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Die Bücher des Autors unterscheiden sich von den meisten Veröffentlichungen über die Varusschlacht, dass er sich, statt dem Bericht Dios vom Marsch der Legionen in den Untergang zu folgen, auf die Berichte der Autoren Velleius Paterculus, Florus und Tacitus stützt. In dieser verbesserten Neuauflage analysiert er textkritisch die antiken Quellen über die Zeit 16 v.-16 n. Chr., untersucht sie auf Widersprüche, kontrolliert die aktuellen Ausgaben auf Abweichungen von den Originalen und stellt fest, dass die Berichte des Tacitus und Velleius Paterculus durch Missverständnisse, zahlreiche Übersetzungsfehler und mehrere Textmanipulationen zu Unrecht in Misskredit geraten sind. Zusätzlich beschäftigt sich der Autor mit der augusteischen Informationspolitik und kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Darstellung des Schlachtgeschehens um eine Fälschung handelt, die Augustus, aus Angst, wie Cäsar zu sterben, bewusst veranlasste. Durch eine exakte Verfolgung der Feldzüge des Drusus, Tiberius, Varus und Germanicus gelingt es ihm, das Lager Aliso zu lokalisieren und den Verlauf und den Zeitpunkt des germanischen Überfalls auf das Sommerlager des Varus aufzuzeigen. Nach aufwendigen Untersuchungen, mittels verschiedener Messtechniken, kann er seine Thesen erhärten und nachvollziehbar schildern, wie sich der Überfall im Einzelnen abgespielt hat. Als Bestätigung seiner Analyse fasst er die kürzlich entzifferte Bleimarke auf, die bereits 15 v. Chr. Varus als Unterfeldherr in Germanien und L. Caedicius als Zenturio der ersten Kohorte der XIX. Legion bezeichnet. Dieser Caedicius, der bisher als Verteidiger Alisos erwähnt wird, hat somit den Überfall mit Teilen seiner XIX. Legion überlebt. Weil jetzt die drei Lagerpräfekten (Caedicius, Eggius und Ceionius) bekannt sind, ist das ein weiteres Argument gegen die Lehrmeinung vom Schlachtgeschehen nach Cassius Dio. Abschließend gibt der Autor eine Gegenüberstellung der deutschen mit der angelsächsischen Geschichtsschreibung und weist darauf hin, dass die Schilderung der brutalen Machtergreifung des jungen Octavian von deutschen Historikern zu moderat, die Bewertung des alternden Augustus zu kritisch, der Bericht des Velleius Paterculus zu wohlwollend sowie die Kritik des Tacitus am Prinzipat des Augustus zu feindselig beurteilt werden. Er schließt sich deshalb dem Urteil Symes und Golo Manns an, die Tacitus nach Jahrhunderten der Verleumdung als bedeutenden Chronisten der Römischen Kaiserzeit rehabilitierten.
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Seitenzahl: 865
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von Manfred Millhoff sind bereits erschienen:
Die Varusschlacht - Anatomie eines Mythos
ISBN 3-89009-823-1 (1995)
Varusschlacht und Irminsul
ISBN 3-89906-214-0 (2000)
Die „Varusschlacht“ – eine Erfindung der augusteischen Propaganda!
ISBN 978-3-8423-3002-3 (2011)
Die Varusschlacht: Vom Mythos zur Wahrheit
ISBN 978-7481-8871-1 (2019)
»Die tödliche Neigung der Menschheit, über eine Sache nicht mehr nachzudenken, wenn sie nicht mehr zweifelhaft ist, ist die Ursache der Hälfte der Irrtümer.«
John Stuart Mill
»Mit den Irrtümern der Zeit ist es schwer sich abzufinden: widerstrebt man ihnen, so steht man allein; lässt man sich davon befangen, so hat man auch weder Ehre noch Freude davon.«
Johann Wolfgang von Goethe
Dieses Buch ist meinen
Enkelkindern Tom Oliver, Emilia
und Marlena
gewidmet.
Cassius Dio: Römische Geschichte, Band IV, Buch 53/19.4–6:
»Man argwöhnt, dass sich alle Worte und Taten nur nach den Wünschen der jeweiligen Machthaber und ihrer Anhänger richten. Und so schwatzt man von vielen Dingen, die sich gar nicht zutrugen, während man von anderem, was sich bestimmt ereignet, nichts weiß; jedenfalls laufen fast sämtliche Geschehnisse in einer Version um, die sich mit den Tatsachen nicht deckt [...]. Infolgedessen werde auch ich alle nun folgenden Ereignisse, soweit sie besprochen werden müssen, [...] darbieten und keine Rücksicht darauf nehmen, ob sich die Dinge so oder auf andere Weise abspielten.«
Cassius Dio: Römische Geschichte, Band IV,
Buch 54/15.3:
»Ich habe daher meinerseits die Absicht, in sämtlichen derartigen Fällen lediglich, was überliefert wird, niederzuschreiben, ohne mich damit zu beschäftigen, ob [...] die Überlieferung der Wahrheit entspricht oder nicht. Diese meine Erklärung soll auch für den Rest der Schrift gelten!«
Prolog
Erster Teil
Quellen zur Varusschlacht von Rudolf F. Schmidt
1
Cassius Dio
Publius Cornelius Tacitus
Velleius Paterculus
Lucius Annaeus Florus
Theorien zur Varusniederlage und zum Schlachtort
Theodor Mommsen
Paul Höfer
Leopold von Ranke
Erich Köstermann
Friedrich Köpp
Heinz Ritter-Schaumburg
Wilhelm Leise
Wolfgang Schlüter
Ralf Bökemeier
Wilm Brepohl
Reinhard Wolters
Rainer Wiegels
Peter Eisermann
Peter Oppitz
Günther Moosbauer
Zeittafel der Ereignisse in Germanien zur Zeit des Kaisers Augustus
Das julisch-claudische Haus
Die Abstammung des Drusus
Betrachtungen über die Familie des Augustus
Desinformation und Propaganda – ein Merkmal der Informationspolitik während des Prinzipats des Augustus
Waffen und Heerwesen der Römer und Germanen im ersten Jahrhundert n. Chr.
Die Feldzüge des Drusus 12 – 9 v. Chr.
Was geschah nach dem Tod des Drusus in Germanien?
Die Varusschlacht
Die Feldzüge des Tiberius 10 und 11 n. Chr.
Kalkriese – eine kritische Analyse
kritische Analyse der antiken Quellen
kritische Analyse des Fundortes
kritische Analyse des Kalkrieser Fundkomplexes
Der Feldzug des Germanicus 14 n. Chr. gegen die Marser
Der Feldzug des Germanicus Frühjahr 15 n. Chr.
Der Feldzug des Germanicus Sommer 15 n. Chr. zum Schlachtort
Der Rückzug des Caecina von der Ems zum Rhein
Der Feldzug des Germanicus 16 n. Chr.
Arminius, römischer Verräter oder germanischer Held?
Octavian und Tacitus im Licht der modernen Geschichtsschreibung
Michael Grant
Karl Christ
Dietmar Kienast
Klaus Bringmann
Karl Galinsky
Zvi Yavetz
Theodor Mommsen
Werner Dahlheim
Jochen Bleicken
Ronald Syme
Zweiter Teil
Der Limes des Tiberius
Spurensuche in der Paderborner Bucht
Die frühen Straßen in der ostwestfälischen Bucht
Die Suche nach dem Schlachtort
Die Irminsul
Der Standort der Irminsul
Das Varusschlachtfeld
Untersuchungen vor Ort
Paradigma einer erfolgreichen Geschichtsfälschung
Anhang
Schriftenverzeichnis
Sammelwerke
Abbildungen
Namensregister
Siedlungsgebiete der Germanen
Lebenslauf
Seitdem am Anfang des 16. Jahrhunderts Franz von Ketteler die Annalen des Tacitus in der Bibliothek des Klosters Corvey wiederentdeckt hatte, beherrscht bis heute Historiker, Archäologen und Heimatforscher die brennende Frage: Was geschah damals in Germanien dies- und jenseits des Rheins? Unabhängig davon wurde seitdem im 19. Jahrhundert vor allem die »Varusschlacht« als epochales Ereignis romantisch verklärt und euphorisch gefeiert, und man erhob die Cherusker voller Stolz zu Vorfahren der deutschen Nation, träumte beim Gedanken an diesen Sieg von der Kraft der germanischen »Rasse« und sehnte sich nach der Einheit aller Deutschen. Hermann der Cherusker (Arminius) entwickelte sich so zu einem wirkungsvollen Mythos der Deutschen. Sein heroischer Widerstand gegen Rom sowie auch sein tragisches Ende (er wurde mit 37 Jahren, aufgrund einer Intrige seiner eigenen Familie, ermordet) wurden vor allem deswegen von vielen Schriftstellern, wie Hutten (1529), Schlegel (1749), Klopstock (1752, 1769 und 1787), Kleist (1808), Kotzebue (1819) und Grabbe (1838) dramatisch verherrlicht, weil hier erstens ein David gegen einen Goliath triumphierte, er zweitens durch den anschließenden erfolgreichen Abwehrkampf gegen die römischen Legionen verhinderte, dass »Germania libra«, das rechtsrheinische Germanien, von Rom okkupiert wurde, und sich drittens nur dadurch auf Dauer das freie Germanien eigenständig entwickeln konnte. Schon Theodor Mommsen2 vermutete, bestärkt durch römische Münzfunde, den Schlachtort bei Barenaue, und seitdem gilt die Beschreibung der Varusschlacht durch Cassius Dio3 für Historiker und Archäologen als einzig sichere Quelle der römischen Katastrophe im Jahre 9 n. Chr. Alle anderen antiken Quellenangaben, die im Gegensatz zu Cassius Dio einen ganz anderen Verlauf dieser Katastrophe vermuten lassen, wurden seitdem als unwissenschaftlich und unkritisch abgetan, wegen ihrer Ungenauigkeit und Fehler getadelt beziehungsweise in neuester Zeit weitgehend ignoriert. Nun hat im Jahre 2009 die 2000-jährige Wiederkehr dieses Ereignisses dazu geführt, dass in vielen bibliophilen Neuerscheinungen diese »Schlacht im Teutoburger Wald« wieder gewürdigt wurde, und man glaubte, nach Jahrhunderten der Suche, aufgrund spektakulärer archäologischer Funde bei Kalkriese, so sichere Beweise in den Händen zu haben, um diesen Ort in der Nähe von Osnabrück endlich als Originalschauplatz der »Varusschlacht« betiteln zu können. Weil ich mich, bestärkt durch die Lektüre des Buches von Ritter-Schaumburg Der Cherusker, schon lange mit den vorhandenen antiken Quellen befasste und vor allem die Übersetzungen der lateinischen Texte von Velleius Paterculus, Florus und Tacitus sowie auch die deutsche Fassung der vorliegenden Bände von Cassius Dios Römische Geschichte intensiv studiert und einer kritischen Analyse unterzogen hatte, war mir die Diskrepanz in den verschiedenen Berichten unerklärlich und mich konnte auch das Urteil Mommsens, der ausschließlich den Bericht Dios für wahr hielt, nicht überzeugen. Ich schloss mich deswegen weitgehend der Meinung Rankes an, der sich bereits vor über einhundert Jahren außerstande sah, die Darstellungen der Varusschlacht bei Cassius Dio mit dessen zeitnäheren Autoren (Velleius Paterculus, Florus, Tacitus) zu vereinen. Um verstehen zu können, wie es überhaupt geschehen konnte, dass so unterschiedliche Berichte ihren Weg in die Geschichtsbücher fanden, begann ich erneut, in den vorhandenen Quellen die Geschichte der Römischen Kaiserzeit von Caesar bis zur Regierung des Tiberius zu lesen. Dabei fielen mir beim Vergleich der lateinischen Texte mit den deutschen Übersetzungen zahlreiche Ungereimtheiten und Übertragungsfehler auf, außerdem hatte ich oft den Eindruck, dass die Übersetzer, wenn es verschiedene Bedeutungen für lateinische Wörter gab, versucht hatten, ihre Übertragungen mit der ihnen bekannten mommsenschen Lehrmeinung der damaligen Ereignisse in Einklang zu bringen. Ich beschloss darum, zunächst die Annalen des Tacitus, die Römische Geschichte von Vellius Paterculus und den Abriss der Römischen Geschichte von Florus eigenständig und unabhängig von den bekannten Theorien wortgetreu und objektiv ins Deutsche zu übertragen. Gleichzeitig unterzog ich den gesamten Bericht des Cassius Dio über die frühe Römische Kaiserzeit einer kritischen Prüfung und gewann dabei die Überzeugung, dass es den viertägigen Marsch der Varuslegionen in ihren Untergang so gar nicht gegeben haben kann. Weil bisher alle offenen Streitfragen, alle Kritiken sowie alle berechtigten Zweifel an der heute geltenden Lehrmeinung über den Verlauf der Varusschlacht in Büchern wie: Der Cherusker (Ritter-Schaumburg 1988), „Die Varusschlacht“ – Anatomie eines Mythos (Millhoff 1995), Varusschlacht und Irminsul (Millhoff 2000), Das Geheimnis der Varusschlacht (Oppitz 2006), Die Schlacht – plausible Gründe zur Varuskatastrophe (Schlüter, Lippek 2008), Die Varusschlacht (Höfer 1888, Neuauflage 2009) und Die Varusschlacht – eine Erfindung der augusteischen Propaganda! (Millhoff 2011) – weitgehend unbeachtet blieben und von den meisten Archäologen und Historikern ignoriert wurden, versuchte ich wenigstens durch Diskussionen, wissenschaftlich fundierte Artikel und Vorträge meine Zweifel an der »Marschthese« Dios zu artikulieren und gleichzeitig auch die Vorwürfe gegen Tacitus und die allgemeine Herabwürdigung seiner Berichte zu entkräften. Doch leider war kein Experte bereit, Cassius Dios Bericht überhaupt infrage zu stellen, und alle von mir eingereichten Artikel zu diesem Thema wurden von den Verlagen, Zeitschriften und wissenschaftlichen Magazinen unkommentiert abgelehnt oder wie vom Spiegel ohne Kommentar ins Archiv verbannt. Selbst die fundierten Hinweise auf Fehlinterpretationen der römischen Boden- und Münzfunde bei Kalkriese (Lippek) waren vergeblich und blieben ungehört. Die mommsensche Lehrmeinung war nicht zu erschüttern und blieb in Expertenköpfen verankert. Somit erfahren heute nur Veröffentlichungen, die in ihrer Analyse ausschließlich dem Bericht Cassius Dios folgen, wie: Die Varusschlacht (Bökemeier 2000), Die Varusschlacht: Wendepunkt der Geschichte (Wiegels 2007), Varusschlacht (Schoppe 2007), Die Varusschlacht im Teutoburger Wald (Wolters 2008), Die Varusschlacht: Rom und die Germanen (Märtin 2008), Varusschlacht im Osnabrücker Land: Museum und Park Kalkriese (Schlüter 2009), Varusschlacht: Band II (Schoppe 2009), Die Varusschlacht (Moosbauer 2010), Die Römer in Germanien (Wolters 2011), Weißbuch Herrmannsschlacht (Schoppe 2014) und Die Schlacht im Teutoburger Wald (Wolters 2017) Zuspruch und beherrschen die wissenschaftlichen Diskussionen. Ich habe deswegen, zusammen mit Rudolf F. Schmidt und Bernd Rehfuß, versucht, meine Thesen durch zahlreiche Ortsbegehungen mit neuester Technick wie Georadar, Geomagnetik und Messung der Bodenleitfähigkeit, was teilweise auch zu überzeugenden Ergebnissen führte, zu untermauern. Doch schon bald wurde uns selbst das Begehen von infrage kommenden Arealen mit technischem Gerät teils von den Besitzern, teils von den zuständigen Behörden untersagt. Ich musste mich seitdem, um mich nicht dem Verdacht der Raubgrabung ausgesetzt zu sehen, auf die Analyse von Luftbildern der britischen Luftwaffe aus dem Zweiten Weltkrieg und auf die Untersuchung von Schummerungsbildern nach dem Prinzip des Lidarverfahrens beschränken. Meine Ansichten und die erzielten Ergebnisse unserer Messungen fasste ich dem vorliegenden Buch zusammen. Damit sich diese kritische Analyse der römisch-germanischen Auseinandersetzung überhaupt nachvollziehen lässt, beschloss ich, dem Leser zunächst objektiv darzulegen, wie die heute wissenschaftlich allgemein anerkannten Auffassungen über die Ereignisse vor, während und nach der »Varusschlacht« aussehen und welche Hypothese über den Verlauf der römischen Katastrophe in Germanien heute bei Historikern und Archäologen als gesichert gilt.
Die kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Römern und Germanen begannen bereits 16 v. Chr. mit der Niederlage des Lollius und dem Verlust der fünften Legion gegen die vereinten Stammeskrieger der Sugambrer, Tenkterer und Usipeter. Danach ließ Augustus (15 v. Chr.) durch seine Stiefsöhne, Tiberius und Drusus, die Expansion des Imperium Romanum nach Osten vorantreiben und die Rheingrenze erstmalig durch die Stationierung römischer Truppen in Mainz, Bonn, Neuss, Xanten und Nijmegen sichern. Außerdem wurden unter großem Aufwand die Straßen in Gallien und Germania inferior ausgebaut und gleichzeitig die Aufmarschwege in Richtung Rhein angelegt. Die eigentlichen Feldzüge der Römer zur Eroberung Germaniens begannen erst nach dem gallischen Aufstand, an dem die Sugambrer, Usipeter, Sueben, Chauken und Cherusker beteiligt waren, als Drusus 12 v. Chr. den Rhein überschritt, die Usipeter und die Sugambrer besiegte und Erkundigungsfeldzüge durch Germanien von der Nordsee bis zur Elbe durchführte. Nach seinem Tod (9 v. Chr.) wurde Tiberius als sein Nachfolger Statthalter in Germanien von 8 bis 6 v. Chr., und er siedelte während dieser Zeit 40.000 Sugambrer auf das linksrheinische Gebiet über. Anschließend ging er ins Exil nach Rhodos. In der Zeit von 6 v. bis 1 n. Chr. führte Lucius Domitius Ahenobarbus als Statthalter von Illyrien mehrere Feldzüge in Germanien durch und drang 3 v. Chr. als erster römischer Feldherr über die Elbe vor. Zwischen 1 bis 4 n. Chr. kam es unter dem Statthalter Vinicius in Germanien zu großen Unruhen und einem »immensum bellum«. Nach seiner Rückkehr unterwarf Tiberius 4 und 5 n. Chr. ganz Germanien bis zur Elbe, nahm Cherusker als Bundesgenossen (4 n. Chr.) in die Heeresgemeinschaft der Römer auf und bereitete 6 n. Chr. eine große kombinierte Heeresaktion gegen den König der Markomannen, Marbod, vor. Sentius Saturninus sollte damals gleichzeitg von Westen her mit großen Teilen der Rheinarmee durch den Hercynischen Wald nach Osten marschieren, während Tiberius selbst von Carnuntum aus nach Norden mit einem großen Heeresverband gegen das Markomannenreich vorstoßen wollte. Zur Ausführung dieses Feldzuges kam es allerdings nicht, weil ein Aufstand in Pannonien losbrach, der große Teile der römischen Streitkräfte band. Die römische Katastrophe in Germanien zeichnete sich ab, als im Jahre 7 n. Chr. Augustus den bisherigen Statthalter von Syrien, Varus, mit dem Oberbefehl über Germanien betraute und ihn beauftragte, dort zügig eine römische Verwaltung aufzubauen. Ziel dieses Auftrags war es, das Gebiet zwischen Rhein und Weser möglichst bald als Provinz in das Römische Reich einzugliedern. Sicher ist, dass sich Augustus und Varus sowohl über den Zeitpunkt der Unterwerfung verschätzten, sie zudem den Charakter der germanischen Stammesverbände nicht berücksichtigten und sich vor allem in der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel zur Durchsetzung dieser Provinzialisierung vergriffen. Unstrittig ist auch, dass erst durch diesen vorschnellen Vollzug und vor allem durch die hierzu veranlassten Gewaltmaßnahmen (Hinrichtungen, Tributzahlungen) die Germanen zum Aufstand gegen Rom provoziert wurden. Die Hauptstützpunkte der römischen militärischen Unternehmungen waren zum damaligen Zeitpunkt Köln (Colonia Agrippinensis, Standort der ersten und zwanzigsten Legion4), Mainz (Mogontiacum, Standort der zweiten, dreizehnten, vierzehnten und sechzehnten Legion5) und das Lager Castra Vetera (Xanten, Standort der achtzehnten und neunzehnten Legion). Auch jenseits des Rheins, im späteren »Germania libra«, befanden sich neben zahlreichen heute noch unbekannten Lagern das Sommerlager des Varus, die Lager Haltern, Holsterhausen, Olfen, Beckinghausen, Oberaden, Anreppen und Kneblinghausen sowie das stark befestigte Lager Aliso, über dessen genauen Standort bis heute heftig gestritten wird. In seinem großen Sommerlager, das nach Meinung der meisten Wissenschaftler wahrscheinlich bei Minden an der Weser lag, erreichte im Jahre 9 n. Chr. Varus die Nachricht vom Aufstand einiger entfernt lebender Germanenstämme. Obwohl der Germanenfürst Segestes, ein Freund der Römer und der Schwiegervater des Arminius, Varus warnte, zog dieser mit drei Legionen und dem gesamten Tross gegen den Feind. Auf diesem Marsch durch germanische Wälder, fern der römischen Heerstraßen, wurden die Römer von den Germanen unter Führung des Arminius überfallen. Die Römer gingen in einer sich über drei Tage hinziehenden Schlacht unter, wobei sowohl das ungünstige Gelände als auch das widrige Wetter und die Art der Bewaffnung einen wesentlichen Anteil am Sieg der Germanen gehabt haben sollen. Varus beging, als er das Ausmaß seiner Niederlage begriff, Selbstmord. Der Rest der Truppen kapitulierte nach seinem Tod und wurde von den Germanen hingerichtet. Allerdings konnten sich wenige Römer bis nach Aliso durchschlagen, wurden dort zunächst von den Germanen belagert, bis es ihnen schließlich gelang, unversehrt den Rhein zu erreichen. Als die Nachricht von dieser Katastrophe nach Rom gelangte, wurde Tiberius von Augustus sofort nach Germanien entsandt, um die Germanen zurückzuwerfen und die Rheingrenze zu sichern. In der Folgezeit haben weder die Germanen den Versuch unternommen, die Rheingrenze mit einem Heer zu überschreiten, noch hat Tiberius geplant, das germanische Gebiet bis zur Weser zurückzuerobern. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen begannen erst wieder, als im Jahr 13 n. Chr. Germanicus, der Sohn des Drusus und Enkel des Augustus, Oberbefehlshaber in Germanien wurde. In diesen »Rachefeldzügen« von 14 –16 n. Chr., die vom Lager Castra Vetera bei Xanten aus sowohl über die Lippelinie als auch von Mainz aus durch die Wetterau bis zur Eder und schließlich über die Nordsee und die Ems bis zur Weser ins Innere Germaniens geführt wurden, gelang es Germanicus lediglich, das Lager Aliso kurzfristig erneut zu besetzen und das Schlachtfeld aufzusuchen, um die toten Soldaten der Varusschlacht zu begraben. Obwohl Germanicus zeitweise zehn Legionen ins Feld führte, konnte er die Germanen unter Arminius nicht endgültig besiegen und wurde deshalb im Jahre 17 n. Chr. vom Nachfolger des Augustus, Tiberius, abberufen, um in Rom das Konsulat zu übernehmen. Er wurde in den Osten des Römischen Reiches abkommandiert und dort kurze Zeit später vom Sohn eines Freundes des Tiberius ermordet. Jeder, der sich heute mit den damaligen Vorgängen beschäftigt, kann sein Wissen nur aus den Berichten der Schriftsteller Cassius Dio, Florus, Velleius Paterculus, Frontin und Tacitus schöpfen, weil die ausführlicheren Berichte über die Germanenkriege von Plinius d. Ä. (23–79 n. Chr.) und des Velleius Paterculus u. a. verlorengegangen sind. Allein von Cassius Dio gibt es eine ausführliche Darstellung der Varusschlacht. Alle anderen Autoren lassen nur mehr oder weniger genaue Rückschlüsse auf das Schlachtgeschehen zu. Leider ist der Bericht des Cassius Dio nicht mit den anderen antiken Berichten vereinbar. Sie alle unterscheiden sich in so wesentlichen Details, dass sie sich teilweise sogar gegenseitig ausschließen. Ich versuche deshalb in dieser Publikation, nach wissenschaftlichen Maßstäben zu überprüfen und festzustellen, was sich in den Jahren 12 v. Chr. bis 16 n. Chr. beim Versuch der verschiedenen Feldherren, »Germania libra« ins Römische Reich als Provinz einzugliedern, wirklich abspielte, und werde, damit sich der Leser selbst ein Bild machen kann, zunächst alle vorliegenden Quellen ausführlich zitieren, dann besonders auf Manipulationen in den lateinischen Texten hinweisen und die Fehler in den deutschen Übersetzungen aufzeigen. In weiteren Kapiteln werde ich die Feldzüge von Drusus bis Germanicus genau verfolgen und außerdem die antiken Autoren, insbesondere die Berichte des Cassius Dio und des Tacitus, auf ihren Wahrheitsgehalt sowie ihre Kenntnisse der örtlichen Topographie im damaligen Germanien überprüfen und die Informationspolitik des Augustus in den offiziellen Senatsberichten hinterfragen. Schließlich beschäftige ich mich mit den bei Kalkriese gefundenen Münzen und analysiere die dortigen Bodenfunde, weil diese im Wesentlichen als Beweis für die Varusschlacht an diesem Ort gelten. Um am Ende eine wahre, nachvollziehbare und allgemein überzeugende Darstellung der römischen Katastrophe in Germanien mit seinen Folgen sowie eine aussichtsreichere Suche nach dem tatsächlichen Schlachtort zu ermöglichen sowie eine Erklärung dafür zu finden, wie es die Germanen geschafft haben, gegen zehn römische Legionen standzuhalten, muss ich nicht nur alle bisherigen Theorien über diese Schlacht widerlegen, sondern es muss mir auch gelingen, meine Interpretationen der antiken Texte sowie die Schilderung des Überfalls auf das Sommerlager und alle Beweise meiner Thesen so detailliert darzulegen, damit dies nachvollziehbar ist. Es mag vielen überflüssig erscheinen, heute noch über das Wo und das Wie der damaligen Ereignisse Nachforschungen anzustellen –, ich halte gerade das aus einem Grund für besonders wichtig, weil sich an diesem Beispiel exemplarisch nachweisen lässt, wie leicht sich schon in frühester Zeit durch Desinformation und Propaganda, dadurch bis heute selbst von Historikern unbemerkt, die Geschichtsschreibung von autoritären Führern und Diktatoren manipulieren ließ, wenn eine freie und unabhängige Berichterstattung fehlt beziehungsweise unterdrückt wird. Sinn dieses Buches ist es außerdem, zu überprüfen, ob die Rechtfertigung des Augustus in seinem Testament: »Gallias et Hispanias provincias, item Germaniam, qua includit Oceanus a Gadibus ad ostium Albis fluminis, pacavi«6, Realität oder lediglich Ausdruck einer bewussten Geschichtsfälschung war, um das Resultat seiner propagandistischen Informationspolitik für die Nachwelt zu zementieren. Leider stellte sich erst bei der endgültigen Überprüfung meiner Untersuchung über die Provinzialisierung Germaniens zur Zeitenwende heraus, dass Mommsen und seine Epigonen, basierend auf den Selbstdarstellungen des Augustus, den Beginn seiner Regierungszeit viel zu positiv und gleichzeitig den Tacitus wegen seiner kritischen Einstellung zum Prinzipat viel zu negativ beurteilt haben. Ich war deshalb gezwungen, meine »deutsche Brille« abzulegen und Augustus sowie Tacitus mit den Augen der angelsächsischen Geschichtsschreibung zu betrachten, was mir neue Erkenntnisse über die Machtergreifung des jungen Octavian verschaffte und unter anderem dabei half, das Rätsel der »Varusschlacht« zu lösen.
Unna, August 2021 Manfred Millhoff
Abb. 1:
Germanien zur Römerzeit
Römische Lager zur Grenzsicherung
1. Lucius Cassius Dio (* um 163 n. Chr., † nach 229 n. Chr.) schrieb die »Römische Geschichte« etwa 200 Jahre nach der Varusschlacht. Sie umfasst achtzig Bände. Der hier interessierende Zeitabschnitt des Octavian (Augustus) ist bis auf einige Lücken in den Büchern 45 bis 56, die mit Berichten von Xiphilinos und Zonaras ergänzt sind, vollständig erhalten geblieben. Wegen des zeitlichen Abstandes war Dio ausschließlich von schriftlichen Quellen abhängig. Es gab im Römischen Reich viele Bibliotheken und als Senator hatte er Zugang zum Archiv des Senats. Cassius Dio entstammte einer reichen Familie aus dem griechischen Osten des Imperium Romanum, der der Aufstieg in die Reichsaristokratie geglückt war, und war Sohn des römischen Senators Cassius Apronianus, der um 175 Suffektkonsul war. Er wuchs zur Zeit des römischen Kaisers Marc Aurel auf, in dem er den Idealtypus eines Kaisers in seiner Loyalität gegenüber dem Staat, in seiner Milde gegenüber dem Volk, in der Wahrung der Rechtsgrundlage und dadurch in der Schaffung einer angstfreien Atmosphäre und in der Sicherung der Stabilität des Reiches erkannte. Dadurch war Marc Aurel für Dio der fähigste und beste Herrscher seiner Zeit. Dios tatsächlicher Name lautete Cassius, er nahm jedoch die beiden anderen Namen an, um seine Abkunft mütterlicherseits vom berühmten Redner Dion Chysostomos zu belegen. Obwohl er vonseiten seiner Mutter griechischer Abstammung war, er die im römischen Osten maßgebende griechische Sprache in seinen Schriften nutzte und von griechischem Denken geprägt war, kann er andererseits aufgrund seiner politischen Laufbahn und seiner Weltanschauung zugleich auch als Römer angesehen werden. Dio verbrachte den größten Teil seines Lebens im öffentlichen Dienst, in dem er eine glänzende Karriere absolvierte. Er ging als junger Mann nach Rom, wurde unter Commodus (Kaiser 180–192) Senator. Dessen charakterliche Labilität war die Ursache für das folgende Terrorregime, in dem eine durch Hinrichtungen und Willkürakte gekennzeichnete Atmosphäre der Angst und Unterdrückung, insbesondere für die römische Oberschicht, entstand. Nachdem das Gebaren des Kaisers selbst seiner nächsten Umgebung unerträglich geworden war, ließ ihn die Prätorianergarde, die wichtigste Truppe in Rom und die Stütze der kaiserlichen Macht, erdrosseln. Ihm folgte Pertinax, der sich als bescheidener und gewissenhaft seinen Pflichten nachkommender Kaiser erwies. Respektvoll behandelte er den Senat, und das Volk war froh über die wiedergewonnenen geordneten Verhältnisse. Doch er überlebte nur drei Monate im Amt, denn die Prätorianer erschlugen ihn, weil er ihnen das von Commodus erlaubte Plündern untersagt hatte. Ab jetzt wurde es zur Regel, dass nur derjenige Kaiser wurde, der den Prätorianern das höchste Bestechungsangebot machte. Es folgten die Schreckensherrschaften des Julianus und der weiteren »schlechten« Herrscher Severus, Caracalla und Elagabal. Die soldatische Macht stieg in dieser Zeit, während der Senat als politische Entscheidungsgewalt an Einfluss verlor. Nach dem Tod des Septimius Severus (193–211) wurde Cassius Dio Kurator der kleinasiatischen Städte Smyrna und Pergamon. Um das Jahr 205 war er selbst Suffektkonsul, später Prokonsul von Afrika und schließlich Statthalter von Pannonien und Dalmatien. Der junge Kaiser Serverus Alexander (222–235) schätzte ihn und machte ihn 229 zum zweiten Mal zum Konsul, dieses Mal als consul ordinarius und Kollege des Herrschers, was eine besondere Ehre darstellte. Aufgrund seiner persönlichen Lebenserfahrung erschien Dio die Zeit der julisch-claudischen Kaiser, Augustus bis Nero, gleichsam als Spiegelbild seiner eigenen Zeit. Auf Augustus, in dem er viele positive Eigenschaften des Marc Aurel wiedererkannte, folgten ebenfalls Tyrannen von Tiberius bis Nero. Aber auch unter den julisch-claudischen Kaisern gab es eine rühmliche Ausnahme: Claudius. Dieser Kaiser zeigte sich bescheiden und bürgerfreundlich und verfasste mehrere Geschichtswerke, die später allesamt verloren gingen. Er traf Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensmittelversorgung und der Verwaltung. Auch konnte er militärische Erfolge aufweisen, wie die Ausdehnung des Reiches nach Osten und die Eroberung Britanniens. Leider wurde er, wie auch Pertinax, ermordet. Dio blieb, trotz seiner eigenen negativen Erfahrungen, ein loyaler Anhänger der Monarchie. Die Jahrzehnte des Zerfalls der Republik mit ihren Unruhen, Bürgerkriegen und den zeitweise anarchischen Zuständen waren für Dio der sichtbare Beweis für das Scheitern dieser Staatsform. Im Zusammenhang mit der Ermordung des Gaius Julius Caesar schrieb er:
»Demokratie hat ja einen schön klingenden Namen und erweckt den Eindruck, als bringe sie allen durch gleiche Gesetze auch gleiche Rechte, in ihren Ergebnissen aber zeigt sich, dass sie mit ihrem Namen nichts zu tun hat. Im Gegensatz dazu hat Alleinherrschaft einen bösen Klang, sie ist aber eine sehr geeignete Staatsform, um darunter zu leben. Denn es ist leichter, einen einzigen tüchtigen Mann als derer viele zu finden und wenn selbst dies einigen als schwieriges Unternehmen erscheint, so muss doch unbedingt die andere Möglichkeit einmütig für ausgeschlossen betrachtet werden; es ist ja der Mehrzahl von Menschen nicht gegeben, Tugend zu erwerben«.7
Dio war von der Notwendigkeit der Monarchie ebenso überzeugt wie von der harten Realität des Strebens nach Macht und des Machterhalts. Er begrüßte die Alleinherrschaft Caesars, der den Staat wieder mit fester Hand leitete. Dabei spielte es für ihn keine Rolle, wie Caesar an die Macht gekommen war. Nach dem Ende seines zweiten Konsulats kehrte er in seine griechische Heimat zurück, wo er vor 235 starb.
Die Römische Geschichte des Cassius Dio enthält als einzige eine ausführliche Darstellung über den Verlauf der Varusschlacht im Jahr 9.
»Als jedoch Quintilius Varus Statthalter der Provinz Germanien wurde und in Wahrnehmung seines Amtes sich auch mit den Angelegenheiten dieser Volksstämme befasste, da drängte er darauf, die Menschen rascher umzustellen, und erteilte ihnen nicht nur Befehle, als wenn sie tatsächlich römische Sklaven wären, sondern trieb sogar von ihnen, wie von Unterworfenen, Steuern ein. Eine derartige Behandlung aber wollten sie sich nicht gefallen lassen. [...] Sie empörten sich indes nicht in aller Offenheit, da sie sahen, dass viele römische Truppen am Rhein, viele aber auch in ihrem eigenen Lande standen. Stattdessen nahmen sie Varus bei sich auf, taten so, als wollten sie alle ihnen erteilten Befehle ausführen und lockten ihn auf diese Weise weit vom Rhein weg ins Cheruskerland und bis an die Weser. Dort zeigten sie sich höchst friedlich und freundschaftlich und erweckten damit in ihm den Glauben, sie könnten auch ohne die Anwesenheit von Soldaten ein unterwürfiges Leben führen. Varus behielt deshalb seine Legionen, wie es in einem Feindesland richtig gewesen wäre, nicht beisammen, sondern verteilte viele seiner Soldaten an schwache Gemeinwesen, die ihn darum baten, angeblich zu dem Zweck, entweder verschiedene Punkte zu bewachen oder Räuber festzunehmen oder gewisse Lebensmitteltransporte zu geleiten. Hauptverschwörer und Anführer bei dem Anschlag wie bei dem Krieg waren neben anderen Arminius und Segimerus, Varus dauernde Begleiter und wiederholt auch Tischgenossen. So fühlte sich der römische Feldherr sicher und rechnete mit nichts Schlimmem; all denen aber, die die Vorgänge argwöhnisch verfolgten und ihn zur Vorsicht mahnten, schenkte er keinen Glauben, ja machte ihnen sogar Vorwürfe, als seien sie ohne Grund beunruhigt und wollten seine Freunde nur verleumden. Dann kam es zu einer ersten Aufstandsbewegung und zwar bei den Völkerschaften, die von ihm entfernt wohnten, ein wohlüberlegter Plan: Varus sollte gegen diese Unruhestifter zu Felde ziehen und auf dem Marsch durch angeblich befreundetes Gebiet mit geringerer Mühe überwältigt werden, anstatt dass er sich, wie bei einem allgemeinen plötzlichen Ausbruch von Feindseligkeiten gegen ihn zu erwarten war, besonders in Acht nahm. Und so kam es denn auch: Zuerst gaben ihm die Verschworenen beim Ausmarsch das Geleite, dann beurlaubten sie sich, um angeblich die verbündeten Kontingente zu sammeln und ihm damit rasch zu Hilfe zu kommen, übernahmen aber nur die Führung ihrer schon bereitstehenden Truppen und griffen, nachdem man allerorts die dort befindlichen, zuvor erbetenen Garnisonen niedergemacht hatte, den Feldherrn selbst an, der sich bereits inmitten undurchdringlicher Wälder befand. Dort aber offenbarten sich im gleichen Augenblick die Germanen statt als Untertanen als Feinde und richteten viele schreckliche Verheerungen an. Die Berge, ohne Ebenen, waren nämlich von Schluchten durchzogen, außerdem standen Baumriesen dicht nebeneinander, sodass die Römer bereits vor dem feindlichen Überfall mit dem Fällen der Bäume, der Anlage von Wegen und der Überbrückung von Geländeabschnitten, wo solches nötig war, Mühe genug hatten. Wie mitten im Frieden führten sie viele Wagen und auch Lasttiere mit sich; dazu begleiteten sie zahlreiche Kinder und Frauen und noch ein stattlicher Sklaventross, die sie ebenfalls zu einer gelockerten Marschform zwangen. Inzwischen kamen auch ein starker Regen und Sturm auf, was die Marschierenden weiterhin voneinander trennte, und der Boden, um die Wurzeln und Stämme her schlüpfrig geworden, machte jeden Schritt höchst unsicher; Bruch und Sturz der Baumwipfel sorgten für weitere Verwirrung. Mit solchen Schwierigkeiten hatten damals die Römer zu ringen, als die Barbaren, wegekundig wie sie waren, gerade durch die ärgsten Dickichte drangen und sie plötzlich gleichzeitig von allen Seiten her umzingelten. Zuerst schossen sie nur aus der Ferne, dann aber, als niemand sich wehrte und viele verwundet waren, rückten sie näher an die Gegner heran. Die Römer marschierten ja in keiner festen Ordnung, sondern im Durcheinander mit Wagen und Unbewaffneten; sie konnten sich auch nirgendwo einfach zu einer Gruppe zusammenschließen und weil sie überall den jeweiligen Angreifern zahlenmäßig unterlegen waren, hatten sie selbst schwer zu leiden, ohne etwas dagegen ausrichten zu können. Aus diesem Grunde schlugen sie an Ort und Stelle ein Lager auf, nachdem sie, soweit dies auf einem bewaldeten Berge möglich war, einen passenden Platz gefunden hatten. Hierauf verbrannten sie die meisten Wagen und was ihnen sonst nicht dringend nötig schien oder ließen sie zurück. Anderntags ging der Marsch in etwas besserer Ordnung weiter und sie erreichten, freilich nicht ohne blutige Verluste, sogar freies Gelände. Von dort aus gerieten sie aber wieder in Wälder und hier mussten sie sich gegen die Angreifer wehren, wobei sie aber gerade die schwersten Verluste erlitten. Denn auf engem Raum zusammengepresst, damit Schulter an Schulter Reiter und Fußvolk den Feinden entgegenstürmen konnten, stießen sie vielfach aufeinander oder gegen die Bäume. Als der vierte Tag graute, befanden sie sich immer noch auf dem Marsche und erneut überfielen sie heftiger Regen und starker Wind, die sie weder weitergehen noch festen Stand finden, ja nicht einmal mehr die Waffen gebrauchen ließen. Sie konnten sich nämlich nicht mehr mit Erfolg ihrer Bogen und Speere oder der ganz und gar durchnässten Schilde bedienen. Die Feinde hingegen, größtenteils nur leicht gerüstet und imstande, ungefährdet anzugreifen und sich zurückzuziehen, hatten weniger unter den Unbilden zu leiden. Außerdem hatte sich ihre Zahl deutlich vermehrt, da viele von den anderen, die zunächst nur abgewartet hatten, sich ihnen jetzt vor allem in der Hoffnung auf Beute anschlossen. Bei den Römern dagegen war in den vorausgehenden Gefechten schon eine Menge gefallen und ihre Reihen waren gelichtet. So konnten die Barbaren ihre Gegner einfacher umzingeln und niedermachen. Varus und die übrigen hohen Offiziere erfasste darüber Angst, sie möchten entweder lebendig in Gefangenschaft geraten oder von ihren grimmigsten Feinden getötet werden – sie waren ja schon alle verwundet und das ließ sie eine zwar schreckliche, aber notwendige Tat wagen: Sie begingen Selbstmord. Als sich die Kunde davon verbreitete, leistete vom Rest der Leute, selbst wenn er noch bei Kräften war, auch nicht einer mehr Widerstand, vielmehr ahmten die einen das Beispiel ihres Feldherrn nach, während die anderen selbst ihre Waffen wegwarfen und sich vom Nächstbesten, der da wollte, niedermachen ließen; denn Flucht war unmöglich, wie sehr sie einer auch ergreifen wollte. Und so wurde jeder Mann und jedes Pferd, ohne dass man Gegenwehr fürchten musste, niedergehauen und die ....(Lücke).«8
Schon nach dem Lesen dieses Berichtes, kamen dem Autor dieses Buches Zweifel, ob diese Darstellung stimmen konnte. Wie war es möglich, dass die drei Elitelegionen Roms9 zusammen mit ihren Auxiliartruppen selbst in ungünstigem Gelände den waffentechnisch weit unterlegenen Germanen vollständig unterlagen? Wie konnte es passieren, dass Varus, obwohl er, so der Hinweis in mehreren Quellen, von Segestes gewarnt worden war, selbst gegen die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen eines Feldherrn verstieß? Varus, der immerhin aus einem sehr alten römischen Patriziergeschlecht10 stammte, dazu eine erfolgreiche römische Militärkarriere durchlaufen hatte, bis er Statthalter in Syrien wurde, dort den Aufstand in Judäa erfolgreich niederschlug und anschließend, wahrscheinlich auch wegen seiner Verwandtschaft mit Augustus, den Oberbefehl in Germanien bekam. War es denkbar, dass ein solcher Mann fernab der römischen Heerstraßen durch sumpfiges Gelände »wie mitten im Frieden mit vielen Wagen und Lasttieren, in Begleitung von zahlreichen Kindern und Frauen, mit einem stattlichen Sklaventross« gegen aufständische Germanen zog? Hatte Varus wirklich seine Legionen selbst durch Detachierungen entscheidend geschwächt? Kann man dem römischen Oberbefehlshaber in Germanien wirklich so viel Leichtsinn und Dummheit unterstellen?
Liest man weitere Kapitel von Cassius Dio, so stellt sich dieser Autor eher als guter Essayist denn als realistischer Historiker dar. Häufig schweift er vom Thema ab, philosophiert zwischendurch über Demokratie und Tyrannei, über Volk und Senat, über Güte und Nachsicht bei der Behandlung von Attentätern, über eheliche Treue usw. Dio mag man deswegen eher vorwerfen, dass er aus heutiger Sicht vieles nur lückenhaft, vieles auch zu langatmig erzählt, aber er fälschte nirgends und erdichtete nichts, wie bereits Ranke feststellte. Woher aber hatte Cassius Dio seine Informationen? Aus welchen Quellen schöpfte er? In diesem Zusammenhang ist es wesentlich, zu wissen, dass sich die Informationspolitik während des Prinzipats des Augustus gegenüber den Zeiten der Römischen Republik offenkundig geändert hatte. Auch Cassius Dio war das bewusst, und er weist in seinem Geschichtswerk an diesem Wendepunkt der staatlichen Informationspolitik ausdrücklich darauf hin, dass er starke Zweifel am Wahrheitsgehalt der von ihm genutzten Quellen hat.
»Man argwöhnt, dass sich alle Worte und Taten nur nach den Wünschen der jeweiligen Machthaber und ihrer Anhänger richten. Und so schwatzt man von vielen Dingen, die sich gar nicht zutrugen, während man von anderem, was sich bestimmt ereignet, nichts weiß.«11
Unrichtig scheint auch, wie bereits Ranke im vierten Band seiner Weltgeschichte feststellte, das Ende des dionischen Berichtes mit der Mitteilung über den Selbstmord aller hohen Offiziere zu sein, denn Seneca der Jüngere berichtet in seinem Brief an Lucilius über Ethik:
»Nach der Niederlage des Varus hat das Geschick viele Menschen von glänzender Herkunft, die sich auf Grund ihres Militärdienstes den senatorischen Rang erhofften, tief fallen lassen: den einen von ihnen machte es zum Hirten, den anderen zum Wächter einer Hütte.«12
Zudem haben die Germanen im Gegensatz zur Behauptung des Cassius Dio nicht alle Soldaten getötet, sondern nach Tacitus auch Gefangene gemacht:
»Ihr Erfolg war umso erfreulicher, als sie einige Leute von Varus’ Niederlage her nach vierzigjähriger Gefangenschaft befreien konnten.«13
Diese Unstimmigkeiten in seinem Bericht lassen sich nur erklären, wenn man davon ausgeht, dass Cassius Dio nicht nur intensiv die Archive des Senats studiert hat, sonern auch andere Quellen kannte und trotzdem vornehmlich die augusteischen Senatsberichte als Vorlage für seine Römische Geschichte bevorzugte, ihm aber bewusst war, dass diese offensichtlich von Augustus, der in Rom sein Gesicht wahren wollte, gefälscht worden waren.
2. Publius Cornelius Tacitus: Über den Lebenslauf des Tacitus ist fast nichts überliefert. Sein Geburtsdatum lässt sich nur durch den Rückschluss gewinnen, dass Tacitus älter als der 61 oder 62 n. Chr. geborene jüngere Plinius war, mit dem er seit Studienzeiten befreundet war. Danach wird er etwa um 55 oder 56 n. Chr. geboren sein. Beide durchliefen die klassische Beamtenlaufbahn. Schon in jungen Jahren war Tacitus erfolgreich als Gerichtsredner und Anwalt. Nachdem er wahrscheinlich den Militärdienst absolviert hatte, heiratete er im Jahre 77 die Tochter des Feldherrn Agricola. Diese Verbindung bedeutete für ihn den gesellschaftlichen Aufstieg in die Nobilität, und die Beziehungen entwickelten sich so erfreulich, dass er zu Ehren des Agricola später eine äußerst wohlwollende Biographie über ihn schrieb. Einiges, was man von seinem Leben und seiner politischen Karriere weiß, beruht auf Angaben oder Hinweisen in seinen Schriften:
»Dass ich unter Vespasian in Amt und Würden eingesetzt, unter Titus befördert und unter Domitian noch weiter erhöht worden bin, das möchte ich nicht abstreiten.«14
Ein weiteres wichtiges Datum findet sich in den Annalen für das Jahr 88, in dem Tacitus Prätor war und ein Priesteramt der Quindecimvirn innehatte, dessen Aufgabe darin bestand, vor wichtigen Beschlüssen des Senats die Sibyllinischen Bücher zurate zu ziehen:
»Denn auch dieser [Kaiser Domitian] hielt Säkularspiele ab und ich habe an ihnen mit besonderer Aufmerksamkeit teilgenommen, da ich mit dem Priesteramt der Quindecimvirn betraut und damals Prätor war.«15
Im Jahr 97 wurde Tacitus Konsul. 112/113 war er Statthalter der Provinz Asia. Damit hatte er alles erreicht, was man zu dieser Zeit in der senatorischen Ämterlaufbahn erreichen konnte. Im Jahre 100 trat er gemeinsam mit Plinius als Ankläger gegen den Prokonsul von Afrika auf, der schließlich wegen Erpressung verbannt wurde. Das einzige Zeugnis seiner späten Jahre sind die Annalen. Weil er die Historien erst um 110 abschloss und für die Abfassung der vielbändigen Annalen großzügig Zeit einkalkuliert werden sollte, lässt sich davon ausgehen, dass Tacitus bis mindestens 120 n. Chr. daran gearbeitet hat. Sehr viel länger hat er wohl nicht gelebt, sonst hätte er noch die geplante Bearbeitung der Trajanzeit begonnen, wie er in den Historien schreibt:
»Für den Fall, dass mir eine ausreichende Lebenszeit beschieden ist, habe ich den Prinzipat des vergöttlichten Nerva und die Herrschaft des Trajanus, einen reichhaltigeren und wenig gefährlichen Stoff für mein Alter aufgespart.«16
Als sein Herkunftsort wird die Gallia Narbonensis (heute Südfrankreich) genannt, auch der Schwiegervater Agricola stammte von dort. Es sollen sich dort vier Inschriften des Namens Tacitus befunden haben.17 Ein weiterer bedeutender Hinweis auf seine Herkunft findet sich in der Erwähnung eines Cornelius Tacitus, kaiserlicher Prokurator von Gallia Belgica, der möglicherweise ein enger Verwandter des Historikers war.18 Auffallend ist, dass er überaus gründlich referiert, warum Claudius diesen gallischen Provinzen volle politische Rechte zukommen lässt.19 In der Literatur gibt es Hinweise auf den Raum Trier oder Köln, was sein besonderes Interesse für die Germanen begründen könnte. Auch drei norditalienische Inschriften weisen den möglicherweise keltischen Namen Tacitus auf. Außerdem könnte man die besonders genauen topographischen Kenntnisse des transpandanischen Kriegsschauplatzes (Oberitalien), die das dritte Buch der Historien verrät, als Hinweis auf persönliche Beziehungen interpretieren. Nach Durchsicht dieser spärlichen Belege bleibt trotzdem seine genaue Herkunft unbekannt, und selbst über den Tod des Tacitus ist nichts bekannt.
Als zu Beginn der Renaissance in Italien das Interesse an der römischen Vergangenheit wiedererwachte, waren die Schriften von Publius Cornelius Tacitus praktisch vergessen. Mit wachsendem Interesse an der Antike begannen Sammler bald Klosterbibliotheken systematisch nach alten Manuskripten zu durchforschen. Tacitus rückte erst in den Fokus der römischen Geschichtsforschung, als der gelehrte Dichter und Humanist Giovanni Boccaccio im Jahre 1362 einen verstaubten Codex aus dem Schutt des verfallenden Klosters Monte Cassino zog: Es war der Medicus II, die Handschrift mit dem größten Teil der Geschichtswerke des Tacitus. Darin enthalten sind Teile seiner Bücher Historien, Buch I bis V, und Annalen, Buch XI bis XVI. Eineinhalb Jahrhunderte später wurde ein weiterer Codex von Tacitus im Kloster Corvey entdeckt, der Medicus I mit den ersten sechs Büchern der Annalen. Der handschriftlich überlieferte Titel lautet Ab excessi divi Augusti. Wie sich herausstellte, waren diese ersten sechs Bücher der Annalen im neunten Jahrhundert im Kloster Fulda auf Pergament kopiert worden. Eine Abschrift gelangte nach Corvey, wo sie 1508 wiederentdeckt wurde. Es wird berichtet, sie sei später im Auftrag von italienischen Humanisten gestohlen worden. Ein Glücksfall, denn der Diebstahl rettete das Werk vor den Flammen, weil einige Jahre später, in den Wirren des Dreißigjährigen Kriegs, die Bibliothek bis auf die Grundmauern abbrannte. Papst Leo X. gelangte schließlich in den Besitz der Abschrift und veranlasste die Veröffentlichung. Der Medicus I befindet sich heute in der Biblioteca Medicea Laurenziana, einer von den Medici gegründeten Bibliothek mit kostbaren alten Handschriften bei San Lorenzo in Florenz. Dort befindet sich auch der Medicus II. Es wird vermutet, dass diese Urhandschrift ebenfalls aus Deutschland stammt. Tacitus beschreibt in seinen Histographien Annalen und Historien die Zeitspanne der letzten Jahren der Regierungszeit des Kaiser Augustus (14 n. Chr.) bis zum Ende Domitians (96 n. Chr.). Für diese Epoche sind sie eine wichtige Quelle. Tacitus beginnt seine Veröffentlichungen zunächst mit drei kleineren Schriften: Agricola, Germania und Dialogus de oratoribus, die er ab 98 n. Chr. in dieser Reihenfolge publizierte. Dem folgen am Anfang des zweiten Jahrhunderts die Historien, anschließend die Annalen. Die Schriften Agricola und Germania sind aus der Antike urschriftlich durch den frühmittelalterlichen Codex Hersfeldensis überliefert. In Italien wurde dieser kopiert und in den Codex Aesinas eingebunden, einer Sammlung alter Handschriften aus dem 15. Jahrhundert im Privatbesitz einer gräflichen Familie aus dem italienischen Jesi, Ancona. Durch die Einbindung von acht Blättern des Agricola in karolingischer Minuskelschrift des frühen 9. Jahrhunderts gilt der Tacitusteil des Codex in der Forschung als direkte Abschrift des verschollenen Codex Hersfeldensis. Bis 1994 blieb sie im Familienbesitz. Wegen der Germania als ältester Überlieferung der germanisch-deutschen Geschichte geriet der Codex in den 1930er Jahren in den Fokus von NS-Ideologen. Den Wunsch nach Herausgabe verweigerte Mussolini wegen der breiten Ablehnung in der italienischen Bevölkerung. Die gewaltsame Beschlagnahme durch ein SS-Kommando während des Krieges scheiterte, weil man den Codex, in einer Holzkiste versteckt, nicht fand. In der Nachkriegszeit erlitt die Handschrift in einer Florentiner Bank einen Wasserschaden. Wieder leidlich restauriert erwarb sie der italienische Staat. Sie befindet sich heute im Bestand der Nationalbibliothek in Rom. Gleich zu Beginn seines Erstlingswerkes Agricola erklärt Tacitus, warum er erst vergleichsweise spät zu publizieren beginnt. Er lässt keinen Zweifel daran, dass es Gründe gab, die ihn in der Regierungszeit Domitians davon abgehalten hatten, denn Domitian habe Bücher verbrennen und Philosophen vertreiben lassen. Tacitus schreibt:
»Nicht nur gegen die Autoren, sondern auch gegen ihre Bücher habe man gewütet; denn den Triumvirn wurde der Henkersdienst übertragen, diese Denkmäler erlauchtester Geister auf Comitium und Forum zu verbrennen. Natürlich, mit diesem Feuer glaubte man die Stimme des römischen Volkes, den Freimut des Senates und das Gewissen des Menschengeschlechtes auszulöschen, wobei obendrein Professoren der Philosophie vertrieben und damit alle edle Bildung in die Verbannung gejagt wurde, auf dass nirgendwo noch das Sittlichgute begegne. Wir haben in der Tat einen großartigen Beweis unserer Fügsamkeit gegeben; und wie die alte Zeit ein Höchstmaß an Freiheit sah, so wir an Knechtschaft, wobei uns durch Bespitzelung jede Art des Meinungsaustauschs genommen war. Ja, selbst die Erinnerung hätten wir zusammen mit der Sprache verloren, wenn es ebenso in unserer Macht stünde, zu vergessen wie zu schweigen.«20
Mit Nerva und Trajan jedoch, die es geschafft hätten, Prinzipat und Freiheit zu vereinen, seien Geist und Lebensmut endlich zurückgekehrt:
»Jetzt endlich kehrt der Lebensmut zurück; aber obwohl Kaiser Nerva gleich beim Anbruch des beglückendsten Zeitalters Prinzipat und Freiheit, zwei einst unvereinbare Dinge, miteinander verbunden hat, und obwohl Trajanus täglich das Glück der Zeiten mehrt und die friedliche Sicherheit des Staates nicht nur als Hoffnung und Wunschbild vorschwebt, sondern die feste Zuversicht auf Erfüllung eben dieses Wünschens gewonnen hat, so liegt es doch in der Natur menschlicher Schwäche, dass die Heilmittel langsamer wirken als die Leiden«.21
Das Buch Agricola schrieb er zum ehrenvollen Andenken an seinen Schwiegervater Agricola. Es liest sich wie eine verspätete laudatio funebris, weil er bei der Bestattung seines Schwiegervaters verhindert war. Man erfährt, dass Agricola nach seinem Amt als Konsul zunächst als Militärtribun, nach seiner Prätur als Legionskommandant in Britannien tätig war, außerdem einiges über die Bevölkerung Britanniens und die frühen römischen Eroberungszüge. Agricola selbst eroberte das heutige Wales und drang bis in das schottische Hochland vor. Offensichtlich wurde er von Kaiser Domitian abberufen, der ihm seine militärischen Erfolge neidete. Durch Nachstellungen des Tyrannen bedroht und zum Schutz seiner Familie setzte Agricola Domitian als Erbe ein. Tacitus dürften die tatsächlichen Beweggründe bekannt gewesen sein. In seinem späteren Werk Historien ist der Abschnitt über Domitian verloren gegangen. Die negativen Grundzüge des Domitian im Agricola weisen jedoch darauf hin, wie Tacitus den Domitian dort sehr wahrscheinlich dargestellt haben mag. Nach dem Agricola brachte Tacitus die Schrift Germania heraus. Im 15. Jahrhundert wurde diese ethnographische Schrift De situ et moribus Germanorum im Codex Hersfeldensis gefunden. Die Schrift erfuhr in Deutschland eine unvergleichliche Rezeptionsgeschichte, wollte man vor allem in der Renaissance und in der Romantik die Wurzeln der deutschen Nation erforschen. Politische Denker argumentierten mit ihm, wenn sie die verbotenen Lehren von Macchiavelli meinen.22 Die Germania beginnt mit einer groben geographischen Einordnung und der Vermutung, dass die Germanen die eigentlichen Ureinwohner seien. So berichtet Tacitus:
»Ich schließe mich der Meinung derjenigen an, die glauben, Germaniens Völkerschaften seien nicht durch Heiraten mit anderen Völkern zum Schlechten hin beeinflusst und seien deshalb ein eigener, reiner und nur sich selbst ähnlicher Menschenschlag geworden.«23
Das Land beschreibt er als unwirtlich, niemand wolle freiwillig dahin:
»Das Land ist, wenn es auch in seinem Aussehen beträchtliche Unterschiede aufweist, insgesamt aber doch entweder durch seine Wälder grauenerregend oder durch seine Sümpfe grässlich, feuchter, wo es nach Gallien, windiger, wo es nach Noricum und Pannonien hinschaut.«24
Grauenerregende Wälder und grässliche Sümpfe sind danach geradezu der Topos für Germanien. In der nachfolgenden Literatur taucht diese Charakterisierung immer wieder auf. So beispielsweise bei Florus in der Schilderung der Varusschlacht:
»Nichts war blutiger als jene Niederlage in den Sümpfen und Wäldern.«25 Als letzte von drei kleineren Schriften veröffentlicht Tacitus den Dialogus de oratoribus, den Dialog über die Redner. Darin behandelt er, selbst ein großer Redner, die Gründe für den Verfall der römischen Beredsamkeit in seiner Zeit. Der Rhetorik kam in der Antike eine große Bedeutung zu, war doch die Fähigkeit, sich durch die Rede im Senat und vor Gericht auszuzeichnen, ausschlaggebend für die politische Laufbahn. Der Dialogus ist in der Handschriftensammlung Hersfeldensis gemeinsam mit Agricola und Germania überliefert worden. Sein erstes großes Geschichtswerk Historien behandelt die Zeit der flavischen Dynastie vom Tode des Kaisers Nero 68 n. Chr. bis zum Ende des Tyrannen Domitian 96 n. Chr. Das Werk, das er 110
n. Chr. herausgab, bestand vermutlich aus zwölf Büchern. Erhalten sind die ersten vier sowie ein Teil des fünften und sechsten Buches. Er schreibt über diese Epoche:
»Das Werk, das ich beginne, enthält eine Fülle von Unglück, berichtet von blutigen Kämpfen, von Zwietracht und Aufständen, ja sogar von einem grausamen Frieden. Vier Fürsten fielen dem Dolch zum Opfer, drei Bürgerkriege wurden geführt, noch mehr Kriege mit auswärtigen Feinden, beide Arten meistens zu gleicher Zeit.«26
Das eigentliche Problem des ersten nachchristlichen Jahrhunderts lag nicht so sehr in der Persönlichkeit der einzelnen Kaiser als in der Natur des Prinzipats selbst. Die flavischen Kaiser waren nicht erklärbar ohne einen Rückblick auf das julisch-claudische Kaiserhaus. Die Entwicklung dieser unglücklichen Dynastie schien bedingt durch das ihr von Augustus hinterlassene Erbe.27 Deshalb war das letzte realisierte große Vorhaben des Tacitus darauf gerichtet, die Zeit vom Tod des Augustus bis zu dem des Nero in den Annalen zu schildern. Sein Urteil über diese Phase der römischen Geschichte fällt indes überaus negativ aus. So schreibt er:
»Dass sehr vieles von dem, was ich berichtet habe und noch berichten werde, vielleicht unbedeutend und ohne historisches Gewicht erscheinen mag, weiß ich wohl: aber niemand darf meine Annalen mit den Schriften der Männer vergleichen, die die Geschichte der Frühzeit des römischen Volkes dargestellt haben. Jene konnten von gewaltigen Kriegen, der Eroberung von Städten, von geschlagenen und gefangengenommenen Königen oder, wenn sie einmal die inneren Verhältnisse in den Vordergrund treten ließen, von den Auseinandersetzungen der Konsuln mit den Tribunen, von Acker- und Getreidegesetzen, von den Kämpfen der Plebs mit den Optimaten erzählen, unbeschränkt in ihrem Spielraum. Meine Aufgabe ist eng begrenzt und bringt keinen Ruhm; es herrscht ja stetiger oder nur wenig gestörter Friede, traurig waren die Zustände in Rom und der Prinzeps war nicht auf eine Erweiterung des Reiches bedacht. Trotzdem wird es wohl nicht ohne Nutzen sein, jene auf den ersten Blick belanglosen Ereignisse genauer zu betrachten, weil sich aus ihnen oft Anstöße zu bedeutenden Vorgängen entwickeln.«28
»Anstöße zu bedeutenden Vorgängen« –, wie recht er doch hatte, betrachtet man die Entwicklungen in dieser Zeit, so hatte er eigentlich keinen Grund, diese als belanglos darzustellen, wie sich noch zeigen sollte. Die politischen Rahmenbedingungen für die Vertretung des Volkes, den Senat und den Prinzipat hatten sich zwischenzeitlich erheblich gewandelt. Augustus, nach seinem Sieg über Antonius nunmehr Alleinherrscher, verzichtete – wohl auch im Hinblick auf das Schicksal Julius Caesars – zum Schein auf seine Machtstellung, indem er diese im Jahr 27 v. Chr. an den Senat zurückgab, um sie sogleich feierlich als primus inter pares wieder zu empfangen. Nach außen schien die republikanische Ordnung wiederhergestellt, langfristig verlor der Senat jedoch seinen Einfluss auf politische Initiativen. Unter seinen Nachfolgern von Tiberius bis Nero entwickelte sich die Staatsform zur Diktatur, letztlich sogar mit sakraler Überhöhung. Die Senatorenschaft, nunmehr ohne Macht und Verantwortung, wurde von Caligula noch gedemütigt, indem er sein Pferd zum Konsul machen wollte,29
»eine Zusage, die er gewiss eingelöst hätte, wenn er noch länger am Leben geblieben wäre, hatte er doch schon sich selbst zu seinem eigenen Priester geweiht und sein Pferd zum Mitpriester ernannt«.30
Der Prinzeps allein beschloss die Aufnahme neuer Mitglieder in den Senat. Über die wichtigsten politischen Fragen wurde in der nachfolgenden Phase nicht mehr dort, sondern im consilium principis, einem handverlesenen Kreis von Senatoren und Nichtsenatoren, beraten. Auch der Aufbau einer leistungsfähigen Verwaltung stand in Konkurrenz zu den angestammten Kompetenzen der traditionsreichen Ältestenversammlung. Er brachte neue Bevölkerungsschichten nach oben: neben den Rittern – begüterten Bürgern, die sich zu ihrer Bewaffnung zusätzlich ein Pferd leisteten – auch Freigelassene, die bald einen größeren Anteil an den neuen, kaisernahen Funktionseliten stellten. Die Veränderung der alten Ordnung setzte sich auch in den Folgejahren fort. Tacitus beurteilt diese Epoche in den Historien in ähnlicher Weise:
»Über die achthundertzwanzig Jahre der vorausgegangenen Epoche seit der Gründung der Stadt Rom haben ja viele Schriftsteller berichtet, und zwar mit gleicher Beredsamkeit und Freimütigkeit, wenigstens solange es sich bei ihrer Darstellung um die Geschichte des römischen Volkes gehandelt hat. Seit es nach der Schlacht von Actium [31 v. Chr.] im Interesse des Friedens lag, die gesamte Macht in die Hände eines einzigen Mannes [Augustus] zu legen, verschwanden jene bedeutenden Talente. Zugleich wurde die Wahrheit auf mehrfache Weise erschüttert, zuerst durch den Mangel an Verständnis für das Gemeinwesen, dem man fremd gegenüberstand, sodann durch die ungehemmte Hingabe an Schmeichelei oder wiederum durch den Hass gegen die Machthaber. So wirkten hier feindselige Einstellung, dort Unterwürfigkeit, und man kümmerte sich auf beiden Seiten nicht um die Nachwelt.«31
Erfahrene Senatoren wie Tacitus, der selbst den traditionellen cursus honorum bis zum Konsulat durchlaufen hatte, ließen sich von den allfälligen Ehrenbezeugungen der Kaiser und ihren Verbeugungen vor dem Senat nicht darüber täuschen, dass diese res publica nicht mehr der Staat der Vorfahren war und die republikanische libertas im politischen Prozess der Vergangenheit angehörte. Unter den meisten Kaisern war es gefährlich, eine kritische Meinung zu äußern, auch wenn es zumindest in der Anfangszeit noch aufrechte Republikaner gab. Aber die Majestätsprozesse wurden unter Tiberius zur Gewohnheit und häuften sich unter Nero und Domitian. Das Klima war durch die Aktivität der delatores, der Anschwärzer, vergiftet, die nicht nur sich selbst, sondern durch die anschließenden Konfiskationen auch die Staatskasse bereicherten. Es gab keine innenpolitischen Auseinandersetzungen mehr, das Volk wurde durch die Getreide- und Geldspenden, Großbauten, Triumphzüge, Festveranstaltungen, die sogenannten Brot und Spiele, ruhiggestellt und war dafür im Gleichklang mit der offiziellen Meinung. Es herrschte, so Tacitus, stetiger oder nur gering gestörter Friede. Eine Epoche, wie er schreibt, »vielleicht unbedeutend und ohne historisches Gewicht«. Dennoch ist diese Epoche eine der folgenreichsten in der Geschichte des Abendlandes. Was damals geschah, wirkt heute noch nach, wenn man das auch in einer Gesellschaft, die ihr Geschichtsbewusstsein verkümmern lässt, nicht immer wahrhaben will.32 Die seit der Gründung Roms stetige Ausdehnung des Römischen Reiches brachte es mit sich, dass mit den eroberten Völkern unterschiedliche Ethnien aufgenommen wurden, die das Bürgerrecht erhielten. Damals bestand schon im Völkergemisch des hellenistischen und spätrepublikanischen Mittelmeerraumes eine Zunahme von Masseneinwanderung, Integrationsproblematik und Fremdenfeindlichkeit. Als dann noch spätestens seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. der Zustrom von Einwanderern aus den Provinzen begann, war für viele Römer das Maß voll. Die ethnische Zusammensetzung der Stadt wie der gesamten Apenninenhalbinsel veränderte sich immer mehr durch den massiven Zustrom von Sklaven aus den Randgebieten des Imperiums, Kriegsgefangenen, Kaufleuten oder sonstigen Immigranten, die in Rom ihr Glück suchten. All dies rief fremdenfeindliche Klagen zahlreicher Einheimischer hervor. Es gab vereinzelte und vorübergehende Versuche, den Zustrom zu begrenzen. So berichtet Cassius Dio:
»Inzwischen wurden sämtliche Fremde, die sich in Rom aufhielten, mit Ausnahme der Einwohner des heutigen Italien auf Antrag eines Volkstribunen namens Gaius Papius aus der Stadt ausgewiesen. Als Grund wurde angegeben, dass sie zu zahlreich und nicht geeignet seien, um mit den Bürgern zusammenzuleben.«33
Doch fanden sich immer wieder auch Verteidiger des Multikulturalismus, die die Gesetze zur Unterbindung weiterer Einwanderung kritisierten und die Bedeutung der Toleranz und Humanität beschworen. Sklaven, die in der Regel nicht römischer Herkunft waren, wurden, wenn sie von ihren Besitzern freigelassen wurden, zugleich römische Vollbürger, das wurde bald eine zusäzliche Gefahr für Rom. Selbst Augustus riet in seinem Testament dem Nachfolger Tiberius, die Sklavenfreilassungen soweit wie möglich einzudämmen, um den Zusammenhalt der Bürger zu sichern:
»Das vierte Buch endlich befasste sich mit Aufträgen und Anweisungen für Tiberius und den Staat. Unter anderem fand sich dort auch die dringende Mahnung, nicht zu vielen Sklaven die Freiheit zu schenken und so die Stadt mit einer bunten Menschenmenge anzufüllen. Sie sollten auch keine große Zahl von Bewerbern in die Bürgerlisten aufnehmen, damit ein deutlicher Unterschied zwischen ihnen und den untertänigen Völkerschaften bestehen bleibe.«34
Traditionelle Werte gingen durch die zunehmende multikulturelle Vermischung verloren. Dazu kamen eine sinkende Geburtenrate innerhalb der Vollbürgerschaft, der Zerfall des politisch-gesellschaftlichen Zusammenhalts zwischen Volk und Führung und schließlich die weitgehend selbstverschuldete Abdankung des senatorischen Adels. Dieser verstand es immer weniger, sich nachhaltig gegen das Machtstreben einzelner imperialer Politiker zur Wehr zu setzen.35
Tacitus schreibt über die damalige demographische Situation:
»Im selben Sommer wurden die in Italien ausgestreuten Keime eines Sklavenaufstandes durch einen Zufall erstickt. [...] Vom Kaiser wurde eiligst der Tribun Staius mit einer starken Mannschaft geschickt; er brachte den Anführer selbst und die nach ihm Verwegensten mit Gewalt in die Stadt, die schon in Unruhe war wegen des Umfangs der Sklavenhaufen, der ins Ungeheure wuchs, während sich die freigeborene Bevölkerung täglich verminderte«.36
Die Zunahme der römischen Bevölkerung durch Sklaven, einhergehend mit dem Sinken der eigenen Geburtenrate, ist nur das eine Problem. Weil das Reich nach der langen Phase der Bürgerkriege prosperierte und eine kulturelle Hochblüte erlebte, kam es, angelockt durch den Wohlstand jenseits der Grenze, immer wieder zu Germaneneinfällen, die nur mit Mühe abzuwehren waren. Auch der Versuch, durch Einbürgerung den Druck auf die Grenzen zu mindern, half nur zeitweise. Daher ordnete Augustus aus Sicherheitsgründen die Eroberung Germaniens und die Verlegung der Reichsgrenze an die Elbe an. Dies schien unter seinem leiblichen Sohn Drusus37 bereits geglückt, und germanische Stämme waren in Verträge mit Rom eingebunden. Doch Unglücksfälle vereitelten die Erfüllung dieses Plans. Zunächst der unerwartete Tod von Drusus im Jahre 9 v.Chr., dann die Vernichtung des Varus und seiner drei Legionen im Teutoburger Wald im Jahre 9 n. Chr.
Leider beginnen die Annalen erst mit dem Tod des Augustus, dann beschreibt Tacitus die Meuterei der Rheinarmeen, den Kriegszug gegen die Marser und Chatten im Jahre 14 n. Chr. und den Zug des Germanicus (15 n. Chr.) zum Schlachtort und berichtet über das Auffinden der Leichen »mitten auf dem Feld«. Da sich aus diesen Kapiteln jedoch weitreichende Rückschlüsse auf den Verlauf und den Ort der Schlacht ziehen lassen, werden diese Kapitel hier anschließend zusammenhängend zitiert.
»Damit der Krieg nicht mit aller Kraft losbreche, schickt er [Germanicus] Caecina mit vierzig römischen Kohorten, um die Feindesmacht zu spalten, durchs Bruktererland bis an die Amisia; der Präfekt Pedo führt die Reiterei durchs Gebiet der Friesen. Er selbst schiffte die vier Legionen ein und fuhr über die Seen; gleichzeitig trafen dann Fußvolk, Reiterei und Flotte bei dem genannten Fluss ein. Die Chauken wurden, da sie Hilfe versprachen, in die Heeresgemeinschaft aufgenommen. Die Brukterer, die ihr eigenes Land verheerten, schlug L. Stertinius mit seinen leichten Truppen in Germanicus‘ Auftrag in die Flucht; beim Morden und Plündern fand er den Adler der 19. Legion wieder, der mit Varus verlorengegangen war. Weiterhin wurde der Heereszug bis in die entlegensten Teile des Bruktererlandes geleitet und alles Land zwischen Amisia und Lupia verwüstet, nicht fern vom Teutoburger Wald, in dem, wie es hieß, die Reste der Legionen und ihres Führers Varus noch unbestattet lagen. So ergreift denn den Caesar die Sehnsucht, den Kriegern und ihrem Führer die letzten Ehren zu erweisen; [...] Caecina wurde vorausgeschickt, um die verborgenen Waldschluchten zu durchforschen und Brücken sowie Dämme über die feuchten Sümpfe und trügerischen Moorwiesen zu bauen. Dann betreten sie die Stätte der Trauer, für den Anblick wie für die Erinnerung grauenvoll. Das erste Lager des Varus zeigte durch seinen weiten Umfang und die Absteckung des Feldherrnplatzes, dass drei Legionen daran gearbeitet hatten. Weiterhin erkannte man an dem halbverfallenen Wall und flachen Graben, dass sich dort die schon zusammengeschmolzenen Reste gelagert hatten. Mitten auf dem Feld lagen bleichende Knochen, bald zerstreut, bald haufenweise, je nachdem die Soldaten geflohen waren oder Widerstand geleistet hatten. Daneben fanden sich zerbrochene Waffen und Pferdegerippe, auch vorn an den Bäumen befestigte Menschenschädel. In den benachbarten Hainen standen die Altäre der Barbaren, an denen sie die Tribunen und Centurionen ersten Ranges geschlachtet hatten. Soldaten, die diese Niederlage überlebt hatten und der Schlacht oder der Gefangenschaft entronnen waren, erzählten, hier seien die Legaten gefallen, dort die Adler geraubt worden; sie berichteten, wo Varus seine erste Wunde erhalten, wo der Unselige durch eigene Hand den Tod gefunden, von welcher Erhöhung aus Arminius zum versammelten Heer gesprochen habe, wie viel Galgen, was für Martergruben für die Gefangenen hergerichtet wurden und wie er in seinem Übermut mit den römischen Feldzeichen und Adlern seinen Spott getrieben habe. So bestattete das anwesende Römerheer im sechsten Jahr nach der Niederlage die Gebeine der drei Legionen, ohne dass jemand unterscheiden konnte, ob er fremde Reste oder die seiner Angehörigen mit Erde bedeckte. Man setzte alle wie Freunde, wie Blutsverwandte bei, mitwachsender Erbitterung gegen die Feinde, Trauer und Hass im Herzen«.38
Nach wiederholtem Lesen dieses Berichtes und dem intensiven Studium der Mitteilungen über die Züge des Germanicus in den Jahren 14 – 16 n. Chr. kann sich der Meinung Ritter-Schaumburgs angeschlossen werden, der bestätigt, »wie genau dieser sorgfältige, mit vielen Quellen bestens vertraute Schriftsteller diesen einmaligen Vorgang mit Angabe der Örtlichkeiten geschildert hat.«39 Spricht man jedoch mit manchen Archäologen oder Historikern, so lässt sich feststellen, dass diese die verschiedenen Quellen nur ungenau oder gar nicht mehr kennen und vor allem den Tacitus als unzuverlässig abqualifizieren, indem sie vornehmlich auf Tacitus’ Annalen I/70 hinweisen.
Abb. 2:
Siedlungsgebiete der germanischen Stammesverbände in der Zeit von 12 v. bis 16 n. Chr.
(Die Sugambrer siedelten zwischen Lippe und Ruhr, die Brukterer an der oberen Ems und im Münsterland, die Chatten an der oberen Lahn, an Fulda und Werra, die Marser an der Diemel, die Cherusker zwischen Teutoburger Wald und Weser, die Tubanten zwischen Wupper und Sieg, die Angrivarier zwischen Hunte und Weser, die Tencterer an Main und Rhein, die Ubier im Raum Köln, die Treverer in der Eifel, die Usipeter oberhalb der Lippemündung am Rhein, die Bataver im Mündungsgebiet des Rheins, die Friesen im östlichen Gelderland bis zur Ems und die Chauken zwischen Ems und Weser.)
Sie unterstellen damit dem römischen Schriftsteller, Historiker und hohen römischen Beamten Tacitus, dass er hier die Ems mit der Weser verwechselt habe. Außerdem werfen sie ihm vor, dass er beim Bericht über die Landung der Flotte im Jahre 16 n. Chr. an der Emsmündung das linke mit dem rechten Emsufer vertauscht habe:
»Die Flotte ließ er am linken Ufer der Amisiamündung zurück und beging dabei den Fehler, das Heer, das doch in die rechts gelegenen Gebiete einmarschieren sollte, nicht weiter aufwärts fahren zulassen«;40
Als weiteres Paradebeispiel für seine ungenaue Berichterstattung führen die Kritiker das Ende desselben Kapitels an, in dem er schreibt:
»Als Germanicus nun das Lager abstecken lässt, erhält er die Nachricht, die Angrivarier seien in seinem Rücken abgefallen.«41
Auch das könne nicht stimmen, behaupten sie, denn Germanicus befand sich damals an der Emsmündung, und die Angrivarier siedelten südlich dieser Landungsstelle. Ihr Stammesgebiet könne sich deswegen zu diesem Zeitpunkt auf keinen Fall in seinem Rücken befunden haben. Weil aber der Bericht des Tacitus an diesen wesentlichen Stellen für jeden nachprüfbar falsch sei, unterstellen sie, dass einem Geschichtswerk, das solch eklatante Fehler enthalte, nicht zu trauen sei und man deswegen alle weiteren von diesem Autor darin gemachten Aussagen über die Römische Kaiserzeit in Zweifel ziehen müsse.
3. Velleius Paterculus (*20 v. Chr. in Campanienn † 30 n. Chr.) gehörte einer kampanischen Familie aus dem Ritterstand an. Sein Großvater war Praefectus fabrum unter Tiberius Claudius Nero, sein Vater war ebenfalls Offizier. Er trat in jungen Jahren in die Armee ein und diente unter Vinicius und P. Silius als Militärtribun in Thrakien, Makedonien und Griechenland. Im Jahre 1 v. Chr. diente er unter Gaius Caesar im Osten des Römischen Reiches und wurde als Nachfolger seines Vaters Reiteroberst bei Tiberius. Von ihm wurde er zum Reiterpräfekt ernannt und diente ihm acht Jahre lang in Germanien und Pannonien als legatus