Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als Ralf Ritter, erfolgreicher Rechtsanwalt, erfährt, dass seine Frau ihn betrügt, beschließt er, sie zu töten. Nichts ahnend lockt er sie in ein abgelegenes Haus mitten im Wald, dessen ehemaliger Besitzer seit vielen Jahren verschollen ist. Dort möchte er zuschlagen! Aber als ein schrecklicher Unfall geschieht, wird alles anders ... Denn fortan sucht sie etwas Böses heim ... Etwas Grauenhaftes ... Rastlos zieht es seine Kreise um das Haus und greift jeden an, der es verlässt ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 334
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Rebeka Ritter
Ralf Ritter
Sie rannte den Gang entlang. Die hölzernen Wände an den Seiten waren alt, beinahe verfallen. Von den ehemals weißen Tapeten hingen Streifen ab, die sich zusammenrollten. Die Luft roch nach Staub und Asche. Der Gang führte um die Ecke. Sie bremste und hielt sich die Hand vor den Mund. Sie atmete schwer. Ihr Kreislauf schien verrückt zu spielen.
Panisch drehte sie sich um und hörte das Rasen ihres Herzens, das drohte, jeden Moment aus ihr herauszuspringen.
War es noch da?
Ihre Sicht verschwamm. Ruckartig sah sie wieder nach vorne und rannte den Gang entlang. Ihre Gedanken rasten.
Lass nicht zu, dass die Angst dich übermannt!
Ein kratzendes Geräusch.
Keuchend sah sie zurück, dorthin, wo sich die Streifen der abgehenden Tapeten zu kleinen Partikeln auflösten und wie Schneekörner durch die Luft glitten. Von der Decke warfen Lampen glimmendes Licht herab. Einige flackerten … klack, klack, klack …
Rebeka fröstelte. Etwas näherte sich. Ein Schatten. Eine Gestalt.
Es.
Plötzlich erschien dort hinten der Umriss einer Hand, fünf Finger. Lang, spitz. Sie streckten sich nach ihr, wollten sie greifen …
Rebeka klappte der Mund auf. Klack, klack, klack, machten die Lampen. Dann war da eine leise Stimme, die sich wie das Wimmern eines Kindes anhörte. Bedrohlich dicht an ihrem Ohr.
»Komm, Rebeka, ich fang dich ...!«
Aus den hinteren Schatten lösten sich blutrote Umrisse, schwarz verbrannte Hautstellen.
Panisch rannte Rebeka weiter. Ihre Knie taten weh und sie hatte bald keine Kraft mehr.
Gib auf, raunte eine Stimme in ihr.
NEIN!
Niemals durfte es sie erreichen. Dieses Wesen. Niemals, denn sonst … sonst …
LINKS!
Sie rannte nach links und rang nach Luft. »BITTE. HILFE! Ich kann nicht mehr!«
Das Licht flackerte. Alles sah so gleich aus. So … eintönig.
Da vorn – mein Gott … befand sich eine halb aus den Angeln hängende Tür in der Wand. Und sie stand offen.
Rebeka lief der Schweiß über die Stirn. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
War das die Zuflucht?
Der Raum hinter der Tür war rot. Rote Wände, rote Böden, ein rotes Bett. Die Luft war eine rote Nebelwand.
Vor dem Bett stand ein kleiner Junge, der mit einem Finger auf die zerknüllte Matratze zeigte. Das Gesicht des Jungen … Dieses Gesicht war kein richtiges. Ein mittiger Strudel aus Haut und Blut saugte Teile des Gesichts in sich hinein. Es war eine Art rotes Loch. Ein Abgrund.
Rebeka schluckte. Der Junge zeigte auf das Bett und dort … dort lag etwas … oder jemand. In dem Bett – Neeein …
Es …
In dem Bett lag sie. Die Decke bis zum Hals gezogen. Die roten Kissen unter dem geschwollenen Kopf. Das Gesicht weiß, als wäre sie krank, und weiter unten …
Da fehlten ihre Arme. Sie waren weg, als hätte man sie ihr aus dem Körper gerissen. Ihre Lippen strahlten rot und das Schrecklichste: In ihren Augen steckten Schläuche, die etwas in sie hineinpumpten. Etwas Weißes, Rotes, Weißes, Rotes.
Die Person schrie.
Rebeka zitterte. Ein krampfender Laut kam aus ihrem Ebenbild heraus, hallte durch die Gegend, durch den Raum, in ihre Richtung.
Schreiend stürmte Rebeka von der Tür weg.
»HILFE!«, rief sie.
Links, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf.
Rebeka bog ab und rannte wieder voran. Plötzlich war da noch eine Tür. Eine stabile Holztür mit einem runden, silbernen Griff. Vor ihr blieb sie stehen, zog.
Die Tür gab nicht nach …
Oh neeein. Und gleich wäre das Monster da.
Sie nahm Anlauf und warf sich mit Wucht gegen die Tür. Sie hielt.
»Komm, Rebeka, lass dich fangen ...!«
NIEMALS!
Erneut nahm sie Anlauf, rannte gegen die Tür und … krachte hindurch. Der folgende Raum war mit weißen Federn gefüllt. Sie trieben in alle Richtungen ab, hierhin, dorthin, als würden sie eine Friedlichkeit einfangen, die es nicht gab. Hier war es hell, voller Licht, das scheinbar keine Quelle hatte. Dieser Ort war … magisch.
»Ich komme, Rebeka …!«, zischte das Monster mit der unheimlichen Kinderstimme.
Hastig sah Rebeka sich um. Links ragte eine weiße Tür aus der Wand. Sie war verschlossen. Ein Junge mit dem gleichen schrecklichen Gesicht wie der vorhin bewachte sie. Rebeka stürzte auf ihn zu und warf sich gegen die Tür.
Sie hielt.
Ein Schritt war zu hören. BUM. Dann noch einer. BUM.
Der Raum erzitterte. Die Wände bebten.
Lauf, Rebeka, hörte sie es in ihren Gedanken. Es war wieder diese Stimme, diese …
Unvermittelt wandte sich ihr der Junge zu. Seine trüben Augen an den Rändern des Strudels schienen in alle Richtungen zu sehen, aber dann blickten sie nach innen, in das Loch hinein, das sein Gesicht entstellte. Rebeka starrte in das Loch.
Darin liegt der Tod, dachte sie, während sie Kälte einhüllte wie ein Mantel. Aber dort hinten … Sie sah zu der Tür, durch die sie gekommen war … Dort war auch nur Tod ...
Rebeka packte den Jungen an den Schultern, aber ließ ihn sofort wieder los, als ihre Finger fast zu Eis erstarrten.
Die Augen des Jungen starrten nach innen, in das Loch in seinem Gesicht. Dann auf sie, das Loch, auf sie, das Loch …
Nein, nein, nein.
»HÖR AUF DAMIT!« Wütend schlug sie dem Jungen mit der Faust in das Loch. Ihre Hand verschwand. In diesem Moment knackte es und die Tür ging auf. Mit einem lauten Quietschen schlug sie zurück.
Rasch riss sie ihre Faust aus dem Loch und sah, wie der Junge kraftlos nach hinten kippte und sich auf dem Boden auflöste. Puff. Als hätte er nie existiert.
»REBEKA!«, wimmerte es von hinten.
Ihr Atem stockte. Sie sah zurück. Der Puls raste in ihren Ohren. BUM-BUM … BUM-BUM … Dort stand es. Wie eine Ausgeburt der Hölle. Das Monster mit dem Gesicht auf der Zunge.
Es lag im Schatten, als hätten sich die Lampen an der Decke mit der Ankunft des Wesens ausgeschaltet und beschlossen, nie wieder anzugehen. Nur der Kopf war zu sehen, groß, unförmig, rot, mit langen, schwarzen Strähnen über einer krankhaft hohen Stirn. Die Augen glänzten rot und silbrig. Im riesigen Maul lag eine Zunge, so lang wie eine Schlange, und darauf hockte ein kleines rotes Gesicht mit glühenden Augen. Es gab den wahnsinnigen Ton eines lachenden Kindes von sich: »Fang mich, Rebeka. Ich bin gleich bei diiiir!« Dann rückte ein Fuß vor. Kein richtiger Fuß. Da war nur ein langer, roter Stock, dünn, eigentlich zu dünn, aber das Wesen hielt sich aufrecht.
Rebeka stürzte in den neuen Raum und schlug die Tür hinter sich zu. Es knallte. Dann war es still.
Die Wände dieses Raumes waren aus Stein. Es gab drei Fenster, von denen eines offen war. Rechts hing ein Bild an der Wand, auf dem ein älterer Mann zu sehen war. Seine funkelnden Augen waren vorwurfsvoll auf sie gerichtet und als sie einen Schritt nach vorn machte, folgte ihr sein Blick.
Unweit der Tür stand ein leerer, hölzerner Schaukelstuhl, der leicht wippte, obwohl ihn niemand benutzte. Aber ... wie …
Dann sah sie sie. Eine Gestalt am Fenster. Sie war komplett in Weiß gehüllt und als sie sich herumdrehte, war ihr Gesicht nicht zu sehen. Darüber trug sie einen opaken, weißen Schleier.
Erschrocken wich Rebeka zurück. »Wer bist du?«, fragte sie zitternd.
»Ich habe dir geholfen. Ist das etwa der Dank dafür?« Eine heiße Welle stieg in Rebeka auf. Würde das Monster gleich kommen und sie zerreißen? Und wer war diese Frau?
»Wer bist du?«
»Ich … bin hier und da. Gelegentlich tauche ich auf.« Die weiße Person, die genauso gut ein Mann sein könnte, näherte sich dem Stuhl, auf den sie sich schließlich niederließ.
»I-ich werde verfolgt! Kannst du mir helfen?«
»Das habe ich schon.« Die Stimme der Frau war sanft, angenehm.
Rebeka sah zu der Tür zurück. »I-ich muss hier weg, verstehst du? Etwas verfolgt mich, und -«
»Es verfolgt dich schon sehr lange«, sagte die Frau, »aber ist es nicht so, dass es dich verfolgt, weil du davor wegläufst?«
Was? Sie hielt inne. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Jeden Moment, den sie hier stand und mit dieser Person redete, könnte sie auch mit ihrer Flucht zubringen. Aber sie tat es nicht, denn es gab keine zweite Tür, die aus diesem Raum hinausführte.
»Ich muss weg, schnell! Kannst du mir helfen oder nicht?«
Die Frau wies zu der Tür.
Lautstark donnerte es gegen sie. Rebeka zuckte zusammen.
Neeein, schrie es in ihr. Wie ein Feuer loderte die Angst durch ihre Glieder.
»Das … das ist ...«
»Der Tod?«, fragte die fremde Frau.
Rebeka fuhr herum. »Ich muss hier raus! Bitte … hilf mir doch!«
»Ich habe alles getan, was ich für diesen Moment tun konnte. Mehr geht nicht.«
Noch ein Schlag gegen die Tür. Krachend bildete sich ein Riss auf dem Holz, der sich wie ein Blitz nach oben abspreizte.
Schweiß lief Rebeka über die Stirn.
»Gibt es hier denn keinen anderen Ausgang?!«
»Ich fürchte, nein. Außer du schaffst dir selbst einen, Rebeka.«
Das war doch verrückt.
»I-ich … kann das nicht.«
»Was kannst du nicht?«
»Es wird mich kriegen!«, brüllte sie.
Die Frau lachte. »So wie ich das sehe, hast du zwei Möglichkeiten.«
Rebeka starrte auf die verhüllte Frau.
»Entweder … du schaffst dir selbst einen Ausgang oder … du stellst dich diesem Monster.«
RUMMMM! Ein Stück Holz brach aus der Tür und fiel dumpf auf den Boden.
Es kommt, dachte Rebeka, während sie zurückwich.
Es kommt immer näher. Egal, was diese Person in Weiß sagte, dieses Monster durfte sie nicht kriegen.
Unter keinen Umständen.
»Ich kann nicht!«
»Das musst du entscheiden.«
RUUUUMMMMM! Noch ein Stück Holz. Hörbar landete es auf dem Boden.
Rebeka schüttelte den Kopf. Ihr Hals schnürte sich zu. Sie musste hier weg, schnell.
RUUUUMMMM! Die Tür brach auf. Staub, Asche wirbelten wie eine Wolke hinein.
»Hallo«, sagte die Person in Weiß, aber nicht zu Rebeka, sondern zu dem Wesen, als wäre es ein alter Freund.
BUM. Da war es wieder … dieses Stockbein.
»Jetzt habe ich dich!«, rief das Wesen siegessicher.
»Iiiich haaabe diiich!«
Keuchend fuhr Rebeka herum und stürzte auf das offenstehende Fenster zu, durch das der blaue Himmel einer funkelnden Nacht zu erkennen war. Vermutlich war das keine gute Idee, aber … Ein Schritt, noch einer. Weiter und weiter …
»Warte auf mich!«, rief das Monster.
Rebeka breitete die Arme aus. Sprang … Aus dem Fenster in die Nacht.
»Wir sehen uns wieder«, hörte sie die Stimme der weißen Frau, die sich im Rauschen des rasenden Windes zerstreute.
Sie fiel. Fiel und fiel und fiel.
Da war kalte Luft und Wolken und der Himmel.
Sie fiel und fiel und fiel.
Die Luft strömte ihr ins Gesicht, pustete gegen ihre Kleider. Der Wind war so kalt. Weiter fiel sie, tiefer hinab. Durch die Schatten der Nacht … weiter … immer weiter … Und dann sah sie etwas Blaues. Etwas Großes – nein, es war nicht nur groß, sondern gewaltig.
Es war Wasser.
Krachend stürzte sie in einen See.
Über ihr schlugen die Fluten zusammen.
Schreiend richtete sich Rebeka in ihrem Bett auf. Ihr Herz raste. Ihr Atem rasselte. Ihr Kopf, die Glieder, der Rücken, alles war so feucht, als wäre sie gerade Baden gegangen. Dabei hatte sie doch nur geschlafen …
Etwas berührte sie am Rücken.
Ruckartig holte sie aus und schlug um sich, bevor sie ihn sah …
Marko.
Er lag neben ihr im Bett und strich ihr über das weiße Nachthemd.
Rebeka nahm den Arm runter.
Dann sank sie in ihre gemütlichen Kissen.
»Schatz, was ist los?«, fragte Marko verwundert, »kannst du wieder nicht schlafen?«
Sie sah ihn an, sein Gesicht, die schönen, blauen Augen, die weichen Wangen, an denen nur wenige Bartstoppeln hingen. Die längeren, in seine Stirn fallenden Haare und die kleinen Ohren an der Seite, die so süß waren. Sein Oberkörper, der halb aus der Decke ragte, mit den geringelten Härchen, in die sie gerne ihre Hände oder ihr Gesicht tauchte. Die muskulösen Arme.
Er sah gut aus, beinahe zu gut, dachte sie. Und sie liebte ihn.
Verdammt nochmal.
Sie atmete durch. Gerade jetzt wollte sie nicht, dass er sie berührte.
»Nimm deine Hand weg, bitte«, sagte sie.
Sanft strich er ihr über den Arm und zog seine Hand zurück. Dabei musterte er sie mit einem milden Ausdruck.
Betrübt schloss sie die Augen.
»Schatz … jetzt rede doch mit mir. Was ist los? Es ist doch besser, wenn du es aussprichst, damit es nicht die ganze Zeit in deinem Kopf herumgeistert.«
Er würde keine Ruhe lassen, dachte Rebeka. Sie öffnete die Augen.
»Es war wieder dieser Traum«, sagte sie.
Er nickte mitfühlend, wollte wohl wieder die Hand nach ihr ausstrecken, ließ es dann aber sein.
Seufzend rückte Rebeka gegen die Holzlehne des Bettes. Dort war es ungemütlicher, aber schlafen konnte sie ohnehin nicht.
»War es wieder so schlimm? Bist du wieder weggelaufen?«
Vielleicht wäre es besser, es ihm nicht zu sagen …
»Ja«, sagte sie, vermutlich zu scharf. »Tut mir leid, Marko, ich ...«
»Ist schon gut.« Er tätschelte ihren Arm und diesmal ließ sie es zu. »Du kannst nichts dafür, Rebeka. Man kann nichts für seine Träume.«
»Ich weiß.«
»Vielleicht brauchst du gerade etwas mehr Ruhe? Etwas, das dich entspannt und deine Sorgen verdrängt? Du denkst zu viel nach, das ist dir schon klar, oder?«
Sie sah ihn an, seine Augen, die schönen blauen Augen. Darin lag etwas Erregendes, etwas Herrliches, das ihr von Anfang an gefallen hatte. Damals vor vier Monaten, bei einer ihrer Lesungen als Autorin, als sie sich kennengelernt hatten.
»Ich bin Schriftstellerin, Marko. Nachdenken ist nun mal mein Beruf.«
Er seufzte. Einen Arm schob er sich unter den Kopf. »So meine ich das nicht. Du bist völlig fertig mit den Nerven, Rebeka. Glaubst du, ich merke das nicht? Dein schlechter Schlaf ist doch nur ein Symptom, nicht die Ursache. Wenn du das Problem lösen willst, musst du es bei der Wurzel packen und es nicht einfach ignorieren.«
»So etwa?« Sie legte ihre Hand auf Markos Decke, etwa auf die Stelle, wo sich sein Penis befinden musste. Er schlief gern nackt.
Marko schob ihre Hand weg. »Das ist nicht lustig.«
»Ich weiß. Das war blöd. Tut mir leid.« Sie nahm ihre Hand zurück. »Aber so einfach ist es auch wieder nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil es keine gewöhnlichen Träume sind, Marko. Das ist … etwas anderes. Ich spüre es. Ich laufe die ganze Zeit weg und da ist dieses Monster und es verfolgt mich und … ich kann nicht entkommen.« Jetzt hatte sie es doch ausgesprochen.
»Das hört sich vertraut an, Rebeka.« Er sah sie an.
»Was meinst du?«
»Weißt du, manchmal denke ich, dass ich am Rand einer Klippe stehe und fliegen will, um das Meer von oben zu sehen. Aber jedes Mal, wenn ich springe, fliege ich nicht, sondern falle in die Tiefe. Es ist fürchterlich. Und dann wache ich auf. Einfach so.«
Rebeka unterdrückte ein Grinsen.
»Was?«
»Vielleicht solltest du einfach mal Flügel anziehen? Solche für Kinder?« Sie lachte.
»Hör auf damit.« Er schüttelte den Kopf, den Blick gegen die Decke gerichtet. »Das ist nicht lustig. Immerhin schlage ich hart unten auf, bevor ich aufwache.«
Rebeka hörte auf zu lachen.
»Du hast recht«, sagte sie.
Er nahm ihre Hand. Sie ließ es zu.
»Hör zu, Rebeka. Ich glaube, es könnte auch etwas anderes sein.«
»Hm?« Sie legte den Kopf schräg.
»Glaubst du nicht, dass es etwas mit dir und … ihm zu tun haben könnte?«
Rebeka seufzte. »Worauf willst du hinaus?«
»Na ja …« Mit zwei Fingern strich er ihren Arm hinauf, was sich warm und angenehm anfühlte. »Ich glaube, dass deine Träume etwas mit dem Problem zu tun haben, das du mit ihm hast, verstehst du? Es ist ja noch ungelöst, oder nicht?«
»Das …« Aber könnte es sein?, dachte sie. Immerhin lag ihr diese Sache tatsächlich stark auf der Seele. Andererseits … vielleicht irrte sie sich auch und es war doch etwas anderes.
»Ich glaube, dass es das ist, Rebeka. Hast du ihm denn die Unterlagen gegeben?«
Die Unterlagen … Die verdammten Unterlagen. Sie sah ihn an. Dann wandte sie sich ab und stand vom Bett auf.
»Wo willst du hin?«, fragte er.
»Nirgends. Ich möchte nur kurz aufstehen, das ist alles.«
Sie stemmte die Fäuste in die Taille und senkte den Kopf, während sie die angestaute Luft ausblies. Der Gedanke an ihn war nicht schön, aber er war ein fester Teil ihres Lebens. Rebeka konnte ihn nicht einfach ignorieren.
Ihren Ehemann. Ralf Ritter.
Verdammt.
»Nein, habe ich nicht«, sagte sie.
»Hast was nicht?«
»Die Unterlagen.« Sie machte eine schneidende Handbewegung. »Ich habe ihm die Scheidungspapiere noch nicht gegeben.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht ...«
Sie schwiegen.
»Aber das solltest du tun. Und du hast es mir versprochen.«
Sie drehte sich zu ihm. Er lag immer noch da, den Arm unter seinen Kopf geschoben und die andere Hand auf seine muskulöse Brust gelegt.
»Ich weiß«, sagte sie sanfter. »Ich habe es auch mir versprochen, also … habe ich wohl auch mich enttäuscht.«
»Dann gib sie ihm doch endlich«, mahnte Marko.
»Verflucht, das geht jetzt schon Monate so. So geht das doch nicht weiter, Rebeka.«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich weiß. Und ich schäme mich dafür.«
»Scham bringt dich da nicht weiter.«
Sie drehte ihm den Rücken zu. »Danke dafür.«
»Rebeka …« Sie hörte ein Rascheln hinter sich. Ob er jetzt aufstand oder nicht, es wäre ihr egal, wirklich egal. Aber als sie sich umdrehte, lag er auf der Seite, eng in seine Decke gewickelt.
Na toll.
Er sah sie an.
»Was?«, fragte sie.
»Du solltest es machen. Diese Woche noch und uns beiden zuliebe. Beende diesen Spuk, und dann wirst du auch wieder Ruhe haben, was deine Träume angeht.«
Sie holte tief Luft. Vermutlich hatte er recht … Eine Sache stimmte auf jeden Fall: Sie musste Ralf die Scheidungspapiere geben, da sie sich schon zu lange damit vertröstete.
Diese Ehe, die sie seit fast fünfzehn Jahren führten und die in den letzten Jahren keine wirkliche Ehe gewesen war, hatte es im Grunde nicht verdient, länger am Leben erhalten zu werden. Oh nein … Ob Ralf das aber auch so sah, war eine gute Frage. Es müsste ihm doch aufgefallen sein, oder nicht? Das gemeinsame Schlafen.
Das Gute Nacht sagen.
Eine schöne Zeit vor dem Fernseher.
Liebe.
Sex.
Oder auch beides zusammen.
Das alles fehlte.
Besonders viel redeten sie nicht miteinander, aber Anzeichen dafür, dass Ralf fremdging, waren bisher auch keine aufgetaucht.
Es war kompliziert …
»Es ist nicht so einfach, Marko. Ich versuche ja die ganze Zeit, den richtigen Moment zu finden, aber ...«
»Soll ich dir was sagen?«
»Was?«
»Es gibt keinen richtigen Moment, Rebeka. Entweder du machst es oder du machst es nicht. Das ist alles … Liebst du mich?«
Überrascht trat sie einen Schritt zurück. »Äh … ja, klar.«
»Dann mach es diese Woche noch.« Diese Woche, hallte es in ihren Gedanken nach.
»I-ich ...«
»Du kannst das. Und sobald du es getan hast, rufst du mich an. Und wenn etwas sein sollte, dann rufst du mich auch an, verstanden? Falls Ralf an die Decke gehen sollte, dann bin ich sofort für dich da, hörst du?«
Sie seufzte. Vielleicht hatte Marko recht?
Sie kroch zu ihm unter die Decke. Er hob seinen Arm, als würde er eine Autotür öffnen, und ließ sie auf diese Weise ein.
Bei ihm war es warm. Es roch nach Shampoo, das er vor ein paar Stunden benutzt hatte, und auch sein Atem war weich.
»Habe ich dein Wort«, fragte er, dicht an ihrem Ohr.
Sie schloss die Augen. »Ja.« Und damit war es entschieden. Diese Woche noch … Dann würde sie Ralf die Scheidungsunterlagen überreichen.
»Gut.« Er küsste sie auf den Nacken, bevor er nur noch atmete.
»Marko«, begann sie.
»Hm?«
»Ich glaube, wir haben noch ein anderes Problem.«
»Was denn? Es ist spät, es -«
»Nee, was anderes.«
»Was?«
»Deine Wurzel … aber ich glaube, dieses Problem können wir heute noch lösen.« Sie drehte sich herum.
Verdrossen hockte Ralf im Warteraum des Notars Günter Wolf, der vor ein paar Wochen angerufen hatte, um ihm mitzuteilen, dass es ein Testament des kürzlich verstorbenen Gustav Ritter, Ralfs jüngerem Halbbruder, zu vollstrecken gäbe.
Ralf hatte das für einen Scherz gehalten. Gustav, dieser Taugenichts hatte tatsächlich etwas zu vererben gehabt? Das konnte doch nicht sein.
Viel Kontakt hatten sie nie gehabt. Gustav war aber auch nicht wirklich mit ihrer Familie verbunden gewesen. Sie hatten die gleiche Mutter gehabt, aber unterschiedliche Väter, und als sich ihre Mutter vor zwanzig Jahren von ihrem Mann – Ralfs Stiefvater – getrennt hatte, hatte er den damals jungen Gustav mitgenommen, damit er bei ihm aufwuchs.
Ralf war damals vierundzwanzig gewesen, genau wie sein leiblicher Bruder Hans, der in der gleichen Stadt wohnte.
Erst Jahre später, nachdem Ralf seine eigene Kanzlei eröffnet und Rebeka geheiratet hatte, war Gustav plötzlich in seinem Büro aufgetaucht und zuerst hatte er sich darüber gefreut. Sie hatten Erinnerungen ausgetauscht und Gustav hatte erzählt, dass er viel in der Welt gereist war, einiges gesehen hatte, und jetzt, nachdem er wieder in Deutschland war, einen Job brauche …
Ob Ralf ihm einen geben könne?
Konnte er nicht.
Gustav hatte weder die richtigen Qualifikationen besessen noch im Entferntesten den Anschein erweckt, er wüsste, was man in einer Kanzlei tue.
Als Gustav sich schließlich nach einer halben Stunde wieder verabschiedet hatte, hatte Ralf beim späteren Bezahlen in der Bäckerei um die Ecke festgestellt, dass Gustav ihm in einem ungesehenen Moment die gesamte Barschaft aus dem Portemonnaie entwendet hatte.
Dieser Mistkerl, hatte Ralf gedacht, aber es auf sich beruhen lassen. Was hätte er denn tun sollen? Ihn anzeigen?
Die Jahre danach war Gustav noch fordernder aufgetreten. Immer wieder war er unangemeldet in der Kanzlei aufgetaucht, hatte um Geld gebeten, eine Arbeit, irgendwas, aber Ralf hatte ihm nicht helfen können.
Über einen Kontakt beim Arbeitsamt hat Ralf schließlich erfahren, dass Gustav bereits seit einer langen Weile in staatlichen Unterstützungsprogrammen steckte und keine Arbeitsstelle fand, da er mögliche Angebote stets aus unterschiedlichen Gründen ablehnte.
Als er dann eines Tages wieder in der Kanzlei erschienen war, unangekündigt, mit einer Alkoholfahne, hatte Ralf die Schnauze voll gehabt. Er hat ihn am Arm gepackt, aus dem Raum gezogen und ihm inmitten seines Sekretariats deutlich gemacht, dass er verschwinden und nicht mehr wiederkommen solle. Dass er unerwünscht sei und dass er, Ralf, sich nicht um seine Probleme kümmern wolle.
Daraufhin hatte Gustav angefangen zu weinen, aber Ralf hatte das kalt gelassen.
Raus, Gustav! Sofort!
Daraufhin war Gustav schreiend davongelaufen und seitdem nicht mehr wiedergekommen. Seitdem hatte er nichts mehr von ihm gehört. Bis zu diesem Moment.
Es war ein Mittwoch gewesen, vor drei Wochen. Sein Telefon hatte geklingelt und als er ranging, hatte seine Sekretärin, Frau Meiersdorf, einen Notar durchgestellt, der ihm gesagt hatte, dass Gustav gestorben sei, dass er sonst keine Familie habe, außer ihm und Hans, und das er ihm etwas hinterlassen habe. Etwas, dass er abholen müsse.
Was genau? … Aber der Notar hatte es nicht weiter konkretisiert.
Woran Gustav gestorben sei?
Selbstmord … Schnell, entschieden … Mit einem Messer.
Aha.
Ralf hatte dem Notar gesagt, dass er zurückrufen würde. Dann hat er ein paar Minuten innegehalten, an Gustav gedacht, bevor er sich wieder in seine Arbeit vertieft hatte.
Den Rückruf hatte dann der Notar getätigt und das immer wieder, bis Ralf wütend einem Termin zugesagt hatte.
Und jetzt war er hier.
Ralf blinzelte und sah sich in dem großen Raum um. Überall standen Schränke mit irgendwelchen Vasen und Gefäßen darin, die wertvoll aussahen. Weiter hinten waren die Schränke mit Tellern gefüllt.
Ob das Sammeleditionen waren?, überlegte Ralf.
In der Mitte des Raumes lag ein roter, durchgetretener Teppich. Darauf stand ein Holztisch, auf dem ein langes Schwert in einer Metallfassung steckte. Das Schwert war tatsächlich beeindruckend. Vermutlich stammte es aus dem alten China?
Die Tür zum Büro des Notars befand sich gleich rechts. Sie war ebenfalls aus Holz, aber nicht wirklich dicht, denn durch sie war das leise Flüstern von Stimmen zu hören, immer im Wechsel, hin und her, zuerst die eine, dann die andere. Es war, als würden die beiden Herren da drin ein Duett singen.
Gott … Diese Warterei. Sie nervte. Hatte der Notar nicht extra gesagt, dass es dringend wäre?
Frustriert blies Ralf die Luft aus. Er holte sein Handy aus der Hosentasche und prüfte den Bildschirm. Ein paar Anrufe von Interessenten oder Klienten waren eingegangen. Nichts Wichtiges, aber …
Warum rief der Makler verdammt nochmal nicht zurück?
Heute war Donnerstag, dachte Ralf. Morgen wäre Freitag und damit der Start des Wochenendes. Wenn es also noch diese Woche klappen sollte, am besten Freitag, müsste sich der Makler bis spätestens heute Abend melden, damit er weiter planen konnte.
So ein Mist … Das letzte Gespräch zwischen ihnen war Montag gewesen … Montag! Das war der Anfang der Woche gewesen und jetzt war Donnerstag.
Seufzend steckte er das Handy ein.
Vielleicht sollte er sich später einfach von sich aus bei dem Makler melden?
Ausatmend schloss Ralf die Augen. In seinen Gedanken sah er Blut. Viel Blut.
Es war ihr Blut.
Rebekas.
Blut, das aus ihren Augen lief, aus frisch geschnittenen Wunden. Aus offenen Fleischstellen ihrer Beine und aus den kleinen Stümpfen, die einmal ihre Füße gewesen waren.
Ja, wusste sie denn nicht, dass er Augen im Kopf hatte? Verdammt nochmal! Dass er sehen konnte? Diese dämliche Fotze.
Natürlich wusste er Bescheid. Über sie, diesen Typen, den sie wohl bei einer ihrer Lesungen kennengelernt hatte. Marko hieß er, Marko Strammer, einunddreißig Jahre alt, gutaussehend – groß, körperlich fit, eigentlich ein richtig guter Griff, oder nicht?
Anscheinend arbeitete er bei der Bundeswehr und schien auch ansonsten im sozialen Wesen engagiert zu sein. Nur leider hatte er sich mit der falschen Frau verbunden, denn Rebeka war noch verheiratet und hatte sich offenbar gedacht, dass sie ihre kleine Affäre verheimlichen könnte. Dass er nicht herausfinden würde, was sie trieben, aber … so war es nicht. Denn er hatte sie erwischt, heimlich und auch noch bei sich zu Hause …
Es war ein entspannter Tag gewesen, da er ausnahmsweise früher hatte Feierabend machen können. Er war nach Hause gefahren und hatte sie dann in seinem Schlafzimmer erwischt.
Mitten beim Sex.
Marko hatte auf dem Bett gelegen und sie auf ihm drauf, als würde sie auf einem Pferd sitzen. Nur war das Pferd nicht ruhig, sondern weich und hektisch gewesen. Rebeka hatte auch nicht starr gesessen, sondern sich auf seinem Schwanz bewegt, als gebe es kein Morgen mehr. Hin und her war sie gewippt, rechts, links und ständig hatte sie dieses Stöhnen ausgestoßen … Ralf seufzte.
Für diesen Verrat würde sie schon bald büßen müssen. Der Racheplan stand und er würde grässlich sein, fürchterlich …
Plötzlich ging die seitliche Bürotür auf.
»Und grüßen Sie mir Ihre Frau, bitte.«
Zwei Personen kamen zum Vorschein. Beide mit dunklen Anzügen. Der Schlanke verabschiedete sich und der breiter Angelegte verblieb im Rahmen der geöffneten Tür. In sein zuerst lächelndes Gesicht legte sich ein leichter Schatten, als sich ihre Blicke trafen. Die grauen Haare auf seinem Kopf waren mit dem Bart verbunden und auf der Nase balancierte eine Brille mit schwarzem Rahmen. Altersflecken übersäten einen Teil seiner Wangen.
»Kommen Sie doch bitte herein, Herr Ritter.« Mit einer flotten Kopfbewegung deutete der Mann in sein Büro hinein. Dann verschwand er darin.
Ralf stand auf. Er richtete seinen Anzug und folgte ihm.
Das Büro ähnelte dem Wartezimmer. Es gab einen hellfarbigen Teppich auf dem Boden, einige Schränke zu beiden Seiten, in denen unnütze Dinge standen, und gegenüber exponierte ein Schreibtisch, der mit Dutzenden Papieren überlagert war.
Links stand ein Aquarium, das blaues Licht verströmte.
Günter Wolf, der Notar, setzte sich auf den großen Stuhl hinter den Tisch und als er saß, bildete die blaue Krawatte den Umriss seines Bauches nach.
Ralf setzte sich auf den Stuhl gegenüber.
»Sie haben mich tatsächlich lange warten lassen.« Diesem Mann musste er die Grenzen aufzeigen, dachte Ralf. Am besten von Anfang an.
»Tut mir leid, Herr Ritter, aber wie Sie gesehen haben, hatte ich noch Kundschaft. Und im Gegensatz zu Ihnen hatte dieser Herr einen Termin.«
»Das habe ich auch, falls Sie sich erinnern«, sagte Ralf.
»Sie haben gesagt Mittag«, erwiderte der Notar.
Ach so, dachte Ralf. Darauf sagte er lieber nichts.
Günter Wolf räusperte sich und fischte ein Blatt Papier aus einer Schublade, das er vor sich auf den Tisch legte. Dann musterte er es mit schmalen Augen. »Also … wie Sie bereits wissen, geht es um Ihren verstorbenen Halbbruder Gustav Ritter.«
Gott möge seiner Seele gnädig sein, dachte Ralf. Er verdrehte die Augen.
»Da Gustav außer Ihnen und Ihrem Bruder keine weiteren Verwandten hatte und er ein Testament hinterlassen hat, sind seine Verfügungen deutlich.«
»Eine Frage.« Ralf hob eine Hand.
Wolf sah auf. »Ja, bitte?«
»Wie kommt es, dass Sie ihm dabei geholfen haben? … Das hier hat er sich doch niemals leisten können, oder?« Ralf deutete mit einem Finger durch den Raum.
»Herr … Ritter ...« Wolf schüttelte den Kopf. »Das ist doch geschmacklos, ich bitte Sie.«
»Warum? Er hatte nichts, glauben Sie mir. Das Wertvollste, das er besessen hat, war ein alter Röhrenfernseher, der beim Umspringen vom ersten auf das zweite Programm immer ein lautes Rauschen ausgestoßen hat.« Ralf lachte.
Wolf machte große Augen.
»Ich war einmal in seiner Wohnung«, fügte Ralf an.
»Das ist lange her, aber dennoch …«
»Verstehe. Aber die privaten Gespräche zwischen mir und meinen Klienten darf ich leider nicht mit Dritten teilen, Herr Ritter. Das ist Ihnen doch hoffentlich klar. Ich meine …« Er tat so, als würde er die Papiere auf seinem Schreibtisch überfliegen. »Sie sind doch Anwalt, oder nicht?«
Ralf lächelte. Wieder wäre es besser, die Klappe zu halten.
Er machte eine schnelle Handbewegung, damit der Notar weitermachen sollte.
Der Notar räusperte sich. »Also … laut Herrn Gustav Ritters letztem Willen sollen Sie als sein nächster Verwandter -«
»Halbbruder«, warf Ralf ein.
Wolf räusperte sich erneut. »Sollen Sie, Herr Ritter, in den Besitz einer Kiste gelangen … Das ist alles.«
»Interessant.« Ralf seufzte.
Wolf rückte mit seinem Stuhl zurück und beugte sich hinunter, um etwas aufzuheben. Ein lautes Stöhnen war zu hören, dann hievte er eine rechteckige Holzkiste auf den Tisch, deren Oberfläche mit eindrucksvollen Reliefs versehen war, die Bäume, Büsche und Hirsche darstellten.
Verwundert hob Ralf eine Augenbraue. Wow. Woher zum Teufel hatte Gustav das Geld für so eine Kiste gehabt? Die hatte er doch bestimmt gestohlen.
Mühevoll hockte sich Wolf in seinen Sitz zurück und wischte sich den Schweiß unter der Nase weg. Sein Gesicht war rot angelaufen.
»Diese Kiste soll in Ihren Besitz übergehen, Herr Ritter. So steht es im Testament Ihres Halbbruders.« Ralf stand auf und betrachtete die Reliefs und Gravuren.
Warum sollte ausgerechnet er diese Kiste bekommen? Hans hätte sie sicherlich mehr verdient. Immerhin hatte er immer Verständnis für Gustav gehabt, ganz im Gegensatz zu ihm …
»Ist das alles, was er vererbt hat?«, fragte Ralf.
»In der Tat, das ist alles. Mehr steht nicht im Testament.«
»Gut.« Ralf griff nach der Kiste … BING …
Fassungslos starrte er auf Wolfs Hand, die auf der Kiste lag. Der goldene Ring an seinem kleinen Finger funkelte im Licht der grellen Deckenlampen.
»Nicht so schnell, Herr Ritter.« Wolf stand auf, wodurch die Krawatte an seinem Bauch hin und her flatterte.
Er zog ein Papier unter einem Stapel hervor und legte es vor Ralf ab. Daneben deponierte er einen Kugelschreiber. »Das müssten Sie unterschreiben. Sie werden es sicher kennen. Damit bestätigen Sie, dass Sie alles, was ich gesagt habe, verstanden haben und dass Sie mit dem Erhalt der Kiste einverstanden sind.«
Ralf nahm das Papier und las es durch. Satz für Satz. Wort für Wort. Als Anwalt war er es gewohnt, solche Texte zu lesen. Besonders dann, wenn jemand eine Unterschrift von ihm wollte.
Seufzend setzte sich der Notar und starrte gegen die Decke.
Als Ralf das Papier gelesen hatte, setzte er sein Kürzel und reichte es Wolf über den Tisch zurück. Dann nahm er die Kiste an sich.
Sie war nicht leicht, aber auch nicht zu schwer.
Was Gustav da wohl reingetan hatte?
Ohne etwas zu sagen, ging er zu der hinteren Tür zurück.
»Warten Sie, bitte«, rief Wolf.
Ralf blieb stehen. »Was?«
»Wollen Sie nicht sehen, was sich darin befindet?«, fragte der Notar.
Ralf drehte sich um. Lächelte. »Warum fragen Sie?«
»Wollen Sie es denn nicht wissen?«
Offenbar kannte der Notar den Inhalt der Kiste nicht und das sollte auch so bleiben.
»Vielleicht später. Tschüss!«
Draußen war es windig. Einige Autos auf der Straße hupten.
Eine Frau in der Nähe schob einen Kinderwagen. Ein junges Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, das sie an der freien Hand hielt, schrie, als gäbe es kein Morgen mehr.
Auf der anderen Straßenseite saß ein Mann an einer gläsernen Bushaltestelle, an der Ralf vor etwa einer Stunde angekommen war, und las Zeitung.
Ralf balancierte die Kiste auf seinem Arm, sodass er sie mit der freien Hand öffnen konnte. Sie hatte kein Schloss, der Deckel ging sauber auf.
Im Inneren lag eine Weinflasche: Château d'Yquem, stand auf dem Etikett. Grand Cru Supèrieur Sauternes 2010 Weißwein. Ein Bordeaux aus dem Jahr 2011, ein seltener Jahrgang und auch noch teuer. Aber woher zum Teufel hatte Gustav diesen Wein? Und wie hatte er ihn bezahlen können? Und warum hatte er ihn ausgerechnet ihm vererbt?
Nachdenklich schloss er den Deckel.
Seine letzten Worte an Gustav gingen ihm durch den Kopf: Raus, Gustav! Sofort!
Danach war Gustav weinend aus dem Büro gerannt, schreiend, verzweifelt.
Die ganze Sache war jetzt zehn Jahre her …
Ach, egal …
Gegen den Wind ging Ralf weiter zum Ampelübergang.
Plötzlich begann sein Handy zu klingeln.
»Jesus, nochmal!« Er blieb stehen. Stöhnend klemmte er sich die Kiste unter den linken Arm und fummelte das Handy aus seiner Hosentasche. »Ja?«
»Herr Ritter, ich bin es … konnten Sie Ihren Termin wahrnehmen?« Das war Frau Meiersdorf. Leider nicht der Makler. Verdammt.
»Ja ...« Er hustete. »Konnte ich.«
»Und was haben Sie bekommen? Hat es sich gelohnt?«
»Eine Kiste, Frau Meiersdorf, eine verdammte Kiste mit einer Flasche Wein … also nein, es hat sich nicht gelohnt. Sonst noch etwas? Ich bin nämlich unterwegs und -«
»Ja, ja, verstehe. Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich jetzt Feierabend mache. Termine haben Sie heute keine mehr und ab morgen soll ja, wie Sie verfügt haben, die Kanzlei bis Montag geschlossen sein?«
»Gut. Machen Sie nur. Aber denken Sie daran, dass Sie über das Wochenende Bereitschaft haben, also gehen alle Anrufe an Sie. Die zusätzlichen Stunden bezahle ich Ihnen natürlich.«
»Das hatten Sie gesagt. Wohin Sie gehen, sagten Sie allerdings nicht ...«
»Das weiß ich.« Er nahm das Handy vom Ohr.
»Warten Sie«, rief Frau Meiersdorf.
Ralf seufzte. Schnell nahm er das Handy wieder zurück. »Ja?«
»Ihr Auto steht ja noch hier, Herr Ritter. Wie Sie gesagt haben, habe ich Ihre Jägerausrüstung in den Kofferraum geladen ...«
»Auch die Büchse?«
»Ja.«
»Und es hat Sie niemand dabei gesehen?«
»Ich denke nicht«, sagte sie zögerlich.
»Gut. Dann bis nächste Woche.«
Er legte auf und ging auf die Ampel zu. Dann klingelte das Handy erneut.
»Gott verdammt.« Wütend hob er das Handy hoch.
»Ja, Frau Meiersdorf, ich -«
»Ralf, ich bin es.« Schon wieder nicht der Makler.
»Hallo Hans«, erwiderte Ralf. Er blieb stehen und sah zu, wie die Ampel von Rot auf Gelb und dann auf Grün schaltete. Der Verkehr setzte sich in Bewegung.
»Was willst du denn jetzt?«
»Ich wollte nur fragen, ob du kurz vorbeikommen möchtest?«
»Was? Nein, jetzt nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Weil … ich zu tun habe.«
»Wirklich? Du bist doch gerade gar nicht in deiner Kanzlei, sondern in der Nähe …«
Ralf nahm das Handy von seinem Ohr und musterte den Bildschirm. Woher wusste Hans, wo er war?
Er sprach wieder hinein. »Woher weißt du das?«
»Ich kann dich orten. Ist so eine App, funktioniert nicht besonders gut, aber ungefähr klappt es. Außerdem hast du es gerade bestätigt, also stimmt es?«
Verdammt, dachte Ralf. Damit hatte er sich selber verraten.
»Hans, ich habe heute wirklich noch einiges zu tun, wie wäre es, wenn -«
»Ach, Ralf. Es muss auch nicht lange dauern. … Wir haben eine tolle Nachricht für dich und Lucy möchte dich auf mal wieder sehen. Komm schon, wir haben uns doch so lange nicht mehr gesehen.«
Ralf schloss die Augen. Als er sie öffnete, sah er Wolken über den blauen Himmel ziehen. Eigentlich hätte er ja Zeit …
»Gut, wenn es sein muss. Aber nur kurz.«
»Sehr gut. Bis später.«
»Bis dann.« Ralf legte auf. Dann fiel sein Blick auf die Ampel, die natürlich gerade rot war.
Seufzend wartete er, bis sie auf Grün wechselte. Dann überquerte er die Straße und ging zur Bushaltestelle, die aus einem transparenten Glasdach mit wenigen Sitzen darunter bestand. Der Mann, der Zeitung gelesen hatte, war nicht mehr da, aber dafür saßen dort jetzt einige Frauen, die sich auf Türkisch unterhielten. Der Boden um die Haltestelle war mit plattgetretenen Kaugummis übersät. Die abgrenzenden Scheiben teilweise zerkratzt.
Ralf prüfte den Fahrplan und sah auf seine Uhr.
Zehn Minuten, dann würde sein Bus kommen. Eigentlich zu ertragen.
Geduldig stellte er sich neben das Dach der Bushaltestelle.
Hans war Lehrer.
Sechzehn Jahren war er nun schon mit Julia verheiratet, die als Krankenschwester im größten lokalen Krankenhaus der Stadt arbeitete. Gemeinsam hatten sie eine Tochter namens Lucy. Lucy war elf, aber ihrer Altersklasse weit voraus. Die vierte Klasse der Grundschule hatte sie übersprungen, da sie sich gelangweilt hatte. Oft war sie allein, was Ralf schon ein paar Mal aufgefallen war, als er Hans besucht hatte. Einmal hatte er seinen Bruder gefragt, ob seine Tochter wirklich echte Freunde hätte, aber Hans hatte nur gemeint, dass sie sich oft mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft treffe, um Karten zu spielen oder so-was.
Aha, hatte Ralf damals gedacht. Aber immerhin.
Viel Geld verdiente Hans zwar nicht, aber er lebte glücklich mit seiner Familie in einem modernen Plattenbaukomplex, den die Stadt erst vor drei Jahren errichtet hatte. Es wirkte … harmonisch … Hans Ehe.
Hans und Julia funktionierten einfach zusammen, als hätten sie sich gesucht und gefunden. Zwar waren die fünfzehn Jahre Ehe auf Ralfs Konto auch nicht schlecht – zeitlich gesehen -, aber die Energie des Zusammenseins mit Rebeka hatte bereits seit Langem nachgelassen.
Ja, er arbeitete viel, aber Rebeka war mit ihrer Autorenkarriere auch oft beschäftigt. Ständig hockte sie in ihrem Zimmer, schrieb etwas, dann lief sie hin und her, da sie damit nicht zufrieden war, und dann hatte sie schlechte Laune, da ihr irgendwelche Szenen ihres Buches nicht gefielen.
Viel hatte er auch noch nie von ihrer Arbeit gehalten. Nicht nur brachte sie kaum Geld nach Hause, er las