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Aus Geldnot trifft die alleinerziehende Verena Wachern eine schwere Entscheidung: Sie bricht in das Haus ihres komatösen Vaters ein, um ihn zu bestehlen. Ein großer Wald schließt an dieses Haus an. Bereits seit Kindertagen hat ihr Vater sie vor diesem Wald gewarnt: Wer ihm zu nahe kommt, den erwartet ein furchtbares Schicksal. Davon unbeeindruckt macht sich Verena daran, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Doch einige seltsame Vorkommnisse lassen sie bald darauf zweifeln. Warum ist ihr Vater wirklich krank? Was verbirgt er in seinem Keller? Und was hat das mit dem Wald zu tun? Auf der Suche nach Antworten kommt Verena immer mehr einem Familiengeheimnis auf die Spur, das ihre schlimmsten Albträume übersteigt.
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Seitenzahl: 482
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Aus Geldnot trifft die alleinerziehende Verena Wachern eine schwere Entscheidung: Sie bricht in das Haus ihres komatösen Vaters ein, um ihn zu bestehlen. Ein großer Wald schließt an dieses Haus an. Bereits seit Kindertagen hat ihr Vater sie vor diesem Wald gewarnt: Wer ihm zu nahe kommt, den erwartet ein furchtbares Schicksal. Davon unbeeindruckt macht sich Verena daran, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Doch einige seltsame Vorkommnisse lassen sie bald darauf zweifeln. Warum ist ihr Vater wirklich krank? Was verbirgt er in seinem Keller? Und was hat das mit dem Wald zu tun? Auf der Suche nach Antworten kommt Verena immer mehr einem Familiengeheimnis auf die Spur, das ihre schlimmsten Albträume übersteigt.
"Bist du gut mit mir, bleibst du fern von ihm."
1. Verena
2. Richard
3. Verena
4. Richard
5. Verena
6. Richard
7. Verena
8. Richard
9. Verena
10. Richard
11. Verena
12. Richard
13. Verena
14. Richard
15. Verena
16. Richard
17. Verena
18. Richard
19. Verena
20. Richard
21. Verena
22. Richard
23. Verena
24. Richard
25. Verena
26. Richard
27. Verena
28. Richard
29. Verena
30. Richard
31. Verena
32. Richard
33. Verena
34. Richard
35. Verena
36. Richard
37. Verena
38. Richard
39. Verena
40. Richard
41. Verena
42. Richard
43. Verena
44. Richard
45. Verena
46. Richard
47. Verena
48. Richard
49. Verena
50. Richard
51. Verena
52. Richard
53. Verena
54. Richard
55. Verena
56. Richard
57. Verena
58. Richard
59. Verena
60. Richard
61. Verena
62. Richard
63. Verena
64. Richard
65. Verena
66. Richard
67. Verena
68. Richard
69. Verena
70. Montag
71. Montag
72. Dienstag
73. Dienstag
74. Mittwoch
75. Mittwoch
76. Donnerstag
77. Donnerstag
78. Freitag
79. Freitag
80. Samstag
81. Samstag
82. Sonntag
83. Richard
84. Verena
85. Richard
86. Verena
87. Richard
88. Verena
89. Richard
90. Verena
91. Richard
92. Verena
93. Richard
94. Verena
95. Richard
96. Verena
97. Richard
98. Verena
99. Richard
100. Verena
101. Richard
102. Verena
103. Richard
Hell durchbrachen die Scheinwerfer des Autos die Schatten der Nacht. Zu beiden Seiten wuchsen gewaltige Tannen wie Speere in den Himmel.
Verena lenkte den Wagen nach links und folgte dann dem düsteren Straßenverlauf weiter geradeaus.
Nicht mehr lange und sie wäre da, dachte sie aufgeregt.
Während sie fuhr, musste sie daran denken, was vor einigen Stunden passiert war. Was hatte sich der Trottel denn gedacht?
Der von der Reinigungsfirma, bei der sie vor vier Monaten angefangen hatte. Dass er ihr einfach so an den Hintern fassen durfte? Eine Berührung und dann … ups … nichts passiert?
Schwachsinn! Und wie sich der Kerl dann herausgeredet hatte.
Dass das keine Absicht wäre. Dass sie sich nicht so anstellen solle. Pah! Natürlich war das Absicht gewesen. Und das hatte Verena ihm auch gesagt. Nur war er der Boss und sie nur eine billige Angestellte gewesen und deshalb hatte er sie gefeuert.
Mist!
Dabei war der Job nicht schlecht bezahlt gewesen. Die Arbeitszeiten waren auch nicht schlecht und für zwei junge Kinder zu Hause, die morgens früh in die Schule mussten, hatte es auch gepasst.
Erneut machte die Straße eine Biegung. Die Scheinwerfer leuchteten über die seitlich aufragenden Bäume hinweg und kurz darauf ging es wieder geradeaus.
Nach der unfreiwilligen Kündigung war sie wieder zu ihrer Wohnung gefahren. Erneut ohne Job und ohne Geld. Also hatte sie die Kinder genommen und sie zu ihm gebracht. Ja, ihm …
Verena schüttelte den Kopf. Was für ein Arsch. Natürlich der Vater der zwei.
Gefreut hatte er sich nicht, als sie ihm die Kinder gebracht hatte, aber er war nun mal der Vater und er hatte auch Verantwortung … Außerdem war es ja nicht von Dauer.
Verena verengte die Augen zu Schlitzen. Weiter vorne endete der Wald und am Himmel waren dichte Wolken zu sehen, die so aussahen, als könnte es bald regnen. Aus dem Radio erklang jetzt die Stimme eines Nachrichtensprechers.
War das hier wirklich richtig? Verena merkte ein Ziehen in der Brust, als ihr dieser Gedanke kam. Diese Aktion fühlte sich falsch an, aber auf der anderen Seite … Was sollte sie sonst tun?
Warten? Einen neuen Job suchen? Immerhin brauchte sie Geld, und zwar jetzt, sonst verlor sie die Kinder und das wäre das Schlimmste. Zudem konnte sich Karl, ihr Exmann, nicht die ganze Zeit um die Kleinen kümmern. Und das sollte er auch nicht!
Die seitlichen Bäume rückten in den Hintergrund, als sie den Wald verließ. Ein paar Kilometer entfernt ragten die ersten Häuser der nahen Stadt auf. Helle Straßenlampen beschienen die Einfahrt und in keinem der sichtbaren Gebäude brannte noch Licht.
Rechts, vor der ersten großen Straßenlampe, stand ein zerlumpter Mann und hielt ein Schild in die Höhe.
Überrascht beugte sich Verena vor, als sie ihn sah. Hä? Was tat dieser Kerl denn da?
15 Meter trennten sie noch von ihm.
10 Meter …
5 …
Im Licht der Straßenlampe war er schließlich besser zu sehen.
Der Mann trug eine blaue Latzhose. Springend reckte er das beschriebene Papierschild in die Höhe und klappte dabei den Mund auf, als würde er etwas rufen.
Weiter fuhr Verena voran und las die Aufschrift auf dem Schild:
Niemand ist vor ihm sicher …
Richard stieg die Treppe im Inneren seines Hauses hoch und blieb im ersten Stock stehen.
Das ist mein Haus, dachte er nachdenklich, während er die braunen Holzwände und umliegenden Türen betrachtete.
Er ging weiter und verharrte vor einer hölzernen Zimmertür.
So wenig Leben hier … Er öffnete die Tür und trat ein. In dem folgenden Zimmer befand sich ein ordentlich gemachtes Bett.
Links stand ein geschlossener Schrank und rechts ließen zwei weitere Fenster etwas Licht ein.
Mitten im Raum wurde Richard langsamer. Ich kann dich sehen, dachte er und streckte eine Hand aus. Leichter Staub lag in der Luft.
Es war still.
Unvermittelt drehte sich Richard wieder um, trat aus dem Zimmer hinaus und schloss die Tür hinter sich zu.
Warum war niemand hier? Dieses Haus war doch so groß. Es müsste eigentlich voller Leben sein.
Er ging zu der Treppe zurück und blickte über das Treppengeländer ins Erdgeschoss hinunter.
»Hallo?«, rief er und kratzte sich dabei am Kinn. »Ist jemand hier?«
Nichts war zu hören.
Schnell sah er nach oben, Richtung zweiter Stock, aber auch dort war niemand zu sehen.
»Hallo?« Er drehte sich um. Etwas stimmte hier doch nicht.
Zögerlich setzte er einen Schritt vor, dann noch einen und wieder einen. In der Mitte des ersten Stocks blieb er stehen und holte tief Luft. Angestrengt lauschte er.
Richard konnte seinen eigenen Atem hören. Ansonsten war da … nichts. Kein Wind, keine Stimme, kein Rauschen und kein Knistern.
Aber warum nicht?
Plötzlich streifte ein Lufthauch seinen Nacken und Richard fuhr herum. »H-hallo?« Zitternd sah er sich um, während eine Gänsehaut seinen Rücken hinunterlief.
Das nahe Quietschen einer Tür erklang.
Verdammt. Richard wandte den Kopf nach rechts und sah einen Schatten ein paar Meter entfernt in dem offenen Türrahmen stehen. Der Schatten bewegte sich. Einen Schritt kam er vor und dann noch einen und dann riss Richard die Augen auf, als er die Gestalt erkannte: »Duuuu?«
Verena schaltete den Blinker nach rechts und drehte das Lenkrad ein Stück ein. Es knirschte, als der Wagen auf einen ungepflasterten Feldweg, am Rand der letzten Stadthäuser, einfuhr.
Gut, gut … Sie holte tief Luft. Da vorne war es schon. Das Haus ihres Vaters.
Sie schaltete in den zweiten Gang und näherte sich dem Gebäude langsam.
Ob sie die Scheinwerfer ausmachen sollte?, überlegte sie. Hm …
eher nicht. Noch war sie ja noch nicht da.
Als sie in den Rückspiegel blickte, sah sie die letzten Häuser der Stadt kleiner werden. Niemand war in der Nähe zu sehen, was ein gutes Zeichen war.
Vor ihr ragte das hohe Haus mit den hölzernen Wänden auf. Es verfügte über einige Fenster und Dutzende Zimmer. Auf dem weitgehend grasarmen Gelände wirkte es ziemlich verlassen und lediglich links, wo mit etwas Abstand ein großer Wald begann, existierte ein kleiner Garten. Dort wuchs auch wieder Gras, das bis an das Haus reichte.
Was für ein beschissener Ort! Verena seufzte.
Riiiiiing! Riiiiiiiing!, machte es plötzlich und Verena zuckte zusammen und trat auf die Bremse. Sogleich röhrte der Wagen auf, bis er abwürgte.
Mist!
Verena nahm die Hände vom Lenkrad.
Riiiiiing! Riiiiiiiiiing!
Schnell schaltete sie den Motor aus und griff zu ihrer Handtasche links auf dem Beifahrersitz.
Wo ist es denn, wo …
Sie holte das vibrierende Handy aus der Tasche und ging ran.
»Jaa?«
»Verena!«, rief eine frustrierte Stimme durch das Handy.
Verena seufzte. Das war nicht gut …
Die Gestalt, die sich selbst der Fürst nannte, breitete die Arme auseinander. »Keine Angst, mein Freund«, begann sie, »wir kennen uns doch gut.« Die Haut des Fürsten war weiß wie Schnee. Er trug eine extrem dünne, violette Hose und ein Oberteil mit weißen Puffärmeln dran. Seine silbernen Haare reichten ihm bis zur Brust.
Langsam kam er auf Richard zu.
Abwehrend streckte Richard einen Arm aus. »D-du hast hier nichts verloren! Das ist mein Haus! Also verschwinde hier!
Sofort!«
Der Fürst streckte das Kinn vor. »Ich brauch deine Erlaubnis nicht. Weißt du nicht mehr? Wir haben doch eine Vereinbarung!«
Lachend riss der Fürst den roten Mund auf.
Richard schrie, fuhr herum und stürmte die Treppe nach oben.
Weiter kam er hinauf, schneller … Oben bog er nach links ein und rannte vor die nächste Holzwand, wo er zitternd stehenblieb.
Bitte nicht!, dachte er. Bitte …
»Oooh, Richaaaard … wo bleibst duuuu?«, drang eine singende Stimme an Richards Ohren.
Schritte erklangen.
Panisch sank Richard auf den Boden hinunter und schloss die Augen. Bitte, Herr im Himmel. Rette mich vor diesem Monster. Lass nicht zu, dass er mich …
Unvermittelt war eine leise Musik zu hören.
Langsam öffnete Richard die Augen und drehte sich zu der nahen Treppe um.
Der Fürst war nicht zu sehen. Lediglich die spielenden Violinen und Trompeten der verrückten Musik waren zu hören, als würde es in der Nähe ein Konzert geben …
»Was ist denn, Karl? Ich dachte, wir hätten alles beredet«, zischte Verena. Verstohlen blickte sie durch das seitliche Fenster des Wagens hinaus. Etwas entfernt stand das Haus. Die Fenster lagen im Dunkeln, was eigentlich bedeutete, dass sich niemand darin aufhielt. Aber das entsprach nicht der Wahrheit …
»Gar nichts haben wir beredet«, rief ihr Exmann Karl durch das Handy, »du hast die Kinder abgeladen und dich verpisst!
Spinnst du? Ich musste sie erst mal beruhigen, da sie vollkommen überfordert waren.«
»Ja … das verstehe ich. Aber ich habe es nicht ohne Grund gemacht und ich bin gerade beschäftigt.«
Karl ächzte. »Wie bitte? Du bist beschäftigt? Du schwingst deinen Arsch jetzt gefälligst wieder zurück und nimmst unsere Kinder mit! Wie stellst du dir das vor? Ich muss morgen arbeiten gehen!«
»Setz sie vorher in der Kita ab. Das ist wirklich nicht schwierig.«
»Verena …« Karl seufzte. »So war das nicht vereinbart. Du wolltest dich um die Kinder kümmern, also mach das auch!«
»Hör zu, Karl. Ich verstehe, dass du wütend bist, aber hier geht es um etwas anderes! Ich habe meinen Job verloren und ...«
»Dann such dir einen neuen! Gott verdammt! Und wenn du gebrauchte Tampons lutschst ... mach irgendetwas anderes!«
Verena verzog das Gesicht. »Nein, so etwas lutsche ich nicht.
Aber ich kümmere mich gerade um etwas. Und sobald das fertig ist, hole ich die Kinder wieder ab. Bis dahin musst du auf sie aufpassen!«
»Was ist es? Sag es!«
»Ich …« Sie sah durch die Frontscheibe hinaus. »Ich sag es dir noch früh genug. Hab bitte etwas Geduld!«
»Verena. So läuft das nicht. Ich erwarte dich spätestens morgen wieder hier, verstanden? Spätestens morgen, sonst ...«
Verena legte auf und senkte das Handy. Puh … das war nervig gewesen. Ganz unrecht hatte Karl zwar nicht, aber im Augenblick waren andere Dinge wichtiger.
Schnell packte sie das Handy zurück in ihre Tasche.
Okay … Jetzt lag der schwerste Teil noch vor ihr.
Sie schaltete den Motor wieder an und aktivierte die Scheinwerfer. Hell durchbrachen sie die Düsternis.
Für ein paar Stunden würde sich Karl schon um die Kinder kümmern können, dachte Verena schuldbewusst. So kompliziert war er schon immer gewesen … Viel Gerede und wenig Haltung.
Vorsichtig gab sie Gas und näherte sich dem Haus.
Richard lauschte der seltsamen Musik, die keine Quelle hatte. Sie schien von allen Seiten zu kommen.
Kurz darauf mischten sich Schritte in die Melodie, als jemand die Treppe hoch kam.
Schnell schloss Richard die Augen. Denk an etwas Schönes!
Angestrengt dachte er an einen breiten Sandstrand, Palmen, das blaue Meer. Das Rauschen der Wellen … Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, aber es ging nicht, denn immer wieder durchbrach die Musik seine Gedanken. In seinem Kopf schien sie lauter zu werden und lauter und noch lauter … bis Richard keuchend die Augen öffnete.
Bei der Treppe stand der Fürst und winkte ihm zu.
»Neeeeein!«, rief Richard und schloss die Augen. »Lass mich!
Bitte! Du hast schon genug angerichtet!«
»Sieh mich an, Richard«, zischte der Fürst von der Treppe aus.
»Nein!«
»Tu es! Sofort!«
Die Musik spielte ununterbrochen weiter.
»Neeein!«, rief Richard.
»ÖFFNE SIE!«
Richard zitterte. Du hast keine Wahl, flüsterte eine Stimme in seinem Verstand.
Langsam öffnete er die Augen und starrte in ein graues Augenpaar vor sich. Die Wangen des Fürsten bewegten sich, als würde er etwas sagen wollen, es sich dann aber anders überlegen.
Plötzlich, als würde ihn ein Blitz treffen, wich er von Richard weg nach hinten. »Komm zu mir, Richard, lass uns Spaß haben.
Nur du und ich.« Der Fürst drehte sich um die eigene Achse und begann zu tanzen. Einmal vor, wieder zurück. Lachend bildete er Fäuste und schwang sie durch die Luft. »Komm zu mir. Lass uns glücklich sein. Wir hatten doch so viel Spaß zusammen.«
Richard klappte der Mund auf. Was zum …
Der Fürst tanzte nach rechts, dann trat er vor, sprang zurück, drehte sich wieder. »Koomm her, oooh Richaaaard, denn wiiiir gehööören zusammmeeeen. Hahhahahahahahaa!« Plötzlich rannte er auf Richard zu … Schneller … »Aaaaaaaa!« Richard schloss die Augen und biss fest die Zähne zusammen.
Eine Sekunde verging, dann noch eine.
Oh Herr, bitte … Behutsam öffnete Richard die Augen und stellte fest, dass der Fürst verschwunden war. Genauso wie die seltsame Musik.
Düster lag das Stockwerk vor ihm aus.
Mühsam stand Richard auf und näherte sich der Treppe.
Vor dem hölzernen Geländer blieb er stehen und ließ den Kopf hängen.
Was habe ich nur getan?
Mit etwas Abstand zu dem Haus parkte Verena das Auto und schaltete den Motor ab. Als das Licht der Scheinwerfer ausging, wurde es düster.
Oh, mein Gott … Sie lehnte den Kopf zurück. Das, was jetzt kommen sollte, war zwar wenig ehrenvoll, aber notwendig.
Willst du es wirklich tun?, hörte sie es in ihren Gedanken rufen.
Und auch noch bei deinem eigenen Vater!
Verena holte tief Luft und dachte an früher, viele Jahre zurück, als sie jung, tollend und zufriedener gewesen war. Damals hatte sie zusammen mit ihrem Vater und ihrer Schwester in diesem Haus gewohnt. Zuerst noch mit ihrer Mutter und irgendwann nicht mehr. In Gedanken sah sie, wie ihr Vater einen Finger hob und auf sie zeigte. »Nein! Ich habe gesagt Nein, Verena!« Dann ihr Vater an einem kleinen Tisch sitzend, wie er mit vollem Mund rief: »Nein! Verena! Wie oft denn noch!« Dann wie er aufsprang, was die beladenen Teller auf dem Esstisch zum Scheppern brachte. »AB SOFORT IST SCHLUSS DAMIT!« …
Verena schüttelte den Kopf. Er war kein grässlicher Vater gewesen – vielleicht nur ein bisschen. Eher ein inaktiver Vater, jemand, der ständig andere Sorgen hatte, als sich um die eigenen Kinder zu kümmern.
Verena öffnete die Wagentür und trat hinaus.
Kühl fuhr ihr der Wind unter die schwarze Regenjacke. Es raschelte in der Nähe und von oben leuchtete der helle Mond zwischen den grauen Wolken hindurch.
Verena schloss die Tür und sperrte den Wagen zu.
Plötzlich musste sie an den komischen Kerl mit dem Schild an der Einfahrt zur Stadt denken. Er hatte wie ein Obdachloser gewirkt und auf seinem Schild hatte gestanden: Niemand ist vor ihm sicher …
Aber vor wem sicher? Und wo war dieser Kerl hergekommen?
Sie schüttelte den Kopf. »Okay! Karl – ist jetzt egal! Der seltsame Kerl – auch egal. Du hast jetzt eine Aufgabe, Verena«, flüsterte sie. »Also beweg deinen nicht mehr zu jungen Hintern endlich voran und bring es zu Ende!«
Sie ging los, Richtung Haus und dann an der hohen Hauswand vorbei nach links. Weiter und weiter schritt sie voran, bis sie kurz darauf nach rechts einbog.
Dann blieb sie stehen.
Vor ihr führte jetzt ein langes Fallrohr an der Wand entlang hinauf zum Dach.
Verena musterte das Rohr. Eigentlich müsste es direkt an einem der Gästezimmer im ersten Stock vorbeiführen, dachte sie.
Dieser Bau besaß ohnehin so viele Zimmer, dass eine Großfamilie hier leben könnte. Für ihre Familie war dieses Haus immer zu groß gewesen, aber Richard hatte sich damals von dem günstigen Preis überzeugen lassen und sie waren eingezogen …
Das war viele Jahre her.
Verena griff in ihre Jackentasche und holte ein Paar Handschuhe heraus. Diese streifte sie über, umfasste das Rohr und hakte einen Schuh an einem Metallring weiter unten ein.
Na los!
Ächzend drückte sie sich hoch und hakte den anderen Fuß ein.
Langsam kletterte sie hinauf.
Eine Windböe brauste auf und traf sie im Rücken.
Verena verharrte für einen Augenblick und holte tief Luft.
Nicht lange danach war das richtige Fenster nicht mehr weit entfernt.
»Nur Mut, Verena! Du kannst das!«, flüsterte sie sich selbst zu.
Sie griff am Rohr entlang und zog sich weiter nach oben.
Irgendwann begannen ihre Finger zu schmerzen. Zudem wurde der Wind mit jedem Meter, den sie zurücklegte, kühler.
Weiter zog sie sich hinauf und noch ein Stück.
Eine ferne Stimme flüsterte: »Verena!«
Erschrocken zuckte Verena zusammen. Krampfartig umklammerte sie das Rohr und versuchte zu begreifen, was sie gerade gehört hatte.
Etwa einen Fremden, der sie gesehen hatte und jetzt ihren Namen rief?
Jemanden, den sie kannte?
Oder etwas Böses?
Was hast du getan?!
Wütend streckte Richard die Arme vor. »Ja, du! Du hast es vermasselt! Das alles hier!« Fest schlug er sich gegen den Kopf.
»Aaaa. Es ist deine Schuld! Deine! Verdammte! Schuld!« Erneut schlug er sich gegen den Kopf. »Was ist nur aus dir geworden?
Dieser Schmerz, dieses Leid … du bist schuld daran und sonst niemand!« Er lächelte. »Aber was hätte ich denn anders machen sollen?«
Langsam sank Richard auf die Knie und faltete die Hände zusammen. »Nein, es war ein Fehler. Ganz offensichtlich. Das alles hier war ein Fehler.« Er stand auf, ging Richtung Treppe und dann die Stufen hinunter, bis er den ersten Stock erreichte.
Dort bog er nach rechts ein und öffnete eine Tür in ein Zimmer.
Im Türrahmen blieb er stehen.
Das folgende Zimmer war leer. Nur etwas Staub trieb als Partikelwolke in der Luft.
Zügig schritt Richard voran und verharrte vor einem der Fenster gegenüber.
Dann sah er hinaus. »Hmm ...«
Draußen schien die Sonne. Dennoch war es so neblig, dass die nahe Stadt nicht zu sehen war. Zwischen den Schwaden erkannte er den Umriss eines roten Autos, das sich dem Haus näherte.
Richard legte eine Hand auf das Fensterglas und spürte eine Träne am rechten Auge …
1992
1.
Vor dem Haus parkte Richard den Opel und zog den Schlüssel aus der Zündung. »Also, ich denke ...« Er drehte sich nach hinten. » … Wir sind da.«
Seine Kinder Denise und Verena klatschten freudig in die Hände. »Jaaaa!«, riefen sie.
Richard wandte sich zu seiner Frau Luise auf dem Beifahrersitz und fasste ihre rechte Hand. »Wir sind da, Schatz.«
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Gut gemacht.«
»Dann lasst uns mal alles anschauen, Kinder«, meinte Richard.
»Auf geht’s. Das hier wird ein komplett neues Leben für uns.«
Richard öffnete die Fahrertür und stieg aus.
Draußen schien die warme Sonne herunter. Links, einige Meter entfernt, ragte ein großes Waldstück auf, hauptsächlich Tannen, die teilweise wie eine undurchlässige Mauer wirkten.
Zufrieden stemmte Richard die Fäuste in die Taille. Das sah schon alles sehr gut aus hier, dachte er.
»Schatz?«
Richard drehte sich um und sah die Beifahrertür aufgehen.
Währenddessen spielten die Kinder auf der grasfreien Ebene Fangen.
»Ich komme.« Er lief auf die andere Seite des Wagens und reichte seiner Frau eine Hand.
»Danke dir«, flüsterte sie, hielt sich den gewölbten Bauch und stieg mit Richards Hilfe aus. »Puh, ich glaube, ich habe etwas Kreislauf.«
»Warte, bitte.«
Richard öffnete den Kofferraum und griff eine Wasserflasche.
»Hier.« Er kam zurück und reichte sie ihr. »Trink, dann vergeht das wieder.« Sie nickte, öffnete die Flasche und nahm einen großen Schluck. »Schon besser, danke, Schatz.«
Richard legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Denk dran, wir haben alle Zeit der Welt, Liebes. Keine Eile.«
Sie nickte. »Ich weiß. Nur manchmal habe ich das Gefühl, als würde sich die Welt immer schneller drehen.«
Richard sah zu dem großen Haus in der Nähe. Die hohen Wände waren aus festem Holz, es besaß viele Fenster und eine gut erhaltene Steingarage weiter rechts, die so aussah, als wäre sie erst kürzlich errichtet worden. Eigentlich war das Haus viel zu groß für sie, aber der Preis war so gut gewesen, dass er unmöglich hatte ablehnen können. Dazu war die nahe Stadt gut für die Kinder. Und sobald es seiner Frau wieder besser ging, würde sie hier viele neue Freundinnen kennenlernen.
Plötzlich ging die Haustür des Gebäudes auf und eine Person trat ins Freie. Ein Mann.
Der Makler, dachte Richard und sah zu seiner Frau. Sie nickte.
»Geh nur. Ich bin ja da.«
Richard nickte. Dann wandte er sich ab und eilte dem Mann entgegen. »Herr Wachern ...« Richard hob die rechte Hand.
»Herr Horts, schön, Sie zu sehen.« Markus Horts trug eine schwarze Jacke und hatte seine Haare nach hinten gegelt. Auf der Nase balancierte er eine Brille mit langen Bügeln und dazu besaß er buschige Koteletten neben den Ohren.
Verena und Denise hatten sich mittlerweile etwas entfernt und spielten weiterhin Fangen.
»Ich grüße Sie, Herr Wachern«, sagte der Makler und sie reichten sich die Hände. »Hatten Sie eine gute Anreise?«
Richard atmete ein fruchtiges Parfüm ein. »Ja, es war lang, aber unbeschwert. Die Kinder haben mitgemacht, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das hat es leichter gemacht.«
Markus lächelte. »Sie sollten mal meine sehen … die fangen schon an zu schreien, da sind wir nicht mal aus der Garage. Ein Chaos ist das dann, aber versuchen Sie mal, vernünftig zu bleiben. Es hört ja ohnehin keiner zu.«
Richard nickte. »Das kenne ich gut.«
Markus lächelte und drehte sich zu dem Haus. »Und gefällt es Ihnen? Was sind Ihre Eindrücke?«
»Es ist … groß. Aber abgesehen davon sieht es aus, als wäre es in einem großartigen Zustand.«
»Haha. Das ist es.« Markus nickte. »Es ist in einem fast neuen Zustand. Der letzte Eigentümer ist ja, wie ich Ihnen gesagt habe, leider verschieden und er hat in der kurzen Zeit, die ihm geblieben ist, sehr gut auf dieses Haus aufgepasst.«
Richard nickte. »Ein Herzinfarkt meinten Sie, nicht wahr?«
Markus öffnete den Mund. »Ii-ja … genau. Das hatte ich gesagt.
Und dann natürlich der Preis … da kann man nicht meckern.«
Richard verschränkte die Arme vor der Brust. »Das kann ich immer noch nicht ganz glauben, wenn ich ehrlich bin.«
Markus klopfte ihm auf die Schulter. »Sollten Sie aber. Es war der eindeutige Wunsch des Voreigentümers, dass das Haus günstig vergeben wird. Er wollte wohl etwas Gutes damit tun.
Und Sie hatten sich zuerst gemeldet, also bekamen Sie auch den Zuschlag. Und glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass sich seeeeehr viele beworben haben.«
»Es gab viele Anfragen?«
Markus machte große Augen. »Natürlich … das können Sie sich gar nicht vorstellen. Ich bin in der Flut an Bewerbungen fast ertrunken.«
2.
Richard stieg die Stufen nach oben in den ersten Stock und stellte die Koffer ab. »Oh verdammt ...« Er holte tief Luft. Nachdem der Makler gegangen war, hatte er eigentlich nur noch irgendetwas erledigt. An eine Pause war nicht zu denken.
Heiter huschten Denise und Verena an ihm vorbei in eines der nahen Zimmer.
»Hey, hey«, rief Richard. »Nicht so schnell, bitte.« Denise kam durch die Tür wieder heraus und deutete auf das Zimmer. »Das ist meins«, rief sie und sprang dabei in die Luft. »Ich will das hier. Ich will das hier!«
Verena begann neben ihr zu kreischen.
Oh Gott. Richard schüttelte den Kopf, hob die Koffer und ging in das Zimmer rechts, vor dem die beiden standen. »Verena, hörst du bitte auf zu schreien.«
Sie verstummte. Dann fragte sie: »Kann das hier mein Zimmer sein? Bitte. Bitte. Bitte. Bitte.«
Richard seufzte. »Vielleicht. Das Haus ist ja groß genug. Ich verstehe wirklich nicht, warum ihr euch so anstellt.«
Er stellte die Koffer im Zimmer ab und rieb sich die Hände.
Verena stürmte davon und dann begannen die Mädchen wieder zu schreien.
Nachdenklich schritt Richard zur gegenüberliegenden Seite des Zimmers und sah durch eines der Fenster hinaus. Draußen stand der rote Opel auf der weiten Ebene. Die Sonne wurde gerade von ein paar Wolken verdeckt und die Häuser der nahen Stadt zeigten kerzengerade in die Höhe.
Bedächtig legte Richard eine Hand auf das kühle Fensterglas.
»Schön ist es hier auf jeden Fall«, flüsterte er. »Ich glaube, das war eine gute Entscheidung.«
3.
Am Abend stand Richard im Esszimmer des Hauses vor einer großen Fensterwand, die eine Sicht auf die Terrasse und den daran anschließenden Wald ermöglichte. Die Sonne war schon untergegangen und nur der helle Mond beleuchtete die Landschaft.
Im Hintergrund war das kontinuierliche Brummen des Kühlschranks aus der nahen Küche zu hören.
Dieser Wald wirkte unheimlich, dachte er, während er dem Wind zusah, der die Äste der vordersten Tanne zu bewegen schien. Dabei glitten sie ein Stück nach links, dann rechts und bildeten plötzlich ein Licht in ihrer Mitte, ein weißes Licht, nicht grell, aber kreisend wie ein Drehrad, und dann verschwand das Licht schlagartig, als wäre es nie dagewesen und Richard trat verwundert von der Fensterwand zurück.
Verwundert atmete er aus.
Du bist müde, dachte er. Deine Sinne spielen dir einen Streich.
Als er erneut durch die Fensterwand hinausblickte, war da kein fremdes Licht mehr.
»Richard!« Eine Hand berührte ihn an der Schulter.
Richard drehte sich um und machte große Augen. »Du?«
Luise, seine Frau, nickte. »Wie geht es dir?«, fragte sie müde.
Richard seufzte. »Äh … ich dachte gerade, ich hätte etwas gesehen, mehr nicht.«
Luise setzte sich auf einen braunen Stuhl am Esstisch. »Wo sind die Kinder?«, fragte sie.
»Sie schlafen. Und du? Was ist mit dir?«
Er kam zu ihr.
»Mir geht es gut. Uns besser gesagt.« Sie strich über ihren gewölbten Bauch unter dem hellblauen Nachthemd. »Heute bin ich besonders müde, Richard. Es ist, als hätte ich seit Jahren nicht geschlafen, dabei tue ich den ganzen Tag nichts anderes.«
»Geh doch schon mal ins Bett und ich komme gleich nach. Das vergeht wieder, glaub mir.« Vor ihr ging er in die Knie.
Sie nickte. »Das sollte ich. Ich wollte nur nach dir sehen. Du bist so nachdenklich gewesen heute Abend.« Richard lächelte. »Es ist nur … das ist alles eine große Veränderung für uns, weißt du.
Und ich mache mir Gedanken, wie es weitergeht.«
Sie nickte. »Das ist gut so. Aber denk nicht zu viel nach. Oft ergeben sich die meisten Antworten von ganz allein.«
Richard sah auf den Boden. »Glaubst du, wir schaffen das? Das Haus, die Kinder … Es ist so viel und ...«
»Wir werden es schaffen. Aber sieh dich um ...« Sie zeigte um sich. »Wir haben heute ein wunderschönes neues Haus bekommen. Die Gegend ist schön und die Stadt ist auch in der Nähe. Denise und Verena werden hier sicher gut ankommen. Sie sind noch jung, da gewöhnt man sich an vieles. Früher oder später werden sie diese Gegend als ihre neue Heimat anerkennen.«
»Und wir?«
»Wir werden das erleben dürfen. Und uns um unser drittes Kind kümmern. Ich freue mich schon darauf.«
»Ich auch.« Richard stand auf und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Was hatte ihr Vater immer gesagt?, überlegte Verena, während sie an dem Rohr hing.
»Geh nicht in den Wald, Verena, niemals! Ich sage es nicht noch mal!«
Das war jetzt viele Jahr her, dachte sie. Als Denise und sie noch klein gewesen waren. Irgendwie hatte es ihr Vater geschafft, sie von den Bäumen des Waldes fernzuhalten, obwohl er sich so nahe an diesem Haus befand. Und so sehr sich Verena auch anstrengte, sie konnte sich an keine Situation erinnern, in der sie mal in diesen Wald gegangen war.
Als sie über die Schulter zurückblickte, sah sie einen Ansatz des Waldes ein paar Meter entfernt aufragen. Dunkle Bäume, die wie eine Mauer aus der Düsternis hervorwuchsen.
Ansonsten war niemand zu sehen.
Also hatte sie sich die fremde Stimme doch nur eingebildet?
Langsam zog sie sich an dem Rohr entlang weiter.
Vielleicht sollte sie einfach mal aus guter Laune heraus in den Wald gehen?, dachte Verena. Um ihrem Vater zu beweisen, dass doch keine Gefahr von ihm ausging. Es gäbe niemanden, der sie aufhalten würde.
Verena zog sich weiter, bis sie das richtige Fenster erreichte. Mit der rechten Hand klammerte sie sich an das Rohr, während sie mit der linken in ihre Hosentasche griff und einen Schraubendreher herausholte. Diesen hakte sie zwischen die beiden Fensterscheiben ein und … DAAG … presste sie auseinander.
Quietschend ging das Fenster nach innen auf.
Verena steckte den Schraubendreher zurück in ihre Hosentasche und kletterte von dem Rohr über das Sims in das Haus.
Richard öffnete die Augen und sah durch das Fenster hinaus ins Freie.
Draußen war der rote Wagen verschwunden. Der dichte Nebel hatte sich weiter ausgebreitet und die Sonne war untergegangen.
Schatten lagen jetzt über der weiten Landschaft.
Das war alles so lange her, dachte Richard betrübt. So viele Jahre, die so viel Schrecken gebracht hatten.
Er senkte den Kopf und seufzte. »Meine liebe Luise, wenn ich gewusst hätte, was kommt, ich hätte es verhindert, glaub mir.
Aber mir hat die Kraft gefehlt.«
Erneut legte er eine Hand auf das kühle Fensterglas. »Ich habe es einfach nicht kommen sehen, niemand hat das. Wie eine Lawine ist das Böse über uns gefallen und es hat nichts übrig gelassen.«
Langsam drehte er sich um und schritt aus dem Zimmer in den restlichen Stock zurück.
Dort blieb er stehen und sah sich um.
Niemand da. Wie die letzten Male auch. Es schien ihm, als wäre er allein, aber gleichzeitig war er das nicht. Ein seltsames Gefühl, dachte Richard, während er sich umsah. Als würden einen Hunderte Augen anschauen, die man selbst nicht sehen konnte.
Nachdenklich schritt er die Stufen hinunter ins Erdgeschoss und bog dort in das Esszimmer ein, das mit der Küche verbunden war.
Gegenüber ragte die große Fensterwand auf, die bis zum Boden reichte und einen Ausblick über die Holzterrasse, den anschließenden Garten und den daran anschließenden Wald ermöglichte.
Behutsam schritt Richard durch den Raum zu einer Tür am linken Rand, die auf die Terrasse hinausführte.
Auf ihr standen zwei Stühle an einem runden, weißen Kunststofftisch.
Richard setzte sich auf den rechten Stuhl. Dann verschränkte er die Arme und musterte den Garten zwischen Haus und Wald.
Die hinteren Bäume lagen jetzt düster da. Auch das sonst grüne Gras war kaum noch zu sehen.
Ob dieser Ort jemals Frieden gehabt hatte?, überlegte Richard.
Oder war das Böse immer schon hier gewesen?
Er schloss die Augen und in Gedanken sah er den Fürsten mit den langen, silbernen Haaren. Er drehte sich im Kreis, tanzte, bevor sich seine glühenden Augen auf ihn richteten. »Duuu ...«, zischte er.
Richard öffnete die Augen. An manche Dinge erinnerte man sich besser nicht, dachte er.
»Hallo, Richard.«
Richard sah nach links und ihm klappte der Mund auf.
Eine Gestalt hockte in dem anderen Stuhl und nickte ihm zu. »Oh ja … ich bin gekommen,«, begann die Gestalt lächelnd, »denn wir haben etwas Wichtiges zu besprechen! Und jetzt tu nicht so, als würde dich das überraschen.«
Verena fiel von dem Sims nach vorne und landete auf dem harten Holzboden im Inneren des Hauses. Schmerzerfüllt ächzte sie, während einige Druckpunkte ihre Arme hochzogen. »Das hatte ja passieren müssen.«
Langsam stand sie auf und streckte den Rücken durch. »Aaaa, sehr gut.« Anschließend schloss sie das Fenster und fokussierte den dunklen Raum vor sich.
Dichte Schatten ballten sich in den Ecken, und der modrige Geruch von alten Wänden stieg ihr in die Nase.
Verena griff in ihre Hosentasche, um ihr Handy zu holen, aber stellte fest, dass sie es nicht dabei hatte.
»Das kann doch nicht …« Dann fiel es ihr ein. »Verdammt!«
Offenbar hatte sie ihr Handy in der Handtasche im Auto zurückgelassen.
Sie seufzte. So etwas musste auch ihr passieren … Zügig ging sie vor, bis sie die gegenüberliegende Zimmerseite erreichte. Dort tastete sie die Wand entlang, bis sie den Lichtschalter fand. Sie drückte ihn und das Deckenlicht sprang an.
ZACK.
Die Schatten verflüchtigten sich.
Neugierig sah Verena sich um. Rechts stand ein großes Bett ohne Bezug und links ein geschlossener Holzschrank, in dem sich vermutlich nichts befand.
Eigentlich war dieses Zimmer viel zu groß für so wenige Objekte, dachte sie. Und doch …
Es knarrte.
Rasch fuhr Verena herum und musterte die geschlossene Zimmertür.
Ob das Geräusch von dort gekommen war?
Sie ging näher und legte vorsichtig ein Ohr an. Dann lauschte sie, aber nichts war zu hören.
Schließlich nahm sie das Ohr wieder weg und blickte zu dem Holzschrank in der Nähe.
Plötzlich knarrte es erneut.
»Spinn ich, oder ...« Sie ging hin und blieb vor dem Holzschrank stehen. Der Schrank war hoch und mit silbernen Griffen an den beiden Türseiten ausgestattet.
Verena hob die rechte Hand und zielte auf den rechten Griff auf Bauchhöhe.
Pass auf! Wer weiß, was sich in diesem Schrank befindet?!
Ihre Hand ging weiter vor und verharrte knapp über dem Griff.
Hitze breitete sich unter ihren Armen aus und Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn.
Aber das war doch nur ein Schrank, oder?
Verena öffnete den Schrank und trat dann schnell nach hinten.
Die rechte Schranktür quietschte leise, als sie aufging und das Innere des Schrankes enthüllte.
Ängstlich sah Verena hinein, aber darin lag nichts.
Nur die hölzernen Wände und jede Menge Staub.
Erleichtert atmete sie aus. Das wäre ja auch zu schön gewesen.
Sie schloss den Schrank und schritt wieder Richtung Zimmertür.
Jetzt war es an der Zeit, dem wahren Grund ihres Besuchs nachzukommen, dachte Verena. Umso schneller könnte sie auch wieder zu Hause sein und die Kinder bei Karl abholen.
Sie öffnete die Zimmertür und sah eine Gestalt dahinter stehen.
Mit großen Augen blickte sie zu Verena herein …
»Du?« Richard klappte der Mund auf.
Markus Horts, der Makler, auf dem zweiten Stuhl nickte. Seine Haut war gräulich verfärbt und seine Augen leuchteten in einem schwachen Gelbton, als wäre er krank. Mit einer dürren Hand fuhr er sich über die schütteren Haare. »Ja, ich bin es. Lange ist es her, nicht wahr?«
»Was zum Teufel machst du hier?«, fragte Richard fassungslos.
Markus zeigte auf den Wald in der Nähe und dann zum düsteren Himmel hinauf. »Ich musste kommen, Richard. Ich hatte keine Wahl. Siehst du das hier?« Er nickte nach vorne. »Es gibt so viel Böses hier, so viel … Dunkelheit.«
Richard schüttelte den Kopf. »I-ich weiß nicht, was ich noch glauben soll. Ich denke, ich verliere den Verstand.«
»Du musst dich erinnern!«, rief Markus und schlug auf seine rechte Stuhllehne. »Du weißt es noch! Erinnere dich!« Plötzlich schienen sich seine Augen aus den grauen Höhlen zu lösen.
Seine Wagen wurden flüssig, sanken nach unten ab, genau wie die Nase und der Mund, sodass es aussah, als würde er schmelzen. »Biiiaaatte, Richard«, raunte Markus mit einem Mund, der nicht mehr richtig da war, »duuuaaa muuuaasst diiaaaacchh eriaanneern…«
1992
1.
»Ich geh noch mal raus!« Richard blieb vor der Tür zur Terrasse stehen, während sich Luise langsam aufrichtete.
»Ist gut. Ich mache mich oben fertig und gehe ins Bett. Die Kinder schlafen ja schon«, sagte sie.
Richard nickte. »Luise.«
Sie blieb stehen und sah ihn an. »Hm?«
»Ich liebe dich.«
»Ich dich auch. Gute Nacht, Richard.« Sie schritt davon und verschwand durch die Tür ins restliche Erdgeschoss.
Richard öffnete die Terrassentür und schaltete draußen das Licht ein. Zwei Lampen aktivierten sich und vertrieben die Schatten.
Zufrieden schritt Richard zu dem weißen Tisch rechts und setzte sich in den rechten der zwei Stühle. »Aaaah. Herrlich.«
Entspannt betrachtete er den grünen Garten, der zwischen Haus und Wald auslag.
Das Zirpen von Grillen war zu hören und dann erklang ein leises Rascheln.
Richard sah sich um. Hm? War hier jemand?, überlegte er.
Entlang des Gartens bog der Wind ein paar weiße Blumen um.
»Alles gut«, flüsterte Richard und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Es ist niemand hier.«
Aber dann raschelte es erneut …
2.
Richard zog eine Augenbraue hoch. »Hallo? Ist hier jemand?«
»Psst!«
Ruckartig sprang Richard aus seinem Stuhl hoch. »Was? Hallo?
Wer ist da?«
Ein Schatten kam von links die drei Stufen hoch, die die Terrasse mit dem Garten verband, und trat ins Licht.
Richard klappte der Mund auf. »Siiiie?«
Markus Horts, der Makler, nickte ihm zu und zog sich die graue Mütze vom Kopf. »Jaa, aber bitte nicht so laut. Sind Sie allein?«
Richard sah sich um. »Ääh, meine Familie ist drinnen. Was ist los, verdammt noch mal? Was tun Sie hier? Ich dachte, wir hätten alles bei der Vertragsunterzeichnung geklärt.«
Markus lächelte. »Jaa … das ist so eine Sache. Können wir kurz reden?«
Richard holte tief Luft. »Also … ja, warum nicht? Jetzt sind Sie ja schon mal da.« Er setzte sich zurück auf seinen Stuhl.
Markus setzte sich in den zweiten daneben. »Gott sei Dank. Ich kann sitzen!« Er atmete durch. »Ich stehe schon eine ganze Weile, müssen Sie wissen.«
»Woher kommen Sie denn? Wohnen Sie nicht in Köln?«
Markus winkte ab. »Fragen Sie lieber nicht. Meine letzten Wochen waren sicherlich nicht so schön wie Ihre, das können Sie mir glauben.« Er griff in seine rechte Hosentasche und holte eine Packung Zigaretten heraus. »Auch eine?«
Richard schüttelte den Kopf.
Markus zog eine heraus, steckte sie sich in den Mund und zündete sie an. Als sie brannte, nahm er einen tiefen Zug. »Aaa, das tut gut.« Er blies den Rauch aus. »Oh, entschuldigen Sie. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich rauche?«
»Nicht direkt.«
»Gut.« Markus nahm einen weiteren Zug und blies den Rauch aus. »Sehr gut.«
»Was genau tun Sie hier, wenn ich fragen darf, Herr Horts?«
»Ach ...« Markus winkte ab. »Nennen Sie mich doch Markus, bitte. Das macht es entspannter.«
Richard schürzte die Lippen. »I-ich bin überfordert, Markus!
Eigentlich wollte ich hier draußen gemütlich die Stille genießen und jetzt sind Sie hier …«
Markus nahm einen Zug von der Zigarette. »Ich bin gekommen, mein lieber Richard, da ich dir etwas Wichtiges sagen muss.« Er strich mit einem Finger durch die Luft. »Und es darf nicht länger aufgeschoben werden.«
»Was denn?«, fragte Richard. »Ist etwas mit dem Haus nicht in Ordnung?«
Markus wiegte den Kopf hin und her. »Nicht direkt, und gleichzeitig … hast du nicht ganz unrecht.«
»Und was bitte soll das heißen?« Richard spürte einen heißen Knoten, der sich in seiner Brust bildete. Hatte ihn der Makler etwa betrogen? Markus deutete hinter sich auf das Haus. »Das Haus ist gut.« Er lächelte. »Es ist schön gebaut, hat keine Schäden und für den Preis kann man absolut nichts sagen. Also … das hätte ich ja fast selbst gekauft, wenn ich ehrlich bin.«
»Aber?«
»Es gibt ein anderes Problem, Richard. Und ich kann mir vorstellen, dass das seltsam auf dich wirken wird, aber du musst mir vertrauen. Und das ohne Ausnahme.«
Richard beugte sich auf seinem Stuhl vor, sodass ihm der bissige Zigarettengeruch in die Nase stieg. »Weiter.«
»Siehst du den Wald da?« Markus deutete auf die knapp entfernt stehenden Bäume.
Richard sah hin. »Ja? Und?«
Markus nahm einen Zug von seiner Zigarette. »Geh dort nicht rein. Niemals, verstehst du? Nie. Nie. Nie. Das ist von absolut größter Wichtigkeit.«
3.
»Und warum nicht?«, fragte Richard verwirrt.
Markus holte tief Luft. »Jaaa … das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Ich glaube nicht mal, dass ich es genau weiß.«
»Versuch es mal.« Dieser Spinner, dachte Richard.
»Nun … als der letzte Besitzer des Hauses starb, war ich da, Richard. Ich bin gekommen, da er mich gerufen hatte, um die letzten Bedingungen unserer Vereinbarungen auszuhandeln, und da hat er mich darauf aufmerksam gemacht.«
»Worauf?«
»Erstens, dass ich das Haus günstig verkaufen sollte. Zweitens, dass ich niemals in den Wald gehen dürfe, und drittens, dass ich das auch dem neuen Besitzer sagen müsse.«
Richard zog die Stirn kraus. »Das hat dir der letzte Besitzer gesagt?«
Markus nickte. »Kurz darauf starb er. Ich habe den Krankenwagen gerufen, aber sie konnten ihm nicht mehr helfen.
Jetzt ist er tot, aber seine Worte bleiben.« Markus warf die fast abgebrannte Zigarette auf den Terrassenboden.
»Hey, das ...«
Schnell trat Markus sie aus. »Hör zu, Richard. Das ist kein Scherz. Ich bin lange genug im Immobiliengeschäft, um zu wissen, wann ein Mann lügt und wann nicht. Und er ...«, er blickte auf den Boden, »hat nicht gelogen. Du darfst nicht in den Wald gehen. Niemals. Nicht auf diesem Weg.« Er zeigte auf den Garten.
Richard schloss die Augen. »Weißt du, wie sich das anhört?«
Markus nickte. »Oh ja, das weiß ich. Deshalb bin ich gekommen, um es dir persönlich zu sagen.«
»Und warum jetzt?«, fragte Richard. »Warum nicht beim Unterschreiben?«
»Hätte das einen Unterschied gemacht? Ich bin Geschäftsmann, Richard. Ich lebe davon, dass ich Häuser verkaufe. Und seien wir ehrlich, bei dem Preis hättest du es genommen, egal was ich dir über den Wald erzählt hätte.«
Richard fuhr sich über den Mund. »Vermutlich.«
»Aber lass dich nicht täuschen!« Markus zeigte auf ihn. »Ich bin nicht den weiten Weg gekommen, um eine Kippe zu rauchen und einen freundlichen Plausch mit dir zu halten.« Er zeigte auf den Wald. »Geh nicht in diesen Wald, Richard. Niemals. Und das Gleiche gilt auch für deine Familie.«
»Meine Familie?«
Markus nickte. »Du hast zwei kleine Mädchen, oder?«
Richard nickte.
»Dann pass gut auf sie auf. Sonst ...«
»Sonst was?« Richard bildete eine Faust. »Was sonst?«
Markus erhob sich aus seinem Stuhl. »Oh, ich bin nicht der Feind hier. Der ist dort hinten!« Er nickte Richtung Wald.
»Der Wald? Bäume? Das ist doch irre, Markus. Warum sollte man nicht in einen Wald gehen dürfen?«
»I-ich … weiß es nicht genau. Wirklich. Sonst würde ich es dir sagen.« Er lächelte. »Geh dort einfach nicht rein.« Er zog seine graue Mütze auf. »Bitte. Tu mir den Gefallen. Du ersparst dir und deiner ganzen Familie viele Probleme. Habe ich dein Wort?«
Richard beugte sich vor. »Warte mal … was heißt das? Was passiert denn, wenn dort jemand reingeht?«
Langsam trat Markus rückwärts. »Dann … fürchte ich, wird es unschön ausgehen. Glaub mir, wenn ich dir das sage … Du möchtest nicht erfahren, was dann passiert. Ich weiß, das klingt verlockend, aber versuch es nicht.« Markus zog ein breites Lächeln auf seine Lippen. »Ich habe dich gewarnt. Ab jetzt bist du auf dich gestellt.« Weiter trat er zurück und erreichte die Stufen hinunter in den Garten. »Denk an deine Familie, Richard.
Jetzt liegt es an dir. Ich bin nicht mehr verantwortlich, denn du weißt Bescheid.« Nacheinander trat er die Stufen hinunter, während Richard aufstand. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, meinte Richard.
»Achte einfach darauf und alles wird gut.« Mitten auf dem Gras blieb Markus stehen. »Alles Weitere liegt jetzt an dir, Richard.
Du bist der Herr über dein eigenes Schicksal.« Er bewegte sich zum Rand des Hauses. »Geh nicht in den Wald!«, rief der Makler noch und dann legten sich Schatten über ihn, als er hinter einer Wand verschwand.
Verena machte einen Schritt rückwärts. »W-was machst du denn hier?«
Ihre Schwester Denise weitete die Augen. »Du? Ich dachte, du wärst eine Ratte?«
Fassungslos legte sich Verena eine Hand auf die Brust. »Eine Ratte? Du bist doch nicht normal!«
Denise trat in den Raum und schloss die Tür hinter sich zu. Sie trug ein rotes Oberteil und darüber eine einfache Weste. Ihre blonden Locken hingen ihr über beide Ohren und sie hatte rote Flecken im Gesicht. Verena konnte nicht glauben, was sie sah.
»Du bist hier eingebrochen, nicht ich!«, rief Denise ihr zu. »Ich habe wenigstens die Haustür benutzt!«
Verena stampfte auf. »Denise! Ich bin hier mit ihm allein, kapiert?! Ich fasse es nicht, dass du dich auch hier rumtreibst.«
Denise lächelte, was ihre gelben Zähne zum Vorschein brachte.
»Nein, du blöde Kuh. Denn ich brauche genau das Gleiche!«
Verena starrte ihre Schwester an. Dann rannte sie wutentbrannt vor und streckte die Hände aus.
Denise riss den Mund auf. »Nein! Warte!« Sie packte Verena an beiden Armen und schob sie von sich.
Verena prallte rechts gegen die Wand und schnappte nach Luft, als ein tiefer Schmerz durch ihren Rücken schoss. »Na warte!«
Entschlossen packte sie Denise an der Hüfte und zog sie hinunter auf den Boden.
Denise begann an Verenas Haaren zu zerren.
»Aaaaaua!« Verena richtete sich auf und griff nach Denises Locken.
»Laaass! Mich! In! Ruhe!«, kreischte Denise schmerzerfüllt.
Zusammen fielen sie hin und rollten über den Boden. Verena holte aus und verpasste Denise einen Schlag gegen die rechte Wange, sodass Denise Speichel spuckte. »Das hast du nicht gewagt!«, rief Denise und schlug Verena auf die Nase.
»Aaa!« Verena ließ Denise los und fasste sich an die pochende Nase. Schmerzen schossen wie Blitze durch ihr Gesicht. »Das tut weh, verdammt!«
»Und ob! Und das hier gibt es noch obendrauf!« Denise boxte ihr in den Bauch.
Verena krümmte sich und schnappte nach Luft, während sie sich krächzend auf dem Boden wand.
»Sooo, das hast du davon!«, zischte Denise und stand zitternd auf. Mürrisch klopfte sie ihre graue Hose und die Weste ab.
Schreiend warf sich Verena vor und packte Denise an den Beinen.
»Aaa!« Denise schwankte. »Lass das!«
Verena schlug zu und Denise verlor wieder den Halt und landete ächzend neben Verena auf dem Boden.
Sogleich kletterte Verena auf ihre Schwester drauf und fasste ihre Ohren.
»Was soll das?!«, schrie Denise.
Verena zog an ihren Ohren.
»Aaaaaa!«
Sie zog und zog, bis sie Denise losließ und von ihr runterrollte.
Keuchend blieb Verena auf dem Boden liegen, genau wie ihre Schwester.
Für einen Augenblick schwiegen sie, dann stöhnte Denise auf.
»Weißt du, was du bist?«, fragte Denise.
Verena schloss die Augen. »Was denn?«
»Du bist eine dämliche Fotze!«
Richard öffnete die Augen und sah Markus neben sich auf der Terrasse sitzen. Sein Gesicht wirkte wieder normal und er lächelte ihm zu, als würde er auf etwas warten. »Hallo, Richard.
Ich glaube, du hast dich wieder erinnert«, begann Markus mit seinen leuchtend gelben Augen.
Schnell stand Richard auf. »E-erinnert an was?«
»An uns.« Lächelnd breitete Markus die Arme auseinander. »An unser Gespräch, an meine Warnung.«
Richard nickte. »Du hast mich gewarnt, ich weiß das noch. Ich glaube, ich habe es nie wirklich vergessen.«
»Ich habe dir gesagt, was du wissen musst«, fügte Markus an.
»Und ich habe mich daran gehalten! Ich bin nicht in den Wald gegangen. Ich habe nichts verbrochen!«
»Du hast nicht aufgepasst, Richard«, sagte Markus, »du warst leichtsinnig und dann hast du blind vertraut. Das war dein Fehler!«
Erschüttert fuhr sich Richard über das Gesicht. Gerade fühlte er sich, als würde jeden Augenblick etwas Warmes in ihm zerspringen, aber er war sich nicht sicher, was das war. Ein Gefühl, eine Erinnerung oder etwas Dunkleres, etwas so Böses, dass er es vergessen hatte, ohne es jemals wirklich verdrängt zu haben. »Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll«, sagte er schließlich.
»Fühlst du es nicht?«, fragte Markus.
»Was?«
»Diese Reue?«, meinte Markus.
Richard schüttelte den Kopf. »Nein. Da ist keine Reue.«
»Sondern?«
»Nichts. Ich bin leer. Du hast mich leer gemacht und das ist die Wahrheit.«
Markus lächelte. »Ich habe gar nichts gemacht, Richard. Ich habe dich nur gewarnt.«
»Und wenn schon … Am besten, du gehst jetzt! Denn ich will dich nicht in meiner Nähe haben, Markus«, sagte Richard frustriert.
»Kannst du ihn sehen?« Markus stand ebenfalls auf, während seine rechte Hand zuckte.
»Wen?«, fragte Richard.
»Ihn … er ist so nah und doch … so weit entfernt. Aber jetzt gerade ist er bei uns, ich spüre es!«
Richard spürte einen Schauer im Nacken. »Wer? Etwa der Fürst?«
Markus schüttelte den Kopf. »Nein. Schlimmer … es ist er.«
»Wer?«
Markus sah ihn mitleidig an. Dann flüsterte er: »Ulrich!«
Richard krampfte, als er den Namen hörte. Unter seinen Achseln wurde es heiß. »W-was? Nein!«
»Oh doch … und er will dich haben, Richard. Dich! Dich! Dich!
Wer einmal mit ihm zu tun hatte, kommt nicht mehr von ihm los.
So war es immer schon. Und so wird es auch dieses Mal sein!«
Erschöpft zog sich Verena über den hölzernen Boden nach hinten, bis sie mit dem Rücken das nahe Bett erreichte.
Ausatmend lehnte sie sich dagegen.
Ein paar Meter entfernt lag Denise auf dem Boden und starrte gegen die Zimmerdecke.
»Was machst du hier, Denise?«, fragte Verena, »du hast dich seit Monaten nicht mehr gemeldet. Du bist fast nie zu sehen …
eigentlich müssten wir dich für tot erklären.«
Denise schnaubte. »Haha … ja, klar. Diejenige, die sich nicht meldet, bist du, Schätzchen. Ich habe genug zu tun.«
»Mit was? Mit deinen Banden da? Sag mir bitte, dass du nicht deswegen hier bist.«
Denise drehte sich ihr zu. »Hör mal! Was meine Probleme angeht, kannst du dich raushalten, okay! Das geht dich einen Scheiß an!«
Verena seufzte. »Okay … pass auf, tut mir leid. Ich wollte dich nicht angreifen. Jetzt sind wir beide hier und können es nicht ändern, also können wir wenigstens ehrlich zueinander sein.
Also, was ist dein Grund?«
Denise zuckte die Achseln. »Ich brauche Geld.«
»Wegen ihm?«
»Wem?«
»Ihm da, deinem Gangboss. Wie hieß er noch mal?«
»Wegen Günther? Neeein! Nein! Diesmal nicht wegen ihm.« Das hatte Denise in einer anderen Situation schon mal gesagt und dann war es anders gekommen, erinnerte sich Verena. Seitdem Denise ihren Weg abseits der bürgerlichen Wege auf die Seite der Drogen und des Alkohols geschlagen hatte, hatte sie sich stark verändert. Von dem zurückhaltenden Mädchen von früher war nicht mehr viel übrig. Jetzt tauchte sie immer seltener auf, und jedes Mal, wenn sie dann doch zu sehen war, kam es Verena so vor, als sähe sie noch mitgenommener aus. In der Vergangenheit hatte sie Denise oft gesagt, dass sie das falsch fand, aber Denise hatte nicht auf sie gehört.
»Sondern?«, fragte Verena.
»Es geht um mich, Verena, okay«, sagte Denise. »Diesmal geht es zur Abwechselung mal um mich. Ich will mich selbstständig machen. Darum geht es.«
»Mit Drogen?«
»Ja! Warum nicht? Wenn ich einmal richtig anfange, kann ich gut Geld verdienen. Außerdem kenne ich das Geschäft.«
»Ich verstehe.«
Sie schwiegen.
»Warum bist du hier?«, frage Denise.
»Ich brauche Geld«, sagte Verena, was beide zum Lachen brachte.
»Was du nicht sagst … und wieso?«, fragte Denise.
»Ich habe meinen Job verloren.« Verena seufzte. »Und damit auch das Geld. Ein bisschen habe ich noch, aber es reicht nicht mehr für lange. Vor allem mit den Kindern nicht.«
»Aaah, ja, deine Kinder … wie geht es ihnen?«
»Gut. Sie sind jetzt bei Karl. Er passt so lange auf sie auf.«
»So lange, wie du bei unserem Vater nach Geld suchst?«
Verena grinste. »Habe ich eine Wahl? Aber er weiß nichts davon, ich habe Karl nichts gesagt.«
»Ist vermutlich auch besser so. Und was jetzt?«
»Jetzt? … Wir werden wohl oder übel zusammenarbeiten müssen, denke ich«, sagte Verena.
»Wie meinst du das?«
»Wir bleiben beide hier und schauen, was wir finden können«, sagte Verena.
»Sei mir nicht böse, Verena, aber ich will nicht teilen«, meinte Denise.
»Was hast du dann für eine Idee? Sollen wir uns gegenseitig abschlachten und wer übrig bleibt, kriegt alles?«
Denise schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das wäre doch ziemlich brutal. Aber wir können uns aufteilen.«
»Hm … und wie?«
»Das sollten wir morgen klären. Ich bin jetzt müde und muss mich hinlegen. Seit ein paar Tagen habe ich kein weiches Bett mehr gehabt und das will ich jetzt ändern.« Denise gähnte. »Und gerade kann ich nicht mehr klar denken.« Sie richtete sich auf und dehnte ihren Rücken, bis es knackte.
Verena erhob sich ebenfalls, bis sie aufrecht stand. »Ich hasse diesen Raum hier.«
»Sollte das nicht mal dein Zimmer werden?«, fragte Denise.
Verena lächelte. »Ja, aber Papa wollte das ja am Ende nicht.«
»Das lag aber an dir.« Denise zeigte auf sie. »Du wolltest nicht allein in so einem großen Zimmer schlafen.«
Verena nickte. »Ich weiß. Das war mir zu gruselig. Also haben wir beide ein Zimmer zusammen bezogen.«
»Genau«, sagte Denise.
Verena schritt auf Denise zu und reichte ihr die Hand.
»Was wird das?«, fragte Denise skeptisch.
»Ein Friedensangebot. Wir sind zu alt zum Kämpfen, Denise, und auch wenn wir nicht in allem einer Meinung sind, sollten wir uns zumindest hier wie Schwestern verhalten.«
Denise musterte ihre Hand. »Hm, du hast recht.« Sie schüttelte Verenas Hand. »Mir ist auch gerade etwas eingefallen, Verena …« Denise zog ihre Hand zurück.
»Und was?«
»Magda … sie könnte ein Problem werden.«
Verena winkte ab. »Die doch nicht. Komm … lass uns schlafen und morgen kümmern wir uns um Magda. Ich nehme mal an, dass sich in den letzten Jahren nichts verändert hat.«
Richard wich nach hinten, bis er das Holzgeländer der Terrasse erreichte. »Neein. Hör auf damit!«
»Er will dich, Richard, nur dich und sonst niemanden«, flüsterte Markus. »Er hört auf deinen Atem, er lauscht deinen Schritten …
er wartet!«
»Neeein!« Richard eilte nach links weiter und zu den Terrassenstufen in den Garten.
»Du kannst ihm nicht entkommen«, rief ihm Markus hinterher, »niemand kann das! Hast du deine Lektion denn nicht gelernt?!
Am Ende kriegt er jeden!«
»Neeeeein! Hör auf!« Richard hörte seinen schnellen Herzschlag.
Immer mehr entfernte er sich von der Terrasse und als er den Kopf zurückdrehte, sah er Markus die Stufen runterkommen.
»Ich hätte mir so gewünscht, dass es endet«, sagte Markus, »ich wollte das alles nicht. Aber ich hatte keine Wahl!«
Richard spürte einen kühlen Wind im Nacken. »M-markus …
lass mich in Ruhe!«
»Aber er zwingt mich dazu!« Markus näherte sich ihm. Mit jedem Schritt schienen seine gelben Augen stärker zu glühen. »Er kontrolliert uns alle. Ul-rich! Ul-rich! Ul-rich! Ul-rich!«
Richard presste sich die Hände auf die Ohren. »Höööör auf!«
»Ul-rich! Ul-rich! Ul-rich!« Markus kam näher und streckte eine Hand nach ihm aus. »Ul-rich! Ul-rich! Ul-rich!«
»Neeeein!« Richard schloss die Augen. Bitte, Herr. Lass nicht zu, dass …
»Ul-rich. Ul-rich! Ul-rich! Ul-rich! Ul-rich!«, hörte er Markus weiterhin rufen. »Ul-rich. Ul-rich! Ul-rich! Ul-r …«
Plötzlich wurde es still.
Langsam öffnete Richard die Augen.
Markus war verschwunden und über den weiten Himmel streifte die weiße Kugel des hell leuchtenden Mondes.
»I-ich bin allein«, flüsterte Richard erleichtert. »Niemand ist da.«
Ein Schrei erklang von dem Haus.
Schnell sah Richard zu der Terrasse. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Erneut war der Schrei zu hören und dann wurde es Richard klar. »Veeeereena!«, schrie er, stand auf und rannte zum Haus zurück …
Denise stieg in ihr Bett links innerhalb des hölzernen Zimmers, das sie bereits während ihrer Kindertage bezogen hatten. »Ist es nicht gut, dass Vater immer noch die alten Sachen von Mama aufgehoben hat?«, fragte Denise.
Verena legte ihre Klamotten neben ihr Bett auf der rechten Wandseite und blickte an sich herunter. Genau wie Denise hatte sie ein altes Nachthemd angezogen. »Ich weiß es nicht.
Eigentlich schmeiße ich immer alles weg, was ich länger als ein Jahr nicht in der Hand hatte. Damit fahre ich seit Jahren gut.«
Denise lachte. »Vielleicht. Ich kann mich gar nicht mehr richtig an sie erinnern. Du etwa?«
Verena stieg in ihr Bett und zog die Decke hoch. Gegenüber ragte die geschlossene Zimmertür auf und rechts davon hockte Denise in ihrem Bett. Eigentlich hätten sie auch getrennte Zimmer nehmen können – das Haus war gut versorgt –, aber der alten Zeiten willen hatten sie sich für ihr altes Schlafzimmer entschieden. »Das liegt an deinen Drogen, Denise. Deshalb kannst du dich nicht mehr an sie erinnern.«
»Pff.«
»Ich habe sie noch vor Augen. Sie ist gestorben, als wir sehr jung waren. Eine so schöne Frau«, erzählte Verena.
»Redest du von unserer Mutter oder jemand anderem? Denn wenn ich mir dich so anschaue, bist du vieles, aber schön?«
»Ach!« Verena winkte ab. »So ein Unsinn. Sie war schön. Und sie hat sich gut um uns gekümmert.«
»Bis er das übernommen hat ...« , begann Denise.
Verena nickte. »Ja … na ja … anfangs ging es ja noch, aber dann … es wurde irgendwie immer schlimmer.«
»Findest du es nicht komisch, dass er jetzt direkt unter uns liegt?«, fragte Denise.
Verena schüttelte den Kopf. »Nein. Da liegt er doch schon seit Jahren.«
»Ja, aber … Er weiß ja nichts von uns.«
»Er weiß von gar nichts was. Deshalb liegt er ja da und kommt nicht hoch. Weil er nichts mitbekommt.«
Denise starrte auf ihre Hände. »Ich habe ihn mir bisher nicht angeschaut. Ich habe es nicht über mich gebracht.«