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Der erste Teil der beliebten Trilogie "Der Zirkel der Phantanauten": In Irland im Jahr 1893 findet Jim (alias James Joyce) ein mysteriöses Stück Metall, das zum Phantalabium gehört. Er wird von Lord Alistair auf dessen Schloss am grauen See zum Treffen der Phantanauten eingeladen. Doch um wirklich Teil dieser exquisiten Zusammenkunft junger Erzähler zu werden, muss Jim sich in seine von ihm erdachte Welt Rád begeben. Und schon beginnt das große Abenteuer!-
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Seitenzahl: 227
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Ralf Isau
Mit Illustrationen von Helmut Poul Dohle
Saga
Der Tränenpalast
Der Tränenpalast – Volume 1 of Der Zirkel der Phantanauten Trilogie
Copyright © 2021 by Ralf Isau (www.isau.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 2008 by Thienemann Verlag, Germany
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 2008, 2021 Ralf Isau und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726870114
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Die Erde ist dem Menschen ein Gefängnis sein Leben lang.
Lass dir das, du Narr, gesagt sein – geh so weit wie du willst,
du wirst doch nur an die Mauern dieses Himmels rennen.
Aber brich aus, wenn du meinst, dass du´s dennoch kannst.
Samuel ha´Nagid (993 – 1055)
Für Olivia
(aus dem »Kodex der Phantanauten«)
Nicht was einer ist, hat oder glaubt, macht ihn zum Phantanauten, zum »Weltenschöpfer«, sondern einzig seine Phantasie. Deren Zirkel bleibt stets auf ein doppeltes Dutzend begrenzt. Er verjüngt sich durchs Ausscheiden der Einundzwanzigjährigen und Nachrücken von Neophyten, die mindestens im zwölften Lebensjahr stehen. Diesen »neu Gepflanzten« ist zuvor ein Teil des Phantalabiums zugefallen, des Zirkels uraltes Erkennungszeichen.
Jährlich versammeln sich die Phantanauten zu einem Erzählreigen am Grauen See, wenn der Vollmond die Ophiuchiden trifft: In diesem Schauer von Sternschnuppen öffnet sich die Quelle der Erleuchtung bis zum Tag vor der Sommersonnenwende und versiegt wieder beim nächsten Vollmond. Während dieses Monats muss der Neophyt eine Nacht in der Kammer der Weltenschöpfer schlafen und dabei dem Meer der Träume Neuland abtrotzen. Wer diese Gabe besitzt, wird am Morgen danach durch das Untertauchen im Grauen See in das von ihm geschaffene Reich gelangen. Nach seiner Rückkehr erstattet er dem Zirkel Bericht und erbringt einen Beweis der Echtheit seiner Schöpfung. Überzeugt er die Mehrzahl der Phantanauten, gilt er als aufgenommen.
Fortan bedarf sein Neuland des täglichen Erinnerns, um nicht wieder unterzugehen. Der kluge Phantanaut soll seine Geschichte daher mindestens zwei anderen Menschen erzählen und sie überdies zur Weitergabe des Gehörten anspornen. So reift der Schöpfer zum lebenslangen Weltenmeister, und derweil sein Werk darüber wächst, wird es die »Welt der Sinne«, unser wirkliches Leben, bereichern.
Dublin (Irland), 27. März 1893
Der Lederriemen klatschte auf das nackte Hinterteil. Jim hatte die Zähne zusammengebissen und sog vor Schmerz die Luft ein.
»Du sollst nicht zischen, Junge, sondern zählen«, knurrte Bruder Wishart. Staubkörnchen tanzten im Sonnenlicht, das durch die Fenster des verwaisten Klassenzimmers fiel. Die sechzig Jahre alten Holzbänke waren so abgeschabt wie der Richtblock eines viel beschäftigten Henkers.
Tatsächlich fühlte sich Jim wie das Opfer eines Scharfrichters, während er mit heruntergelassenen Hosen über dem Lehrerpult hing und das Wort »Neun« hervorpresste. Fest entschlossen, sich sein Geheimnis nicht entreißen zu lassen, kniff er die Augen zusammen und wappnete sich für den letzten Streich. »Zehn!«, schrie er, kaum dass der Gürtel erneut niedergefahren war.
»Das wär´s für heute. Kannst dich wieder bedecken«, beschied Bruder Wishart.
Jim zog rasch die Hose hoch, schneller, als sein Peiniger »Kruzifix« sagen konnte.
»Das sollte dir eine Lehre sein, Junge«, ermahnte ihn der grobschlächtige Ordensmann mit der Augenklappe und grinste. »Wie ich dich kenne, werden wir uns allerdings bald wiedersehen und ›der Riemen‹ darf deinen Allerwertesten erneut zum Glühen bringen.« Bruder Wishart wusste um den Spitznamen, den ihm die Schüler gegeben hatten, und er war offenbar stolz darauf.
»Ich will Sie nicht langweilen, Sir«, knirschte Jim, während er sich die Brille aufsetzte. In Gedanken war er schon wieder bei dem geheimnisvollen Gegenstand, dem er seine missliche Lage verdankte. Er wollte fort von hier, wollte endlich das Rätsel der verschlungenen Linien und glitzernden Steine lösen!
Bruder Wishart griff in die Hosentasche und holte seinen Rosenkranz heraus. Wenn er nicht gerade Schüler verprügelte, ließ er die Perlen zwischen seinen Wurstfingern hindurchgleiten. Ob er dabei tatsächlich betete, hielt Jim für eher unwahrscheinlich. Vermutlich grübelte der Riemen gerade darüber nach, wie er den wahren Grund für die Verspätung des störrischen Knaben herausbekommen konnte. Er lächelte gönnerhaft. »Zerbrich dir nur über meine Erziehungsmethoden nicht den Kopf, Junge. Solange es Schulen gibt, müssen Schüler gezüchtigt werden. Das ist nicht nur in Dublin so, sondern in jeder Lehranstalt des britischen Empires und der ganzen Welt. Manche Dinge ändern sich nie und das ist gut so.«
Davon konnte Jim ein Lied singen! Vor der O´Connell School hatte ihm schon eine andere katholische Erziehungsanstalt das Joch der Glaubensregeln anzupassen versucht. Mit bescheidendem Erfolg. Nach wie vor empfand er diese Last als drückend und kaum erträglich – zum Leidwesen seiner Lehrer. Hier, in der North Richmond Street, waren diese noch schwerer zu befriedigen als die Jesuiten auf dem Clongowes Wood College. Jims jetzige Lehrer gehörten dem Orden der »Christian Brothers« an. Im Stillen nannte er die »Christlichen Brüder« jedoch »Christian Batters«, eine Anspielung auf den bat, den breiten Holzschläger im englischen Volkssport Kricket, der in der Hand des batsman oder batter schon so manchen Ball zertrümmert hatte.
»Kann ich gehen, Sir?«, fragte Jim leise.
Das verbliebene Schweinsäuglein des Ordensmannes verengte sich zu einem schmalen Schlitz. Leise klickten die Perlen in seiner Hand. »Du bist mir noch eine Erklärung schuldig. Was ist der wahre Grund für dein heutiges Zuspätkommen?«
»Das habe ich Ihnen doch schon zweimal erzählt, Sir. Ich bin auf der Garda Station in der Fitzgibbon Street festgehalten worden, weil die Stadtpolizei meine Aussage zu Protokoll genommen hat.«
Bruder Wishart ließ ein bellendes Geräusch vernehmen – so hörte es sich an, wenn er lachte. Schnell wurde er wieder ernst und begann den nächsten Satz betont förmlich mit Jims vollständigem Namen, was gewöhnlich ein Vorbote drohenden Unheils war. »James Augustine Aloysius Joyce, ich muss Ihnen zugestehen, dass Ihre Wortwahl wie immer exzellent ist. Allerdings mangelt es Ihrer Entschuldigung gänzlich an der bunten Phantasie, die ich sonst von Ihnen gewohnt bin. Das überrascht mich. Ich hätte gute Lust, Ihnen für Ihre jämmerliche Lügengeschichte gleich noch einmal den Hintern zu versohlen.«
Trotz des inneren Aufruhrs spielte Jim den Teilnahmslosen und zuckte die Achseln. »Die Wahrheit ist manchmal grau, Sir. Ich war wirklich auf der Polizeiwache und ...«
»Schluss damit! Mich führst du mit deinen Lügengeschichten nicht hinters Licht«, fuhr ihm der Lehrer über den Mund und streckte seinen speckigen Zeigefinger bedeutungsvoll gen Himmel. »Und Ihn erst recht nicht. Haben dir die Jesuiten nicht beigebracht, dass nur, wer seine Sünden beichtet und Buße tut, vom Herrn Vergebung erwarten kann? Wenn du so weitermachst, wirst du für immer in der Hölle schmoren.«
Am liebsten hätte Jim laut gestöhnt. Es war die immer gleiche Leier: Wer nicht spurt, erleidet ewige Verdammnis. Als wenn die O´Connell School selbst nicht schon das Fegefeuer auf Erden wäre! »Sie können ja auf die Wache gehen und Sergeant Corcoran fragen«, schlug er vor.
»Ha! So weit kommt´s noch, dass ich dir auf den Leim gehe. Ich glaube, die Wahrheit ist anders viel leichter herauszubekommen. Zieh noch mal die Hose runter.«
»Bitte nicht!«, rief Jim erschrocken. War es der geheimnisvolle Gegenstand wirklich wert, sich ein weiteres Mal vom Riemen quälen zu lassen? Auf die Gefahr hin, seinen Fund zu verlieren, griff Jim in die Hosentasche ...
Da wurde unvermittelt die Tür zum Klassenzimmer aufgestoßen und der Direktor der Schule trat ein. Bruder Mooney war um die sechzig, groß und von hagerer Statur. Er trug einen Backenbart sowie den üblichen schwarzen Anzug und weißen Kragen der Christlichen Brüder. Beim Anblick des Lehrers mit dem Gürtel in der Hand verfinsterte sich sein faltiges Gesicht. »Bruder Wishart! Was hat das zu bedeuten?«
»Nur eine notwendige Zuchtmaßnahme«, verteidigte sich der Riemen, steckte seinen Rosenkranz weg und bedachte Jim mit einem warnenden Seitenblick. Auf ihn deutend fügte er hinzu: »Unser Mister Joyce hat heute durch sein Zuspätkommen wieder einmal gegen die Schulordnung verstoßen und von mir für jeden Eintrag ins Klassenbuch einen Streich bekommen.«
»Sie meinen wohl einen Schlag mit dem Lederriemen. Wie viele insgesamt?«
»Seit der Junge im Januar zu uns gekommen ist, sind es schon zehn Vergehen.«
Der Rektor drückte das Kreuz durch und musterte den Missetäter mit milder Strenge. »Hört, hört! Dürfte rekordverdächtig sein. Sonderbarerweise gehört der junge Rebell zu den Besten in unserer Anstalt.«
»Was nichts daran ändert, dass er die Moral der Truppe untergräbt. Er ist erst in der vierten Stunde zum Unterricht erschienen. Unentschuldigt!«
»Oha! Ich glaube, das ist neuer O´Connell-Rekord«, staunte der Direktor und richtete das Wort nun direkt an den Schüler. »Hat der ›Sonnige Jim‹ sich mal wieder in einem seiner eigenen Gruselmärchen verlaufen?«
»Nein, Sir«, erwiderte der Gefragte. Er staunte immer wieder, dass Bruder Mooney, obwohl er die Verantwortung für etwa sechshundert Schüler trug, sogar seinen vollständigen Spitznamen kannte. »Ich habe im Park am Mountjoy Square einen Fund gemacht und bin damit zur Garda Station in der Fitzgibbon Street gegangen, um ihn zu melden. Dadurch kam ich zu spät zum Unterricht. Sie können Sergeant Corcoran fragen, der wird alles bezeugen.«
Den weiteren Verlauf der Geschichte behielt Jim lieber für sich. So verständnisvoll wie Bruder Mooney waren nur wenige Lehrer. Die meisten empfanden für ihre Schüler eher Geringschätzung und ließen sich lieber eine banale schriftliche Entschuldigung der Eltern aushändigen, als ihre kostbare Zeit mit den ausschweifenden Erklärungen eines elfjährigen Knaben zu verplempern.
Ja, Jim war erst elf, ein schmaler, erschreckend kurzsichtiger Junge mit blassem Gesicht, widerspenstigem, braunem Haar und blauen Augen. Doch mit einer schlichten Altersangabe konnte man seinem Wesen kaum gerecht werden. Wer ihn im Umgang mit Erwachsenen beobachtete, hielt ihn eher für dreizehn, wer ihn sprechen hörte, für sechzehn, und wer etwas von ihm las, für mindestens zwanzig.
Fürwahr, an Phantasie mangelte es dem Jungen nicht. Schon vor der Einschulung war er wegen seiner Horrorgeschichten, die unter Gleichaltrigen oft Furcht und bei Erwachsenen ungläubiges Staunen hervorriefen, berüchtigt gewesen. Im Oktober 1891, vor anderthalb Jahren, hatte er den Tod eines von seinem Vater sehr verehrten irischen Politikers zum Anlass genommen, das Gedicht »Et Tu, Healy« zu schreiben. Der Titel war eine Anspielung Shakespeares Theaterstück Julius Caesar, in welchem der römische Kaiser im Angesicht des mörderischen Verräters »Et tu, Brute« – »auch du, Brutus« – sagte. Damals war Jim neun. John, sein Vater, hatte die Verse drucken lassen und an Freunde verschenkt; ein Exemplar sandte er sogar an die Vatikanische Bibliothek nach Rom.
Jim war auch in anderer Hinsicht ein heller Bursche. Trübsal zu blasen lag ihm nicht, selbst wenn er als Strafarbeit fünfhundert Mal »Ich soll meinen Lehrer mit Sir anreden« schreiben musste. Seine Antwort auf die, wie er fand, sinnlosen und langweiligen Wiederholungen des Schulalltags waren Streiche. Wenn irgendwo einer gespielt wurde, dann stand er meist ganz oben auf der Liste der mutmaßlichen Rädelsführer – manchmal zu Recht. Seinen Spitznamen – »Sonniger Jim« – besaß er zurecht.
Bruder Mooney zupfte sich nachdenklich am Bart, während er all diese Umstände in Betracht zog. Schließlich stellte er dem Lehrer eine Frage, die eigentlich nur eine einzige Antwort zuließ. »Sie stimmen sicher mit mir darin überein, dass für ein Vergehen auch nur eine Bestrafung erforderlich ist, nicht wahr, Bruder Wishart?«
»Ja«, brummte der Riemen.
»Dann haben wir Ihrer geschätzten Meinung nach also sowohl der Gerechtigkeit als auch der Disziplin unserer Anstalt Genüge getan?«
Der Gefragte würgte ein weiteres Ja hervor.
Mit einem zufriedenen Nicken wandte sich der Rektor dem Schüler zu. »Es täte sowohl Ihrem Wohlbefinden als auch dem Frieden unserer Anstalt gut, wenn Sie in Zukunft etwas pünktlicher wären, Mr Joyce.«
»Ja, Sir.«
»Dann wünsche ich Ihnen noch einen guten Tag.«
»Ich Ihnen ebenso, Sir«, antwortete Jim erleichtert. Dem wütenden Blick des Riemens wich er wohlweislich aus, indem er sich flugs seinen Schulranzen schnappte, aus dem Raum stürzte und auf die Straße lief. Seine Sohlen knallten auf dem Kopfsteinpflaster, so schnell rannte er davon.
Erst als die ungeliebte Schule außer Sichtweite war, zügelte Jim das Tempo. Er brauchte seine Puste noch, um es bis zur Middle Abbey Street zu schaffen. Dort, im Herzen von Dublin, lag das Büro eines Mannes, der sich mit alten Rätseln auskannte und vielleicht sagen könnte, was es mit dem seltsamen Fund auf sich hatte.
Der Journalist arbeitete für The.Irish Times. Sie war unter den Zeitungen der Grünen Insel wohl die bedeutendste und Christopher Cox ihr wichtigster Mann. Jedenfalls sah Jim das so – er bewunderte den Kritiker wegen seiner spitzen Feder sehr. Womit die strengen Kirchenmänner nur drohten, vermochte Cox wahrzumachen: Mit wenigen Zeilen konnte er ein Theaterstück in den Himmel loben oder in die ewige Verdammnis der Bedeutungslosigkeit schicken. Wenn einer etwas von der Macht des geschriebenen Wortes verstand, dann er.
Jim entsann sich noch gut der ersten Begegnung mit dem schrulligen Sprachjongleur. Die Familie Joyce hatte im letzten Dezember die Bühnenpremiere von Sindbad der Seefahrer besucht und Jims Vater hatte nichts Besseres zu tun gewusst, als Cox eine Kopie von »Et Tu, Healy« in die Hand zu drücken, das Gedicht seines ältesten Sprösslings. Jim wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Seine Poesie sei in den letzten vierzehn Monaten merklich gereift, hatte er mit hochrotem Kopf versichert.
»Ich kann kaum glauben, dass diese kraftvolle Sprache aus der Feder eines Neunjährigen stammen soll«, staunte der Theaterkritiker, kaum dass er einen Blick auf das Gedicht geworfen hatte. Er klopfte dem jungen Poeten auf die Schulter und lud ihn zu einem Besuch in die Zeitungsredaktion ein. »Bringe ruhig deine Arbeiten mit. Ich würde sie mir gerne ansehen.«
Begleitet von seinem Vater, hatte Jim einige Tage später die Gelegenheit beim Schopfe gepackt. Schon bald war er dann regelmäßig allein in die Middle Abbey Street marschiert, um sich mit Cox auszutauschen.
Der Weg ins Stadtzentrum, obwohl er nicht sehr weit war, glich einer abenteuerlichen Reise durch die gesellschaftlichen Höhen und Tiefen von Dublin. Die Häuser des von der Familie Joyce bewohnten Viertels waren zumeist nobel, manchmal sogar richtige Villen mit großen Gärten drumherum. Doch unweit davon begannen die schäbige Mietskasernen, in denen jene auf kleinstem Raum zusammengepfercht lebten, die sich für einen Hungerlohn verdingen mussten. Im Stadtzentrum widerum mischte sich das Elend mit dem Wohlstand der Geschäftsleute. Innerhalb weniger Minuten konnte man elegante Damen und Herren in glänzenden Kutschen um ihren Reichtum beneiden, die Funken sprühenden neuen elektrischen Straßenbahnen bestaunen und gleichzeitig zerlumpte, in Hauseingängen lebende Kinder bedauern. An diesem Nachmittag hatte Jim für all das jedoch keinen Blick. Mit weit ausholenden Schritten lief er über das Kopfsteinpflaster. Ständig musste er an die merkwürdigen Erlebnisse der letzten Stunden denken.
Es hatte kurz nach dem Frühstück begonnen. Die Familie bewohnte das Haus Nummer 14 in der Fitzgibbon Street, ein vierstöckiges Gebäude aus rotem Backstein, das nur wenige Schritte vom Mountjoy Square mit seinem herrlichen Park entfernt lag. Oft stattete Jim der Grünanlage schon vor Unterrichtsbeginn einen Besuch ab, weil er nirgendwo besser über seine Geschichten nachsinnen konnte als hier, auf der Bank im Schatten einer uralten Eiche. An diesem Morgen war er jedoch überrascht worden.
Er hatte sich gerade die Frühlingssonne in den Nacken scheinen lassen und über den Traum der vergangenen Nacht nachgedacht. Darin war er zwischen die Wurzeln des Baumes hindurch in ein Zwergenreich hinabgestiegen, in welchem er allerlei Wundersames zu sehen bekam. Jetzt, am Morgen danach, hatte ebenjene Stelle seinen Blick wie magisch angezogen, so als könnte er dort tatsächlich auf das Tor zur einer anderen Welt stoßen. Und dabei entdeckte er das Funkeln.
Erst hatte er gemeint, der Traum narrte ihn, er gaukelte ihm den Mountjoy Square Park nur vor. Als Jim jedoch von der Bank aufgestanden war, um dem Geglitzer auf den Grund zu gehen, fand er zwar kein Zwergentor, aber einen über die Maßen rätselhaften Gegenstand.
Es handelte sich um ein gewölbtes Metallstück, vermutlich aus Bronze, das etwas kleiner als sein Handteller und an den Rändern wie ein Puzzleteil verzahnt war. Möglicherweise hatte es ursprünglich zu einer Kugel aus mehreren solcher Elemente gehört. Die nach innen gebogene Rückseite glänzte wie poliertes Messing – sie hatte Jim den Lichtreflex ins Auge gespielt. Das eigentliche Rätsel stellte für ihn jedoch die in einem matten, gelblichen Braun schimmernde Außenfläche dar. Darauf strahlten Linien wie flüssiges Gold. Sie bildeten ein verschlungenes Geflecht, das irgendwie einer Maßeinteilung glich, zugleich aber so kunstvoll wie ein keltisches Knotenornament aussah. An drei Schnittpunkten funkelten überdies rubinrote Edelsteine. Daneben waren Schriftzeichen eingraviert, deren Bedeutung Jim nicht kannte.
Aus einem verschwommenen Gefühl heraus hatte er den Fund für sehr kostbar gehalten und war damit sofort zur Polizei gegangen. Aber Sergeant Corcoran hatte nur müde gelächelt. »Das ist wertloser Plunder, Junge. Den kannst du behalten.« Vermutlich wollte er sich nur um das Ausfüllen eines Formulars drücken. Jedenfalls war Jim unverrichteter Dinge wieder abgezogen.
Knapp eine halbe Stunde später hatte er den Fluss Liffey überquert und in der Kildare Street die Nationalbibliothek betreten. Inmitten so vieler Bücher fühlte er sich immer wie elektrisiert. Am liebsten hätte er sie alle in sich aufgesogen. Er las zeitgenössische Schriftsteller, die jüngeren Klassiker wie Alexandre Dumas’ Die drei Musketiere oder Der Graf von Monte Christo, die alten Meister wie William Shakespeare und natürlich Homer.
Der griechische Dichter besaß für viele Iren einen besonderen Stellenwert. Bis vor wenigen Generationen war von der britischen Regierung den katholischen Kindern der grünen Insel der Schulbesuch strengstens verboten worden. Deshalb wurden sie vor allem auf dem Land von den sogenannten »Heckenlehrern« – im Schutz der Weidenhecken – heimlich unterrichtet. Mit Lesebüchern in gälischer Sprache. Und mit Homer.
Im Moment wünschte sich Jim, so klug wie dessen Held Odysseus zu sein. Seinem Rat folgend hatten die Griechen im Trojanischen Krieg ein hölzernes Pferdes gebaut, in dem sich einige Soldaten verstecken konnten. Das vermeintliche Geschenk wurde von den Trojanern in die Stadt gebracht, die griechischen Kämpfer überwältigten die Wachen, öffneten die Tore und Troja fiel. Auf seiner Heimreise, einer zehnjährigen Irrfahrt, war der Held mit List dem einäugigen Riesen Polyphemos entwischt. »Ich bin ein Niemand«, hatte Odysseus dem Zyklopen gesagt und sich gleich darauf verbessert: »Mein Name ist Niemand.« Später, als er dem Menschenfresser einen glühenden Pfeil ins Auge rammte, rief der seinen herbeieilenden Kumpanen zu: »Niemand schlägt mich.« So liefen die Riesen wieder fort und Odysseus konnte entkommen.
Der blitzgescheite König von Ithaka hätte bestimmt auch irgendein Orakel gefunden, das ihm Sinn und Zweck des rätselhaften Gegenstands aus dem Park erschloss. Jim dagegen war auf die Bücher und Bibliothekare der Nationalbibliothek angewiesen und die konnten ihm auch nicht weiterhelfen. Nun war seine letzte Hoffnung Mr Cox.
Im Zeitungsgebäude kannte man den Nachwuchsdichter bereits und schickte ihn umgehend ins Büro seines Mentors. Dort, zwischen Bergen von Büchern und gebündelten Manuskripten verschanzt, fand ihn Jim denn auch.
Der stets etwas zerstreut wirkende Theaterkritiker pflegte sein Äußeres wie ein Markenzeichen. Vorsichtig ausgedrückt, war es unüblich. Er sah gewöhnlich so aus, als sei gerade der Blitz in ihn eingeschlagen: Die spärlichen grauen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, der Tweedanzug war so zerknittert wie die Klippen von Moher an der Südwestküste Irlands, und auf seiner Weste tummelte sich eine Herde von Flecken jeder Geschmacksrichtung.
»Du kommst spät heute«, begrüßte Mr Cox seinen jungen Freund.
»Ich hatte Ärger in der Sackgasse.« Dieses Wort benutzte Jim manchmal, wenn er den Namen des Schulhauses am Ende der North Richmond Street nicht über die Lippen brachte.
»Der Riemen?«
Jim nickte. Er hatte Mr Cox gegenüber hin und wieder ein paar Andeutungen von den Zuständen an der O´Connell fallen lassen, ihn gleichsam nur die Spitze des Eisberges der Drangsalierungen sehen lassen.
Doch der Alte war schlau. Er ahnte vermutlich, dass es unter der Oberfläche noch viel mehr gab, was den Jungen bedrückte. »Willst du darüber reden?«
»Nein«, antwortete Jim. Bruder Wishart hatte ihm mehr als nur die Hölle angedroht, wenn er je über die Einzelheiten seiner »Erziehungsmaßnahmen« sprach.
»Bringst du mir ein neues Gedicht?«, wechselte Mr Cox das Thema.
Jim zog das Metallstück aus der Hosentasche und legte es vor den Journalisten auf den Tisch. »Ich habe heute dieses Ding hier gefunden. Wissen Sie, was das sein könnte?«
Der Zeitungsmann erstarrte. Seine Augen schienen jäh um das Doppelte gewachsen. Wortlos bestaunte er »das Ding«.
»Sie scheinen es zu kennen«, sagte Jim nach einer angemessenen Wartezeit.
»Woher hast du es?«
Jim berichtete von seinem Traum, der Entdeckung unter dem Baum, der Abfuhr auf dem Polizeirevier, der fruchtlosen Suche in der Bibliothek, und er wiederholte: »Sie haben so etwas schon einmal gesehen, nicht wahr? Was ist das?«
Mr Cox streckte den kleinen Finger aus und deutete mit dem merkwürdig gekrümmten Glied auf eine bestimmte Stelle im Linienwirrwarr des geheimnisvollen Etwas. »Siehst du diese vielen Querstriche hier zwischen den Rubinen?«
»Woher wissen Sie, dass es Rubine sind?«
Die strubbeligen Augenbrauen des Alten zogen sich bedrohlich zusammen. »Das liegt doch auf der Hand. Und jetzt beantworte endlich meine Frage: Was fällt dir zu den Markierungen und dem Liniennetz ein?«
Jim schob die Unterlippe vor. »Könnte eine Skala sein. Wie bei einem Zollstock. Vielleicht gehört das Teil zu einem Messinstrument.«
»Sehr gut!«, lobte ihn der Journalist. »Oder von einem Astrolabium. Sagt dir der Begriff etwas?«
»Ich glaube, damit hat man früher die Sterne am Himmel beobachtet.«
»Bravo, junger Mann! Der Name wurzelt im Griechischen. Er bedeutet so viel wie ›Stern-Nehmer‹. Vor Erfindung des Sextanten haben die Seefahrer damit den Winkel von Himmelskörpern über dem Horizont gemessen. So konnten sie auf hoher See ihre Position bestimmen.«
»Also stammt das Teil von irgendeinem ... Navigationsgerät?«
Mr Cox betrachtete versonnen den schimmernden Gegenstand und ein entrücktes Lächeln umspielte seine Lippen. »Das lässt sich wohl nicht leugnen. Doch glaube mir: Wer den Blick allein zum Himmel wendet, kann sich mit diesem ›Stern-Nehmer‹ nur verirren.«
Jim kratzte sich am Kopf. Irgendetwas verschwieg ihm der kauzige Sprachjongleur. »Und wohin soll man dann damit gucken?«
»Vielleicht nach innen?«, schlug Mr Cox vor.
Jetzt war Jim restlos verwirrt. »Können Sie mir nicht helfen oder wollen Sie´s nicht?«
»Ich darf nicht.«
Jim stöhnte. Was sollte das nun wieder heißen? »Kennen Sie den rechtmäßigen Eigentümer dieses Dings?«
»Ich weiß, wem es früher einmal gehört hat, aber das ist lange her. Er hat es vor vielen Jahren fortgeworfen ...«
»Einfach so?«
»Einfach so.«
»Und jetzt?«
»Vielleicht kann ich dir helfen, den Nachfolger des einstigen Besitzers zu finden. Wir sind hier schließlich in einer Zeitung. Gib eine Annonce auf.«
»Ich hab kein Geld. Mein Vater ...« Jim biss sich auf die Unterlippe.
»... hat mal wieder zu tief ins Bierglas geschaut?«, riet Mr Cox.
Jim ließ den Kopf hängen und nickte. Sein Vater hatte die Familie in den letzten Jahren von einer Katastrophe in die nächste gesteuert. Einst war der aus Cork stammende Handelsmann John Stanislaus Joyce wohlhabend und angesehen gewesen. Damit sein ältester Sohn eines Tages Priester werden konnte, hatte er ihn zu den Jesuiten aufs Clongowes Wood College geschickt, der exklusivsten Schule Irlands. Aber John vermochte weder mit Geld noch mit Alkohol richtig umzugehen.
Nach seiner vorzeitigen Pensionierung im letzten Jahr hatte er das jährliche Schulgeld von fünfundzwanzigtausend Pfund nicht mehr zahlen können. Seitdem verkaufte er nach und nach seinen Besitz. Die Familie hatte Leoville aufgegeben, ein nobles Haus im Vorort Blackrock, und war ins Zentrum von Dublin gezogen, nördlich des Liffey, wo vorwiegend die weniger betuchten Leute wohnten. Anfang Januar hatte hier für Jim das Fegefeuer von O´Connel begonnen. Die Jesuiten seien die Gentlemen der katholischen Erziehung, pflegte sein Vater zu sagen, und die Christlichen Brüder ihre Drohnen. Ungeachtet dessen hatte er zwei seiner Söhne an ein besonders garstiges Exemplar dieser Insekten ausgeliefert.
»Um die Anzeige kümmere ich mich. Du musst mir nur den Text geben«, sagte Mr Cox.
»Können Sie den nicht für mich schreiben?«
»Das ist ausgeschlossen«, antwortete der Alte schroff.
»Und wieso?«
»Weil ...«, druckste Mr Cox. »Weil du den wahren Besitzer nur finden wirst, wenn du deine eigene Phantasie gebrauchst.«
»Kapier ich nicht.«
Ein wissendes Lächeln umspielte den Mund des Theaterkritikers. »Wart´s nur ab. Du wirst es bald verstehen. Sehr bald sogar.«
Loughrea (Irland), 30. Mai 1893
Die Leute auf dem Bahnsteig liefen durcheinander wie eine vom Wolf aufgeschreckte Schafherde, und Jim war mittendrin. Er hatte das Gefühl, ganz Dublin sei an diesem Dienstagmorgen zur Kingsbridge Station geströmt, um ihn zu verabschieden. Nur von seiner Familie war niemand mit ihm gekommen. Der Vater hatte schon früh das Haus verlassen. Vermutlich saß er jetzt irgendwo im Pub, schüttete bereits das zweite oder dritte Pint des Nationalgetränks in sich hinein – dieses schäumende, ebenholzfarbene Bier, das ihn immer so leicht reizbar machte – und schmetterte dabei irische Volksweisen. Die Mutter jedenfalls kümmerte sich um »Stannie«, den fast drei Jahre jüngerer Bruder Stanislaus, der mit Fieber im Bett. Jim war es gewohnt, allein zurecht zu kommen. Mit acht Geschwistern wird man schneller erwachsen als ein wohl behütetes Einzelkind.
Wohin er auch blickte, überall versperrten ihm Kopfbedeckungen die Sicht. Da gab es die schwarzen Zylinder der Herren in ihren eleganten Gehröcken, die aus Stroh geflochtenen Florentiner von Damen mit Wespentaillen, Gesäßpolstern und wallenden, bodenlangen Kleidern, die fast immer schief sitzenden Dienstkappen der Kofferträger, die mit ihren hölzernen Schubkarren voller Gepäck wagemutig durch das Getümmel schossen, und die Schieber- und Ballonmützen der weniger betuchten Fahrgäste, zu denen auch Jim gehörte. In dem wogenden Meer aus Hüten den richtigen Zug zu finden, fiel ihm nicht leicht. Manchmal hasste er es, im Körper eines Elfjährigen zu stecken, und wünschte sich, wenigstens schon sechzehn zu sein.
Aus einer Wolke von Wasserdampf tauchte unvermittelt ein weißes Schild mit einer schwarzen Drei auf. Das war sein Gleis! Er warf sich den Seesack über die Schulter und stürzte sich ins Gewühl.
Irgendwann in den nächsten Stunden, so hoffte er, würde er endlich Antworten auf seine Fragen bekommen. Das unter der alten Eiche im Mountjoy Square Park gefundene Ding hatte sein Leben gehörig durcheinandergewürfelt. Nach der Züchtigung durch den Riemen war er nicht wieder in die Schule zurückgekehrt.
Er fühle sich nicht wohl, hatte er seiner Mutter gesagt, und das war nicht einmal gelogen. Die Eltern reagierten besorgt, hatte der Typhus doch schon einmal zwei ihrer Kinder dahingerafft. Und auch Jim strotzte nicht gerade vor Gesundheit. Im Juni 1891 hatte er das Jesuiten-Internat verlassen müssen, um im Krankenhaus eine fiebrige Infektion auszukurieren. Mehrere Monate lang unterrichtete er sich danach selbst; die Mutter kontrollierte lediglich seine Lernfortschritte. Aus der Rückkehr nach Clongowes wurde dann nichts mehr, wegen der erwähnten Geldschwierigkeiten.
Auch in den zurückliegenden neun Wochen hatte der Vater dem Müßiggang einen Riegel vorgeschoben: Jim musste sich den Stoff des laufenden Schuljahres wieder einmal selbst beibringen. In dieser Zeit konnte er zwar das Rätsel des geheimnisvollen Dings nicht knacken, aber er war zumindest einer Lösung näher gekommen.
Auf das Inserat in The Irish Times hatte sich nämlich schon nach wenigen Tagen jemand gemeldet. Ein Brief war in der Redaktion eingegangen. Er steckte in einem ganz altmodisch mit rotem Wachs verschlossenen Umschlag. Jim hatte ihn noch in Gegenwart des Theaterkritikers geöffnet, seine Hände zitterten vor Aufregung, als er das Siegel brach.
Die Nachricht war mit blauer Tinte auf handgeschöpftem, gelblichem Papier geschrieben. Über den wenigen Zeilen prangte ein Wappen mit einem gelben Segelschiff. Es handelte sich um eine Einladung, die Jim geradezu elektrisierte.
Lieber James Augustine Aloysius Joyce!