Der Tote am Pranger - Georgette Heyer - E-Book
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Der Tote am Pranger E-Book

Georgette Heyer

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Beschreibung

England, 1935: Der steinreiche Minenbesitzer Arnold Vereker hat eine Menge Feinde. Als er eines Morgens mitten auf dem Dorfplatz gefesselt und erstochen aufgefunden wird, hat die Polizei es daher mit einer ganzen Reihe an Verdächtigen zu tun, allen voran die beiden Halbgeschwister des Ermordeten. Plötzlich taucht auch noch der tot geglaubte Alleinerbe wieder auf. Superintendent Hannasyde hat alle Mühe damit, die Verhältnisse in der zerstrittenen und korrupten Familie Vereker zu entwirren. Welcher der exzentrischen Verwandten hat das Zeug zum Mörder?

Ein klassischer Krimi mit skurrilen Figuren und englischem Charme - jetzt als eBook bei beTHRILLED.



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Seitenzahl: 351

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Über dieses Buch

England, 1935: Der steinreiche Minenbesitzer Arnold Vereker hat eine Begabung dazu, sich Feinde zu machen. Als er eines Morgens mitten auf dem Dorfplatz gefesselt und erstochen aufgefunden wird, hat die Polizei es daher mit einer ganzen Reihe an Verdächtigen zu tun, allen voran die beiden Halbgeschwister des Ermordeten. Plötzlich taucht auch noch der tot geglaubte Alleinerbe wieder auf. Superintendent Hannasyde hat alle Mühe damit, die Verhältnisse in der zerstrittenen und korrupten Familie Vereker zu entwirren. Welcher der exzentrischen Verwandten hat das Zeug zum Mörder?

Über die Autorin

Georgette Heyer, geboren am 16. August 1902, schrieb mit siebzehn Jahren ihren ersten Roman, der zwei Jahre später veröffentlicht wurde. Seit dieser Zeit hat sie eine lange Reihe charmant unterhaltender Bücher verfasst, die weit über die Grenzen Englands hinaus Widerhall fanden. Sie starb am 5. Juli 1974 in London.

Georgette Heyer

Der Tote am Pranger

Aus dem Englischen von Susanna Rademacher

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titel der Originalausgabe: Death in the Stocks

© 1935 by Georgette Heyer, Copyright by Georgette Rougier

Copyright der deutschen Erstausgabe:

© 1976 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer

Covergestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de unter Verwendung von Motiven © iStock: vasabii | Agcuesta

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Ochsenfurt

ISBN 978-3-7325-4326-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Kapitel 1

Mitternacht war vorüber, und die Bewohner der Häuschen, die um den dreieckigen Gemeindeanger herum standen, waren längst schlafen gegangen. Kein Fenster war erleuchtet, aber der Vollmond segelte am saphirblauen Himmel dahin und übergoss das Dorf mit einem fahlen Licht, kalt wie der Schimmer einer stählernen Klinge. Bäume und Häuser warfen groteske, kohlschwarze Schatten; jeder Gegenstand trat im Mondschein scharf und deutlich, aber farblos hervor, und selbst die prosaische Reihe von Benzinpumpen wirkte ein bisschen gespenstisch.

Ein Wagen stand am einen Ende des Angers; aus seinen Scheinwerfern fielen zwei goldene Lichtkegel auf die Straße, und der Motor pochte leise. Die eine Wagentür stand offen. Im Schatten der großen Ulme neben dem Wagen bewegte sich etwas; ein Mann trat ins Mondlicht, blickte erst nach der einen, dann nach der anderen Seite, als fürchtete er, jemanden zu sehen, und nach kurzem Zögern stieg er rasch in den Wagen und wendete ihn, wobei die Gänge ein wenig kreischten. Er warf noch einen Blick auf die Ulme und auf einen in ihrem Schatten nur undeutlich zu erkennenden Gegenstand; dann fuhr er in Richtung London davon. Das Motorengeräusch erstarb langsam in der Ferne; irgendwo in der Nähe bellte ein Wachhund kurz auf, dann war es wieder still.

Während der Mond seine Himmelsbahn weiterwanderte, verkürzte sich der Schatten der Ulme; das unheimliche Licht stahl sich unter das Geäst und beschien bald zwei Füße in Lackschuhen, die in den Fußlöchern eines Blocks steckten. Die Füße bewegten sich nicht, und in dem näher kriechenden Mondlicht wurde eine weiße Hemdbrust sichtbar.

Eine Stunde später fuhr ein Radfahrer um die Straßenkurve vor dem King’s Head. Es war Wachtmeister Dickenson, der von seiner nächtlichen Streife zurückkam. Der Block war jetzt vom Mond hell beleuchtet. Man konnte einen Herrn im Abendanzug darin sitzen sehen, der zu schlafen schien, denn sein Körper war nach vorn zusammengesackt, und der Kopf hing ihm auf die Brust. Wachtmeister Dickenson pfiff beim Fahren leise vor sich hin, aber plötzlich brach er ab, und sein Vorderrad stellte sich quer. Der Block war ein vertrauter Bestandteil des Gemeindeangers von Ashleigh, aber der Wachtmeister konnte sich nicht erinnern, dass schon einmal jemand darin gesessen hätte. Es versetzte ihm einen richtigen Schock. Blau wie ’n Veilchen, dachte er. Sieht so aus, als hätte dir jemand einen Streich gespielt, mein Junge.

Er stieg ab, schob sein Fahrrad auf den Rasen und lehnte es vorsichtig an die Ulme. Die Gestalt auf dem Bänkchen rührte sich nicht. »Heh, Sir, aufwachen!«, sagte der Gendarm freundlich, aber vorwurfsvoll. »Sie können doch hier nicht übernachten!« Er legte die Hand auf die eine schlaffe Schulter und schüttelte sie ein wenig. »Kommen Sie, Sir, zu Hause sind Sie bestimmt besser aufgehoben.« Keine Antwort. Er schüttelte die Schulter etwas energischer und legte dem Mann einen Arm um die Schultern, um ihm aufzuhelfen. Noch immer keine Antwort; nur der Arm, der auf den Knien des Mannes gelegen hatte, rutschte herunter und blieb baumelnd hängen, wobei die schlaffe Hand die Hose des Wachtmeisters streifte. Der Wachtmeister bückte sich und spähte in das gesenkte Gesicht. Er suchte in der Tasche nach seiner Taschenlampe und knipste sie an, und dann trat er ziemlich hastig zurück. Die leblose Gestalt, durch sein Schütteln aus dem Gleichgewicht gebracht, kippte zur Seite, nur die Füße wurden vom Fußblock gehalten. »O Gott!«, flüsterte Dickenson, und sein Mund war mit einem Mal ganz trocken. »O Gott!« Er wollte die Gestalt nicht noch einmal anfassen oder auch nur näher herangehen, denn seine Hände fühlten sich klebrig an, und er hatte noch nie einen Toten gesehen.

Er bückte sich, um die Hand am Gras abzuwischen, und sagte sich, er sei doch ein rechter Waschlappen. Mit etwas stockendem Atem trat er wieder zu der Gestalt, leuchtete sie mit der Taschenlampe ab und berührte ganz vorsichtig die eine schlaffe Hand. Sie war nicht direkt kalt, nicht feuchtkalt, wie es immer in den Büchern heißt, sie war einfach kühl. Er wusste nicht, ob ihm eiskalt nicht lieber gewesen wäre. Diese Lauwärme war irgendwie eklig.

Er riss sich zusammen. Es hatte keinen Zweck, bei der Leiche herumzustehen – er sollte sich lieber schleunigst auf den Weg zur Polizeiwache in Hanborough machen. Er schob sein Fahrrad auf die Straße zurück, stieg wieder auf und fuhr flink zu einem Häuschen mit sauberen Musselinvorhängen am anderen Ende des Angers.

Er schloss auf und ging zum Telefon – vorsichtig, um seine Frau, die im Oberstock schlief, nicht zu wecken. Sonst hätte sie ihn heraufgerufen, und er hätte ihr erzählen müssen, was los war, und das wollte er nicht, denn sie erwartete ihr erstes Kind, und es ging ihr nicht gut.

Während er den Hörer abhob, kamen ihm Zweifel, ob es wirklich richtig gewesen war, einen offenbar Erstochenen mitten im Dorf allein zu lassen. Irgendwie kam es ihm nicht anständig vor.

Der diensttuende Sergeant meldete sich. Es erstaunte Dickenson, wie fest seine eigene Stimme klang, denn er fühlte sich – kein Wunder – wirklich ein bisschen mitgenommen. Er erzählte seine Geschichte, so sachlich er konnte, und der sehr viel weniger phlegmatische Sergeant sagte erst: »Was?«, und dann: »Im Block?«, und schließlich: »Jetzt passen Sie mal auf: Sie sind sich ganz sicher, dass er tot ist?«

Wachtmeister Dickenson war sich ganz sicher, und als er dem Sergeant von dem Blut und der Rückenwunde berichtet hatte, hörte der mit seinen ungläubigen Ausrufen auf und sagte kurz: »Schon gut. Gehen Sie wieder hin und passen Sie auf, dass niemand die Leiche anfasst. Der Inspektor wird in zwei Minuten mit dem Krankenwagen da sein.«

»Halt, Sergeant, einen Augenblick«, sagte der Wachtmeister in dem Bestreben, alle Auskünfte, die er geben konnte, mitzuteilen. »Es ist kein Fremder. Ich konnte ihn identifizieren – es ist Mr. Vereker.«

»Mr. Wer?«, fragte der Sergeant.

»Vereker. Der Herr aus London, der das Riverside Cottage gekauft hat. Sie wissen doch, Sergeant: kommt immer zum Wochenende her.«

»Aha!«, sagte der Sergeant etwas vage. »Also kein Hiesiger.«

»Nein, eigentlich nicht«, gab der Wachtmeister zu. »Aber eines verstehe ich nicht: Wie kommt der Mann dazu, um diese Nachtzeit da im Block zu sitzen? Noch dazu im Abendanzug.«

»Na ja, fahren Sie wieder hin und behalten Sie alles im Auge, bis der Inspektor kommt«, sagte der Sergeant und hängte ein.

Wachtmeister Dickenson hörte den Klick und war etwas bekümmert, denn jetzt, da er Zeit gehabt hatte, sich von seiner Bestürzung zu erholen, fielen ihm mehrere merkwürdige Dinge an diesem Mord auf, über die er gern mit dem Sergeant gesprochen hätte. Aber jetzt konnte er nur tun, was ihm befohlen war, und so hängte er den Hörer an seinen Haken und ging auf Zehenspitzen hinaus zu dem Eisengitter, an das er sein Fahrrad gelehnt hatte.

Als er zu dem Block zurückkam, fand er den Toten in derselben Position wie vorhin. Nichts deutete darauf hin, dass in der Abwesenheit des Wachtmeisters jemand hier gewesen wäre. Nachdem er mit Hilfe seiner Taschenlampe ein Weilchen den Boden abgesucht hatte, weil er irgendetwas, vielleicht eine Fußspur, zu finden hoffte, lehnte er sich an den Baum und bemühte sich, solange der Inspektor noch nicht da war, selbst das Geheimnis zu enträtseln. Nach nicht allzu langer Zeit hörte er in der Ferne einen Wagen, der gleich darauf neben dem Anger hielt; Inspektor Jerrold sprang leichtfüßig heraus, wandte sich um und half einem untersetzten Mann aus dem Wagen, in dem der Wachtmeister den Polizeiarzt Dr. Hawke erkannte.

»Nun?«, fragte der Inspektor lebhaft. »Wo ist die Leiche, Dickenson? Oh! – ah!« Er trat hinzu und leuchtete mit seiner Taschenlampe die leblose Gestalt ab. »Hm! Sieht so aus, als wäre nicht mehr viel für Sie zu tun, Doktor. Richten Sie die Scheinwerfer einmal hierher, Hill. So ist es besser. Saß er so da, als Sie ihn fanden?«

»Nein, Sir, nicht ganz. Er saß aufrecht da – na ja, wenn ich sage, er saß –, er hing irgendwie vornüber, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich dachte, er schliefe. Da er im Abendanzug war und seine Füße so wie jetzt im Block steckten, dachte ich nur, er hätte ein Gläschen zu viel getrunken – und da bin ich hingegangen und hab ihm die Hand auf die Schulter gelegt und ihn ein bisschen geschüttelt, damit er aufwachte. Zweimal hab ich ihn geschüttelt, und dann fiel mir auf, dass er irgendwie merkwürdig aussah, und meine Handfläche fühlte sich so komisch nass und klebrig an, und dann habe ich meine Taschenlampe angeknipst – und da sah ich natürlich, dass er tot ist. Weil ich ihn geschüttelt habe, ist er zur Seite gekippt, wie Sie sehen.«

Der Inspektor nickte, den Blick auf den Arzt gerichtet, der hinter dem Toten kniete. »Sergeant Hamlyn sagt, Sie haben ihn identifiziert. Wer ist er? Sein Gesicht kommt mir nicht bekannt vor.«

»Kann schon sein, Sir. Es ist Mr. Vereker aus dem Riverside Cottage.«

»Ach so!« Der Inspektor schnaufte verächtlich. »Einer von diesen Wochenendleuten. Irgendwas Außergewöhnliches, Doktor?«

»Ich werde natürlich eine Obduktion machen müssen«, brummte der Arzt, sich etwas schwerfällig von den Knien erhebend. »Aber es sieht wie ein ganz unkomplizierter Fall aus. Stichwunde ein Stückchen unter dem linken Schulterblatt. Der Tod ist wahrscheinlich sofort eingetreten.«

Der Inspektor sah ihm ein Weilchen bei seiner Arbeit an der Leiche zu und fragte dann: »Haben Sie sich eine Meinung über den Zeitpunkt der Tat gebildet, Sir?«

»Sagen wir, vor zwei bis vier Stunden«, erwiderte der Arzt und richtete sich auf. »Das wäre im Augenblick alles, danke.«

Der Inspektor wandte sich zu Dickenson. »Wissen Sie noch, wie der Tote gesessen hat, als Sie ihn fanden?«

»Ja, Sir.«

»Gut. Setzen Sie ihn möglichst wieder genauso hin. Fertig mit dem Blitzlicht, Thompson?«

Wachtmeister Dickenson fand die ihm übertragene Aufgabe nicht sehr verlockend, aber er ging sofort zu der Leiche, setzte sie so hin, wie sie ursprünglich gesessen hatte, und legte sorgfältig den einen Arm über die erstarrenden Beine. Der Inspektor sah ihm schweigend zu, und als Dickenson schließlich zurücktrat, gab er dem Fotografen ein Zeichen.

Als der Fotograf seine Arbeit beendet hatte, war der Krankenwagen von der Polizei angekommen. Der Inspektor sagte barsch: »Gut. Sie können ihn jetzt herausnehmen. Vorsicht beim Anfassen der Querstange! Vielleicht finden wir da einen Fingerabdruck.«

Die Querstange des Blocks wurde hochgeklappt und die Leiche herausgenommen und zum Krankenwagen getragen.

»Wie ich dieses Dorf kenne, wird sich binnen zehn Minuten hier ein ganzer Haufen Wichtigtuer angesammelt haben«, sagte der Inspektor mit einem grimmigen Lächeln. »Also los, Leute: zur Leichenhalle. Nun zu Ihnen, Dickenson: lassen Sie hören, was Sie zu erzählen haben. Wann haben Sie die Leiche entdeckt?«

»Nach meiner Schätzung, Sir, muss es ungefähr zehn vor zwei gewesen sein. Es ging gerade auf zwei, als ich die Wache anrief; ich war nämlich auf Streife gewesen.«

»Sie haben hier niemand gesehen? Keinen Wagen? Nichts gehört?«

»Nein, Sir, nichts.«

»Hat der Mann – wie hieß er noch – dieser Vereker ständig im Riverside Cottage gewohnt?«

»Meines Wissens nicht, Sir, wenigstens im Allgemeinen nicht, ich meine in der Woche. Aber heute ist ja Samstag, und da hab ich mir gedacht, dass er vielleicht auf dem Weg zum Cottage gewesen ist. Mrs. Beaton wird’s wissen, ob er da war. Dann kriegt sie nämlich immer ihre Anweisungen, dass sie hingehen und alles für ihn in Ordnung bringen soll.«

»Wohnt sie nicht im Cottage?«

»Nein, Sir. Sie wohnt in der Pennyfarthing Row, ein paar Minuten vom Cottage. Sie macht im Haus sauber und holt Milch und Eier und so, wenn er herkommt. Er kommt samstags oft spät heraus, sagt sie. Manchmal bringt er seinen Diener mit, der macht dann alles für ihn, aber ebenso oft kommt er allein.« Er stockte einen Moment und berichtigte sich: »Wenn ich sage allein, dann meine ich, dass er oft keinen Diener mitbringt.«

»Und was meinen Sie wirklich?«, erkundigte sich der Arzt.

»Na ja, Sir, manchmal bringt er Freunde mit.« Er hüstelte. »Meistens Damen, hab ich gehört.«

»Seine Frau? Seine Schwester?«, unterbrach ihn der Inspektor.

»O nein, Sir! Die nicht«, erwiderte der Wachtmeister etwas schockiert.

»Ach so, diese Art Damen!«, sagte der Inspektor. »Am besten fahren wir morgen früh gleich zum Riverside Cottage und sehen, ob wir dort irgendwas finden. Hier ist jedenfalls nichts. Der Boden ist zu trocken für Fußspuren. Wir können aufbrechen, wenn Sie fertig sind, Doktor. Reichen Sie Ihren Bericht morgen ein, Dickenson, ja? Jetzt können Sie schlafen gehen.« Er ging mit dem Arzt zum Wagen hinüber. Wachtmeister Dickenson hörte ihn in seinem trockenen Ton sagen: »Sieht mir wie ein Fall für den Yard aus. Einer aus London. Hat nichts mit uns zu tun. Übrigens ein netter leichter Fall – wenn sie die Frau erwischen.«

»Richtig«, stimmte der Arzt zu, ein Gähnen unterdrückend. »Wenn er eine Frau bei sich hatte.«

Kapitel 2

Inspektor Jerrold machte dem Polizeidirektor am nächsten Morgen in aller Frühe einen Besuch und fand ihn beim Frühstück. Er entschuldigte sich für die Störung, aber der Oberst deutete nur auf einen Stuhl und sagte: »Macht nichts. Was haben Sie denn für Sorgen? Was Ernstes?«

»Ziemlich ernst, Sir. Auf dem Anger von Ashleigh heute früh ein Uhr fünfzig ein Leichenfund – offenbar erstochen.«

»Großer Gott! Das kann doch nicht wahr sein! Wer ist es denn?«

»Ein Herr namens Arnold Vereker, Sir, Riverside Cottage.«

»Gott bewahre!«, rief der Oberst, seine Kaffeetasse absetzend. »Und wer ist der Täter? Irgendeine Ahnung?«

»Nein, Sir, nicht die geringste. Bisher keinerlei Hinweis. Die Leiche wurde von Wachtmeister Dickenson aufgefunden – im ‹Block›.«

»Im was?«

»Klingt komisch, Sir, nicht wahr? Aber so war es.«

»Meinen Sie, jemand hat ihn in den Block gesetzt und dann erstochen, oder was?«

»Es ist schwer zu sagen, Sir. Keine starke Blutung, wissen Sie – nichts auf der Erde. Vielleicht ist er schon vorher erstochen worden, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum jemand sich die Mühe machen sollte, die Leiche in den Block zu setzen. Er war im Abendanzug, ohne Hut und Mantel, und das einzige, was uns vielleicht ein bisschen weiterbringen könnte, sind seine Hände, die waren nämlich schmutzig. An der einen war Motoröl, daraus könnte man schließen, dass er eine Reifenpanne oder sonst eine Reparatur am Wagen hatte. Aber sein Wagen ist nicht da, auch nicht in der Garage. Natürlich kann er vom Riverside Cottage zu Fuß ins Dorf gegangen sein – es sind keine zwei Kilometer –, aber das wäre doch komisch, so mitten in der Nacht. Der Arzt sagte, es kann nicht vor zwölf passiert sein. Nein, es sieht so aus, als wäre er mit jemand fürs Wochenende rausgefahren. Ich hab mir gedacht, Sir, wenn ich Sie gesprochen habe, sollte ich gleich zum Riverside Cottage fahren, um festzustellen, ob er da übernachtet hat oder ob er gestern Abend dort erwartet wurde. War anscheinend ein Herr mit etwas unregelmäßigen Gewohnheiten.«

»Ja, vermutlich«, sagte der Oberst. »Hab ihn selber nicht gekannt, aber man hört so allerlei. Ein Geschäftsmann, hatte mit Bergbau zu tun, hab ich gehört. Ich glaube kaum, dass es ein sehr ergiebiger Fall für uns ist, Inspektor. Wie denken Sie darüber?«

»Na ja, Sir, ähnlich wie Sie. Natürlich kann man nicht wissen, ob es nicht doch eine lokale Angelegenheit ist, aber auf den ersten Blick sieht es nicht so aus. Ich habe in Ashleigh Green einen Mann beauftragt, Erkundigungen einzuziehen, aber ich erwarte nicht, dass viel dabei herauskommt. Sie wissen, wie es draußen auf dem Lande ist, Sir. Die Leute gehen früh zu Bett, und wenn nicht irgendein Geräusch sie geweckt hat, etwa von einem Wagen – vorausgesetzt, dass ein Wagen da war –, würde wahrscheinlich niemand aufwachen – oder, wenn er wach wäre, darauf achten. Der Arzt meint, der Tod müsste so gut wie sofort eingetreten sein. Nichts deutet auf einen Kampf. Wie Dickenson mir sagt, hatte dieser Mr. Vereker die Gewohnheit, zum Wochenende Freunde aus der Stadt mitzubringen. Was wir brauchen ist sein Wagen. Der könnte uns auf eine Spur bringen. Wie ich die Sache ansehe, Sir, werden wir sie auf alle Fälle zur Information an den Yard weitergeben müssen.«

»Sehr richtig. Der Fall betrifft uns überhaupt nicht. Trotzdem sollten Sie jedenfalls zu dem erwähnten Cottage fahren und sehen, ob Sie was herauskriegen können. Hat er dort irgendwelche Dienstboten?«

»Nein, Sir. Eine Frau namens Beaton, die das Haus in Ordnung hält, soviel ich verstanden habe, aber sie wohnt anderswo. Ich werde sie natürlich aufsuchen, aber ich rechne nicht damit, im Cottage jemand anzutreffen. Ziemlich unwahrscheinlich. Aber vielleicht kann ich etwas erfahren.«

Der Inspektor befand sich im Irrtum. Als er und Wachtmeister Dickenson eine halbe Stunde später vor dem Riverside Cottage aus dem Polizeiwagen stiegen, bemerkten sie unverkennbare Anzeichen dafür, dass das Haus bewohnt war. Beim Geräusch des vorfahrenden Wagens begann im Haus ein Hund zu bellen, und der Wachtmeister sagte sofort: »Das ist komisch. Mr. Vereker hat meines Wissens hier nie einen Hund gehabt.«

Während der Inspektor auf die elektrische Klingel drückte, bemerkte er: »Vielleicht hat die Putzfrau einen. Wer kümmert sich denn um den Garten und die elektrische Anlage?«

»Der junge Beaton, Sir. Er kommt zweimal die Woche her. Aber der würde seinen Hund nicht mitbringen, bestimmt nicht ins Haus. Da ist jemand drin. Ich höre ihn herumgehen.«

Der Inspektor klingelte noch einmal und wollte es zum dritten Mal tun, als die Tür von einem Mädchen geöffnet wurde. Sie hatte einen kupferroten Lockenkopf und sehr große und blanke dunkle Augen, trug einen Herren-Morgenmantel aus kostspielig aussehendem Brokat, der ihr viel zu weit war, und hatte im Augenblick hauptsächlich damit zu tun, einen mächtigen Bullterrier zu bändigen, der den Besuchern nicht sehr gewogen zu sein schien.

»Ruhig, du Idiot!«, befahl das Mädchen. »Bei Fuß! – Was wollen Sie, wenn ich fragen darf?«, fragte sie sichtlich verwundert den Inspektor.

»Inspektor Jerrold, Miss, aus Hanborough«, stellte der Beamte sich vor. »Wenn es Ihnen passt, würde ich Sie gern einen Augenblick sprechen.«

Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Ich weiß nicht, worüber Sie mich sprechen wollen, aber kommen Sie rein, wenn Sie wollen. Zurück, Bill!«

Die beiden Männer folgten ihr in eine modernistisch eingerichtete quadratische Diele; ein kubistisch gemusterter Teppich, eine Anzahl Stahlrohrsessel und ein niedriger Tisch aus geräucherter Eiche. Das Mädchen bemerkte den Blick, mit dem Wachtmeister Dickenson die Einrichtung überflog, und sagte mit einem flackernden Lächeln: »Sie brauchen nicht zu glauben, dass das von mir stammt.« Der Wachtmeister sah sie unwillkürlich erschrocken an. »Kommen Sie lieber in die Küche. Ich bin noch nicht fertig mit dem Frühstück. Außerdem ist es dort gemütlicher.« Sie schlenderte ihnen voraus durch eine Tür am Ende der Diele in eine freundliche Küche mit Fliesenboden, einem gemütlichen Küchenschrank und einem aus Eiern, Toast und Kaffee bestehenden Frühstück auf einem langen Tisch. Ein elektrischer Herd stand am einen Ende des Raums, und ein elektrisches Heizöfchen war mittels eines langen Kabels an die Lichtleitung angeschlossen und eingeschaltet, um einen Leinenrock zu trocknen, der über einem Stuhl hing. Der Inspektor blieb auf der Schwelle stehen und musterte die Küche mit einem flinken, geschulten Blick, der einen Augenblick auf dem feuchten Rock ruhte und dann weiter zu dem Mädchen wanderte. Sie ging um den Tisch, nahm beiläufig im Vorübergehen eine angebissene Scheibe gebutterten Toast von ihrem Teller und zog einen Stuhl heran. »Wollen Sie sich nicht setzen? Ich warne Sie, ich mache keine Aussage, solange ich nicht mit meinem Rechtsanwalt gesprochen habe.« Sie blickte auf und hob die Augenbrauen. »War Spaß«, erklärte sie.

Der Inspektor lächelte höflich. »Ja, Miss, natürlich. Darf ich fragen, ob Sie hier wohnen?«

»Guter Gott, nein!«

Der Inspektor blickte auf den brokatenen Morgenmantel und sah sie fragend an.

»Sehr richtig, ich habe hier übernachtet«, sagte das Mädchen kühl. »Möchten Sie sonst noch was wissen?«

»Sind Sie mit Mr. Vereker hergekommen, Miss?«

»Nein. Ich habe Mr. Vereker nicht gesehen.«

»Wirklich, Miss? Hat er Sie nicht erwartet?«

In die schönen Augen des Mädchens kam ein harter Glanz. »Na ja, alles war sehr nett vorbereitet, aber nicht für mich, nein, das glaube ich nicht. Aber was zum Teufel hat das –« sie brach ab und lachte plötzlich. »Oh, ich verstehe! Leider muss ich Sie enttäuschen, aber ich bin kein Einbrecher – wenn ich auch durchs Fenster eingestiegen bin. Der Morgenrock ist nur geborgt, bis mein Rock trocken ist.«

Der Inspektor wandte seinen Blick dem erwähnten Rock zu. »Ich verstehe vollkommen, Miss. Muss ein hässlicher Fleck gewesen sein, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«

»Blut«, sagte das Mädchen zwischen zwei Schlucken Kaffee.

Wachtmeister Dickenson blieb einen Augenblick die Luft weg.

»Blut?«, fragte der Inspektor ausdruckslos.

Das Mädchen setzte die Tasse ab und erwiderte seinen Blick mit kriegerisch funkelnden Augen. »Was wollen Sie eigentlich von mir?«, fragte sie.

»Ich würde gern wissen, wie das Blut auf Ihren Rock kommt, Miss«, sagte der Inspektor.

»Ja? Nun, ich würde gern wissen, welches Recht Sie haben, mich das – oder sonst was – zu fragen. Nur weiter! Worauf wollen Sie hinaus?«

Der Inspektor zog sein Notizbuch. »Kein Grund, beleidigt zu sein, Miss. Wir haben heute Nacht hier draußen einen kleinen Unfall gehabt, und ich brauche ein paar Auskünfte. Darf ich um Ihren Namen und Adresse bitten?«

»Warum?«, fragte das Mädchen.

Eine gewisse Schärfe kam in die Stimme des Inspektors. »Entschuldigen Sie, Miss, aber Ihr Verhalten ist etwas töricht. Es ist ein Unfall passiert, der mit diesem Haus zusammenhängt, und es ist meine Pflicht, mich so gründlich wie möglich darüber zu informieren.«

»Na ja, aus mir werden Sie wohl nicht viel rauskriegen«, bemerkte das Mädchen. »Ich weiß nichts. Ich heiße Antonia Vereker. Adresse Chelsea, Grayling Street 3. Was ist denn eigentlich los?«

Der Inspektor hatte rasch von seinem Notizbuch aufgeblickt. »Eine Verwandte von Mr. Arnold Vereker?«, fragte er.

»Halbschwester.«

Der Inspektor senkte den Blick wieder auf sein Buch und schrieb Namen und Adresse sorgfältig auf. »Und Sie sagen, Sie haben Mr. Vereker nicht gesehen, seit Sie hier draußen sind?«

»Ich hab ihn monatelang nicht gesehen.«

»Seit wann sind Sie hier, Miss?«

»Seit gestern Abend. Um sieben rum.«

»Sind Sie extra hergekommen, um Ihren Bruder zu besuchen?«

»Halbbruder. Natürlich. Aber ich habe ihn nicht gesehen. Er ist gar nicht aufgetaucht.«

»Sie haben ihn also erwartet.«

»Hören Sie mal!«, sagte Antonia nachdrücklich. »Glauben Sie, ich wäre sechzig Kilometer hier heraus gefahren, wenn ich ihn nicht erwartet hätte?«

»Nein, Miss. Aber Sie haben vor zwei Minuten gesagt, dass Mr. Vereker Sie nicht erwartet hat. Ich habe mir nur überlegt, wieso Sie, wenn er Sie nicht erwartete und Sie ihn monatelang nicht gesehen haben, so sicher waren, ihn hier anzutreffen, dass Sie den weiten Weg gekommen sind?«

»Ich war nicht sicher. Aber ich kenne seine Gewohnheiten. Eine davon ist, dass er zum Wochenende hierherfährt.«

»Ich darf also annehmen, dass Sie ihn dringend sprechen wollten, Miss?«

»Ich wollte ihn sprechen, und das will ich immer noch«, sagte Antonia.

»Ich fürchte, Miss, das wird nicht möglich sein«, sagte der Inspektor, sich erhebend.

Sie starrte ihn mit hassglimmenden Augen an. »Ach nein, tatsächlich?«, sagte sie.

»Tatsächlich, Miss. Ich muss Ihnen leider sagen, dass Mr. Vereker einen Unfall gehabt hat.«

Sie zog die Brauen zusammen. »Wollen Sie mir das schonend beibringen? Sparen Sie sich die Mühe. Ist er tot, oder was ist los?«

»Ja, Miss«, antwortete der Inspektor ein wenig strenger. »Er ist tot.«

»Großer Gott!«, sagte das Mädchen. Ihr Gesicht verlor den trotzigen Ausdruck; sie blickte von einem der beiden Männer zum andern. Zum Staunen und Entsetzen des Wachtmeisters erschien dann ein verschmitztes Zwinkern in ihren Augen. »Und ich dachte schon, Sie wollten meinen Hund einsperren«, bemerkte sie. »Entschuldigen Sie, ich war wohl ein bisschen kurz angebunden. Er hatte nämlich gestern Abend eine kleine Beißerei, und die blöde Person, der der andere Hund gehört, hat ihm jede erdenkliche Rache geschworen. Ist mein Halbbruder wirklich tot? Wie ist denn das passiert? Autounfall?«

Der Inspektor hatte nun keine Bedenken mehr, die Wahrheit zu enthüllen. »Mr. Vereker ist ermordet worden«, sagte er schonungslos. Er bemerkte mit Befriedigung, dass er ihr anscheinend endlich einen kleinen Schreck eingejagt hatte. Sie wurde ein wenig blass und sah so aus, als wüsste sie nicht, was sie sagen sollte. Nach kurzer Pause setzte er hinzu: »Sein Leichnam wurde heute Morgen um ein Uhr fünfzig im Block auf dem Gemeindeanger von Ashleigh aufgefunden.«

»Sein Leichnam wurde im Block aufgefunden?«, wiederholte das Mädchen. »Meinen Sie, jemand hat ihn da reingesetzt, und er ist vor Angst oder Kälte oder was sonst gestorben?«

»Ihr Halbbruder, Miss, ist an einem Messerstich in den Rücken gestorben«, sagte der Inspektor.

»Ach!«, sagte Antonia. »Ziemlich grässlich.«

»Ja«, sagte der Inspektor.

Sie streckte mechanisch die Hand nach einer offenen Zigarettenschachtel aus und klopfte eine Zigarette auf ihrem Daumennagel zurecht. »Ganz scheußlich«, bemerkte sie. »Wer war es?«

»Über diesen Punkt ist die Polizei noch nicht informiert, Miss.«

Sie riss ein Streichholz an und entzündete die Zigarette. »Also, ich war’s nicht, wenn Sie das wissen wollen. Sind Sie gekommen, um mich zu verhaften oder so was?«

»Keineswegs, Miss. Ich will weiter nichts als ein paar Fragen stellen. Alles was Sie mir sagen können, was ein Licht auf …«

Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber das kann ich nicht. Wir haben seit Monaten nicht miteinander gesprochen.«

»Entschuldigen Sie, Miss, aber wie kommt es dann, dass Sie jetzt in Mr. Verekers Haus sind?«

»Oh, das ist ganz einfach«, erwiderte sie. »Er hat mir einen unverschämten Brief geschrieben, da habe ich Rot gesehen und bin hergefahren, um mit ihm ein Hühnchen zu rupfen.«

»Darf ich fragen, ob Sie diesen Brief haben, Miss?«

»Ja, aber ich beabsichtige nicht, ihn Ihnen zu zeigen, wenn Sie darauf hinauswollen. Rein persönlich.«

»Die Angelegenheit muss ja sehr dringend gewesen sein, Mr. Vereker wäre doch Montag wieder in London gewesen.«

»Nun, ich hatte keine Lust, bis Montag zu warten«, gab Antonia zurück. »Er war nicht in seiner Wohnung am Eaton Place, als ich anrief, da hab ich’s eben versucht, ob er vielleicht hier ist. Er war nicht hier, aber da die Betten frisch überzogen waren und in der Speisekammer Milch und Butter und Eier und so was waren, erschien es mir ziemlich sicher, dass er erwartet wurde, und da hab ich auf ihn gewartet. Als er bis Mitternacht nicht da war, bin ich zu Bett gegangen, denn es war mir ein bisschen zu spät, um wieder nach Hause zu fahren.«

»Ich verstehe. Und Sie haben seit gestern Abend – ich glaube, Sie sagten sieben Uhr – das Haus nicht verlassen?«

»Doch, natürlich habe ich seitdem das Haus verlassen«, sagte sie ungeduldig. »Ich war mit dem Hund draußen, kurz bevor ich zu Bett ging, da kam es zu der Beißerei. Keine zwei Kilometer von hier hat ihn so ein räudiger Retriever angegriffen. Alles war voll Blut und Haare. Aber es ist nichts wirklich Schlimmes passiert.«

Der Wachtmeister musterte den Bullterrier, der wachsam an der Tür lag. »Ihr Hund wurde nicht verletzt, Miss?«, fragte er auf gut Glück.

Sie sah ihn verächtlich an. »Nicht der Rede wert. Schließlich ist er ein Bullterrier.«

»Ich dachte nur, Miss«, sagte der Wachtmeister mit einem missbilligenden Blick auf den Inspektor, »es ist doch merkwürdig, dass Ihr Hund nicht auch gebissen wurde.«

»Sie scheinen von Bullterriern nicht viel zu verstehen«, sagte Antonia.

»Das genügt, Dickenson«, griff der Inspektor ein. Er wandte sich wieder zu Antonia. »Ich werde Sie bitten müssen, Miss, mit mir zur Polizeiwache zu kommen. Sie werden verstehen, dass der Polizeichef Ihre Aussage haben möchte, da Sie mit Mr. Vereker verwandt und zurzeit in seinem Haus sind, und wenn Sie irgendwelche Einzelheiten über den Verstorbenen …«

»Aber ich sage Ihnen doch, dass ich nichts weiß«, sagte Antonia schnippisch. »Außerdem, wenn ich aussagen und irgendwas unterschreiben soll, brauche ich einen Rechtsanwalt, der aufpasst, dass ich mich nicht womöglich selbst belaste.«

Der Inspektor sagte in bestimmtem Ton: »Niemand verlangt das von Ihnen, Miss. Aber Sie werden sicher verstehen, dass die Polizei jede Information haben muss, die sie bekommen kann. Sie können doch nichts dagegen haben, dem Polizeichef ganz einfach alles zu sagen, was Sie über Ihren Bruder …«

»Reden Sie nicht immerfort von meinem Bruder! Halbbruder!«

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Alles, was Sie über Ihren Halbbruder wissen und was Sie selbst zur Zeit des Mordes getan haben.«

»Das habe ich Ihnen doch schon erzählt.«

»Ja, Miss, und ich möchte, dass Sie es noch einmal in beliebigen Worten erzählen auf der Polizeiwache, wo es stenografisch aufgenommen werden kann; dann bekommen Sie es zum Durchlesen und Korrigieren, wenn Sie wollen, und zum Unterzeichnen. Daran ist doch nichts Unrechtes, oder?«

Das Mädchen drückte ihre Zigarette in der Untertasse aus. »Mir scheint, daran ist eine Menge Unrechtes«, sagte sie mit entwaffnender Offenheit. »Wenn Sie den Mord an meinem Halbbruder untersuchen wollen, werden Sie zwangsläufig auf eine Menge lustiger kleiner Einzelheiten über unsere Familie stoßen, also kann ich Ihnen ebenso gut gleich sagen, dass ich Arnold nicht riechen konnte. Ich habe ihn zufällig nicht ermordet, aber ich habe kein Alibi, und soweit ich sehen kann, deutet alles auf mich. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht – und auch wenn es Ihnen was ausmacht –, möchte ich gar nichts sagen, bevor ich meinen Anwalt gesprochen habe.«

»Sehr gut, Miss, ganz wie Sie wollen. Und wenn Sie mich nach Hanborough begleiten wollen, können Sie Ihren Anwalt von der Wache aus anrufen.«

»Sie meinen doch wohl nicht, dass ich den ganzen Tag in einer Polizeiwache herumhängen soll?«, fragte Antonia. »Das wollen wir doch mal sehen! Ich bin um ein Uhr in der Stadt zum Essen verabredet.«

»Nun, Miss«, sagte der Inspektor versöhnlich, »mir liegt nichts daran, Sie zu einer Aussage zu zwingen, die Sie nicht machen wollen, aber wenn Sie nur Vernunft annehmen und entsprechend handeln würden, glaube ich bestimmt, dass der Polizeichef es nicht für nötig halten wird, Sie hier festzuhalten.«

»Haben Sie einen Haftbefehl gegen mich?«, schleuderte Antonia ihm entgegen.

»Nein, Miss.«

»Dann können Sie mich nicht daran hindern, in die Stadt zurückzufahren.«

Der Inspektor begann sichtlich die Beherrschung zu verlieren. »Wenn Sie noch viel länger so weitermachen, Miss, werden Sie bald sehen, ob ich Sie zur Polizeiwache bringen kann oder nicht.«

Antonia hob eine Augenbraue und warf einen Blick auf den Hund. »Wollen wir wetten?«, fragte sie.

»Kommen Sie, Miss, machen Sie keine Dummheiten!«, sagte der Inspektor.

»Na, schön«, sagte Antonia. »Schließlich möchte ich wirklich gern wissen, wer Arnold umgebracht hat. Ich habe oft gesagt, dass ich es gern täte, aber irgendwie ist es nie dazu gekommen. Haben Sie was dagegen, wenn ich meinen Rock anziehe, oder nehmen Sie mich lieber so mit, wie ich bin?«

Der Inspektor sagte, es sei ihm lieber, wenn sie den Rock anzöge. »Gut. Aber Sie müssen dabei rausgehen. Und während Sie warten, könnte einer von Ihnen im Telefonbuch Mr. Giles Carringtons Nummer suchen und ihn für mich anrufen und ihm sagen, dass er sofort herkommen muss, weil ich unter Mordverdacht stehe.«

»Ich kann Ihnen nur immer wieder sagen, dass niemand Sie des Mordes verdächtigt, Miss.«

»Na, dann werden Sie’s bald tun«, antwortete Antonia mit dem heitersten Gesicht der Welt.

Kapitel 3

Mrs. Beaton erwies sich bei der Befragung als eine enttäuschende Zeugin. Wachtmeister Dickenson hatte den Inspektor schon darauf vorbereitet, dass sie nicht sehr gesprächig sei, aber der Inspektor kam bald zu der Ansicht, dass ihre Zurückhaltung in einer tiefen Unkenntnis der Angelegenheiten ihres Arbeitgebers wurzelte. Wenn Arnold Vereker im Cottage war, wurde nie mehr von ihr verlangt als die Bereitung des Frühstücks und das Aufräumen des Hauses, bevor sie um zwölf Uhr wieder nach Hause ging. Mr. Vereker brachte fast immer einen Proviantkorb von Fortnum & Mason mit, und wenn er nicht allein kam – was zuweilen der Fall war –, bekam sie seine Gäste gar nicht zu Gesicht. Sie hatte Freitag ein Telegramm von Mr. Vereker erhalten mit der Nachricht, dass er Samstag herauskommen und vielleicht einen Gast mitbringen werde, aber wer nun der Gast war, ob Mann oder Frau, und um welche Zeit sie ankommen würden, ahnte sie nicht im Entferntesten.

Der Polizeichef machte, obwohl er eine väterliche Haltung einnahm, keinerlei Eindruck auf Antonia Vereker, und im Hinblick auf ihre Zeugenaussage blieb nichts übrig, als die Ankunft von Mr. Giles Carrington abzuwarten. Leider war Mr. Carrington um die Zeit, als der Anruf seine Wohnung erreichte, zum Golfspielen gegangen, und obwohl der dienstbare Geist, der sich meldete, sofort im Golfklub anzurufen versprach, konnte man sich nicht darauf verlassen, dass die Nachricht ihn vor dem Lunch erreichen würde.

Der Inspektor und der Polizeichef überließen Miss Vereker der Obhut des Sergeant vom Dienst. Nachdem sie ein Weilchen beratschlagt hatten, einigten sie sich darauf, Scotland Yard sofort hinzuzuziehen. An dem Block hatten sich keine Fingerabdrücke gefunden, und die Obduktion hatte kaum mehr erbracht als die erste ärztliche Untersuchung.

Der Sergeant vom Dienst, der sich als besonderen Hundefreund bezeichnete, kam mit Antonia weit besser aus als der Inspektor. Er vertiefte sich in ein Gespräch mit ihr über die Vorzüge der Airedailes gegenüber den Bullterriern und hätte das Gespräch gern endlos fortgesetzt, wenn sein Dienst ihn nicht abberufen hätte. Sie blieb mit ein paar Sonntagszeitungen und ihren Gedanken in einem düsteren Raum zurück, und ihr einziger Besucher war ein ziemlich schüchterner junger Polizist, der ihr um elf Uhr eine Tasse Tee brachte.

Es war ein Uhr vorbei, als ein Tourenwagen vor der Polizeiwache hielt; ein großer, schlaksiger Mann von Mitte Dreißig betrat die Amtsstube und teilte in liebenswürdig-trägem Ton mit, sein Name sei Carrington.

Der Inspektor war zufällig anwesend und begrüßte den Ankömmling mit Erleichterung, in die sich allerdings ein wenig Unsicherheit mischte. Mr. Carrington sah ihm nicht sehr nach einem Rechtsanwalt aus. Er führte ihn jedoch pflichtgemäß in das Büro des Polizeichefs und stellte ihn Oberst Agnew vor.

Außer dem Oberst war noch ein Beamter im Zimmer, ein Mann in mittleren Jahren mit leicht ergrauten Schläfen, einem breiten, gutmütigen Gesicht und ziemlich tiefliegenden Augen, hinter deren Ernst ein verschmitztes Zwinkern lauerte. Nachdem der Oberst Giles Carrington die Hand geschüttelt hatte, wandte er sich zu diesem Mann, um ihn vorzustellen.

»Das ist Superintendent Hannasyde von New Scotland Yard. Er ist gekommen, um in diesem Fall zu ermitteln, Mr. Carrington. Ich habe ihn von den Tatsachen unterrichtet, soweit wir sie kennen, aber wir können – äh – nicht recht weiter, weil Ihre Klientin jede Aussage verweigert, solange sie nicht mit Ihnen gesprochen hat.«

Giles reichte dem Superintendent die Hand. »Sie müssen mir verzeihen«, sagte er freimütig. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, worum es sich handelt. Die Nachricht, die mich – an der dritten Abschlagstelle – erreichte, lautete, dass meine Cousine Miss Vereker mich bäte, sofort zur Polizeiwache von Hanborough zu kommen. Hat sie sich irgendwie in Schwierigkeiten gebracht?«

»Ihre Cousine!«, sagte der Oberst. »Ich hatte verstanden …«

»O ja, ich bin außerdem ihr Anwalt«, lächelte Giles Carrington. »Worum handelt es sich denn nun?«

»Leider um eine ziemlich ernste Sache«, erwiderte der Oberst. »Miss Verekers entschiedene Weigerung, der Polizei durch eine Zeugenaussage zu helfen … Aber ich nehme an, Sie werden sie überzeugen können, dass sie mit ihrer gegenwärtigen Haltung nur ihren eigenen Interessen schadet. Mr. Carrington, Miss Verekers Halbbruder wurde in den frühen Morgenstunden auf dem Anger von Ashleigh, in dem dortigen Block sitzend, tot aufgefunden.«

»Lieber Himmel!«, sagte Giles Carrington einigermaßen entsetzt. »Sie sagen tot – was meinen Sie damit genau?«

»Ermordet«, sagte der Oberst unverblümt. »Ein Messerstich in den Rücken.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Der arme Kerl!«, sagte Giles in genau demselben Ton, in dem er hätte sagen können »Na, so was!«, oder »Wie schade!« – »Und heißt das, dass Sie Miss Vereker verhaftet haben, oder was?«

»Nein, nein, nein!«, sagte der Oberst mit aufkommendem Verdruss. »Das ist nur diese lächerliche Idee, die Miss Vereker sich anscheinend in den Kopf gesetzt hat. Miss Vereker hat, wie sie selbst zugibt, die Nacht im Haus ihres Halbbruders, Riverside Cottage, verbracht, und wir haben sie lediglich gebeten, uns zu erzählen, wieso sie dort war und was sie zur Zeit des Mordes gemacht hat. Da sie eine nahe Verwandte des Ermordeten ist, erschien es uns keine fernliegende Erwartung, dass sie uns, soweit sie kann, Auskunft über Mr. Verekers Gewohnheiten und Umgang geben würde; aber abgesehen von ihren Mitteilungen an Inspektor Jerrold, nämlich dass sie ihren Halbbruder hasst, dass sie ihn seit Monaten nicht gesehen hat und mit der Absicht nach Riverside Cottage gekommen ist, ‹mit ihm ein Hühnchen zu rupfen›, weigert sie sich, ein Wort zu sagen.«

Ein halb amüsierter, halb kläglicher Ausdruck stahl sich in Giles Carringtons Augen. »Ich glaube, ich spreche am besten gleich mit ihr«, sagte er. »Ich fürchte, Sie haben es ziemlich schwer mit ihr gehabt, Sir.«

»Das stimmt«, sagte der Oberst. »Und ich kann Ihnen nicht verhehlen, Mr. Carrington, dass ihre Haltung äußerst – sagen wir, verdächtig wirkt.«

»Das kann ich mir denken«, sagte Giles verständnisvoll. »Sie kann sehr entnervend sein.«

Der Superintendent, der ihn beobachtet hatte, fragte plötzlich: »Mr. Carrington, sind Sie vielleicht auch zufällig Mr. Arnold Verekers Rechtsvertreter?«

»Ja«, erwiderte Giles. »Und außerdem einer seiner Testamentsvollstrecker.«

»Na also, Oberst«, sagte Hannasyde lächelnd, »dann müssen wir Miss Vereker doch eigentlich dankbar sein. Sie sind genau der Mann, den ich brauche, Mr. Carrington.«

»Ja, das ist mir schon vor einer Weile klar geworden«, stimmte Giles zu. »Aber ich glaube, ich sollte erst mit meiner Cousine sprechen.«

»Zweifellos. Und, Mr. Carrington!« Giles hob eine Augenbraue. Das verschmitzte Zwinkern in den Augen des Superintendenten wurde deutlicher. »Versuchen Sie Miss Vereker davon zu überzeugen, dass die Polizei sie wirklich nicht verhaften wird, bloß weil sie ihren Halbbruder nicht leiden konnte.«

»Ich werd’s versuchen«, sagte Giles ernst, »aber ich fürchte, sie hält nicht viel von der Polizei. Sehen Sie, sie züchtet Bullterrier, und die sind ziemlich scharf.«

Der Superintendent sah ihm nach, wie er hinter Inspektor Jerrold hinausging, dann wandte er sich zu dem Oberst. »Der gefällt mir«, sagte er in seiner entschiedenen Art. »Der wird mir helfen.«

»Na ja, hoffen wir’s«, sagte der Oberst. »Es hat mich sehr verblüfft, dass er, als er vom Tode seines Vetters hörte, fast ebenso wenig Anstandsgefühl zeigte wie das Mädchen.«

»Ja, das hat mich auch verblüfft«, bestätigte Hannasyde. »Es sieht so aus, als hätte dieser Arnold Vereker eine ganze Menge Feinde gehabt.«

Inzwischen war Giles Carrington in den Raum geführt worden, in dem Antonia ihn erwartete. Der Inspektor verließ ihn, und er ging hinein und schloss hinter sich fest die Tür. »Hallo, Tony!«, sagte er in sachlichem Ton.

Antonia, die am Fenster stand und an die Scheibe trommelte, wandte sich hastig um. Sie sah ein wenig blass und mehr als ein wenig wütend aus, aber beim Anblick ihres Vetters wurde ihre finstere Miene etwas freundlicher, und ihre Wangen nahmen ein bisschen Farbe an. »Hallo, Giles«, antwortete sie mit einem ganz kleinen Anflug von Verlegenheit. »Schön, dass du gekommen bist. Arnold ist ermordet worden.«

»Ja, das habe ich gehört«, antwortete er, einen Stuhl an den Tisch ziehend. »Setz dich und erzähl mir, was für blödsinnige Tricks du hier aufgeführt hast.«

»Du brauchst mich nicht für blödsinnig zu halten, bloß weil ich zufällig in der Patsche sitze«, gab Antonia patzig zurück.

»Tu ich auch nicht. Ich nehme es an, weil ich dich sehr gut kenne, mein Kind. Was machst du überhaupt hier? Ich dachte, du sprichst nicht mehr mit Arnold.«

»Hab ich auch nicht getan. Aber dann ist etwas passiert, und ich musste ihn sofort sprechen, da bin ich hierher gefahren …«

Er unterbrach sie. »Was ist passiert?«

»Das ist Privatsache. Jedenfalls …«

»Lass das Jedenfalls weg«, erwiderte ihr Vetter. »Du hast mich rufen lassen, damit ich etwas für dich tue, Tony, und du musst mich ins Vertrauen ziehen.«

Sie stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte stirnrunzelnd das Kinn auf die verschränkten Hände. »Das kann ich nicht, nicht ganz. Aber ich kann dir sagen, dass ich Arnold sprechen wollte, weil er wieder angefangen hat, sich in mein Leben einzumischen, und da habe ich Rot gesehen.«

»Was hat er denn getan?«

»Einen stinkigen Brief hat er mir geschrieben wegen …« Sie stockte. »Wegen meiner Verlobung«, sagte sie nach kurzer Pause.

»Ich wusste gar nicht, dass du verlobt bist«, bemerkte Giles. »Wer ist es denn diesmal?«

»Sag nicht, wer ist es denn diesmal, als wäre ich schon ein Dutzend Mal verlobt gewesen! Ich war erst einmal verlobt.«

»Entschuldige. Wer ist es?«

»Rudolph Mesurier«, sagte Antonia.

»Meinst du diesen dunkelhaarigen Kerl in Arnolds Firma?«, fragte Giles.

»Ja, er ist Hauptbuchhalter.«

Nach einer kurzen Pause sagte Giles entschuldigend: »Es gehört eigentlich nicht hierher, aber was ist der tiefere Grund dafür?«

»Warum soll ich Rudolph nicht heiraten, wenn ich möchte?«

»Ich weiß nicht. Ich fragte mich nur, wieso du es möchtest, das ist alles.«