfleisch

1     Ich werde in diesem Buch die Schreibweise Leser*innen, Therapeut*innen etc. verwenden, wobei das Sternchen als Platzhalter fungiert und übergreifend alle Geschlechter, auch die nicht-binären, bezeichnet. Außerdem verwende ich, entsprechend den aktuellen Gepflogenheiten, cis und trans als Adjektive, es sei denn, sie wären Teil eines Substantivs. Die Pluralformen von Identitäten und Orientierungen sollen darauf hinweisen, dass wir es innerhalb jeder Kategorie jeweils mit einem weiten Spektrum zu tun haben.

1          Wie entstehen die sexuellen Orientierungen und die Geschlechtlichkeiten?

 

 

 

1.1       Die Ausgangslage

Die Fragen nach dem »Wie« und »Warum« sind Fragen, die bei den verschiedensten Themen nicht nur den wissenschaftlichen Diskurs prägen, sondern die auch in privaten Gesprächen und in den Medien immer wieder auftauchen. Interessant – und für das Thema dieses Buches wichtig – ist dabei, dass diese Fragen im Allgemeinen nur bei den Themen gestellt werden, die ungewöhnlich oder fremdartig erscheinen. Bei Themen und Phänomenen hingegen, die als »selbstverständlich« betrachtet werden, tauchen Fragen nach dem »Wie« und »Warum« praktisch nicht auf.

Im Hinblick auf die Geschlechtsentwicklung und die sexuellen Orientierungen bedeutet dies, dass die Entwicklung der Cisgeschlechtlichkeit, d. h. der Nicht-Transgeschlechtlichkeit (s. u.), und der Heterosexualitäten im Allgemeinen auch im wissenschaftlichen Bereich nicht diskutiert werden. Sie werden in unserer von der Cis- und der Heteronormativität geprägten Gesellschaft als »normal« und »selbstverständlich« betrachtet, und es finden sich dazu auch keine Forschungsbefunde. Hingegen sind die davon abweichenden Entwicklungen wie die Transgeschlechtlichkeit und die Homo- und Bisexualitäten Gegenstand vieler Untersuchungen und werden zum Teil sehr kontrovers diskutiert.

Gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen liegt es nahe, sich Gedanken über die Entwicklung dieser Phänomene zu machen. In diesem Fall müssen wir jedoch das ganze Spektrum ins Auge fassen, d. h. wir müssen die Cis- ebenso wie die Transgeschlechtlichkeiten und die Homo- und Bisexualitäten ebenso wie die Heterosexualitäten berücksichtigen.

An diesem Punkt der Diskussion sehen wir uns unverhofft mit einem Problem konfrontiert: Wie erwähnt, sind zwar verschiedene Theorien und Hypothesen zur Entwicklung der Transgeschlechtlichkeit und der Homo- und Bisexualitäten entwickelt worden. Die Fragen nach dem »Wie« und »Warum« der Cisgeschlechtlichkeit und der Heterosexualitäten sind jedoch ein weißer Fleck auf der wissenschaftlichen Landkarte. Es ist deshalb notwendig, aus den uns vorliegenden Hypothesen aus verschiedenen Wissenschaftszweigen die wichtigsten und am plausibelsten erscheinenden Aspekte herauszudestillieren und auf dieser Grundlage ein mehr oder weniger konsistentes Konzept zu formulieren.

Mit dieser vorsichtigen Formulierung möchte ich darauf hinweisen, dass uns über die Entwicklung der Geschlechtlichkeit und der sexuellen Orientierungen keine wirklich verlässlichen, evidenzbasierten Befunde vorliegen. Wir bewegen uns hier lediglich auf dem Terrain von Hypothesen. Ich beziehe mich im Folgenden unter anderem auf die Konzepte von Stoller (1968), Reiche (1997), Mertens (1992) und Ermann (2019) sowie auf verschiedene eigene Publikationen (2011, 2016, 2019a, 2019b).

1.2       Zur verwendeten Terminologie

An dieser Stelle sei noch auf einige terminologische Probleme hingewiesen. In der Fachliteratur ebenso in den Stellungnahmen der LGBTIQ*-Community2 werden unterschiedliche Begriffe mit je spezifischem Bedeutungsgehalt verwendet und – mitunter vehement – abgelehnt oder verteidigt. Dies gilt beispielsweise für den Identitätsbegriff.

Es ist den Kritiker*innen zuzustimmen, die bemängeln, dass der Identitätsbegriff mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. So weichen die Identitätskonzepte, wie sie in der Philosophie, in der Mathematik, im rechtlichen Kontext und in der Psychologie (als Ich-Identität) verwendet werden, erheblich voneinander ab (Benedetti & Wiesmann, 1986). Zudem ist die Identität auch im psychologischen Bereich keine klar umrissene Persönlichkeitseigenschaft, zumal sie von verschiedenen Autor*innen unterschiedlich definiert wird. Sie weist vielmehr einen prozesshaften Charakter auf und kann aus diesem Grund weniger eindeutig beschrieben werden.

Eine Konsequenz dieser zum Teil erheblich voneinander abweichenden Bedeutungen des Identitätsbegriffs ist, dass die interdisziplinäre Kommunikation darunter leidet. Ein aktuelles politisches Beispiel ist der – bedauerliche – Entscheid des Schweizer Bundesrats (aus dem Jahr 2019), Menschen mit Transgeschlechtlichkeit nicht in das neue Antidiskriminierungsgesetz aufzunehmen, da es bei ihnen um die Identität gehe, die aber nicht eindeutig definierbar sei.

Im Vorwort der Publikation einer interdisziplinären Ringvorlesung an der Universität Basel zum Thema Identität unterscheidet Benedetti (1986, S. 7) bei der Ich-Identität eine vertikale und eine horizontale Linie.

»Auf der vertikalen Linie findet Ich-Identität als Integration von entwicklungsbedingten Ich-Zuständen statt, die im unbewussten und bewussten Gefühl des Selbst, des Person-Seins verdichtet werden und manchmal in herausfordernden lebensgeschichtlichen Momenten in die helle Erkenntnis münden: ›Das bin ich!’ ›Das will ich sein!’«

Auf der horizontalen Linie der Ich-Identität werden »verschiedene, auch gleichzeitige soziale Rollen im einheitlichen Selbstgefühl und im Bild, das die Sozietät von uns entwirft, integriert. Diese horizontale Linie verbürgt die Befriedigung der Ansprüche verschiedener Rollen, in denen die Person sich erfüllt« (Benedetti, 1986, S. 7).

Einen wesentlichen Beitrag in der psychologischen Auseinandersetzung mit der Ich-Identität hat Erikson (1966) geleistet. Für Erikson bedeutet die sich in Stufen lebenslang entwickelnde Ich-Identität, sich einem Kollektiv zugehörig zu fühlen und sich dabei zugleich als einmaliges Individuum zu wissen. Es ist das, was Kohut (1973) als »Selbst« bezeichnet hat, als Kern unserer Persönlichkeit, der durch die Interaktion zwischen Eltern und Kind geformt wird. In einem ähnlichen Sinne spricht Mead (1968) davon, dass die Bildung der Identität von den sozialen Interaktionen über Sprache und andere Mittel der Kommunikation abhängt.

Wie diese Umschreibungen der Ich-Identität zeigen, besteht trotz etlicher Divergenzen zwischen den verschiedenen Sichtweisen der Autor*innen insofern doch Einigkeit, dass die von Benedetti (1986) beschriebene vertikale (psychologische) und die horizontale (soziale) Dimension in enger Wechselwirkung miteinander stehen. Die eine ist ohne die andere nicht denkbar.

Das Resultat dieser Interaktion ist die Ich-Identität, in der sich die verschiedenen Facetten der Persönlichkeit zu einer Ganzheit zusammenfügen und dem Individuum trotz aller Veränderungen im Verlauf des Lebens das Gefühl der Kohärenz und Konsistenz in Bezug auf die eigene Person vermitteln. Bei der Entstehung der Ich-Identität ist die erwähnte Wechselwirkung zwischen dem Individuum und seinen Bezugspersonen von zentraler Bedeutung. Es ist das dialogische Prinzip, das der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1936) mit dem Hinweis umschrieben hat, dass wir am Du zum Ich werden.

Kritik am Identitätsbegriff ist von verschiedenen Seiten formuliert worden. Es sind vor allem Autor*innen, die eine somatische Ätiologie der Entwicklung von cis, trans und anderen Formen der Geschlechtlichkeit postulieren. Nach ihrer Ansicht ist der Begriff »Identität« zu schwammig, ihm fehle die Evidenzbasierung, und er ist ihnen zu stark mit Pathologiekonzepten assoziiert. Zu dieser negativen Konnotation hat wesentlich die ICD-Formulierung »Störungen der Geschlechtsidentität« mit der darunter subsumierten Diagnose »Transsexualismus« beigetragen. Kritische Äußerungen dieser Art kommen zum Teil auch aus der LGBTIQ*-Community.

Aus diesem Grund ist der Transsexualismus aus neurowissenschaftlicher Perspektive als eine Form hirngeschlechtlicher Intersexualität, als »neurointersexuelle Körperdiskrepanz« (Diamond, 2006, 2016; Haupt, 2016), beschrieben worden. In einer neueren Arbeit hat Haupt (2019) diese Auffassung weiter differenziert und sich von der Bezeichnung der Neurointersexualität distanziert. Die Autorin verwendet nun den allgemeineren Begriff der »Geschlechtsentwicklung«, wobei sie vier Varianten unterscheidet:

•  (überwiegend) männliche Varianten (frühere Begriffe: Transmänner, Frau-zu-Mann, transsexuelle Männer, männliche Transgender usw.),

•  (überwiegend) weibliche Varianten (frühere Begriffe: Transfrauen, Mann-zu-Frau, transsexuelle Frauen, weibliche Transgender usw.),

•  alternierende Varianten (frühere Begriffe: Bigender, Gender fluid, partiell Cross Dresser usw.),

•  gemischt-manifeste Varianten (Früherer Begriff: non binär).

Mit diesem Konzept möchte die Autorin die bisher weit verbreiteten Pathologiekonzepte vermeiden und an die für die Betreffenden selbst relevante subjektive Phänomenologie anknüpfen. Der Vorteil des Begriffs der »Geschlechtsentwicklung« ist, dass er sich außerhalb der Pathologiekonzepte bewegt.

Bei der Arbeit an diesem Buch war ich zur Überzeugung gekommen, es sei günstig, diesen vorurteilsfreien Begriff der »Varianten der Geschlechtsentwicklung« zu übernehmen. Nach reiflicher Überlegung habe ich mich nun aber doch entschlossen, diesen Begriff nicht zu verwenden, da er schon für ein anderes Phänomen, nämlich für Menschen mit Intergeschlechtlichkeit, vergeben ist (Deutsche Gesellschaft für Urologie, 2016). Ihn hier in einem anderen Sinne zu verwenden, würde unweigerlich zu Konfusionen geführt haben.

Auf der Suche nach einem anderen Begriff, der möglichst vorurteilsfrei ist und sowohl die körperliche als auch die psychische Dimension berücksichtigt, bin ich auf den Begriff der »Transgeschlechtlichkeit« gestoßen, der immer wieder in der Diskussion um »Transsexualismus«, »Transgender«, »Transidentität«, »genderqueer« etc. auftaucht. Ich werde ihn deshalb in diesem Buch verwenden, weil er mir am besten geeignet erscheint, darauf hinzuweisen, dass das Phänomen »Trans« die Person als Ganze, körperlich wie psychisch, betrifft.

Gleichwohl werde ich in diesem Buch neben dem Begriff der Transgeschlechtlichkeit auch den der Identität verwenden. Im Sinne der erwähnten körperlich-seelischen Ganzheit stellen diese Begriffe für mich keinen Widerspruch dar. Vielmehr betrachte ich sie als zwei Aspekte desselben Phänomens, wobei einmal die psychologische Ebene (Identität) und einmal die somatische Ebene (Geschlechtlichkeit) thematisiert wird.

Wie meine Ausführungen über die verschiedenen Konzepte der Identität gezeigt haben, ist auch dieser Begriff, ebenso wie der der Transgeschlechtlichkeit, im Grunde wertfrei und nicht vorurteilsbeladen. Er hat seine negative Konnotation erst durch die ICD-Diagnose der »Störung der Geschlechtsidentität« (F 64.0) erhalten. Im Folgenden verwende ich »Identität« hingegen im Sinne der zitierten psychologischen Autor*innen, die von der Ich-Identität sprechen, die den Kern unserer Persönlichkeit, das Selbst, bildet und zu Kohärenz und Konsistenz der Persönlichkeit führt.

1.3       Ein Modell der Geschlechtsentwicklung und der Entwicklung der sexuellen Orientierungen

Mit Ermann (Ermann, 2019) können wir die Geschlechtsentwicklung und die Ausbildung der sexuellen Orientierungen als einen stufenweisen Entwicklungsprozess verstehen. An seinem Ursprung steht die Protogeschlechtsidentität (Reiche, 1997) als eine schon von Geburt an bestehende »unbestimmte Ahnung der Geschlechtlichkeit« (Ermann, 2019, S. 15), eine Grundbereitschaft des Menschen, sich sexuell zu fühlen.

Im Grunde ist bei diesem Begriff der zweite Teil des Wortes, »Identität«, meines Erachtens überflüssig und in Anbetracht der oben diskutierten terminologischen Probleme irreführend. Es geht hierbei ja nicht um einen Identitätsanteil im psychologischen Sinne, sondern, wie Ermann (2019, S. 15) es beschreibt, um eine Grundbereitschaft des Menschen, sich sexuell zu fühlen und, so müssen wir wohl ergänzen: sexuell zu sein. Aus diesem Grunde erscheint es mir besser und zutreffender, von »Protogeschlechtlichkeit« zu sprechen.

Eine solche Sicht steht auch in weitgehender Übereinstimmung mit den oben zitierten neurowissenschaftlichen Ansätzen (vgl. Haupt, 2019). Ich werde im Folgenden deshalb diesen Begriff verwenden. Worauf die Protogeschlechtlichkeit beruht, ist nach Ermann (2019, S. 15) bis heute nicht sicher bekannt. Es kommen genetische, hormonelle und hirnorganische Determinanten in Betracht sowie unbekannte psychologische und soziale Einwirkungen, die bereits in die vorgeburtliche Zeit zurückreichen.

Auf der Grundlage der Protogeschlechtlichkeit baut sich im Verlauf der Entwicklung das auf, was wir mit Mertens (1992) als »Bausteine« der sexuellen Identität bezeichnen können. Es sei an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mit »Identität« hier eine Kerndimension der Persönlichkeit gemeint ist, die dem Individuum das Erleben von Kohärenz und Konsistenz vermittelt.

Eine zentrale Dimension dabei ist die sexuelleKernidentität(core gender identity),

»das primordiale, bewusste und unbewusste Erleben (…), entweder ein Junge oder ein Mädchen bezüglich seines biologischen Geschlechts (im Englischen »sex« im Unterschied zu »gender«) zu sein. Sie entwickelt sich aufgrund des komplexen Zusammenwirkens von biologischen und psychischen Einflüssen ab der Geburt des Kindes, wenn die Eltern mit ihrer Geschlechtszuweisung zumeist geschlechtsrollenstereotyp auf ihre Kinder als Junge oder Mädchen reagieren, und ist gegen Ende des zweiten Lebensjahres als (relativ) konfliktfreie Gewissheit etabliert« (Mertens, 1992, S. 24).

Dieses Konzept von der sexuellen Kernidentität bedarf indes aus meiner Sicht einer Ergänzung: Die Formulierung, das Kind sei sich früh der Tatsache gewiss, ein Junge oder ein Mädchen zu sein, ist von der in unserer Gesellschaft herrschenden Vorstellung von der Binarität der Geschlechter geprägt. Tatsächlich jedoch müssen wir auch innerhalb der sexuellen Kernidentität sicher von einem größeren Spektrum von Varianten der Geschlechtsentwicklung ausgehen, z. B. genderqueer, agender, gender-fluid etc.

Im Hinblick auf die Entwicklung von Menschen mit einerTransgeschlechtlichkeit habe ich in meiner inzwischen 50-jährigen Beschäftigung mit diesem Thema und der Begutachtung, Therapie und Begleitung von trans Menschen diverse somatische und psychologische Theorien und Konzepte zur Ätiologie kommen und gehen sehen. Dabei hat sich keines von ihnen letztlich als gültiges Erklärungsmodell erwiesen (Literatur s. Rauchfleisch, 2016). Diese Hypothesen haben eher zur Stigmatisierung und Pathologisierung von trans Menschen geführt.

Einen weiteren »Baustein« der sexuellen Identität stellen die Geschlechtsrollen dar (Geschlechtsrollen-Identität, gender role identity). Sie zeichnen sich durch ein höheres symbolisch-sprachliches Niveau aus und bilden das »Insgesamt der Erwartungen an das eigene Verhalten wie auch an das Verhalten des Interaktionspartners bezüglich des jeweiligen Geschlechts« (Mertens, 1992, S. 47). Es sind mehrheitlich Inhalte aus der frühen Sozialisation, die bewusstseinsfähig sind und vor allem von kulturspezifischen Vorschriften und Normen darüber bestimmt werden, was im Zusammenhang mit dem biologischen Geschlecht als »männlich« oder »weiblich« erwünscht oder unerwünscht ist.

Trotz mancher Veränderungen in den Geschlechtsrollen werden diese in unserer Gesellschaft nach wie vor zumeist dichotom gedacht. Bei einer differenzierten Betrachtung der Geschlechtsentwicklung müssen wir jedoch auch bezüglich der Geschlechtsrollen-Identität von einer Vielfalt an Varianten ausgehen.

Die dritte Komponente der sexuellen Identität ist die sexuelle Orientierung, die Geschlechtspartner*innen-Orientierung(sexual partner orientation), die sich auf das bevorzugte Geschlecht der Geschlechts- und Liebespartner*innen bezieht. Auch die Geschlechtspartner*innen-Orientierungen müssen wir, wie die sexuelle Kernidentität, über die allgemein übliche Dreiteilung (Hetero-, Bi- und Homosexualitäten) hinaus erweitern, indem wir diese drei Formen je als Kristallisationspunkte einer Vielzahl von Orientierungen betrachten und daneben auch pansexuelle, asexuelle, objektsexuelle, metrosexuelle und andere Varianten in unsere Betrachtung einbeziehen.

Die Geschlechtspartner*innen-Orientierung ist das Resultat einer Vielzahl von Einflüssen: Sie basiert auf der sexuellen Kernidentität, wird durch die verinnerlichten Geschlechtsrollen (zu denen unter anderem auch die verschiedenen Vorstellungen bezüglich Homo-, Bi- und Heterosexualitäten gehören) determiniert und wird geprägt durch die Erfahrungen, die das Kind mit den Eltern macht, sowie durch das Modell, das die Eltern ihm von ihrem Umgang miteinander als Frau und Mann bieten. Von großer Bedeutung sind schließlich auch die erotischen und sexuellen Fantasien, die in der späteren Kindheit und in der Adoleszenz dazu führen, dass die Jugendlichen deutlich ihre sexuelle Orientierung spüren und sich im Rahmen ihrer Identitätsentwicklung als hetero-, bi- oder homosexuell definieren.

Noch nicht beantwortet ist bei dieser Schilderung indes die Frage nach der spezifischen »Weichenstellung« (Morgenthaler, 1987), d. h. warum die Orientierung sich einmal in Richtung Heterosexualitäten, ein anderes Mal in Richtung Bisexualitäten und ein wiederum anderes Mal in Richtung Homosexualitäten entwickelt. Ausgehend von den psychoanalytischen Überlegungen Morgenthalers (1987) und Gissraus (1989, 1993) habe ich 1994 versucht, eine Theorie der Entwicklung homosexueller und bisexueller Menschen zu entwerfen. Obschon mich diese Überlegungen nie wirklich überzeugt haben – dafür spricht auch, dass ich dieses Kapitel in meinem erwähnten Buch über alle vier Auflagen hin nicht verändert habe –, sollen sie hier kurz resümiert werden, um zu zeigen, dass sie uns zwar einige interessante Hypothesen bieten, uns letztlich aber keine verbindliche Antwort auf die Frage nach den Ursachen der »Weichenstellungen« zu den verschiedenen sexuellen Orientierungen zu geben vermögen.

Im Anschluss an Morgenthaler (1987) habe ich innerhalb der Entwicklung vom Kleinkind zum Erwachsenen drei wichtige Stationen unterschieden, die für die schwule und die heterosexuelle Orientierung von zentraler Bedeutung sind. Die erste Station liegt in der narzisstischen Entwicklung der frühen Kindheit und beinhaltet die Entstehung des Selbstbildes. Die zweite wichtige Weichenstellung erfolgt in der ödipalen Phase mit den in dieser Zeit typischen Auseinandersetzungen mit den wichtigsten Personen der Kindheit. Die dritte Station liegt in der Pubertät und reicht über die Adoleszenz bis ins Erwachsenenalter.

Die Aufgabe der frühen Kindheit ist die Ausbildung der oben beschriebenen Identität, in der sich die verschiedenen Facetten der Persönlichkeit zu einer Ganzheit zusammenfügen. Damit hängt eng eine zweite Aufgabe zusammen, nämlich die der Abgrenzung der eigenen Person von anderen Menschen, mit dem Ziel, Autonomie zu erlangen. Dabei geht es um die Fähigkeit, selbstständig entscheiden und handeln zu können.

Morgenthaler (1987) ist der Ansicht, dass je nach den lebensgeschichtlichen Erfahrungen, die das Kind in der Frühzeit seiner Entwicklung macht, entweder das Streben nach Autonomie oder das Bedürfnis, die Identität zu stärken, größer ist. Beide Entwicklungswege bewegen sich gleichermaßen im Bereich der psychischen Gesundheit. Es sind »normale«, die weitere Entwicklung stabilisierende Maßnahmen, mit deren Hilfe das Kind pathologische Entwicklungen zu vermeiden vermag.

Das Spezifische in der Entwicklung des schwulen Mannes sieht Morgenthaler in der Betonung des Bedürfnisses nach Autonomie. Wann immer im Erleben dieser Kinder und der späteren Erwachsenen Gefühle von Insuffizienz, Enttäuschungen und emotionalen Belastungen auftreten, »retten« und regulieren sie ihr innerseelisches Gleichgewicht durch ein verstärktes Streben nach Autonomie. Dies ist nach Morgenthaler in der frühen Kindheit eng gebunden an autoerotische Aktivitäten. Mit Hilfe der Autoerotik vermögen diese Kinder Störungen ihres seelischen Gleichgewichts und den in solchen Situationen drohenden Autonomieverlust zu verhindern. Die enge Beziehung zwischen Autoerotik und Autonomiestreben bleibt, so Morgenthaler, lebenslang erhalten und führt dazu, dass sich auch die sexuellen Interessen (Geschlechtspartner*innen-Orientierung) später verstärkt auf die eigene Person und auf Partner des gleichen Geschlechts richten.

Im Unterschied zu dieser Entwicklungslinie sind die heterosexuellen Männer Persönlichkeiten, die in ihrem Selbstbild dem Identitätsbewusstsein und dem Identitätsgefühl Priorität einräumen.

»Sie orientieren sich nach polaren Gegensatzpaaren, um genau zu spüren und zu wissen, wer sie sind. Auch Homosexuelle haben das Bedürfnis zu spüren und zu wissen, wer sie sind, doch erst in zweiter Linie. Ihr Identitätsbewusstsein kann unscharf begrenzt sein, ohne dass sie dadurch verunsichert werden. Auch Heterosexuelle besetzen ihre innere und äußere Autonomie, doch selten so weit, dass ihre Identität dadurch in Frage gestellt wird. Sie können sich gelassener in Abhängigkeit begeben, weil sie, in dieser Hinsicht, weniger konfliktanfällig sind als Homosexuelle« (Morgenthaler, 1987, S. 88–89).

Als charakteristische Entwicklungslinie der lesbischen Frau postuliert Gissrau, dass für diese Frauen eine sie prägende Erfahrung in der frühen Kindheit das Erleben des »erotischen Blicks ihrer Mutter« ist, »den sie als lustvolles affektives Interaktionsmuster internalisieren« (Gissrau, 1993, S. 317). Die Mütter von später lesbisch empfindenden Frauen können sich, gemäß Gissrau, in der präverbalen Entwicklungsphase ihrer Kinder den erotischen Genuss am Stillen, Wickeln, Baden, Einreiben gestatten, wodurch es frühzeitig zu einer erotischen Stimulierung der Töchter komme. Es sei aber auch denkbar, dass die Mütter durch ihre sie erotisch ansprechenden Babys entsprechend stimuliert worden seien. Auf jeden Fall ist nach Gissrau die erste Weichenstellung in Richtung der lesbischen Entwicklung »das Ausmaß an erotischer Anerkennung, das die Mutter in ihren Interaktionen während der ersten Lebensjahre zulassen kann« (Gissrau, 1993, S. 317).

Bei Verwendung der Konzepte von Morgenthaler und Gissrau für die Erklärung der Entwicklung bisexueller Menschen müssen wir vermuten, dass diesen Kindern die Bedürfnisse nachIdentitätundAutonomiein gleicher Weise wichtig sind. Durch die in unserer Gesellschaft dominierenden Heterosexualitäten tritt im Erleben bisexueller Jugendlicher und junger Erwachsener im Allgemeinen zuerst die heterosexuelle Komponente ins Bewusstsein und erst später das gleichgeschlechtliche Begehren.

Obschon von anderen theoretischen Grundannahmen ausgehend, finden sich doch ähnliche, die bisherigen Ausführungen ergänzende Überlegungen bei einigen Autor*innen der Analytischen Psychologie von C. G. Jung. So hat Hopcke (1991) den Versuch unternommen, im Rahmen der Analytischen Psychologie ein Modell zum Verständnis lesbischer, schwuler, bisexueller und heterosexueller Entwicklungen zu formulieren. Hopcke sieht die sexuelle Entwicklung als Resultat eines je individuellen Zusammenwirkens der drei Archetypen der Anima, des Animus und des Androgynen.

Für Hopcke liegt das Spezifische der lesbischen und schwulen Entwicklung darin, dass es bei diesen Orientierungen um eine komplexe Interaktion der drei genannten archetypischen Konfigurationen geht, wobei dem Androgynen eine synthetisierende Funktion zukommt. Die lesbische und schwule Entwicklung stellen ein harmonisches (gesundes) Zusammenspiel dar, in dem Animus und Anima zusammen mit dem hermaphroditischen Selbst, der androgynen Ganzheit, in je individueller Weise durch die körperliche und emotionale Verbindung mit einer anderen Frau bzw. mit einem anderen Mann aktualisiert und gelebt werden.

Bei einer kritischen Auseinandersetzung mit den psychodynamischen Entwicklungstheorien, wie Gissrau, Morgenthaler und Hopcke sie formuliert haben, stellen sich zumindest zwei Fragen:

Zum einen bleibt in den skizzierten Konzepten die Frage unbeantwortet, warum