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Weihnachtszeit ist Familienzeit. Das weiß die 38-jährige Emma. Für sie ist der diesjährige Heiligabend ein Glückstag, denn ihr Freund Erik, ein gut aussehender Kerl, möchte sie seinen Eltern vorstellen. Vielleicht macht er ihr sogar einen Heiratsantrag? Das wäre für Emma, die immer mit ihrem Übergewicht gehadert hat, ein wahres Wunder. Doch was stattdessen passiert, stürzt ihre heile Welt in einen Abgrund. Auf ihrer plagenden Suche nach Rache stößt Emma auf eine zweite Welt, eine, in der es andauernd schneit und mystische Schneemänner umherstreifen. Diese Wesen kennen einen Weg, wie Emma sich an Erik rächen kann …
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Seitenzahl: 213
Düstere Weihnachten
Buchbeschreibung:
Weihnachtszeit ist Familienzeit. Das weiß die 38-jährige Emma. Für sie ist der diesjährige Heiligabend ein Glückstag, denn ihr Freund Erik, ein gut aussehender Kerl, möchte sie seinen Eltern vorstellen. Vielleicht macht er ihr sogar einen Heiratsantrag? Das wäre für Emma, die immer mit ihrem Übergewicht gehadert hat, ein wahres Wunder. Doch was stattdessen passiert, stürzt ihre heile Welt in einen Abgrund. Auf ihrer plagenden Suche nach Rache stößt Emma auf eine zweite Welt, eine, in der es andauernd schneit und mystische Schneemänner umherstreifen. Diese Wesen kennen einen Weg, wie Emma sich an Erik rächen kann …
Über den Autor:
Alexander Hogrefe, Jahrgang 1995, begeistert sich schon lange für Mythologien aller Art. Mit 15 entdeckte er seine Leidenschaft für das Schreiben und begann seine ersten Versuche im High-Fantasy-Bereich, bevor er zum Horrorgenre wechselte. Seitdem hat er mehrere Romane auf verschiedenen Plattformen veröffentlicht. Seine Bücher behandeln häufig Phänomene menschlichen Scheiterns, insbesondere in der Konfrontation mit dem Übernatürlichen. Horror, ist der Autor überzeugt, kann dabei wesentlich näher an der Wirklichkeit dran sein, als diesem Genre gemeinhin unterstellt wird. Derzeit lebt und arbeitet er in Rheinland-Pfalz.
© Alexander Hogrefe – alle Rechte vorbehalten.
Alexander Hogrefe/Rechteinhaber
Geschwister-Scholl-Straße 34
76726 Germersheim
Die Charaktere und Ereignisse, die in diesem Buch dargestellt werden, sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen, lebend oder tot, ist zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.
Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Datenabrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, durch Fotokopieren, Aufzeichnen oder auf andere Weise übertragen werden.
Coverbearbeitung: Alexander Hogrefe
Coverbilder: Midjourney
Autorenporträt: Uschi Schmidt Fotografie
Korrektorat und Lektorat: anon.
www.alexanderhogrefe.de
Dieses Buch ist Bestandteil der zweiten Veröffentlichungsphase:
Wo Licht ist, ist auch Schatten!
Inhaltsverzeichnis
Schnee im Winter9
1.11
2.14
3.16
4.18
5.20
6.23
7.24
8.26
9.28
10.30
11.32
12.33
13.35
14.36
15.38
16.39
17.40
18.41
19.43
20.46
21.48
Kalte Felsen49
22.51
23.52
Rask54
25.56
Rask57
27.61
Rask62
29.64
Rask65
31.67
Rask68
33.69
Rask70
35.71
Rask72
37.73
38.74
39.75
40.76
41.77
Tödlicher Frost78
42.80
43.81
44.82
45.83
46.84
47.85
48.87
49.88
50.89
51.90
52.91
53.93
54.94
55.95
56.96
57.97
58.99
59.101
60.102
61.103
62.104
63.105
64.106
65.107
66.110
Bittere Kälte111
67.113
68.115
69.116
70.117
Kurzgeschichte: Winke mir nicht119
Kurzgeschichte: Tu mir den Gefallen126
Kurzgeschichte: Ende der Welt138
Liebe Leserinnen und Leser,146
… Diese Liebe bringt den Tod!
Du möchtest das nicht sehen! Nein, Du gehörst vermutlich eher zu jenen, denen es eine Freude macht, wenn sie sich nicht mit Dingen auseinandersetzen müssen, die ihnen die Stimmung vermiesen. Die eher auf Harmonie und Glückseligkeit setzen. Und die vor allem in Ruhe gelassen werden wollen.
Oder?
Vielleicht liege ich falsch. Und nach der Art, wie Du mich ansiehst, beginne ich zu denken, dass Du doch entschiedener bist, als Du auf den ersten Blick aussiehst. Du sagst zwar kein Wort, aber Deine Augen sprechen eine eigene Sprache. Sie besitzen diesen harten Kern, den es vermutlich braucht, um zu ertragen, was so fürchterliche Ausmaße angenommen hat. Sie sind gleichzeitig voller Neugierde. Ja, genau … Es ist die Neugierde, die uns beide hierher verschlagen hat. Mich schon lange vor Dir, und doch, oder gerade deshalb, weiß ich, was Du jetzt durchmachst. Oder vielmehr was in Dir vorgeht.
Nun gut.
Da Du mir keine Wahl lässt, werden wir uns jetzt wohl miteinander arrangieren müssen. Dann übernimm aber auch Verantwortung! Stehe zu dem, was du forderst. Sei aufrichtig und vor allem: Mach Dich auf einiges gefasst, denn das hier wird nicht einfach werden.
Also, jetzt komm her zu mir und schau geradeaus.
Was siehst Du da?
Aaah, ja, es ist nicht leicht, zwischen dem Schneegestöber die Orientierung zu wahren. Ich kneife meine Augen zusammen, aber auch ich kann nicht viel erkennen. Der Wind ist stark – er saust uns um die Ohren. Unter unseren Schuhen ist der Schnee dick und hart. Ich denke nicht, dass Du hier ein Loch graben könntest, wenn Du eine Schaufel dabei hättest.
Doch schau! Dort oben! Kannst Du es sehen? Erkennst Du dort nicht auch diesen schwachen Lichtpunkt? Kaum mehr als ein strahlender Kreis, der leicht funkelt, als würde er krampfhaft versuchen, auf sich aufmerksam zu machen.
Dieses Leuchten ist eine Kraftquelle, mein Freund. Etwas, das Du aus deiner Welt nicht kennen wirst. Hier, in dieser Schneefrostigen Welt, wie sie heißt, kennt jeder diesen Kreis, denn er ist immer da. Fern und abgeschieden hängt er am Himmel fest und erfüllt diese Welt mit dem Licht, das sie braucht – nicht mehr und auch nicht weniger.
Ich weiß noch, als ich den Kreis das erste Mal gesehen habe … Ich hielt ihn für einen bedeutungslosen Fleck, aber erst später wurde mir klar, dass er eine Art Sonne ist. Er liegt nicht zu nahe und nicht zu fern. Er ist gerade ausreichend entfernt, um diese Welt schneebedeckt zu halten.
Was? Du glaubst mir nicht? Nun … Ich kann verstehen, dass Dich das wundert. In Deiner Welt gibt es solche Dinge nicht. Zumindest nicht einen solchen Kreis. Aber dennoch ist es wahr. Und es ist noch lange nicht das Einzige, was hier ungewöhnlich ist. In dieser Welt gibt es seltsame Kreaturen. Es sind Wesen, die sich an die Kälte und die Rauheit angepasst haben. Schneemänner zum Beispiel. Diese brutalen Gesellen mit Körpern aus Schneekugeln. Sie leben oft versteckt und schlafen. Manche von ihnen lassen sich für Jahrhunderte nicht blicken. In der Regel bevorzugen sie ein Leben für sich allein.
Dann gibt es da noch die Elfen. Das sind freundliche, aber auch verwirrte Wesen, die fleißig sind. In Gruppen sind sie diszipliniert, allein können sie schon mal verrückte Dinge anstellen.
Jaaa … Ich kann Dir ansehen, dass Du mich für bescheuert hältst. Das würde ich auch an deiner Stelle denken. Und doch sind wir hier und bereit, uns dem nächsten Geschehen zuzuwenden. Weißt Du noch, was ich Dir darüber gesagt habe? Ich hatte Dich gewarnt, aber Du wolltest ja nicht auf mich hören. Nun gut … Dann lass uns mal loslegen, oder?
Am besten schauen wir einfach mal nach rechts, ja, genau so … dorthin, wo der Schnee etwas weniger aufbrausend ist. Siehst Du es? Gleich dort?
Da hinten gibt es einen Felsvorsprung, der einen Überblick über die darunterliegende Landschaft ermöglicht. Das ist ein umfassendes Areal, auf dem sehr viel passieren kann. Komm, mein Freund, und lass uns nachschauen, was dort ist … Aber bitte sei auf der Hut! Denn ein falscher Schritt könnte Dich bereits Dein Leben kosten …
Emma spürte dieses Kribbeln, wenn sie sich auf ihren Bauch konzentrierte. Es erinnerte sie an einen Bohrer, der sich unentwegt durch ihre Darmwände vorarbeitete und an Intensität zunahm.
An dem dunkelblauen Opel, in dem sie saß, fegten die Schneeflocken wie weiße Pfeile vorbei. Die vor ihnen liegende Straße war eigentlich breit genug, aber durch den Schnee, den Matsch und das Eis auf eine faktische Größe zusammengeschrumpft, die Emmas Herzschlag mit jeder Sekunde mehr beschleunigte.
Hinzu kam, dass Erik, ihr Freund und aktueller Fahrer, vor der Fahrt angekündigt hatte, er würde langsamer unterwegs sein. Jetzt war sich Emma da nicht mehr so sicher.
Erik bremste. Ein Quietschen erklang und der Wagen scherte ein Stück nach links aus.
Schnell schloss Emma die Augen. Innerlich hoffte sie, dass sie diese Fahrt, die nun schon eine ganze Stunde dauerte, überlebte.
Sie hörte, wie Erik wieder beschleunigte. Ein bisschen schwankte der Wagen hin und her und dann ging es einigermaßen gerade voran.
Dieser Tag würde wohl anstrengend werden. Emma seufzte. Das hatte sie schon gewusst, als sie sich heute Morgen im Badezimmer frisch gemacht hatte. Ihre Taschen hatten sie gepackt, das Haus für ihre kurzzeitige Abwesenheit hergerichtet, und geistig hatte sich Emma darauf eingestellt, dass sie heute auf sie treffen würden … Auf Eriks Eltern.
Die wohnten in einem kleinen Dorf, eine knappe Stunde entfernt. Eine schöne Gegend sollte das sein, hatte Emma mal im Internet gelesen. Nicht zu viele Einwohner sollten dort leben und es gab wohl einiges an Wald.
Eigentlich hätten sie dort schon früher hinfahren sollen. Immerhin waren Erik und sie schon seit mehr als einem Jahr zusammen. Aber irgendwie hatten sie es ständig aufgeschoben. Mal wegen der Arbeit, mal weil sie keine Lust gehabt hatten. Und ja … auch weil für eine lange Zeit überhaupt keine Einladung von Eriks Eltern an sie erfolgt war.
Das hatte Emma gewundert. Warum zögerten Eriks Eltern denn so lange damit, sie mal zu sich einzuladen?
Erik hatte das auch so gesehen. Er hatte gemeint, dass er seinen Eltern schon längst von ihrer Beziehung erzählt hatte. Aber dass sie nicht viel dazu gesagt hätten.
Aha, hatte Emma gedacht. Ob das etwa an ihr lag?
Fremd waren Emma solche Zweifel an ihrer Person nicht. Es war für sie auch kein Wunder … Sie, die dicke Frau, die schon ihr ganzes Leben mit zu viel Gewicht gekämpft hatte und während der vergangenen zwanzig Jahre eine Karriere auf der Gewichtsleiter hoch und runter gemacht hatte, für die sie in mehreren (schlechten) Kategorien hätte ausgezeichnet werden können. Und Erik auf der anderen Seite. Er, mit den blauen Augen und den dunkelblonden Haaren. Er, der Typ Mann, dem einfach jeder Anzug passte, als wäre er maßgeschneidert. Er, dem die Frauen nachsahen, wo immer sie gemeinsam auftauchten (oder er allein). Und er … ja, er, der sich trotz aller äußerlichen Makel für sie entschieden hatte. Und das vor etwas mehr als einem Jahr.
Emma öffnete die Augen.
Durch die aktivierten Scheinwerfer waren die Schneeflocken noch besser zu sehen. Sie schienen sich beinahe angriffslustig auf das Auto zu stürzen. Aus dem Radio drang eine leise klassische Melodie heraus.
»Ist alles in Ordnung bei dir?«, fragte Erik, den Blick nach vorne gerichtet. Seit einer Weile war ihnen kein Auto mehr entgegengekommen. Vermutlich dachten sich viele, es sei besser, bei diesem Wetter zu Hause zu bleiben und den Schnee vorüberziehen zu lassen.
Emma erkannte daran nichts Verwerfliches. »Ich bin etwas nervös, das ist alles.« Sie begann, ihre Hände zu kneten.
»Wegen meinen Eltern?« Erik bremste ein bisschen und das typische Rutschgeräusch erklang, das Emma wieder ein Kribbeln im Magen bereitete.
»Falls wir dort überhaupt ankommen«, sagte sie mit leicht amüsiertem Ton in der Stimme.
Erik bremste weiter ab und ließ den Wagen dann langsam rollen. »Kein Problem, ich habe das im Griff.«
Das sehe ich, dachte Emma. »Und ja, es ist wegen deinen Eltern. Wir sehen sie ja jetzt zum ersten Mal.«
»Du meinst, du siehst sie zum ersten Mal. Ich kenne sie schon ein bisschen länger.«
»Ach, du Idiot.« Emma verpasste ihm einen sanften Stoß gegen den Arm. »Du weißt, wie ich es meine.«
»Ja, ich weiß. Und ich finde, du hast recht. Denk daran, dass ich auch aufgeregt war, als wir deine Eltern besucht haben.«
Emma nickte. Der Besuch bei ihren Eltern war jetzt ein halbes Jahr her und sehr erfolgreich verlaufen. Ihre Eltern hatten Erik mit offenen Armen empfangen und sich prächtig mit ihm unterhalten. Nur leider lebten sie im fernen Bali, wo sie sich ein Haus von ihrer Rente gekauft hatten. Regelmäßige Besuche konnten also nicht stattfinden.
»Glaubst du, sie werden mich mögen?«, fragte Emma leise. Sie erinnerte sich an den Moment, als sie heute Morgen in ihrem Badezimmer gestanden und sich ihren nackten Körper in dem großen Spiegel angeschaut hatte. Was sie dort gesehen hatte, hatte ihr nicht gefallen. Zu dick waren ihre Oberschenkel, zu teigig die Arme. Vielleicht würde ihrem Kinn auch etwas weniger Speck guttun. Und von ihrem hängenden Bauchansatz wollte sie lieber gar nicht erst anfangen – es war fürchterlich. Und eigentlich ein Grund, sie nicht zu lieben, oder? Ein Grund, sie zu ignorieren oder zu beschimpfen.
Aber das hatte Erik nicht getan. Warum nur?
»Sie werden dich lieben«, sagte Erik. »Meine Eltern können etwas steif wirken, aber sobald man sich daran gewöhnt hat, sind sie freundlich. Du wirst sehen. Guck mal, wir sind gleich da.« Er zeigte nach vorne.
Sie fuhren von der Straße ab und erreichten die Einfahrt in ein kleines Dorf, in dem mehrere zugeschneite Häuser in die Höhe wuchsen. Die Gegend wirkte weitgehend verlassen, als würden sich die Einwohner vor allen Neuankömmlingen verstecken. Hinter den meisten Fenstern waren die Vorhänge zugezogen und Emma fragte sich, wie dieser Ort wohl im Sommer aussah, wenn alles in freudigem Grün erstrahlte.
Ein Stück weiter lenkte Erik den Wagen nach rechts. Ein Anstieg vergrößerte die Abstände zwischen den Häusern. Zudem wurden die etwas dahinterliegenden Bäume zahlreicher.
Noch mal bogen sie ab und dann bremste Erik den Wagen, bis er schließlich stehen blieb.
Emma machte große Augen.
Gleich rechts, hinter einer Reihe Lebensbäume, entdeckte sie die Ansätze eines dunkelblauen Daches, das zu einem imposanteren Gebäude gehören musste.
Schnell wandte sie sich an Erik. »Sind wir da?« Ihr Herzschlag beschleunigte.
Erik nickte. »Ja, das ist es. Komm, lass uns reingehen. Meine Eltern warten bestimmt schon.«
An einem Punkt zwischen den Lebensbäumen gab es ein Metalltor, das nach oben hin rund geschlungene Bögen aufwies.
Erik öffnete das Tor und sie betraten das Grundstück dahinter. Das hohe Gebäude, das dort stand, wies tatsächlich ein blaues Dach auf. Die Außenwände bestachen durch ein ungewöhnliches Grau und die Fensterbalken waren weiß gestrichen. Der Bereich vor dem Haus war mit einigen Büschen versehen, an denen sich irgendein Künstler ausgetobt hatte: Sie bildeten die Umrisse von Tieren nach, von einem Löwen, einem Hirsch und einem Bären.
Nacheinander näherten sie sich dem Gebäude, bis sie bei einer kleinen Brücke aus Holz ankamen. Der Teich darunter war gefroren und Emma überlegte, ob die Fische in dem Wasser den Winter überleben würden.
Kurz darauf erreichten sie eine weiße Eingangstür.
»Da sind wir.« Erik zeigte auf die Tür. »Bist du bereit?«
Emma nickte. Da es kalt war, hatte sie kein Interesse daran, noch länger im Freien stehen zu bleiben. Andererseits bereitete ihr der Gedanke, ihre Schwiegereltern gleich kennenzulernen, eine Gänsehaut.
Gebannt sah sie zu, wie Erik die Klingel drückte.
Ein dumpfes Geräusch war daraufhin zu hören.
Erik nahm die Hand zurück. »So … jetzt müssten sie kommen.«
Emma lehnte sich gegen ihren Freund. »Wenn das Haus weg wäre und wir auf einer Eisscholle treiben würden, könnten uns Fremde jetzt für Pinguine halten«, sagte sie.
Erik sah sie mit großen Augen an. »Was? Wie kommst du denn darauf?« Emma zuckte die Achseln. »Ich dachte nur, das ...«
Die Tür ging auf und so weit, dass Emma mit einem Schlag zwei Personen erkennen konnte: einen älteren Herrn, der stattlich aussah, in rotem Pullover und grauer Hose. Und eine Frau, bleich, mit strengem Blick und blonden Haaren, die sie nach oben gesteckt hatte.
Oh je. Emma schluckte. Das waren Eriks Eltern.
»Mama, Papa!«, rief Erik und schloss zuerst seine Mutter in die Arme, bevor er sich seinem Vater zuwandte.
Emma sah ihm dabei zu. Sie hatte nur eine Sekunde, dann richtete Eriks Mutter ihren Blick auf sie. »Ich grüße dich«, sagte die Frau und reichte Emma die Hand. »Du musst Emma sein.«
Emma spürte, dass sie rot anlief. Sie schüttelte Eriks Mutter die Hand, aber merkte zu spät, dass sie immer noch Handschuhe trug. »Äh, ja. Freut mich sehr.«
Eriks Mutter lächelte. Dennoch wurde Emma das Gefühl nicht los, dass diese Frau sie von oben bis unten musterte oder vielmehr prüfte. Emma kam sich vor wie ein Gepäckstück bei einer Flughafenkontrolle.
»Ich habe schon ein paar Dinge von dir gehört, Emma«, sagte Eriks Mutter. »Mein Name ist Annette, wenn dir das Erik noch nicht gesagt hat.«
»D-doch, hat er«, sagte Emma. Als sie Annettes Hand losließ, trat ihr Mann vor und reichte Emma seine. »Freut mich. Hubert ist mein Name. Ich bin froh, deine Bekanntschaft zu machen.«
Emma schüttelte seine Hand. Hubert wirkte wie jemand, der seinen Erfolg im Berufsleben einer vehementen Art verdankte. Und wie jemand, der diese Eigenschaften niemals ablegen würde. Sein Händedruck war fest und seine Körperhaltung steif.
»Hattet ihr eine gute Fahrt hierher?«, fragte Annette ihren Sohn. Währenddessen ließ Hubert Emmas Hand los, was Emma erleichterte. »Ja, schon, oder?« Erik sah zu Emma.
»Ja, klar. Du bist ja gefahren«, sagte Emma grinsend.
»Das ist gut. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, da das Wetter so wechselhaft ist«, sagte Annette. »Man weiß nie, was dann alles passieren kann.«
»Wir kamen gut durch«, meinte Erik. »Und jetzt, wo das Auto steht, müssen wir da auch erst mal nicht mehr rein.«
»Ganz genau.« Hubert lachte kehlig. »Ihr seid ja jetzt hier. Also kommt, macht die Tür zu, und dann wird es Zeit, dass ihr eure dicken Sachen auszieht. Drinnen ist es angenehm warm.«
Der Eingangsbereich bestand aus weißen Wänden, an denen außer zwei Landschaftsgemälden nicht viel Sonderbares festzustellen war. Vor einer auffällig großen Garderobe, in der es Dutzende kleine Stangen, Haken und horizontale Metallplattformen gab, blieben sie stehen und Erik und Emma zogen ihre Jacken aus.
»Gib mir das.« Annette nahm Emma ihre Jacke ab. »Das brauchst du nicht mehr.«
»Danke.« Emma streifte ihre Schuhe ab. Diese schob sie neben Eriks gegen die aufragende Wand und drehte sich dann um.
Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie zwei Personen erblickte, die wie aus dem Nichts erschienen waren. Beide waren Frauen, beide in weiß-schwarze Haushälterklamotten gekleidet, und beide trugen schwarze Schleifen in den Haaren.
»Oh, da hätten wir dich vorwarnen müssen.« Annette zeigte abwechselnd auf die Damen. Sie lächelten breit und Emma schätzte keine von ihnen älter als dreißig. Die rechts hatte lange, rote Haare. Und die andere lange blonde.
»Das hier ist Anastasia.« Annette zeigte auf die Frau mit den roten Haaren. Sie trat vor und nickte Emma zu.
»Und das neben ihr ist Jessica.« Die Blonde trat ebenfalls vor und nickte.
»Sie sind seit drei Jahren unsere Haushälterinnen und kümmern sich um alles«, sagte Annette. »Wenn ihr also etwas braucht, dann wendet euch bitte an sie. Sie werden versuchen, euch zu helfen.«
Emma blickte von den Frauen zu Erik und dann wieder zurück. Wo kamen die zwei denn her?, dachte sie. Eigentlich hatte sie geglaubt, dass sie mit Eriks Eltern über die Feiertage allein sein würden, aber offenkundig war das ein Fehler gewesen. Stattdessen wurden sie jetzt von diesen gut aussehenden Frauen begleitet, von denen Erik bisher nichts erwähnt hatte.
»Äh, kann ich mal die Toilette benutzen?«, fragte Emma und war froh, dass ihre Stimme nicht zitterte.
»Natürlich. Gleich hier.« Hubert zeigte zu einer braunen Tür ein paar Meter entfernt.
»Bin sofort wieder da.« Emma eilte zu der Tür in ein kleines Badezimmer. Hinter sich machte sie die Tür zu und hockte sich auf den geschlossenen Toilettendeckel.
Tief holte sie Luft.
Das war doch Unsinn! Niemals würde Erik auf die Idee kommen, etwas mit diesen zwei Vögeln anzufangen. Niemals!
Emma atmete leise aus. In Wahrheit war doch alles gut. Sie musste sich eben mehr auf die positiven Dinge fokussieren und nicht auf die negativen.
Aus einer Hosentasche holte sie einen kleinen, goldenen Ring heraus. Er funkelte im schwachen Licht, das durch ein seitliches Fenster hereinfiel.
Diesen Ring hatte sie vor zwei Wochen bei einem Juwelier besorgt. Sie hatte Erik einen Antrag machen wollen, aber jetzt, zwei Wochen später, kam ihr diese Idee nicht mehr so großartig vor. Sie hatte Zweifel, ob Erik sie überhaupt zu seiner Frau nehmen wollte. Und war es nicht eigentlich der Mann, der einen Antrag machte und nicht die Frau?
Emma seufzte.
Scheiß doch auf die Konventionen. Es geht um die Liebe! Da gibt es keine Regeln!
Außerdem war sie kein umherwandelndes Topmodel, das die Blicke der Männer auf sich zog. Ihre Beziehung zu Erik war demnach speziell. Vielleicht sollte sie es also doch tun. Am besten heute Nacht, wenn alle im Bett waren und sie beide unter sich wären. Dann würde sie ihm den Ring reichen und fragen, was er darüber dachte ...
Emma bildete eine Faust um den Ring.
Am Ende würde dieser Moment dann darüber entscheiden, was zwischen ihnen passieren würde. Es wäre genau der Augenblick, wenn sie Erik den Ring reichte … Wie würde er reagieren? Etwa mit Ablehnung? Mit Freude?
»Sei mutig«, flüsterte Emma sich selbst zu. »Und denk an die guten Dinge.« Denn die Chance war groß, dass Erik Ja sagte und sie zu seiner Frau nahm. Das hatte er schon mal indirekt angedeutet, vor drei Monaten, nachdem sie Sex in der Wanne im Badezimmer gehabt hatten. Damals hatte er gemeint: »Emma, ich liebe dich mehr als alles andere.« Und in der Art, wie er es gesagt hatte, voller Gefühl und Hingabe, war Emma der absoluten Überzeugung, dass er es ernst meinte.
Im Wohnzimmer stand ein Tisch, der so groß war, dass sich noch zwei weitere Familien hätten dazusetzen können. Licht spendeten helle Kronleuchter, die von der Decke hingen. Ein Stück entfernt war ein Kamin verbaut. Das Verbrennen der Holzscheite stieß knackende Geräusche aus, aber besonders beeindruckte Emma der prachtvolle Weihnachtsbaum, der bunt behängt war, mit Schleifen, Binden und Glöckchen. Ganz im Sinne von Weihnachten war der Raum mit schillernden Girlanden und Lichterketten verziert.
Während sie am Tisch saßen und aßen, schritten Anastasia und Jessica abwechselnd um sie herum, um zu bedienen. Keine sagte ein Wort.
Emma saß neben Erik und gab sich Mühe, nicht zu bedrückt dreinzublicken. Auf dem Tisch hatten die Haushälterinnen schmackhafte Gerichte in Schalen abgestellt. Über grüne Salate bis heiße Kartoffeln, Maronen oder Nudelaufläufe. Alles Dinge, von denen Emma gerne mal probiert hätte, aber gerade jetzt wollte sie sich zusammenreißen … Am Ende hielten sie Eriks Eltern noch für eine verfressene Kuh. Entsprechend hatte sie ihren Teller nur mäßig gefüllt und sie aß langsam.
Annette und Hubert saßen ihnen gegenüber. Zwischendurch stellte Annette ihnen eine Frage, wobei es dann eher Erik war, der eine Antwort lieferte.
Emma war froh darüber. Seit einer Weile hatte sie den Eindruck, dass ihre Gedanken rasten. Ständig musste sie an den Ring in ihrer Hosentasche denken. Dann waren da noch die Haushälterinnen, die so taten, als wären sie nicht da, obwohl sie durchweg zu sehen waren. Diese gut aussehenden Frauen, die jemandem wie Erik bestimmt gefallen könnten. Aber er liebte doch sie … Das hatte er immer gesagt.
Erik stupste sie in die Seite, sodass Emma zusammenzuckte. »Uuu.« Beinahe hätte Emma ihre Gabel fallenlassen. »Tschuldigung. I-ich war in Gedanken.«
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Erik leise.
Emma nickte. »Ja, natürlich. Das Essen ist übrigens sehr gut.« »Das hat Jessica zubereitet. Sie ist hier die Köchin«, sagte Hubert.
Emma sah, dass Jessica, die Frau mit den blonden Haaren, leicht errötete.
Annette räusperte sich. »Ich hatte nur gefragt, wie ihr euch kennengelernt habt. Natürlich kenne ich Eriks Variante, aber ich wollte auch mal deine hören. Und wie du es für dich erlebt hast?«
Emma legte die Gabel beiseite. In diesem Moment kam sie sich besonders beobachtet vor. Als wären Tausende Kameras auf sie gerichtet. »Es war mit Sicherheit einer der schönsten Tage meines Lebens«, begann sie. Und dann erzählte sie, wie sie Erik vor über einem Jahr in einem Kino kennengelernt hatte, als er sie aus Versehen mit einer Mitarbeiterin des Kinos verwechselt hatte. An jenem Abend waren sie sich nähergekommen und keine zwei Monate später zusammengezogen. »Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen«, sagte Emma und war froh, als Erik ihre Hand griff. »Und ich kann mir nichts Besseres als ihn mehr vorstellen.«
Je nachdem, um was für einen Spiegel es sich handelte, wirkten Körper anders. War das Glas kleiner, fiel nicht sofort alles auf. Die großen Spiegel waren eher das Problem. Denn in ihrer unverhohlenen Genauigkeit war es kaum möglich, etwas vor ihnen zu verbergen.
Der Spiegel, vor dem Emma jetzt stand, war größer, als sie erwartet hatte. Er war gleich links von einer Dusche in ihrem neuen Bad befestigt, das mit dem Schlafzimmer verbunden war. Schwarze Fliesen prägten sowohl den Boden als auch die Wände dieses Raumes.
Stellte man sich in der Dusche mit dem Rücken zur Wand, war der Blick auf den Spiegel perfekt.
Betrübt musterte sich Emma von oben bis unten. Da sie gerade geduscht hatte, umwehte sie noch leichter Dampf und der Geruch des fruchtigen Shampoos hing in der Luft.
Um sich besser sehen zu können, stand sie mit knappem Abstand vor dem Glas. Durch dessen Größe war alles von ihr sichtbar, die Füße, die Beine bis hoch zu ihrem Bauch und den Brüsten.
Ihre Brüste fand Emma gar nicht so schlecht. Weder zu klein noch übertrieben groß. Das Problem begann eher unterhalb ihrer Brüste. Dort, wo ihr Bauch überragte und das Fett in ihre Beine überging.
Drehte sie sich um, wurde es in Emmas Augen schlimmer. Ihr Hintern, den sie sich fest und knackig wünschte, war faltig und eher von Wellen gezeichnet als von Straffheit.
Bist du denn wirklich schön?, überlegte Emma, während sie sich in dem Spiegel betrachtete. Es gab Tage, da meinte sie, dass sie es war. Das waren Tage, an denen sie sich besonders mutig fühlte. Dann, wenn sie sich in der Lage glaubte, den höchsten Berg der Welt zu erklimmen. An anderen Tagen war das nicht so. Das waren die Momente, die überwogen, besonders wenn sie ihr Haus verließ, um unter Menschen zu gehen – also ausgerechnet die Momente, in denen sie eigentlich viel Mut bräuchte. Doch ihr Verstand war unerbittlich. Manchmal verfluchte sich Emma dafür. Manchmal nahm sie es hin, wie es kam. Sie konnte es ja sowieso nicht ändern.