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Es ist niemals zu spät, den Lauf des Lebens zu verändern und die Liebe zu finden, nach der wir alle suchen! Manchmal ist es ein Traum, der uns den Weg dorthin weist. Aron ist Mitte dreißig und als verlängerter Arm aggressiver Finanzinvestoren für den Personalabbau in seiner Firma zuständig. Um den Job ertragen zu können, unterdrückt er seine Emotionen und flüchtet sich in Passivität. Da reißt ihn ein Traum aus seiner Lethargie – ein Traum, in dem sein vor 30 Jahren verstorbener Vater bei ihm auftaucht und ein seltsames Hochzeitsfest seine Gefühle durcheinanderwirbelt. Wie durch Zufall findet er kurz darauf alte Unterlagen seiner Eltern, die in ihm Zweifel aufkommen lassen, ob sein Vater wirklich eines natürlichen Todes gestorben ist, wie seine Mutter immer erzählt hat. Aron begibt sich auf die Suche nach der wahren Geschichte seines Vaters. Dabei lernt er die Lebenskünstlerin Marie kennen, die seinen Vater mehr als nur gut zu kennen schien und die behauptet, schon einmal gelebt zu haben. Und während Aron zu verstehen versucht, wer Marie wirklich ist, wird er mit der Frage konfrontiert, wer er selbst ist und welchen Sinn sein Leben hat. Auf der Suche nach einer Antwort entwickelt er endlich den notwendigen Mut, sich gegen die Finanzinvestoren aufzulehnen und nach der großen Liebe zu greifen, auf die er so lange gewartet hat.
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Seitenzahl: 464
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Andreas Kessler
Der Traum
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Traum
3.12.2011: Die Kiste
5.-9.12.2011: Huform
10.12.2011: Mutter
10.12.2011: Die Verabredung
1927: Nora und Luise
13.12.2011: Marie
14.-19.12.2011: Schneider
20.12.2011: Mutters Geburt
1927: Mutter
21.-23.12.2011: Der Plan
Weihnachten 2011: Helga und die Angst vor dem Tod
1927: Vater
26.12.2011: Bei Marie
Die Geschichte von Space dem Geist – Der Anfang Von Gerhard Breuer
Die Geschichte von Space dem Geist – Der Abschied Von Gerhard Breuer
1927: Bei Losbergs
27.12.2011: Sturmflut
1927: Die Prophezeiung
Silvester 2011: Der Freund aus Amerika
2.1.2012: Schlechte Nachrichten
3.1.2012: Abschied
3.-6.1.2012: Tage in Köln
7.1.2012: Achtzehn Patienten
1927: Bei Haugs, Teil 1
7.1.2012: Der nette Mann aus Heidelberg
8.-10.1.2012: Kein Tubabläser
1927: Bei Haugs, Teil 2
14.1.2012: Wer bist du wirklich?
15.1.2012: Bettis Deal
16.1.2012: Friedensgipfel
16.1.2012: Gedankenkopiermaschine
18.1.2012: Im Französischen Hof
20.-27.1.2012: Gefeuert
1927: Das Hochzeitsfest
28.1.2012: Es speist sich nicht gut mit heißem Blut
28.-30.1.2012: Der Russe
5.2.2012: Alles oder nichts
Die Entscheidung
Impressum neobooks
Aron fror. Instinktiv griff er hinter sich, um sein Jackett von der Stuhllehne zu nehmen, doch seine Hand fasste ins Leere. Verwundert stand er auf. Ein Holzschemel. Warum saß er auf einem Holzschemel? War er denn nicht im Büro?
Sein Herz schlug schneller, während er den Blick durch den Raum schweifen ließ. Offensichtlich hatten sie ihn eingesperrt, ausgesetzt, in einer Zelle, einem kahlen Raum, kaum größer als drei mal drei Meter, ohne Tür und ohne Fenster. Nur den Schemel hatten sie ihm gelassen. Und einen Holztisch, auf dem Schulhefte lagen, ordentlich aufgereiht, wie Mutter sie ihm nach den Ferien immer bereitgelegt hatte, auf Schlampigkeiten überprüft und neu eingebunden. Die Hefte waren für ihn bestimmt, daran bestand kein Zweifel. Und es wurde Zeit, sich mit ihrem Inhalt zu beschäftigen. Für morgen war die Prüfung angesetzt. Sie würde über seine Zukunft entscheiden. Hopp oder top. Ohne bestandene Abiturprüfung würde er seine Diplomurkunde zurückgeben müssen und in der Folge seinen Job verlieren.
Aron wischte den unangenehmen Gedanken beiseite, griff nach einem der Hefte und schlug es auf. Mathematische Gleichungen. Er hatte nicht viel Zeit und machte sich fahrig daran, deren Sinn zu verstehen, doch die Zahlen verschwammen vor seinen Augen. Er hörte das Ticken einer großen Wanduhr und geriet in Panik. Es war zu spät. Er würde es nicht schaffen.
Im selben Augenblick glaubte er eine Bewegung hinter sich zu spüren, ein Gleiten, lautlos und doch wahrnehmbar. Ein Schauer jagte ihm den Rücken hinunter und seine Nackenhaare richteten sich auf. Ängstlich blickte er sich um. Nichts. Und doch blieb das unheimliche Gefühl, nicht mehr allein im Raum zu sein. Irgendetwas hatte sich verändert. Aron brauchte einen Moment, bis er verstand, dass es die plötzliche Stille war. Die Uhr! Sie hatte aufgehört zu ticken. Der Strom seiner Gedanken riss jäh ab. Die vollkommene Stille, die ihn jetzt einhüllte und von seinem Inneren Besitz ergriff, löste ein eigenartiges Gefühl der Unendlichkeit in ihm aus, tranceähnlich. Und doch blieb er wachsam, wie ein Frontsoldat, der in einen Sekundenschlaf fällt.
Und dann hörte er es. Leise zwar, aber doch deutlich genug, um seine Sinne in Alarmbereitschaft zu versetzen. Ein Schlurfen, als bewegten sich Schuhe auf steinigem Grund. Aron nahm all seinen Mut zusammen und drehte sich um. Ein kalter Schreck durchfuhr ihn. Mitten im Raum stand ein Mann. Reglos, wie eine Statue. Er trug einen dunkelgrauen Mantel und hatte die Hände in den Taschen verborgen. Sein volles braunes Haar war sorgsam zurückgekämmt. Nichts an diesem Mann wirkte bedrohlich und so wagte es Aron, ihm direkt in die Augen zu schauen. Und dann kam das Erkennen.
„Vater!“
Der Anflug eines Lächelns huschte über das Gesicht des Mannes. Unsicher machte Aron einen Schritt auf ihn zu. „Wo warst du so lange, Vater? Warum kommst du erst jetzt?“
Mit einer langsamen Bewegung deutete der Mann auf etwas, das sich hinter Aron zu befinden schien. Aron drehte sich um. In der Wand, direkt neben dem Holztisch, sah er eine schmale Öffnung, die er vorher nicht bemerkt hatte. Er trat an die seltsame Scharte heran. Vor ihm spannte sich der Himmel auf, schwarz, kalt und doch funkelnd, voller Sterne. Niemals zuvor war Aron dem Himmel so nah gewesen. Fasziniert und beängstigt zugleich gab er sich dem Anblick hin.
Mit einem Mal schien der Tag anzubrechen. Ein heller Schimmer zog am Horizont herauf. Aron hatte in seinem Leben genug Sonnenaufgänge gesehen und wollte sich wieder seinem Vater zuwenden, doch er hielt inne. Irgendetwas irritierte ihn und ließ ihn zögern. Zu schnell wurde es hell und der Horizont schimmerte weiß und nicht wie gewohnt in warmen Rot- und Orangetönen.
Und dann sah Aron die Quelle des Lichts. Langsam, und doch schneller als für gewöhnlich die Sonne, ging am Horizont ein Planet auf. Er schimmerte schneeweiß und tauchte die Umgebung in ein seltsam unwirkliches Licht. Was für ein wundervoller Anblick!
Doch dann war es ihm, als würde der Planet rasch größer werden, gerade so, als käme er auf die Erde zu. Er war jetzt so groß wie fünf Monde und wurde immer noch größer. Sein weißes Licht wurde heller. Aron erstarrte.
Gleißend weißes Licht flutete jetzt den Himmel, fiel in die Zelle und drang in seine Augen.
Er riss die Hände vors Gesicht und erwartete den Einschlag, den kurzen lauten Moment des Schmerzes, das Ende.
Doch alles blieb still.
Irgendwann brachte Aron den Mut auf, die Hände herunterzunehmen. Das weiße Licht war gegangen. Der Planet war nicht mehr zu sehen. Und Aron lebte.
Ehe er sich vom Fenster abwenden konnte, hörte er die Stimme seines Vaters.
„Komm, Aron, ich bringe dich in unsere Firma.“
Aron ergriff die Hand seines Vaters und folgte ihm durch eine kleine Öffnung, die sich unvermittelt vor ihnen auftat. Jetzt bemerkte er, dass sie in einem Hotel waren. Sie durchschritten die menschenleere Lobby und stiegen eine mächtige raumbeherrschende Treppe empor, an deren Ende sich eine weite Flügeltür öffnete und den Blick in einen großen Ballsaal freigab. Träumte er? Wo kamen auf einmal die vielen Menschen her? Offenbar gab es Anlass zu feiern, denn Aron sah lachende Gesichter und tanzende Paare, die sich im Walzertakt wiegten. Am Kopfende des Saales wurde ein Rednerpult aufgebaut. Von der Decke hingen schwere Kronleuchter. Die Szenerie in dem Saal wirkte seltsam altmodisch auf Aron - und sie gefiel ihm nicht.
Eine junge Frau winkte ihm aus der Ferne zu. Sie trug ein wunderschönes weißes Hochzeitskleid und strahlte glücklich. Aron wandte sich ab. Er musste hier verschwinden, hier gehörte er nicht hin.
Am anderen Ende der Tanzfläche, im hinteren Bereich des Saals, sah er eine angelehnte schwere Kassettentür. Einem plötzlichen Impuls folgend, lief er los. Er drängte mitten durch die Menge, sah dunkle Anzüge vorbeigleiten, Krawatten, Fliegen, aufwendige Abendkleider, lachende Gesichter, schemenhaft, unscharf. Alles war in Bewegung, kreiste um ihn, ließ ihn taumeln. Schließlich stand er vor der schweren Kassettentür. Einen Moment zögerte er, dann schlüpfte er hindurch.
Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erschrak er. Keine zwei Meter von ihm entfernt stand eine Frau. Sie schien geweint zu haben, denn ihre ungewöhnlich großen Augen glänzten feucht. Ein tiefes Gefühl der Zuneigung erfasste ihn und er streckte die Hand nach ihr aus. Im gleichen Moment traf ihn ein heftiger Windstoß von hinten und ließ die Haare der Frau aufwehen. Irritiert drehte er sich nach dem Fenster um. Es war geschlossen, aber die Verglasung fehlte und kalte Luft strömte herein. Aron wandte seinen Blick zurück zu der Stelle, an der eben der Wind die Haare dieser wunderschönen Frau erfasst hatte. Halluzinierte er? Verstört schaute er sich um. Hier war niemand. Aron stürzte zurück in den Festsaal, aber auch dort war keine Menschenseele zu sehen. Er war vollkommen allein.
In dem Moment überkam ihn ein so unbeschreibliches Gefühl der Trostlosigkeit, dass er die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Sein Oberkörper begann zu beben und all sein Schmerz brach aus ihm heraus, rann über seine Wangen und tropfte auf den Boden.
Er schluchzte noch, als ein elektronischer Ton an sein Ohr drang, zunächst leise, dann immer eindringlicher und lauter. Das Geräusch schien aus einer anderen Welt zu kommen. Für einen Moment wusste er nicht, wo er war, doch dann begriff er.
Mit der linken Hand tastete Aron nach seinem Wecker. Der schreiende Alarm verstummte. Zögernd schlug er die Augen auf. Mit Erleichterung erblickte er das fahle Licht der Stadt, das wie gewohnt durch den dunkelblauen Vorhang schimmerte. Er war zu Hause, nicht im Hotel.
Aron setzte sich auf. Was war das für ein Traum? Das Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals. Sein Körper vibrierte. Hatte er wirklich geweint? Aron berührte mit den Fingerspitzen sein Gesicht. Es war feucht.
Vor seinem inneren Auge sah er wieder diese Frau, sah die Tränen in ihren Augen und wie ihr Haar aufwehte. Für einen Moment glaubte er, wirklich dort gewesen zu sein, in diesem Hotel. Natürlich war das unmöglich, und doch ließen ihn die Bilder nicht los, als wollten sie ihn zurückziehen in ihre Welt, die Welt der Erinnerungen. Erinnerungen an Dinge, die gewesen sind, an Dinge, die sein werden oder an Dinge, die hätten sein können. Aron versuchte das seltsame Gefühl abzuschütteln. Er war kein Träumer! Es wurde Zeit aufzustehen. Also riss er sich zusammen und ging ins Bad.
Im Spiegel blickte ihn ein verheult und abgekämpft aussehender Mann in den Dreißigern mit verstrubbelten Haaren trostlos an. Ihm gefiel überhaupt nicht, was er da sah. War das wirklich Aron Breuer? Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und wusch die Tränen fort. Mit den nassen Händen fuhr er sich durch die vollen braunen Haare und strich sie sorgsam zurück. Schon besser, dachte er, während er im Spiegel das Ergebnis betrachtete.
Sein Vater kam ihm in den Sinn. Er hatte ebensolche Haare gehabt, stets ordentlich zurückgekämmt. Von ihm hatte er auch die braunen Augen geerbt. Seltsam, dachte er. Obwohl Vater seit 30 Jahren tot war, fiel es ihm nicht schwer, das Gesicht im Spiegel mit dem Gesicht des Mannes abzugleichen, den er eben im Traum gesehen hatte. Oder stammte seine Erinnerung von alten Fotos, von Bildern aus einem zerzausten Album, das jahrelang auf dem Nachttisch seiner Mutter gelegen hatte? Aron war immer stolz darauf gewesen, dem Mann auf den Fotos ähnlich zu sehen. Er war froh darüber, den dunklen Teint seines Vaters und nicht die fast durchsichtige Blässe und die farblosen grauen Augen seiner labilen Mutter geerbt zu haben. Der einzige Schönheitsfehler in seinem ebenmäßigen, fast mädchenhaft anmutenden Gesicht, war die seltsame Verwachsung, die an seiner rechten Schläfe prangte. Eine kleine Mulde, als hätte ihm der Teufel im Mutterleib den Daumen auf den noch weichen und formbaren Knochen gedrückt. Es war eigenartig, aber Aron glaubte an diesem Morgen an jener Stelle ein Pochen zu spüren. Vorsichtig berührte er mit dem Zeigefinger die Mulde. Ein jäher Schreck durchfuhr ihn. Er starrte auf sein Spiegelbild, die Hand an der Schläfe, als richtete er eine Waffe gegen sich selbst. Das Pochen wurde heftiger. Schnell nahm er die Hand herunter. Das pulsierende Gefühl ließ schlagartig nach, aber sein Herz raste.
War es wirklich der Traum, der ihn so aus der Fassung brachte, oder stand er kurz davor, in eine Krise zu stürzen? Vielleicht sollte er heute lieber zu Hause bleiben und sich ausruhen, dachte er, während er nach seinem Rasierapparat griff. Es war Samstag und eigentlich wollte er früh ins Büro fahren, um den Kostensenkungsplan für die Geschäftsführung fertigzustellen. Keine gute Idee, entschied er. Er würde den Tag lieber ruhig angehen und sich schonen. Das war er seinem Körper schuldig.
Mit diesem Entschluss beruhigte sich sein Herzschlag und er begann mit der Rasur.
Als Aron kurz darauf am Frühstückstisch saß und gerade in sein Toastbrot beißen wollte, schrillte das Telefon. Er warf einen Blick auf das Display. Mutter. Kurz überlegte er, sie auf den Anrufbeantworter umzuleiten, doch dann irritierte ihn die Uhrzeit des Anrufs. Mutter rief nie vor acht an. Also hob er ab.
„Hallo Mutter.“
„Guten Morgen Aron.“
Für einen Moment war es still in der Leitung. Aron beschlich ein ungutes Gefühl.
„Ist etwas passiert?“, fragte er.
„Ich suche das rote Fotoalbum, du weißt schon, das mit den Hochzeitsfotos.“
Das zerzauste alte Album! Genau an dieses Album hatte er vor zehn Minuten gedacht.
„Ich könnte heulen, Aron. Ich finde es nicht. Es ist weg.“
„Mutter, bitte! Du weißt genau, dass es dir nicht gut tut, an Vater zu denken.“
„Reg dich nicht auf, Aron! Es ist alles in Ordnung. Ich will nur wissen, wo das Album ist. Es kann doch nicht weg sein.“
„Natürlich kann es nicht weg sein.“
„Ich habe jeden Winkel abgesucht. Es ist nicht hier.“
„Warum ist das denn auf einmal so wichtig? Du solltest dich wirklich nicht mit dem alten Kram belasten.“
„Ich hatte einen Traum.“
Kurz war es still in der Leitung. „Was für einen Traum?“, fragte er irritiert.
„Ich habe von meiner Hochzeit geträumt. Das ist doch wohl ein Grund, die Fotos rauszusuchen.“
Aron dachte an seinen eigenen Traum. Eigenartiger Zufall.
„Kann es sein, dass das Album bei dir ist?“, fragte Mutter.
„Keine Ahnung. Gesehen habe ich es nicht. Wenn, dann ist es irgendwo im Keller, bei dem Kram, den ich aus unserer Kölner Wohnung mitgenommen habe.“
„Bitte sieh nach, Aron!“
„Mach ich, wenn ich das nächste Mal im Keller bin.“
„Bitte mache es heute! Es ist mir wirklich wichtig.“
Aron seufzte, versprach aber, nachher runter in den Keller zu gehen. Es war besser, Mutter keinen Grund zu liefern, sich aufzuregen.
„Ich muss jetzt aufhören, Mutter. Mein Toastbrot wird kalt. Ich ruf dich nachher an, wenn ich im Keller war.“
Mutter schwieg.
„Ist noch was?“, fragte er leicht genervt.
„Habe ich dir etwas getan, Aron?“
Aron zögerte. „Nein, was sollst du mir getan haben?“
„Dein Vater hat mich im Traum gefragt, ob ich mich bei dir entschuldigt habe.“
„Entschuldigt? Für was?“
„Ich weiß es nicht. Es war während der Hochzeitsfeier. Er fragte mich, ob ich dich um Verzeihung gebeten habe. Ich dachte: seltsam, du bist doch noch in meinem Bauch. Dann bin ich aufgewacht.“
„Mach dir keine Gedanken, Mutter. Es war nur ein Traum.“
Mutter zögerte. „Ja, es war nur ein Traum, aber irgendwie hat er mir Angst gemacht. Ich habe ein richtig schlechtes Gefühl jetzt. Ist alles in Ordnung zwischen uns?“
Aron wurde mulmig. Mutter schien kurz vor einem neuen Depressionsschub zu stehen, vielleicht war sie bereits mittendrin. Er musste dringend ihren Arzt anrufen.
„Mutter, bitte, lass es gut sein. Es ist alles in Ordnung. Du brauchst dich nicht schlecht zu fühlen.“
„Schon gut, Aron, ich lass dich frühstücken. Wir sprechen nachher noch mal. Es war ja nur ein Traum.“
Mutter beendete das Gespräch und Aron starrte gedankenverloren auf sein Toastbrot. Seit Mutter im Seniorenheim lebte und ihre Depression dank regelmäßiger Medikation einigermaßen unter Kontrolle war, hatte sie nicht mehr von Vater gesprochen. Und jetzt fing sie ausgerechnet heute Morgen wieder von ihm an, nachdem er selbst von Vater geträumt hatte. Spontan beschloss er, nach dem Frühstück das besagte Fotoalbum zu suchen.
Vorher rief er aber noch Mutters Arzt an. Zu seiner Beruhigung wusste dieser zu berichten, dass Mutter keineswegs auf eine neue Episode zusteuere, sondern in einem sehr stabilen und ermutigenden Zustand sei.
Eine halbe Stunde später stand er in seinem muffig riechenden kleinen Kellerverschlag, den er bestimmt seit drei Jahren nicht mehr betreten hatte. Er musste nicht lange nach Mutters Sachen suchen. Mitten im Raum standen drei Kartons von einem Kölner Umzugsunternehmen. Das mussten die Kisten sein, die er aus der Kölner Wohnung seiner Eltern mit zu sich nach Heidelberg genommen hatte, als Mutter vor drei Jahren ins Seniorenheim umgezogen war.
In der ersten Kiste fand Aron nur altes Geschirr. Er stellte sie zur Seite und öffnete die zweite Kiste. Sein altes Kinderspielzeug. Es versetzte ihm einen Stich. Er erinnerte sich daran, wie er die Sachen zusammen mit Simone eingepackt hatte, um sie für ihre gemeinsamen Kinder aufzuheben, die sie damals noch zu kriegen beabsichtigten. War das jetzt schon wieder drei Jahre her? An seine Exfreundin Simone und ihre damalige Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft mit Kindern wollte er wirklich nicht erinnert werden. Er war inzwischen vom Kinderkriegen so weit entfernt wie die Erde vom Mond.
In der dritten Kiste fand Aron Aktenordner und lose Blättersammlungen. Er griff nach einen Ordner mit der Aufschrift „Börse 79-80“ und schaute hinein. Depotauszüge und Börsenorders. Sehr interessant. Er fragte sich, warum er diesen Ordner nicht kannte. Er hätte längst hineingeschaut, schließlich war er selbst an der Börse aktiv. Aron schob den Ordner zurück in die Kiste und zog einen anderen mit der Aufschrift „Zeitung“ hervor. Gleich vorne fand er eine ausgerissene Seite der „Zeitung am Abend“, auf der eine Geschichte abgedruckt war. „Die Geschichte von Space dem Geist“, Autor: Gerhard Breuer. Es wurde immer interessanter.
Und dann sah er das Fotoalbum. Es lag ganz unten und er erkannte es sofort. Einen Moment starrte er es an, als sei es ein böses Tier, das er unter einem Stein entdeckt.
Aron beschloss, die Kiste in seine Wohnung zu tragen und sich die Fotos und die anderen Sachen in Ruhe bei anständigem Licht anzuschauen.
Während er Tee kochte, dachte er darüber nach, was er eigentlich über Vater wusste. Seine Eltern hatten sich im Theater in der Warteschlange an der Garderobe kennengelernt. Drei Jahre später hatten sie geheiratet und kurz darauf ein Kind bekommen: Aron. Vater schrieb damals Kindergeschichten für die Zeitung und spekulierte mit Erfolg an der Börse. Sechs Jahre später war er plötzlich gestorben, von einem Tag auf den anderen, ohne Vorwarnung, wie Mutter immer behauptet hatte, an einem Schlaganfall oder so etwas Ähnlichem. Aron erinnerte sich dunkel daran, dass Mutter die Todesursache lange Zeit angezweifelt und oft mit Ärzten gesprochen hatte. Aber Genaues wusste Aron nicht, denn sein Verhältnis zu Mutter war immer sehr schwierig gewesen. Sie hatte sich nach Vaters Tod oft in ihre eigene Welt zurückgezogen und Aron mit unberechenbaren Gefühlsschwankungen gequält, in denen sie an manchen Tagen kalt und abweisend und an anderen Tagen übertrieben fürsorglich gewesen war. Das waren keine Umstände, die intensive Gespräche zwischen Mutter und Sohn begünstigt hätten. Vielmehr war Aron über jede Minute froh gewesen, in der Mutter nicht an Vater gedacht hatte.
Er setzte sich im Wohnzimmer mit einer Tasse Tee auf den Boden und begann, die Kiste auszuräumen. Zunächst griff er nach dem Fotoalbum und schlug es auf. Schwarzweißfotos, offensichtlich vor dem Standesamt aufgenommen. Sein Vater im eng geschnittenen dunklen Anzug und seine Mutter ganz in Weiß, mit Schleier. Sie sieht so glücklich aus, dachte er, und spürte ein eigenartig beklemmendes Gefühl in sich aufsteigen. Auch Vater wirkte sehr zufrieden, jedoch nicht so ausgelassen wie Mutter. Irgendwie ernster. Aron fand, dass Vater sehr gut aussah, mit seinem wachen und intensiven Blick. Vielleicht zu gut für Mutter, die ihm eher durchschnittlich vorkam, trotz ihres hübschen Hochzeitskleides. Aron schämte sich für diesen Gedanken und blätterte weiter. Mutter lachend beim Essen, mit Zigarette, dann wieder mit Weinglas, mit den Gästen anstoßend, und immer wieder mit glücklichen Blicken für ihren Mann. Er: weiterhin zufrieden und still. Keine Zigaretten, kein Wein, höchstens ein Lächeln.
Ein paar Seiten weiter tauchte dann Aron auf. Nackt, dick und schreiend, in einer Emaillewanne badend. Dann eingewickelt in weiße Tücher in Mutters Armen, auf Vaters Schoß, in Vaters Armen. Aron hielt inne. Er betrachtete das Bild genauer. Eines der wenigen Farbfotos. Vater hatte wieder diesen intensiven Blick, der Aron schon auf einigen der Hochzeitsfotos aufgefallen war. Hypnotisch, fast ein wenig unheimlich. Ein Gefühl von Neugierde überkam Aron. Was war sein Vater eigentlich für ein Mensch gewesen?
Aron blätterte weiter. Ein loses Foto rutschte aus dem Album und fiel auf den Boden. Es war größer als die anderen und zeigte drei Personen, offenbar eine Kleinfamilie, die auf der Alten Brücke in Heidelberg posierte. Heidelberg! Die Stadt in der er heute lebte. Das Foto faszinierte Aron sofort. Es war von guter Qualität und schien doch älter als die anderen Bilder zu sein, wahrscheinlich aus den Zwanziger- oder Dreißigerjahren. Die jüngere Frau, offensichtlich die Tochter, war außerordentlich hübsch. Sie kam Aron irgendwie bekannt vor. Vielleicht hatte er das Bild früher schon einmal gesehen, als das Album noch auf dem Nachttisch seiner Mutter gelegen hatte. Erinnern konnte er sich allerdings nicht daran. Die ältere Frau auf dem Bild sah der jüngeren sehr ähnlich.
Er wollte das Bild gerade wieder ins Album legen, da blieb sein Blick an dem älteren Mann auf dem Foto hängen. Dessen intensiver Blick erinnerte ihn irgendwie an das Foto seines Vaters weiter vorne im Album. Ein Verwandter, dachte er. Aron blätterte zurück zu dem Foto, das ihn als Baby im Arm seines Vaters zeigte. Frappierende Ähnlichkeit. Beide Männer hatten zurückgekämmte Haare und diesen eigenartig intensiven Blick, nur dass der Mann auf der Alten Brücke deutlich älter und schon ergraut war. Aron drehte das Foto um. Jemand hatte mit Bleistift „Nora Losberg und Familie, Heidelberg, 1927“ darauf geschrieben.
Nora Losberg. Den Namen hatte Aron irgendwo schon einmal gehört, aber er konnte ihn nicht einordnen. Er musste Mutter fragen, wer diese Leute waren.
Aron legte das Album zur Seite und griff nach den Geschichten, die Vater für die „Zeitung am Abend“ geschrieben hatte. Es ging um einen Geist namens Space, der aus den Weiten des Universums gekommen war, um die Kinder der Erde kennenzulernen. Ganz nett, dachte Aron, ohne Lust zu verspüren, die Geschichten ausführlicher zu lesen. Also legte er sie beiseite und holte den Ordner „Börse 81-82“ aus der Kiste. War Vater nicht 1981 gestorben? Tatsächlich, der Ordner war nicht einmal halb voll. Vater hatte darin seine Börsenorders und Depotauszüge abgeheftet. Zahlreiche Käufe und Verkäufe, immer Aktien, teils von kleinen unbekannten Unternehmen, teils von großen Firmen. Aron blätterte bis zum Ende und fand dort eine Aufstellung von Transaktionen, welche die Bank am 29. Mai 1981 durchgeführt hatte. War Vater nicht Ende Mai gestorben? Offensichtlich hatte er kurz vor seinem Tod alle Aktien verkauft und gegen Bundesanleihen und -schatzbriefe eingetauscht. Alles sichere Anlagen, mit denen Vater vorher nicht gehandelt hatte.
Diese Depotumschichtung irritierte Aron. Hatte Vater seinen Tod vorhergesehen? Unwahrscheinlich, denn Mutter hatte nie den Verdacht geäußert, Vater könnte sich das Leben genommen haben.
Er zog den Ordner „Börse 79-80“ aus der Kiste und blätterte die Depotlisten durch. Ausschließlich Aktien. Warum hatte Vater kurz vor seinem Tod plötzlich den Aktien abgeschworen und sichere Zinspapiere ins Depot gelegt, die er vorher niemals angerührt hatte? Befürchtete er einen Börsencrash? Er würde Mutter danach fragen müssen.
Aron räumte jetzt die gesamte Kiste aus. Ganz unten fand er einen Ordner mit der Aufschrift „Krankenversicherung Gerhard“ und begann sofort, ihn von hinten durchzublättern. Ohne lange suchen zu müssen, fand er einen Obduktionsbericht zum Tod seines Vaters. Der Bericht besagte, dass die Obduktion polizeilich veranlasst worden war, um ein Tötungsdelikt oder einen Selbstmord durch Gifteinnahme auszuschließen. Tatsächlich wurden bei der Obduktion keine Anzeichen für einen gewaltsamen Tod oder eine Vergiftung gefunden. Allerdings schieden auch ein Schlaganfall oder sonstige Gesundheitsbeeinträchtigungen als Todesursache aus. Der Autor des Berichts kam daher zu dem Schluss, dass Gerhard Breuer an einem Herzstillstand unbekannter Genese gestorben war.
Deshalb also hatte sich Mutter so lange mit Vaters Todesursache beschäftigt, dachte Aron, und verspürte zum ersten Mal in seinem Leben Lust darauf, mit Mutter über Vaters Tod zu sprechen.
Aron begann den Ordner von vorne durchzublättern. Zwischen langweiligen Versicherungsdokumenten fand er einen Unfallbericht, der seine Aufmerksamkeit erregte. Vater war in einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen und dabei offensichtlich so schwer verletzt worden, dass er ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Noch an der Unfallstelle waren schwere Schnittwunden und mehrere Knochenbrüche diagnostiziert worden. Davon hatte Mutter nie etwas erzählt, wunderte sich Aron. Sie musste doch vollkommen aufgelöst gewesen sein, nach so einem Unfall.
Aron blätterte weiter. Als nächstes war eine Rechnung der Unfallklinik abgeheftet. Er sah sich die darauf vermerkten Positionen genauer an: Desinfektion von Wunden, Röntgenaufnahmen vom rechten Schien- und Wadenbein, Kniegelenk und Oberschenkel sowie eine Nacht im Krankenhaus zur Überwachung.
Jetzt verstand Aron, warum Mutter der Sache keine große Bedeutung beigemessen hatte. Vater war nur eine Nacht im Krankenhaus gewesen und schon am nächsten Tag ohne größere Verletzungen nach Hause geschickt worden. Aron zögerte. Da stimmte doch etwas nicht. Der Unfallbericht und die Krankenhausrechnung passten nicht zusammen. Bei schweren Schnittverletzungen hätten die Wunden genäht werden müssen. Mehrfache Knochenbrüche hätten zu einer Operation, mindestens aber zu einer Rechnung über das Eingipsen von Körperteilen geführt.
Aron blätterte weiter und fand einen ausführlichen Arztbericht. Gerhard Breuer wurde am 12.1.1977 um 16:15 Uhr bewusstlos und mit stark blutenden Schnittwunden an Kopf und Armen und einem mehrfach stark deformierten rechten Bein in die Unfallklinik eingeliefert. Die Blutungen wurden sofort gestillt und Gerhard Breuer für eine Bein-OP vorbereitet. Weiter wurde berichtet, dass Gerhard Breuer noch auf dem Weg in die Anästhesie aufwachte und sofort Angaben zum Unfallhergang machen konnte. Da er nicht über Schmerzen klagte, wurde er ohne Betäubung zunächst zum Röntgen gebracht, was jedoch keinen auffälligen Befund ergab. Der Verdacht auf mehrfachen Beinbruch konnte nicht bestätigt werden. Die Schnittwunden mussten nicht genäht werden, da eine außergewöhnlich schnelle Wundheilung eingesetzt hatte, die das Gewebe schon mehrere Stunden nach dem Unfall fast vollständig verschloss. Gerhard Breuer wurde am nächsten Morgen entlassen. Eine Nachuntersuchung des Beines einen Monat später ergab ebenfalls keinen Befund. Der Bericht schloss mit der Feststellung, dass Gerhard Breuer über eine außergewöhnlich gute Wundheilung verfüge.
Aron blätterte weiter. Er fand ein Schreiben der Unfallklinik, in dem sein Vater aufgefordert wurde, sich einer allgemeinen Körperfunktionsanalyse zu unterziehen. Als Grund wurde eine deutschlandweit durchgeführte, breit angelegte Forschungsarbeit zum Thema „Stärkung der Selbstheilungskräfte“ genannt, für die Gerhard Breuer aus statistischen Gründen ausgewählt worden sei. Es folgten zwei weitere Schreiben, in denen sein Vater immer eindringlicher aufgefordert wurde, an der Untersuchung teilzunehmen. Alle Schreiben waren von Professor Dr. Herbert E. Blasius unterzeichnet. Offensichtlich hatte Vater auf diese Schreiben nicht reagiert, denn in einem dritten Schreiben wurde als Alternative für eine Untersuchung um die Entbindung von der Schweigepflicht gegenüber einem Fachärztegremium gebeten, damit sein Fall im Expertenkreis analysiert werden könne.
Auf der nächsten Seite fand Aron ein Antwortschreiben seines Vaters, in dem er zwar die Entbindung von der Schweigepflicht für das Fachgremium erteilte, gleichzeitig aber für den Fall eines Missbrauchs oder einer weiteren Belästigung die Einschaltung eines Anwalts ankündigte. Weiter fand Aron keine Unterlagen zu dem Unfall, nur die abschließende Abrechnung mit der Krankenkasse.
Aron klappte den Ordner zu und setzte sich aufs Sofa. Er musste nachdenken. Dafür, dass er nur ein paar alte Unterlagen durchgeblättert hatte, war er auf ziemlich viele merkwürdige Dinge gestoßen. Insbesondere die signifikante Depotumschichtung kurz vor Vaters Tod, in Kombination mit einer mehr oder weniger ungeklärten Todesursache, gefiel Aron gar nicht. Auch die Geschichte mit dem Unfall erschien ihm unklar.
Je länger er über die Unterlagen nachdachte, desto unbehaglicher fühlte er sich. Vielleicht sollte er zu Mutter nach Köln fahren und mit ihr reden. Weihnachten stand vor der Tür und ein Besuch war sowieso längst überfällig. Aron griff zum Telefon und wählte ihre Nummer. Mutter freute sich hörbar über seinen Rückruf. Noch mehr freute sie sich über seine Ankündigung, nächstes Wochenende nach Köln zu kommen und das Fotoalbum mitzubringen. Auch Aron freute sich, und das war neu. Er hätte es nicht genau erklären können, aber irgendetwas in seiner Einstellung zu Mutter begann sich kaum merklich zu verändern.
Es regnete, als sich Aron am Montag mit seinem kleinen Firmenwagen in den morgendlichen Berufsverkehr einreihte. Ein eher ungewöhnliches Wochenende lag hinter ihm. Weder hatte er an seinem Kostensenkungsplan gearbeitet, noch war er in die Firma gefahren, um seine Post durchzusehen und die Ablage zu erledigen, so wie er es sonst am Samstag zu tun pflegte. Er hatte am Wochenende einfach gar nicht an die Firma gedacht. Umso heftiger traf ihn seine Unlust, als er die Schranke zum Firmengelände der Huform GmbH passierte und den großen SUV von Peter Schneider auf dem Parkplatz mit dem Schild „Geschäftsführung“ neben dem Eingang des Verwaltungsgebäudes stehen sah. Aron hatte sich Schneider wie jeden Morgen möglichst weit weg gewünscht, auf einer Asienreise oder noch viel weiter weg, auf dem Mond zum Beispiel.
Im ersten Stock stieg ihm Kaffeeduft in die Nase. Arons beste Mitarbeiterin, Bettina Lange, genannt Betti, war schon da. Aron mochte Betti. Die stellvertretende Finanzchefin gehörte zu den dienstältesten Angestellten von Huform, obwohl sie noch keine vierzig Jahre alt war. Aron hielt einen Smalltalk mit ihr, nahm sich Kaffee und ging dann in sein Büro. Er schaltete den Rechner ein. Normalerweise war das der Moment, in dem er sich überlegte, wie er den Tag angehen wollte. Doch heute konnte er sich nicht konzentrieren. Er blickte auf den noch schwarzen Bildschirm und wartete gedankenlos darauf, dass die Eingabemaske für das Passwort erschien. Ihm war nicht nach Arbeiten zumute. Und dann kam auch noch Betti mit einer schlechten Nachricht herein. Schneider habe angerufen und wolle ihn bis spätestens halb neun sehen. Klar, dachte Aron, nächste Woche muss Schneider den Investoren seinen Rationalisierungsplan vorstellen. Und wer macht die Vorarbeit? Natürlich er, Aron, der Finanzchef von Huform. Dafür war er auch Prokurist und inoffizieller Stellvertreter des Geschäftsführers. Offiziell hatte Schneider das zwar nie bestätigt, aber er war der einzige Mitarbeiter mit Prokura und bei allen schwierigen Angelegenheiten Schneiders Ansprechpartner Nummer eins. Prokurist, Finanzchef und Assistent der Geschäftsleitung. Logisch, dass er für den Kostensenkungsplan zuständig war. Und jetzt wird Schneider nervös und will den Zwischenstand wissen, dachte Aron, während er seine Unterlagen zusammensuchte. Dann machte er sich auf den Weg in den zweiten Stock.
Schneider erwartete ihn schon. Das Gespräch dauerte keine 30 Minuten und Aron hatte das Gefühl, dass Schneider im Großen und Ganzen zufrieden mit seiner Arbeit war. Kein Wunder, waren es doch Schneiders Ideen, die Aron in seinen Plan übertragen hatte. Aron ärgerte sich, nicht mehr Widerstand geleistet zu haben, aber irgendwie hatte er momentan einfach nicht genug Energie, nicht ausreichend Selbstbewusstsein, um zu kämpfen und seine eigene Vorstellung von dieser Firma gegenüber Schneider und den Investoren zu vertreten. Und er scheute den Konflikt. Wenn er nicht mitspielte, würden sie ihn austauschen und er müsste sich einen anderen Job suchen. Danach stand ihm wirklich nicht der Sinn. Bewerbungen schreiben, Vorstellungsgespräche, die Unsicherheit. Lieber wollte er seine Energie darauf verwenden, endlich eine Partnerin zu finden. Er war schließlich schon 36. Die meisten seiner Freunde waren längst verheiratet und hatten Kinder.
Zurück im Büro ließ sich Aron in seinen Schreibtischstuhl fallen. Er war den Tränen nahe. Warum nur bekam er sein Leben nicht in den Griff? Die Arbeit wuchs ihm über den Kopf, ließ ihn seine Seele verkaufen, und eine Partnerin, bei der er Kraft und Optimismus hätte tanken können, war auch nicht in Sicht. Seit dem unschönen Ende mit Simone war es ihm nicht mehr gelungen, auch nur in die Nähe einer Beziehung zu kommen. Er hatte zu viel Angst vor einer neuerlichen Enttäuschung. Manchmal überlegte er, einfach wegzulaufen, von einem Tag auf den anderen zu verschwinden, wie es ein Schulfreund gemacht hatte. Ab nach Amerika und dort ein neues Leben anfangen. Aber Aron scheute davor zurück, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Was, wenn er die falsche Entscheidung traf?
Vielleicht geht es heute wenigstens an der Börse aufwärts, dachte er, und loggte sich bei seinem Online-Broker ein. Aber was er da sah, passte zu seiner Stimmung: Alles rot! Die Kurse sackten heute noch weiter durch. Bisher war es ihm trotz aller Bemühungen nicht gelungen, eine positive Rendite an der Börse zu erzielen. Dabei hatte er Betriebswirtschaftslehre studiert, um an Vaters Erfolge anknüpfen zu können. Doch es war anders gekommen. Nach dem Studium hatte er in Frankfurt zwei Jahre bei einer Bank in der Investmentabteilung gearbeitet. Ein Albtraum. Alles, was ihn vorher an der Börse fasziniert hatte, verlor bei diesem Job seinen Glanz. Er musste unter unvorstellbarem Druck arbeiten. Das Kaufen und Verkaufen von Wertpapieren hatte dort nichts von der spielerischen Leichtigkeit, an die er sich bei seinem Vater zu erinnern glaubte. Wenn das Gehalt nicht so unverschämt hoch gewesen wäre, hätte es Aron bei der Bank nicht lange ausgehalten. So aber wartete er, bis ihm sein Chef die Entscheidung über seine Zukunft abnahm und ihm die Kündigung überreichte, aus betrieblichen Gründen, wegen einer Umstrukturierung. Aron wusste es besser. Er hatte einfach nicht den Anforderungen genügt, war ein „Underperformer“ gewesen. Doch er konnte es verschmerzen. Die Finanzbranche war sowieso nicht sein Ding gewesen. Außerdem meinte es das Schicksal gut mit ihm. Keine fünf Tage nach der Kündigung hatte sich eine kleine Personalberatung aus Frankfurt bei ihm gemeldet und ihm einen Job bei einem Mittelständler im Norden Baden-Württembergs angeboten. Weiß der Teufel, wie die ausgerechnet auf ihn gekommen waren, jedenfalls hörte sich das Angebot nicht schlecht an, und da Aron einen neuen Job brauchte, ließ er sich auf ein Vorstellungsgespräch ein.
Und so kam er nach Heidelberg zu Huform, einem Hersteller von Kunststoff-Spritzgießwerkzeugen mit angeschlossener Spritzerei. Der Gründer und Inhaber der Firma, Hubertus Hugenbach, suchte einen neuen Controller. Schon beim ersten Vorstellungsgespräch war Aron begeistert. Hugenbach hatte klare Vorstellungen von seinem Unternehmen und eine sehr menschliche und authentische Ausstrahlung. Sein unternehmerisches Ziel beschrieb er als die Verwirklichung seiner persönlichen Leidenschaft für das Konstruieren von Werkzeugen und die Schaffung von sicheren Dauerarbeitsplätzen mit einem überdurchschnittlichen Einkommen für alle Mitarbeiter. Aron gefiel Hugenbachs menschliche Art auf Anhieb, und so fing er schon am nächsten Tag bei Huform an.
Ein Klopfen an der Tür riss Aron aus seinen Gedanken. Jan, der Produktionsleiter von Huform, kam herein gestürmt und knallte geschäftig seine Unterlagen auf den Besprechungstisch. Jan kam Aron wie gerufen, hatte Schneider ihn doch gebeten, mit Jan über die geplante Produktionsverlagerung nach Malaysia zu sprechen.
„Ich habe das ganze Wochenende an euren Verlagerungsplänen für die Produktion herumgerechnet“, legte Jan los. „Da habt ihr mir ja ein schönes Ei ins Nest gelegt.“
Aron lächelte gequält und bat Jan Platz zu nehmen.
„Ich meine es wirklich ernst“, fuhr Jan fort. „Bei Betrachtung der reinen Primärkosten würde sich ein Umzug sogar lohnen. Und wenn ich diese Zahlen an Schneider weitergebe, dann sind wir im Frühjahr schon in Malaysia.“
Aron schauten seinen Kollegen ungläubig an.
„Keine Sorge, Aron. Die Rechnung sieht nur auf den ersten Blick gut aus. Bei Betrachtung der Folgekosten wendet sich das Blatt. Außerdem sind wir uns ja wohl einig, dass ein Umzug des Werkzeugbaus den endgültigen Tod der Firma Huform bedeuten würde.“
„Die Firma ist an dem Tag gestorben, an dem Hubertus Hugenbach zum letzten Mal mit seinem alten Mercedes vom Hof gefahren ist“, erwiderte Aron. „Was wir jetzt erleben, sind doch nur die Spätfolgen!“
„Aber muss das wirklich so sein?“, fragte Jan. „Sollten wir nicht versuchen, Schneider von der Idee abzubringen, die Produktion zu verlagern?“
„Jan, darüber haben wir doch schon so oft gesprochen. Huform gehört nun mal nicht mehr einem alten verrückten Ingenieur, dessen kompletter Lebensinhalt diese Firma ist. Die Investoren, die dem neuen Inhaber ihr Geld gegeben haben, wollen eine hohe Rendite sehen - und Schneider muss sie liefern. Er steht unter brutalem Druck. Warum sollte er die Produktion nicht nach Asien verfrachten, wenn er damit die Rendite hochhalten kann?“
„Dann lass mich dir meine Berechnung erklären. Wir werden, wenn wir die Werkzeuge in Asien produzieren lassen, zwar geringere Produktionskosten haben, dafür werden die Reklamationen zunehmen. Und dann werden wir die Preise weiter senken müssen, bestimmt um 5 bis 10 Prozent. Da die Produktionskosten nur einen Teil unserer Gesamtkosten ausmachen, aber das weißt du ja besser als ich, reichen 10 Prozent Preisreduktion schon aus, um den ganzen Vorteil der Produktionsverlagerung aufzubrauchen. Und dann kommt noch der Imageverlust hinzu: Huform wird zur Billigmarke! Wir werden weiter Bestandskunden verlieren und die Preise noch weiter senken müssen, um neue Kunden zu gewinnen. Ein Teufelskreis. Ich sage Dir, wir laufen auf den Abgrund zu!“
Aron schwieg. Natürlich hatte Jan Recht. Aron ergriff ja nur deshalb Partei für Schneider, weil er keine Lust hatte, sich mit seinem Chef anzulegen. Eigentlich trauerte auch er den alten Zeiten nach. Unter Hugenbach war die Firma ein Musterbeispiel für Transparenz und Menschlichkeit gewesen. Sicher, Hugenbach hatte viel von seinen Mitarbeitern verlangt. Wer krank feierte, gegen den Ehrencodex der Firma verstieß oder durch sein Verhalten Firmeneigentum oder andere Kollegen schädigte, wurde sofort gefeuert. Dafür hielt Hugenbach gierige Investoren von der Firma fern und schüttete die Gewinne zum großen Teil an die Mitarbeiter aus, und zwar nicht prozentual zum Gehalt oder Lohn, sondern absolut. Jeder Mitarbeiter bekam also die gleiche Summe. Insbesondere für die Arbeiter in der Produktion war das eine tolle Sache. Entsprechend niedrig war die Fluktuation. Die hohe Mitarbeiterzufriedenheit wirkte sich auch positiv auf den Umsatz aus. Die Kunden schätzten die motivierten Mitarbeiter und die transparente Preispolitik von Huform.
Wie alles im Leben hatte aber auch diese Medaille zwei Seiten. Hugenbach war Tag und Nacht für seine Firma da. Seine Familie machte das sehr lange mit, aber nachdem die Kinder ausgezogen waren, kam es zum großen Knall. Aron kannte die Details nicht, aber die Scheidung artete wohl zu einem Rosenkrieg aus, an dessen Ende Hugenbach keine andere Wahl hatte, als die Firma zu verkaufen, um seine Frau auszubezahlen. Das passierte ausgerechnet im Jahr 2008, als eine schwere Wirtschaftskrise die Welt erfasste. Für einen viel zu niedrigen Preis übernahm schließlich die deutsche Private-Equity-Gesellschaft PEF Hugenbachs Anteile. Der Firmengründer verschwand daraufhin mit seiner neuen Freundin nach Südfrankreich, um sich zukünftig mit Philosophie und Antiquitäten zu beschäftigen.
Seitdem musste sich Aron mit einem neuen Chef herumschlagen: Peter Schneider, eingesetzt von PEF, um die Rendite von Huform auf Vordermann zu bringen. Als erste Amtshandlung schaffte Schneider die gleichteilige Mitarbeiterausschüttung ab und wandelte sie in ein Bonussystem für das Management um. Zusätzlich wurden Stellen gestrichen und Leute entlassen. Das übliche Programm.
„Eigentlich geht es uns doch um etwas ganz anderes“, sagte Jan. „Es ist mir egal, ob die Verlagerung der Produktion in ein Billiglohnland gut für die Rendite ist oder nicht. Es geht mir um die Identifikation, um uns, um dich und mich, um Betti und die Jungs an den Maschinen. Bist du noch stolz, wenn du morgens in die Firma kommst? Freust du dich, wenn unser Geschäftsführer im Haus ist?“
Aron gab keine Antwort.
„Ich sage dir was“, fuhr Jan fort. „Wenn wir jetzt nicht die Kurve kriegen und uns etwas einfallen lassen, dann hau ich ab. Ich werde nicht zuschauen, wie das alles hier vor die Hunde geht, was ich mit Hugenbach in 20 Jahren aufgebaut habe. Eigentlich habe ich mir das schon viel zu lange angeschaut. Und du sitzt immer noch da und verteidigst die Investoren und sprichst von Rendite. Klar, das mag ja alles richtig sein, aber wo bleiben wir? Wo ist unsere Rendite?“
„Mein Gehalt hat sich nicht schlecht entwickelt, seit Hugenbach weg ist“, entgegnete Aron trotzig. „Darüber kann ich mich wirklich nicht beklagen.“
„Du nicht, du bekommst ja deinen Bonus. Aber was ist mit den anderen, mit den Jungs und Mädels bei mir unten? Außerdem denke ich dabei nicht nur ans Geld. Ich will mich mit meiner Arbeit identifizieren und sie soll auch einen Sinn haben. Jetzt arbeite ich nur für unsere gierigen Investoren, die sowieso schon randvolle Taschen haben. Verstehst du nicht, was ich meine?“
„Klar verstehe ich, was du meinst, aber die Zeiten ändern sich nun mal.“
„Tun sie das wirklich? Ich glaube, die Menschen haben die Schnauze voll von der reinen Fokussierung auf Rendite. Ich sage dir: Hugenbach war seiner Zeit um Jahre voraus. Das ist es, was wir Schneider beibringen müssen!“
„Sei doch nicht naiv, Jan. Schneider kann doch nicht herummenscheln, wie es ihm gerade passt. Der muss sein Budget erfüllen, sonst ist er weg vom Fenster!“
Jetzt war es Jan, der schwieg.
Aron lenkte ein: „Aber du hast ja Recht. Es wäre mir auch lieber, wenn wir wieder so arbeiten könnten wie unter Hugenbach. So schlecht war die Rendite der Firma damals auch nicht. Ich konnte jedenfalls gut damit leben.“
„Klar, ich auch“, stimmte Jan zu.
Für einen Moment schwiegen beide, dann fuhr Jan fort: „Wir waren durch die Übernahme so eingeschüchtert, dass wir alles gemacht haben, was Schneider von uns verlangt hat. Damit muss jetzt Schluss sein! Es bringt nichts, abzuwarten und auf bessere Zeiten zu hoffen. Wir müssen die Realität anerkennen. Es wird nicht besser, es wird immer nur schlechter. Wir entfernen uns immer weiter von dem, was uns Spaß und Freude macht. Lass uns innehalten und wirklich überlegen, was wir ändern können.“
„Klingt toll. Aber ich sage dir: solange Schneider das Sagen hat, ändert sich gar nichts“, entgegnete Aron.
„Woher weißt du das? Hast du mal mit ihm darüber gesprochen? Kennst du seine Meinung zu den Dingen? Hast du ihn jemals in eine Diskussion verwickelt?“
„Das ist gar nicht notwendig. Er sagt doch genau an, wo es langgeht. Mit seinen Vorstellungen hat er ja nie hinter den Berg gehalten.“
„Aber hast du ihm mal erklärt, was diese Firma unter Hugenbach ausgemacht hat und warum wir so ein verschworener Haufen waren? Ein Haufen, der ihm bald auseinanderlaufen wird.“
„Nein, hab ich nicht.“
„Dann wäre es vielleicht mal an der Zeit, das zu tun, schließlich bist du am nächsten an ihm dran. Und wenn du es nicht tust, dann tue ich es.“
„Ich denke darüber nach, Jan. Lass uns jetzt bitte über etwas anderes sprechen.“
„Okay, wie wäre es mit dem Thema Frauen?“ fragte Jan grinsend.
Aron verzog das Gesicht. Warum quälte Jan ihn heute so beharrlich? Er hatte doch sowieso schon ein latent schlechtes Gewissen seinen Kollegen gegenüber. Noch mehr schämte sich Aron aber vor sich selbst. Schneider hatte ihn damit betraut, die Umsetzung der bereits beschlossenen Kostensenkungsprogramme zu kontrollieren und zu verfolgen. Da blieben Konflikte mit der Belegschaft nicht aus. Einige Kollegen hatten ihn bereits als Schergen des Teufels bezeichnet. Aber bisher war der Ärger mit den Kollegen für ihn immer noch das geringere Übel gewesen, verglichen mit der Option, gegen seinen Chef aufzubegehren und seinen Job aufs Spiel zu setzen. Gut tat ihm das allerdings nicht. Aron merkte selbst, dass er so nicht weitermachen konnte, verschob aber die Entscheidung darüber, wie er seine Zukunft bei Huform gestalten wollte, von einem Monat zum nächsten und verdrängte seine Unzufriedenheit. Irgendwie gelang es ihm immer noch, ausreichend zu funktionieren und sein Arbeitspensum einigermaßen unbeschadet herunterzuspulen. Er näherte sich aber einem Punkt, an dem er nicht mehr weitermachen konnte. Jetzt noch einen Kostensenkungsplan gegen seine Kollegen und seine Überzeugung umzusetzen, würde er nicht durchstehen. Aber welche Alternative hatte er? Er musste Zeit gewinnen und in Ruhe darüber nachdenken.
„Lass uns morgen weiterreden“, sagte er. „Ich bin heute nicht gut drauf.“
„Ist okay, ich muss sowieso wieder in die Produktion“, erwiderte Jan. „Aber bitte tu etwas. Gib Schneider endlich Kontra, bevor es zu spät ist.“
„Ich denke darüber nach, Jan. Versprochen.“
Jan verließ das Büro und Aron blieb regungslos am Besprechungstisch sitzen. Er hörte das Blut in seinem Kopf rauschen. Sein Herz schlug schnell. Was wollten sie nur alle von ihm? War er der Heiland? Er musste hier raus! Er konnte morgen seine Kündigung einreichen, seinen Schreibtisch räumen und drei Monate Urlaub machen. Wer hinderte ihn daran? Aron gefiel die Idee. Sie würde ihn auf einen Schlag von 50 Prozent seiner Sorgen befreien. Jedenfalls vorerst. Aber was sollte er nach dem Urlaub tun? Von irgendetwas musste er schließlich leben. Er verwarf die Idee mit der Kündigung und machte sich daran, die Präsentation für Schneider fertigzustellen, diesmal aber als ungeschönte Version, mit einigen kritischen Kalkulationen zur Produktionsverlagerung. Am nächsten Morgen schickte er die Datei mit zittrigen Fingern ab.
Aron musste bis Freitag auf ein Feedback von Schneider warten. Als er am Nachmittag endlich zu seinem Chef vorgelassen wurde, war er nervös. Doch das Gespräch dauerte nicht einmal fünf Minuten und nahm einen vollkommen unerwarteten Verlauf. Schneider bedankte sich für die Präsentation und kündigte an, nächste Woche mit einer neuen Aufgabe auf Aron zuzukommen, nämlich mit der Vorbereitung eines Verkaufs von Huform. Dann entschuldigte sich Schneider, eilig zum Flughafen aufbrechen zu müssen, und versprach, Aron am Mittwoch nächster Woche über die Beschlüsse der PEF Gesellschafterversammlung zu informieren. Bis dahin solle Aron das Gesagte vertraulich behandeln.
Verwirrt, aber durchaus besser gelaunt als vor dem Gespräch, ging Aron zurück in sein Büro. Eine Weile dachte er über die möglichen Konsequenzen von dem nach, was er da eben erfahren hatte, war aber nicht in der Lage, sich ein klares Bild zu machen. Also rief er Jan an und erzählte ihm von dem wahrscheinlich bevorstehenden Verkauf der Firma. Auch Jan war nicht sicher, ob er die Nachricht positiv oder negativ aufnehmen sollte. Am Ende des Gespräches waren sich dann aber doch beide einig, die Sache als Chance zu betrachten.
Am späten Nachmittag disziplinierte sich Aron, an etwas anderes zu denken, an eine Privatangelegenheit, die ihn am Wochenende beschäftigt hatte. Er zog den Brief des Professors aus der Tasche, der 1977 seinen Vater zu dem Ringversuch über Selbstheilungskräfte eingeladen hatte. Er rief in der Klinik an. Von einer Assistentin erfuhr er, dass Professor Blasius schon lange pensioniert sei, es aber einen Nachfolger gäbe, einen Professor Maximilian Thorn, der allerdings aufgrund einer Dienstreise erst nächste Woche wieder zu sprechen sei. Aron ließ sich die E-Mail-Adresse von Professor Thorn geben und formulierte eine Nachricht, in der er die Ringuntersuchung aus dem Jahr 1977 erwähnte, und dass sein Vater damals dazu eingeladen worden war. Da sein Vater inzwischen nicht mehr lebe, er aber wichtige Erkenntnisse über dessen außerordentliche Selbstheilungskräfte gewonnen habe, wolle er sich gerne mit Professor Thorn über das Thema unterhalten.
Aron las seine Nachricht noch einmal durch und schickte sie zufrieden ab. Bestimmt würden seine Worte die Neugierde des Professors erregen.
Gedankenverloren beobachtete Aron die Flugzeuge, die sich am Horizont vom hellblauen Winterhimmel absetzten und wie an einer endlosen Perlenkette aufgereiht der Landebahn entgegenschwebten. Er war also schon in Frankfurt. In einer Stunde würde der ICE Köln erreichen. Ein beklemmendes Gefühl stieg in ihm hoch, ein seltsam dumpfer Impuls, der sich innerhalb weniger Minuten in heftigen Schluckbeschwerden manifestierte. Aron kannte dieses Gefühl. Seit er aus Köln weggezogen war, machte sich sein Unterbewusstsein regelmäßig auf diese Weise bemerkbar, sobald er sich seiner Mutter näherte.
Er griff nach der Wasserflasche und nahm einen kräftigen Schluck, um den unangenehmen Klos hinunterzuspülen. Es würde ihm leichter fallen, mit Mutter zu sprechen, wenn sein Hals nicht schmerzte und er keine Angst hatte, weder vor den Dämonen seiner Kindheit, noch vor seinem schlechten Gewissen, das ihn regelmäßig heimsuchte, seit Mutter im Rollstuhl saß. Ein Schlaganfall hatte vor drei Jahren zu einer irreversiblen Lähmung ihrer Beine geführt. Auf Genesung bestand keine Hoffnung. Mutter hatte den Schicksalsschlag zunächst nicht akzeptieren wollen und vehement darauf gepocht, trotz ihrer Behinderung den Alltag weiterhin alleine bestreiten zu dürfen, aber Aron und die Ärzte hatten ein Veto eingelegt und sie zu einem Umzug ins Pflegeheim gedrängt. Nach langem Hin und Her hatte sie schließlich nachgegeben und war in ein von Aron ausgesuchtes und nach seiner Meinung sehr schönes privates Heim gezogen. Um sich für diese Niederlage zu revanchieren, versäumte es Mutter seither nicht, Aron regelmäßig auf das angeblich unfreundliche Pflegepersonal, das abscheuliche Essen und andere untragbare Missstände im Heim hinzuweisen. Aron schaltete jedes Mal auf Durchzug. Er hatte sich in der Anfangszeit nach Mutters Umzug intensiv mit der Situation im Heim auseinandergesetzt und war zu dem Schluss gekommen, dass es Mutter sehr gut getroffen hatte und es keinen Grund für sie gab, sich zu beklagen.
In Köln angekommen schlenderte Aron durch die Sonne zum Taxistand hinüber. Die frische Luft tat ihm gut und er fühlte sich bereits besser. Als er kurz darauf das Appartement im ersten Stock des Seniorenheims betrat, kam ihm Mutter freundlich lächelnd entgegengerollt. Sie trug ein schönes dunkelblaues Kleid und hatte sich offensichtlich für seinen Besuch aufwendig geschminkt. Einen Moment war Aron auf eigenartige Weise gerührt. Er beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Mutter beförderte sich mit zwei kräftigen Schüben zum Tisch hinüber und bat Aron, Platz zu nehmen. Es roch nach Kaffee.
Aron ließ den Blick durch das Appartement schweifen. Es sah aufgeräumt und ordentlich aus. Kurz nach dem Umzug hatte Mutter die Ordnung aus Ärger über ihre neue Bleibe eine Weile lang vernachlässigt gehabt. Zwar war diese Phase mit tatkräftiger Unterstützung der Schwestern bald vorbei gewesen, aber so ordentlich wie heute hatte er das Appartement noch nie vorgefunden.
Mutter begann über das Leben im Heim zu plaudern. Offenbar war sie heute nicht auf Krawall gebürstet, denn anders als bei seinen letzten Besuchen jammerte sie nicht, sondern lobte die neue Heimleitung. Überhaupt gab sich Mutter Mühe, das Wiedersehen mit ihrem Sohn positiv zu gestalten. Sie schenkte Kaffee ein und fragte, einem festen Ritual folgend, nach seiner Arbeit. Aron hatte inzwischen gute Laune und verzichtete auf das übliche „alles in Ordnung“, das er sonst bei dieser Gelegenheit als Bollwerk gegen persönliche Fragen zu platzieren pflegte. Stattdessen erzählte er davon, die Firma verlassen zu wollen, falls es ihm nicht gelänge, die Firmenstrategie zu verändern.
Ungeduld verleitete Aron aber, das Thema Huform schnell zu beenden. Er zog das alte Fotoalbum aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Mutter warf ihm einen erschreckten Blick zu.
„Ich habe das Album gefunden“, sagte er und schaute Mutter aufmunternd an. Endlich verschwand der ängstliche Ausdruck aus ihrem Gesicht und verwandelte sich in ein Lächeln. „Danke, Aron. Ich habe es wirklich so sehr gesucht.“
Mit einer zögerlichen Geste zog sie das Album zu sich heran und schlug es auf. Einige Minuten schaute Aron schweigend zu, wie Mutter fasziniert die Bilder betrachtete. Dann wurde ihm die Stille unangenehm und er sagte: „Ihr seht sehr glücklich aus.“
Mutter nickte, ohne den Blick von den Bildern abzuwenden.
Aron rückte näher an Mutter heran und blickte ebenfalls in das Album. Nachdem er die Bilder jetzt zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage sah, schaute er sich diesmal die Hochzeitsgäste etwas genauer an. Dabei fiel ihm auf, dass offensichtlich nur sehr wenige Gäste zu der Feier eingeladen waren. Er sah Vaters Eltern, Mutters Eltern, Mutters Schwester und zwei oder drei andere junge Paare, die er nicht kannte.
„Warum habt ihr so wenig Gäste eingeladen?“, fragte er.
Mutter überlegte einen Moment. „Gerhard wollte eigentlich gar nicht feiern. Er hat es mir zuliebe getan. Und ich habe aus Rücksicht auf ihn nur meine engsten Freunde eingeladen.“
„Hat Vater keine Freunde eingeladen?“
Mutter blätterte zurück und sah sich die Bilder noch einmal genauer an. „Nein, Gerhard hat niemand eingeladen. Nur seine Eltern waren da.“
„Aber warum? Hatte er keine Freunde?“
Wieder zögerte Mutter. „Dein Vater war ein Einzelgänger. Er hat sich nicht viel aus Freunden gemacht. Das heißt aber nicht, dass er menschenscheu gewesen wäre.“ Sie hielt kurz inne. „Außerdem war da schon ein Freund, der war auch eingeladen, hat dann aber abgesagt. Irgendwie konnte er zu Hause nicht weg oder musste arbeiten. Der war auch nicht aus Köln, sondern aus Heidelberg. Ein paar Tage später ist er dann aber doch noch zu uns gekommen und hat ein großes Geschenk mitgebracht.“
„Vater hat einen Freund in Heidelberg gehabt? Davon wusste ich gar nichts.“
„Ja, ein netter Mann. Er hat gut zu Gerhard gepasst. Sie waren sich irgendwie ähnlich, fast wie Brüder. Oft haben sie sich aber nicht gesehen, vielleicht zweimal im Jahr.“
„Kannst du dich an seinen Namen erinnern?“, fragte Aron, dem spontan die Idee kam, im Internet nach dem Mann zu recherchieren. Vielleicht lebte er noch in Heidelberg und Aron konnte ihn ausfindig machen. Aber Mutter konnte sich nicht an den Namen erinnern, nur dass er irgendwie altmodisch geklungen habe, wusste sie noch.
Mutter blätterte weiter.
„Du warst ein hübsches Baby“, sagte sie, als sie zu dem Bild kam, das Aron im Arm seines Vaters zeigte. Aron fand sich hässlich. Aber sein Vater sah gut aus. Verdammt gut.
„Hat Vater eigentlich viele Frauen gehabt?“, fragte er. „Ich meine, bevor ihr euch kennengelernt habt.“
Mutter lächelte. „Nein, überhaupt nicht. Gerhard hat immer gesagt, ich sei die Liebe seines Lebens und seine erste und einzige Frau. Das war schön.“
„Wirklich? Er sieht wie ein Frauenheld aus.“
„Er war sehr attraktiv, aber er war gewiss kein Schürzenjäger. Ich war immer seine Nummer eins. Es gab auch keine Verflossenen, mit denen er Kontakt gehabt hätte.“
Aron musste an sich selbst denken. Auch ihm hatte man schon nachgesagt, er sei ein Frauentyp, aber er hatte das bislang nie so empfunden. Eher im Gegenteil: Er tat sich schwer mit Frauen.
„Was war Vater überhaupt für ein Mensch?“, fragte Aron.
Mutter zögerte. „Wo soll ich da anfangen? Er war ein wunderbar liebevoller Mensch. Sehr introvertiert, aber mit viel Tiefe und Liebe gesegnet.“ Einen Moment hielt sie inne, dann begann es, aus ihr herauszusprudeln. „Er war zurückhaltend und schweigsam, aber wenn er etwas sagte, dann hatte es immer Hand und Fuß. Das hat ihm eine starke Autorität verliehen, ohne dass er ein lautes Wort sprechen musste. Ich habe ihn dafür bewundert. Und er war immer voller Anteilnahme für die Nöte und Sorgen anderer Menschen. Nur was seine eigenen Gefühle betraf, da war er sehr verschlossen. Das hat mich manchmal fast ein bisschen gekränkt.“
Mutter senkte den Blick und begann, weiter im Album zu blätterten. Sie schaute sich jedes Bild sehr genau an, bis sie zu einem Foto kam, auf dem Aron neben einem Mädchen zu sehen war. Aron musste die Seite beim letzten Mal überblättert haben, denn er kannte das Bild nicht. Mutter schaute nur kurz darauf und blätterte dann schnell weiter.
„Warte mal!“, sagte er. „Wer war das da auf dem Bild eben, das Mädchen neben mir?“
Mutter reagierte nicht und blätterte weiter.
„Bitte geh noch mal zurück“, beharrte er. Zögernd blätterte Mutter zurück.
„Wer ist das Mädchen?“, fragte er noch einmal.
„Marie Hauswald“, antwortete Mutter unwillig und verzog das Gesicht. „Eine Freundin deines Vaters.“
Also doch, dachte Aron. Es hätte ihn ja auch gewundert, wenn Mutter konkurrenzlos gewesen wäre, so gut wie Vater ausgesehen hat. Er beugte sich nach vorne und schaute sich das Bild näher an. Der kleine Aron war vielleicht fünf Jahre alt und hatte eine Kappe von der Verkehrswacht auf. Neben ihm stand ein dunkelhaariges dünnes Mädchen mit sehr schönen Augen und einem melancholischen Blick. Jetzt sah Aron, dass sie jünger war, als es auf den ersten Blick schien, denn ihr Körper wies noch keine ausgeprägten weiblichen Rundungen auf. Er schätzte sie auf elf oder zwölf Jahre, obwohl ihr Gesicht älter wirkte.
„Ein bisschen jung für Vater!“, sagte er feixend.
„Ja, das habe ich auch gedacht“, erwiderte Mutter ernst.
Aron sah sie mit einem fragenden Blick an.
„Nein, zwischen den beiden ist nie etwas gewesen“, beeilte sich Mutter klarzustellen. „Aber gefallen hat mir diese Freundschaft nicht, daran kann ich mich gut erinnern.“
Aron wandte sich noch einmal dem Bild zu. Je länger er es betrachtete, desto mehr faszinierte ihn dieses Mädchen. Sie war wirklich ausgesprochen hübsch. Es war vor allem ihr Blick, der Aron gefiel. Irgendetwas löste er in Aron aus, ein fernes Erkennen, ein kurzes Aufblitzen einer Erinnerung.
„Woher kannte Vater sie?“, fragte er.
„Ich glaube sie war ein Fan von ihm. Er hat doch jede Woche wundervolle Kindergeschichten in der Zeitung veröffentlicht und manchmal auch Lesungen gehalten. Ich glaube bei einer dieser Lesungen ist es ihr irgendwie gelungen, seine Aufmerksamkeit zu erringen.“
Nicht schwer, wenn man so hübsch ist, dachte Aron.
„Dein Vater hat sehr viel Zeit mit ihr verbracht. Zu viel Zeit, wie ich fand, aber sie war ja wirklich noch sehr jung, ich glaube nicht älter als zwölf. Das war eine ganz harmlose Freundschaft. Gerhard hat sie mehrfach als Babysitterin engagiert, wenn wir mal ins Kino gegangen sind. Sie hat sich recht gut mir dir verstanden. Ich glaube, du hast sie gemocht.“
Aron dachte nach, aber es gelang ihm nicht, das vertraute Gefühl, das er beim Betrachten dieses Mädchens empfand, mit einer realen Erinnerung zu verknüpfen.
Mutter blätterte weiter und Aron spürte, dass sie kein Verlangen danach hatte, länger über das Mädchen zu sprechen. Also schwieg er, beschloss aber, auf eigene Faust mehr über sie zu erfahren.
Und dann hielt Mutter plötzlich das Foto von 1927 in der Hand, das mit der Kleinfamilie auf der Alten Brücke in Heidelberg. Aron fragte, wer darauf zu sehen sei und Mutter erklärte, dass es sich bei der jungen Frau um eine Bekannte ihrer Großmutter mütterlicherseits handele, eine Hebamme, die bei ihrer Geburt zugegen gewesen sei.