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Eine unheilvolle Prophezeiung schwebt über Leipzig: Die Box gewinnt immer! Wer wird ihr nächstes Opfer? Claras Leben scheint perfekt: Sie schreibt einen Bestseller nach dem anderen und ist glücklich verheiratet. Bis eines Nachts auf der Landstraße ein Lieferwagen ihr Auto frontal rammt. Claras Mann stirbt hinter dem Steuer und sie verliert ihre rechte Hand - und ihre Fähigkeit zu schreiben. Während Holger, der Fahrer des Lieferwagens, ungeschoren davonkommt, versinkt Clara in Bitterkeit. Da begegnet sie Karl Master, Inhaber eines zwielichtigen Antiquariats. Er verspricht ihr neue Lebensfreude - wenn sie bereit ist, sich an Holger zu rächen. Clara geht auf den Handel ein und erlebt mit, wie Holger auf magische Weise in einem großen schwarzen Steinquader verschwindet ... Und tatsächlich - Clara findet ihren Lebensmut wieder. Doch sie ahnt nicht, dass ihre Rache sich in grausamster Form gegen sie selbst kehren wird ...
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Seitenzahl: 262
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Dieses Buch widme ich meiner Familie.
In guten, wie in anstrengenden Zeiten.
Karl Master
Clara Sarker
Holger Retzer
Karl Master
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Karl Master
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Karl Master
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Karl Master
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Karl Master
Holger Retzer
Karl Master
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Karl Master
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Holger Retzer
Clara Sarker
Karl Master
Holger Retzer
Clara Sarker
Karl Master
Clara Sarker
Karl Master
Holger Retzer
Clara Sarker
Karl Master
Der Regen goss in Strömen herunter und verwandelte den Maltheimer Friedhof in ein Terrain aus Dreck und schlammiger Erde. Auf einem Hügel, in der Nähe einer Gruppe von Bäumen, deren kahle, nasse Äste im Wind peitschten, stand Karl Master und hielt einen orangefarbenen Regenschirm.
Der Regen hatte den Boden durchweicht. Gras war nicht mehr zu sehen. Erdklumpen schwemmten über den Grund, trieben durch Pfützen und rutschten den Hügel hinunter. Karl fuhr sich über das Gesicht und fegte Dutzende Tropfen von der Nase.
Sie würde bald kommen, dachte er … Sie würde bald kommen.
Er steckte die linke Hand in die Manteltasche, sah sich um. Der Friedhof war verlassen. Der Himmel war grau. Ein heftiger Wind wehte, der das herabgefallene Herbstlaub aufwirbelte. Aus der Ferne war das Röhren eines Busses zu hören, der irgendwo anhielt und Fahrgäste aus- und einsteigen ließ. Karl sah den Hügel hinunter zum Eingangstor des Friedhofs.
Der Friedhof war von einer mannshohen Steinmauer umzogen, auf der ein Stahlzaun gespannt war. Die Spitzen des Zauns ragten abwehrend in die Luft. Das breite Eingangstor bestand aus zwei Torflügeln aus Metall. Eine Seite war geöffnet.
Er hatte sie offen gelassen.
Karl blickte auf seine Uhr. Sie verspätete sich.
Er stellte die Füße zusammen und blickte auf den Schlamm, der seine Schuhe bedeckte.
Als er den Kopf hob, stand am Eingang des Friedhofs eine Frau. Sie war gekommen. Karls Mund verzog sich zu einem Lächeln. Die Frau trug ein weißes Kleid, das ihre Knie bedeckte und sie war ohne Schuhe. Das Wasser tropfte aus ihren Haaren, die ihr über die Stirn und die Wangen hingen. Sie sah mitgenommen aus. Karl reckte das Kinn. Sie würde zu ihm kommen. Denn sie wollte etwas von ihm. Mal sehen, was sie zu sagen hatte.
In der Manteltasche bildete er eine Faust.
Die Frau wankte über den Platz, als wäre sie betrunken. Ihre Augen waren auf ihn gerichtet. Karl sah ihr entgegen. Sollte er sie schlagen? Verdient hatte sie es. Verräter wurden so behandelt, warum sollte er bei ihr eine Ausnahme machen?
Sie näherte sich. Einmal fiel sie hin. Ihr Kleid war transparent. Es war so feucht, dass es wie eine zweite Haut an ihr hing. Ihre Brüste zeichneten sich unter dem Stoff ab. Sie war noch jung.
Die Frau erreichte den Hügel und sank in die Knie. Schlamm, Erde klebten an ihren Beinen. Sie sah hoch und fuhr sich über das verschmierte Gesicht. Blut tropfte ihr von der Stirn. Der Regen wusch es immer wieder weg.
Eine Verletzung, dachte Karl. Dann war die Bestrafung des Meisters heftig ausgefallen.
Er winkte ihr zu. Lächelte. Die Frau verzog keine Miene. Karl wartete, bis sie sich aufgerappelt hatte. Der Meister hatte sich noch nicht gezeigt, denn er war verbittert.
Die Frau spuckte und ging weiter. Ein glasiger Ausdruck trat in ihr Gesicht.
Der Hügel war steil. Hier oben gab es keine Grabsteine.
Die Frau erreichte die halbe Höhe des Hügels. Sie klagte. Karl sah, wie sie näherkam. Seine Socken waren jetzt feucht. Trotz der Stiefel.
Die Frau kämpfte weiter, hechelte. Ihre Wangen waren dreckig und blutverschmiert. Ihre Haare hingen ihr über die Ohren. Sie starrte ihn an, er sah zurück.
Sie war unterlegen … Er war der Sprecher. Das war der Unterschied.
Oben erbrach die Frau einen Haufen weißer Masse aus. Das Zeug wurde vom Regen erfasst und fortgespült.
Die Arme, dachte Karl. Er lächelte. Diese Frau war eine Verräterin!
Erschöpft ließ sie sich auf den Bauch sinken. Ihr Gesicht versank im Schmutz. Karl trat näher. Er hob einen Schuh und tippte ihr gegen die Schulter. Sie fuhr hoch, sah ihn an, wie ein aufgeschrecktes Tier. Karl beugte den Kopf. Ihr Blick war kalt.
Er lächelte. Ihre Brüste wippten unter dem Stoff.
Die Frau senkte wieder den Blick. Einer der Träger rutschte ihr von der Schulter.
Karl stellte sich vor, wie der Dreck in sie eindrang und sie ausfüllte.
»I-ich … bin gekommen«, sagte sie. Ein Donnern brach über die Landschaft. Karl sah zu den Wolken.
Sie hatten sich noch weiter verdichtet. Schwarze Schatten zogen über den Himmel.
»Das sehe ich«, sagte Karl. »Warum hat es so lange gedauert?«
»I-ich … konnte nicht fliehen«, sagte die Frau. Sie kratzte sich am Hals. »Er tat mir weh.«
»Das glaube ich. Du hast ihn verlassen.« Karl schüttelte den Kopf.
»Aber, das wollte ich gar nicht.«
»Nein? Wie nennst du es dann, die Koffer zu packen, in ein Auto zu steigen und die Stadt zu verlassen?«
»Er hat mich angehalten«, sagte sie.
Karl nickte. »Ich verstehe das.«
Sie sah auf. Ein trüber Glanz lag in ihren Augen.
»Nein«, sagte sie. »Du verstehst es nicht. Du hast keine Ahnung.«
»Sag mir nicht, was ich weiß und was nicht! Ich kenne seine Macht. Der Meister ist unerschütterlich, und ich diene ihm schon seit Langem.« Er schlug ihr ins Gesicht. Ihr Kopf fuhr zurück. Ein roter Fleck erschien auf ihrer Wange. Karl schüttelte die Hand aus.
»Hall -«
»Ich fühle nichts.« Sie rieb sich die traktierte Stelle.
»Nichts!« Sie blickte zu ihm. Dann ließ sie sich fallen und landete im Dreck.
»Hey!« Karl wich zurück. Die aufgespritzte Erde flog durch die Luft und traf seinen Mantel. Verärgert wischte er darüber. »Was ist bloß in dich gefahren?«
»I-ich kann nicht mehr«, sagte sie. »Bitte … bitte, du musst mir helfen, ich flehe dich an.«
»Bekenne, was du getan hast! Du musst ihm klarmachen, dass du schuldig bist.«
Ihre Stirn färbte sich rot. »I-ich … bin schuldig.«
Karl lächelte. »Was wolltest du tun?«
»Ich wollte fliehen, damit er mich nicht findet.«
»Und warum?«
Sie tauchte ihr Gesicht in den Matsch. Eine Sekunde … noch eine …
Als sie das Gesicht wieder hob, zog sie scharf die Luft ein. »Weil ich Angst hatte.«
»Der Meister duldet dieses Verhalten nicht. Er weiß, was du tust, er weiß, wo du bist, er weiß, wie du dich verhältst. Du … bist mit dem Meister verbunden! Und du kannst ihn nicht betrügen!« Karl lächelte. »Du ...«, begann er, »bist es ihm schuldig. Er hat dir geholfen, weißt du das nicht mehr?«
Die Frau sah ihn an. »Ich weiß … Bitte, ich fühle nichts mehr – nichts. Er hat mir alles genommen.«
»Alles?«, fragte Karl.
»Ich nehme nichts wahr. Nicht einmal das Wasser.
Mir ist weder kalt noch warm. Ich fühle keine Angst, keinen Schmerz. Nicht einmal Trauer, obwohl meine Augen weinen. Bitte, Karl, du musst es beenden.«
»Du weißt, dass der Meister das entscheidet. Nicht ich. Ich diene ihm nur.« Er lächelte. »Und du …« Er beugte sich hinunter. »Du tust das auch.« Er zog die Mundwinkel hoch.
»Bitte, ich will wieder fühlen können. Ich kann so nicht leben.«
»Das verstehe ich, mein Kind«, sagte Karl. »Und der Meister wird es auch verstehen, sobald du einsiehst, dass du falsch gehandelt hast.«
»Das tue ich«, sagte die Frau. Sie legte die verschmierten Hände zusammen. »Bitte. Ich tue es.«
»Dass du es niemals wieder tust!«, fügte Karl an. Sie nickte. »Ja … ja, ich schwöre.«
»Und ...« Er reckte einen Finger. »Dass du ihm weiterhin zur Verfügung stehst. Egal, was passiert!« Sie zögerte. Dann nickte sie vehement. »Ich schwöre es.«
»Gut.« Karl berührte sie am Kopf. Dann deutete er nach rechts. »Geh! Und denke daran: Die Box gewinnt immer.«
Er begann zu lachen. Die Frau erhob sich und marschierte den Hügel hinunter zu einer bläulich glimmenden Steinbildung, die schlagartig erschienen war. Es war ein imposanter Quader.
Als die Frau näherkam, fuhren Steinplatten zurück und enthüllten ein schwarzes Loch.
Die Box hatte sich geöffnet. Karl lachte. Mit hängenden Schultern verschwand die Frau im Inneren …
Versuch es doch!, raunte die Stimme in ihren Gedanken. Clara starrte aus dem Fenster. Das Wetter hatte sich verschlechtert; die Bäume, die die Einfahrt säumten, hingen tief. Nebel war aufgekommen, er schwebte über der Landschaft wie ein Bündel Wolken.
Der Wind wehte Blätter hoch, sie kräuselten über den asphaltierten Weg, prallten gegen das Auto, das vor der Garage stand. Es war der Honda Typ R S, der Wagen ihres Mannes.
Ihr Mann, Kai, war tot. Der Wagen war noch da. Ein unfairer Tausch.
Clara wischte sich eine Träne von der Wange. Sie musste das mit der linken Hand machen, denn die rechte fehlte. Sie fehlte seit dem Unfall, bei dem sie ihren Mann, ihre Hand wie auch einen Großteil ihres Lebenswillens verloren hatte. Zwei Monate war der Unfall jetzt her und es ging nicht wirklich besser … Das Essen, das Schlafen … Auch das Schreiben.
Clara schüttelte den Kopf. Es war wie ein Stich ins Herz.
Die große Autorin Clara S. Stalker – ihr Pseudonym – brachte seit Wochen kein Wort mehr auf Papier.
Dabei war alles so gut gewesen. Ihre Familie, das neue Haus, die Ruhe, die Bücher … Lesen konnte sie seit dem Unfall auch nicht. Es war, als hätte sich seitdem eine Tür in ihrem Kopf geschlossen.
Sie seufzte.
Das Haus war ruhig seit Kai gestorben war. Zwar kümmerte sich ihre Familie um sie, aber sie waren nicht ständig da. Oft war sie allein. Eine nicht so gute Entscheidung, hatte sie ihren Vater am Telefon flüstern hören. Sie hatte so getan, als hätte sie das nicht gehört. Es war aber klar, was er meinte … Paul, ihr Vater, hatte Angst, dass sie sich etwas antat.
Clara lächelte. Sie hatte schon oft daran gedacht, es zu tun. Ein Messer, ein Sprung vom Dach. Einmal, es war vor einer Woche gewesen, hatte sie ferngesehen, ihr iPad hatte auf dem Schoß gelegen. Der Film war nicht spannend gewesen und aus Langeweile hatte sie nach Selbstmord gegoogelt und Informationen bekommen. Dutzende Seiten setzten sich damit auseinander, aber die meisten bezweckten das Gegenteil. Auf einer Seite war sie hängen geblieben und hatte über einen siebzehnjährigen Mann gelesen, der etwas von Liebeskummer geschrieben hatte. Schlechten Noten und Mobbing. Ab der Hälfte der Seite hatte sie die Zeilen überflogen. Dann hatte sie aufgehört und sich dem Film zugewandt. Sie hatte sich elend gefühlt. Eigentlich fühlte sie sich immer elend, aber … Ein Mensch war ums Leben gekommen. Die Liebe ihres Lebens. Und die andere Liebe – das Schreiben, war kurz davor, verloren zu gehen.
Wenn wenigstens das eine funktionieren würde, dachte sie.
Sie seufzte.
Sie war im Rückstand ... Ihr neustes Buch war nicht fertig. Die Geschichte über ein Mädchen, das sich in einen Baum verliebte.
Sie hatte sie nicht beenden können.
Der Unfall war passiert.
Natürlich hatte sie der Verleger nach den Ereignissen angerufen, ihr Mut zugesprochen und gesagt: »Du bekommst so viel Zeit, wie du brauchst.«
Aber … Er wollte das Buch auf den Markt bringen, denn sie war erfolgreich. Ihre Bücher verkauften sich gut. Auch jetzt noch. Deshalb war sie angehalten, neue zu schreiben. Ihre Fans wollten es, ihr Verleger wollte es, die Agentin und ihr Bankkonto wollten es auch.
»Verdammt!« Sie presste die Lider so stark zusammen, dass es wehtat. Dann wandte sie sich um. Dort stand ihr Schreibtisch. Darauf der Computer. Der Tisch stand vor dem Fenster, das eine schöne Aussicht bot, wenn sie schrieb. Deshalb hatte sie diesen Platz gewählt.
Clara verdrehte die Augen. Niedergeschlagen sah sie auf den Stumpf, den sie unter dem Ärmel verborgen hatte. Er tat noch weh, wenn sie ihn zu fest berührte.
Ich bin … verloren!
Sie begann zu weinen.
Betrübt setzte sie sich neben das Fenster. Der Stumpf ruhte auf ihrem Bein. Tränen liefen über ihre Wangen. Es war so schwer gewesen … Der Anfang, nach dem Aufwachen. Als wäre sie aus einem Albtraum hochgefahren und hätte gemerkt, dass er nicht zu Ende war. Ein grässliches Aneinanderreihen von Verpflichtungen, Worten, Ärzten, die kamen und gingen. Kein Kai, der sie tröstete.
Es war …
»Was ist das? W-was … wo kommt das her?« Clara stieß einen heiseren Schrei aus und rappelte sich hoch. Sie packte die Decke, schlug sie zurück und stellte sich auf die Beine. Die Pulsmesser, die an ihren Armen und der Brust befestigt waren, lösten sich und hinterließen rote Abdrücke.
Eine fremde Frau mit Zopf erhob sich. »Scheiße.« Sie drückte einen Knopf und rannte auf sie zu. Beschwichtigend hob sie die Hände.
Clara würgte nach Luft. Ein infernalischer Druck lastete auf ihrer Stirn. Sie humpelte und stürzte. Die Frau fing sie auf, hielt sie. »Ganz ruhig«, sagte sie.
»Bleiben Sie ruhig.«
Diese Schmerzen. Clara riss die Augen auf. Sie waren so gewaltig …
»KAAAAAAAAAI!«
Die Frau verzog das Gesicht. Clara starrte sie an, sah in die mitfühlenden Augen. Wer war sie, was wollte sie? Warum behandelte sie sie, als wäre sie krank?
Ich bin nicht krank, dachte Clara. Nein, ich bin einfach nur verwirrt.
Dann fiel ihr der Stumpf auf. Sie war Rechtshänderin. Aber ihre rechte Hand fehlte. Dort war nur Verband. Weißer, opaker Stoff, auf dem ein roter Fleck klebte.
Clara schnappte nach Luft. Stimmen drangen in den
Raum. Menschen. Männer. Sie kamen und packten sie. Sie trugen weiße Kittel. Clara versuchte zu sprechen, aber ihre Zunge war erlahmt. Die Frau stand in der Nähe. Sie sah besorgt drein. Clara wandte sich ihr zu. »Sahhgen … Siehh ihnhnen, daff sieh meeech looohs laa …« Ein heftiges Pochen umspannte ihren Brustkorb und sie wurde hochgezogen. Jemand redete mit ihr. Es war nicht die Frau. Ein Mann mit Glatze und matten Augen. Er schien müde zu sein. Die Männer packten sie und legten sie auf das Bett.
Sie fühlte etwas am linken Handgelenk, dann an den Füßen. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber es ging nicht. Die Männer hatten sie fixiert. »W-was soll das?«, brüllte sie. »Wo ist mein Mann, wo ist Kai?«
Die Männer traten zurück. Es waren vier. Der Mann mit der Glatze wandte sich an die Frau. Sie redeten miteinander.
Clara packte Zorn. Was war mit ihrer Hand? Sie war sicherlich noch dran. Nur unter dem Verband.
Der Glatzkopf ging mit den anderen hinaus. Sie knallten die Tür zu. Die Frau blieb zurück. Sie trug einen grauen Rollkragenpullover.
Clara sah sie näherkommen. Der Druck auf ihren Kopf war immens.
Die Frau trat neben das Bett, legte ihr eine Hand auf den Arm. »Beruhigen Sie sich, bitte«, sagte sie.
»Wer sind Sie? Sagen Sie es oder ich schreie!«
Die Frau presste die Lippen zusammen. Nachsicht zeichnete sich in ihren Augen ab. »Mein Name ist Heide Mayer. Sie sind Clara Sarker und seit zwei Tagen Patientin im städtischen Krankenhaus. Ich bin die Haustherapeutin, Frau Sarker, und spezialisiert auf Unfallopfer.«
Clara starrte sie an. »Waaaas? Ich hatte keinen Unfall, was reden Sie da? Wo ist mein Mann, er wird das bezeugen. Er ist gefahren!«
Heide seufzte und zog einen Stuhl heran. Sie setzte sich und blätterte in einer Akte, die sie vom Boden aufhob. »Können Sie sich an irgendwas erinnern? An irgendwas?«
Clara presste den Kopf in das Kissen. Kai war bestimmt zu Hause und wartete auf sie. Das hier war ein furchtbares Missverständnis. »Ich möchte sofort meinen Anwalt sprechen«, sagte Clara. »Haben Sie eine Ahnung, wer ich bin? Ich bin Clara S. Stalker − erfolgreiche Autorin. Sie können so was nicht machen.«
»Sie brauchen keinen Anwalt, Frau Sarker. Sie stehen weder vor Gericht noch bedroht Sie jemand. Sie sind in einem Krankenhaus.« Heide lächelte. »Und ja, ich weiß, wer Sie sind. Ich habe alle Ihre Bücher gelesen.
Sie sind eine meiner Lieblingsautorinnen.«
Clara hielt inne. »Wirklich?«
Heide nickte. »Natürlich.«
»Das ist sehr nett von Ihnen.« Clara fühlte Wärme.
»Schön, dass Sie sich an Ihre Person erinnern können«, fügte Heide hinzu. »Das ist ein gutes Zeichen.«
»Wofür?«, fragte Clara.
»Es zeigt, dass Ihr Erinnerungsvermögen intakt ist. Es kann vorkommen, dass bei Unfällen mehr als nur die letzten Tage gelöscht werden. Manche vergessen sogar ihr ganzes Leben. Das ist abhängig von der Kopfverletzung.«
Clara gurrte. »Kopfverletzung. Ich habe keine Kopfverletzung.« Sie blickte hoch, stockte. Über ihren Augen, knapp oberhalb der Brauen, ragte ein Verband auf. »Was ist das?«
»Das ist ein Verband. Sie haben sich den Kopf angestoßen, als die Wagen zusammenstießen. Aber keine Sorge, die Ärzte sind zuversichtlich.«
»Als die Wagen zusammenstießen?« Clara legte die Stirn in Falten. Es tat weh. »I-ich weiß nicht, was Sie meinen.«
Heide rückte näher. »Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern können?«
Clara sah ihr in die Augen. »I-ich kann mich an meinen Mann erinnern … Wir sind zu Hause und wollen auf eine Verlagsveranstaltung gehen. Er ist fertig, aber ich brauche noch …
»Schatz, kommst du?«
Sie kann ihn von unten rufen hören. Er wartet auf sie.
Clara blickt in den Spiegel, sieht das silberne Kleid, das ihre Schultern bedeckt. Sie winkelt ein Bein an und bewundert sich im Glas. Es sieht gut aus.
Sie dreht sich um, öffnet den Schrank und holt einen Wollschal. In dieser Nacht könnte es kühler werden. Sie legt ihn an und eilt zur Treppe. Auf dem Weg nimmt sie ihre Handtasche.
Dort steht er. Am Fuß der Treppe, in seinem schicken Anzug. Der blauen Krawatte, die er sich gebunden hat.
Clara geht die Stufen hinunter.
Kai lächelt. »Ich warte schon eine Weile auf dich.«
Er sieht so gut aus. Die blonden Haare hängen hinter den Ohren. Die braunen Augen. Der Ansatz eines Bartes entlang des Kinns. Sie streckt die Arme aus und schließt ihn in eine Umarmung. Sie halten sich.
Dann vereinigen sich ihre Lippen.
»Meine Lieblingsautorin.« Kai schwenkt sie nach hinten.
Clara gibt ein überraschtes Keuchen von sich. Dann lächelt sie. Kai hält sie fest. »Wir sollten uns beeilen, sonst kommen wir noch zu spät. Mir macht das nicht so viel aus, aber du solltest nicht zu spät kommen.« Er muss lachen. »Was würde der Verlag nur ohne seine Starautorin machen?«
Sie zwinkert ihm zu. »Was du nicht sagst. Fährst du oder soll ich fahren?«
»Ich mach das schon.« Kai öffnet die Haustür. Ein sanfter Wind weht hinein, bläst gegen das Kleid. Clara tritt hinaus. Kai öffnet die Garage mit einem Knopfdruck auf die Fernbedienung. Das Tor fährt zurück. Es knarzt in der Nacht.
Von oben strahlt der Mond herunter.
»Ist es nicht herrlich?« Clara dreht sich mehrmals um die eigene Achse.
»Du bist herrlich.« Kai stapft zu der Garage. »Sollen wir deinen nehmen?«
Clara nickt. »Mach nur.«
»Ich freue mich, dass du so viel Erfolg hast.«
»Es bedeutet mir wirklich viel.« Sie steigt in den weißen Honda Type R GT. Kai von der anderen Seite.
»Das weiß ich doch.« Kai drückt ihre Hand. »Du schaffst das heute Abend. Es wird aufregend. Es wird spannend, und es geht um dich. Genieße es.«
»Und du bleibst bei mir?«, fragt Clara.
Kai nickt. Seine Augen strahlen im Licht der Wagenleuchte. »Natürlich. Warum denn nicht?«
Er startet den Motor und fährt los. Aus der Garage, auf die Einfahrt und zum Eingangstor des Anwesens.
»Willst du etwas Musik hören?«, fragt Clara.
Kai nickt. Sie drückt einen Knopf und das Radio beginnt zu spielen. Sie fahren auf die Straße und Kai gibt Gas …
»I-ich kann mich daran erinnern. An meinen Mann.
Wir sind losgefahren.« Clara blinzelte. »W-was bedeutet das?«
Heide blickte sie sanft an. »Es heißt, dass Sie die Bruchstücke langsam zusammensetzen.«
»Ich habe Angst«, sagte Clara. Sie lauschte auf ihr Herz, hörte es in ihrer Brust schlagen.
War sie hier in einem Traum? Sie blickte sich um. Der Raum war nicht sehr groß. Das Bett war da. Ein paar Geräte in der Ecke, von denen Kabel ausgingen. Die Tür war weiß und solide. Es gab nur ein Fenster. Ein Vorhang war zugezogen, der andere nicht.
Was hatte sie vergessen? Was war ihr nicht eingefallen?
»Ich glaube, Sie sollten besser gehen«, meinte Clara.
Ihre Hand war noch da, dachte sie. Sie war noch da …
Noch da …
Heide seufzte. »Das kann ich nicht. Noch nicht. Meine Aufgabe ist, bei Ihnen zu bleiben und mich um Sie zu kümmern. Glauben Sie mir, Sie brauchen das jetzt.«
Clara schüttelte den Kopf. »Nein, ich brauche Ruhe.«
»Sie brauchen beides. Besonders Frieden. Den bekommen Sie nur, wenn Sie sich mit der Realität konfrontieren. Deshalb bin ich da.«
»Wo ist mein Mann?«, fragte Clara. Sie riss die Augen auf. »Wo ist er?«
Heide öffnete den Mund, schloss ihn. Sie schlug die Akte auf und schrieb etwas hinein. »Bitte, erinnern Sie sich. Wie ging es weiter?«
Beschissen … Clara stand von dem Stuhl auf. Sie war in Erinnerungen versunken. Zurück an jenen Moment, der ihr das Herz gebrochen hatte. Ihr Leben war am Ende …
Draußen würde es vermutlich bald regnen.
Das passte ja, dachte sie. Dunkelheit und seelische Finsternis.
Natürlich hatte sie sich wieder erinnert! Es war gekommen, als sie sich konzentriert hatte. Als würde ein verriegeltes Schloss brechen und das Tor öffnen. Dann war alles da gewesen. Der Schmerz, die Qualen. Sie hatte geweint und nicht mehr aufgehört.
Irgendwann hatte sie nichts mehr richtig mitbekommen: ihre Entlassung, die Worte der Ärzte, die sie ihr zugeworfen hatten, die Übungen im Krankenhaus, um ihre linke Hand zu trainieren, die sie fortan verstärkt benutzen musste. Ihre Familie, die aufgetaucht war. Der Verleger, die Nachrichten ihrer Agentin. An diese Ereignisse hatte sie sich erst Wochen nach ihrer Rückkehr in das Haus erinnert und schließlich hatte sie ihre Zeit im Krankenhaus nachzeichnen können. Eine lange Phase.
Clara fasste sich an die Stirn, nahm einen tiefen Atemzug.
Diese Umgewöhnung von der rechten auf die linke Hand war weiterhin enorm. Immer schon hatte sie Probleme mit der linken Hand gehabt. Beim Schreiben, beim Kochen. Sie war Rechtshänderin, nicht ambidexter.
Verdammt!
Sie setzte sich vor den Computer, schaltete ihn ein.
Der Bildschirm sprang an. Blaues Licht leuchtete. Der moderne Mac hatte ihr immer gute Dienste geleistet. Sie gab ihr Passwort mit der linken Hand ein und wartete, bis der Desktop bereit war.
Dort war es. Auf der rechten Seite. Die Datei … das Manuskript des nächsten Buches. Clara fühlte Beklemmung.
Sie machte einen Doppelklick auf die Datei und wartete, bis sie aufsprang.
Dann lag er da. Der Text. 157 Seiten ausgereifter Worte. Schön formulierte Sätze. Ein gutes Buch. Nur nicht fertig …
Clara biss sich auf die Unterlippe. Sie blickte am Bildschirm vorbei hinaus.
Draußen hatte der Wind zugenommen. Blätter flogen vor dem Fenster herum.
Du schaffst es. Versuch es wenigstens.
»Ich kann das«, sagte Clara leise. Sie zitterte, als sie die linke Hand hob.
Heide hatte ihr nach einer Woche Aufenthalt im Krankenhaus Optionen aufgezeigt, mit denen sie das Schreiben fortsetzen könnte: über eine Prothese für die rechte Hand, mit der sie fähig wäre, einzelne Buchstaben zu tippen, oder einen Fokus auf die linke Hand, was Übung voraussetzte.
Sie hatte sich für die linke Hand entschieden. Die Anfänge waren lästig gewesen. Ständig hatte etwas nicht funktioniert, und sie war langsam gewesen. So langsam, dass Clara sogar überlegt hatte, das Schreiben aufzugeben.
Irgendwann war es dann aber besser gegangen. Aber nur leicht. Sie hatte einen Satz in wenigen Sekunden hingekriegt, aber dann eine Pause machen müssen, da ihre Kraft nachgelassen hatte.
Ständig hatte sie geweint …
Betrübt sah sie auf ihre Hand. Das Schicksal hatte sie missbraucht und ausgespuckt, wie einen Klumpen
Dreck.
Sie legte die Hand auf die Tastatur, fühlte die Tasten unter den Fingern.
Sie nahm einen tiefen Atemzug und begann zu tippen … Das erste Wort … Dann drückte sie mit dem Daumen die Leertaste und sprang zum nächsten. Ihre Finger sprangen hin und her, drückten die Tasten. Die ersten Sätze gingen. Dann vertippte sie sich. Mehrmals. Die Buchstaben verrutschten. Clara ächzte und blickte auf die Tastatur. Ihre Hand war so schnell geworden, dass sie Zeichen und Zahlen einbrachte.
Neeeeein.
Clara schrie. Sie bildete eine Faust und donnerte sie auf die Tastatur. Es knackte. Ein Funken im Bildschirm.
»Neeein.« Sie lehnte sich zurück und rückte mit dem Stuhl an die Wand.
Als sie gegen die Wand schlug, zuckte sie zusammen. Schluchzend starrte sie auf ihren Arbeitsplatz.
Nichts war, wie sie es kannte. Es war alles verloren. Wie sollte sie das Buch jemals fertigstellen?
Ferne Geräusche erklangen. Ein Motor.
Clara blickte auf. Jemand näherte sich dem Gebäude.
Sie stand auf und eilte zum Fenster. Mit dem rechten Ärmel fuhr sie sich über das Gesicht. Ein Wagen fuhr durch das Tor und auf die Einfahrt. Ihr Vater!
Paul kam sie besuchen. Aber … hätte er nicht erst morgen kommen sollen?
Sie löste sich von dem Fenster und ging aus dem Büro.
Schnell lief sie die Treppe hinunter.
Es klingelte. Clara öffnete.
Paul trug einen Karton in der Hand, der offenbar leer war, und lächelte.
»Hallo, Liebes. Ich bin einen Tag früher da.« Er küsste sie auf die Stirn. Clara sah zu, wie er an ihr vorbei in die Küche ging.
Deshalb war er gekommen … Sie fasste sich an den Kopf. Sie folgte ihm in die Küche.
Paul stellte die Kiste auf den Tisch, wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog seinen Wollpullover aus. Darunter trug er ein schwarzes Hemd. Er war breit gebaut und in der Regel besonnen.
Paul nahm ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Leitungswasser. Dann trank er einen Schluck und stöhnte erleichtert. »Du siehst fürchterlich aus, Clara. Wann hast du das letzte Mal geschlafen?«
Clara zuckte die Achseln. »Vor einer Woche vielleicht. Oder letzten Dienstag?«
Paul schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht. Isst du denn wenigstens ausreichend?« Er sah sie mitfühlend an. »Deine Mutter würde sich freuen, dich wieder zu bekochen. Hättest du Lust …«
»Nein!«, rief Clara. »Ich habe keine Lust.«
»Hm.« Paul tippte sich an das Kinn. »Du igelst dich ziemlich ein. Du lässt fast niemanden an dich ran, und du verfaulst – wortwörtlich.« Er breitete die Arme aus. »Sag mir bitte, dass es so nicht weitergeht.«
Clara musterte ihn. »Du erwartest von mir, dass ich das ändern soll? Wie denn?« Sie hob die Stimme. »Ich habe mir das nicht ausgesucht, Vater. Ich bin machtlos.« Sie schnappte nach Luft. »Bist du deswegen gekommen? Um mir zu sagen, wie schrecklich ich bin? Wenn ja, kann ich darauf verzichten.«
Paul schürzte die Lippen. »Na ja, ich will dir nur sagen, was ich sehe, Liebes, nicht mehr, nicht weniger.
Du wohnst allein, also ist es, glaube ich, nicht das Dümmste, zu hören, was andere denken.«
»Ich weiß, was andere denken«, beharrte Clara.
»Sicher? Es erscheint mir, als hättest du nicht sonderlich viel Kontakt zu anderen. Wann hast du das letzte Mal mit deiner Schwester geredet?«
Clara verdrehte die Augen. »Was soll das jetzt?«
»Wann?«, hakte Paul nach.
»Vor drei Wochen?«
»Richtig«, betonte Paul. »Vor … drei … Wochen. Das ist ewig her. Sie hat hundert Mal versucht, dich zu erreichen, aber du gehst nicht ran. Wenn ich ihr nicht jedes Mal sagen würde, dass du noch lebst, würde sie durchdrehen. Du weißt, dass sie sich Sorgen macht.
Wir alle tun das.«
»Mir passiert schon nichts.«
»Clara«, sagte Paul.
»Lass mich. Ich bin allein und habe alles verloren.
Hier.« Sie reckte den nackten Stumpf in die Luft. »Das ist alles, was mir geblieben ist.«
Tränen traten in ihre Augen.
Paul stellte das Glas ab. »I-ich weiß, was das für dich bedeutet und es tut mir leid, dass das passiert ist.
Jedem tut es leid.«
»Ja«, kläffte Clara. »Jedem tut es vermutlich leid.« Sie senkte den Stumpf.
Paul seufzte. »Du musst nicht so sein.«
Clara winkte ab. »I-ich musste nur an ihn denken.«
»Wen? Kai?«
»Nein«, schluchzte Clara. »An ihn … Holger.«
Paul nickte. »Ich verstehe. Möchtest du darüber reden?«
Clara kam vor, lehnte sich an einen Schrank.
»Eigentlich nicht, nein … ich habe mich nur gefragt, was er wohl denkt?«
»Na ja, das weiß ich nicht, aber ich meine, dass er sich ziemlich schuldig fühlen wird.«
»Meinst du?« Clara lachte auf. »Er ist komplett unbestraft, Vater. Nicht mal eine Geldstrafe. Er sonnt sich bestimmt in seinem Glück und fliegt in den Urlaub.«
Paul öffnete die Kiste. »Ich denke nicht, Clara. Er ist auch Teil des Traumas gewesen. Glaub nicht, dass er nicht etwas abbekommen hat.«
»Er hat nichts verloren«, zischte Clara. »Nichts. Ihm geht es so gut, wie seit jeher auch. Und während ich im Boden versinke, läuft er über die Wiese.«
Paul räusperte sich. Clara sah ihn an. »Ich höre sehr viel Hass in dir. Das wird dir Kai auch nicht wiedergeben.«
Clara beobachtete, wie Paul zum nächsten Regal ging und die Türen öffnete. Schnell drehte sie sich um. Die linke Hand legte sie auf ihre Brust. Ihr Atem ging schnell. »Fängst du an?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Paul. »Es ist alles gut, Clara. Kein Grund zur Sorge.«
Clara ging ein paar Schritte.
Vielleicht sollte sie besser gehen? Um es nicht zu hören, aber … Nein! Jetzt nicht!
Paul begann. Da war das Klickern … immer wieder …
Clara schloss die Augen.
»Clara, vielleicht solltest du gehen, solange ich hier beschäftigt bin? Ich habe kein Problem damit.«
Clara schüttelte den Kopf. Jetzt ging es darum auch mal stark zu sein. »I-ich … nein, mach nur. Ich schaffe das schon.«
»Sicher?« Er hielt inne.
»Ja, mach nur.«
»Okay.« Er machte weiter. Die nächste Fuhre. Wieder das Klickern.
Sie holte tief Luft.
»Sag mal, darf ich offen mit dir sprechen?«, fragte Paul.
Clara nickte. »Ja, mach nur.«
»Es … geht um dich, Clara, und wie es weitergehen soll. Deine Mutter und ich, wir haben eine Weile nachgedacht und fanden es gar nicht schlecht.«
»Was?«
»Hast du schon darüber nachgedacht, einen Psychologen aufzusuchen?«
Clara schluckte. Die Frage war nicht neu. Dass Paul sie stellte, war neu. Ihre Schwester hatte es schon vorgeschlagen, Heide in der Klinik. Dutzende Ärzte und viele Verwandte. Aber sie hatte die Angebote zurückgewiesen. Was sollte das denn bringen? Kai war tot und er kam nicht zurück. Und diese Tatsache ließ sich nicht umschreiben.
»Danke, aber ich brauche keinen.«
»Hm, Clara, denk noch mal darüber nach. Jemand, der sich auskennt, würde dir sicher helfen können. Du siehst doch selbst, dass du Probleme hast.«
Clara knurrte. »Und ein Arzt soll mir diese Probleme nehmen?«
»Er soll dir helfen, besser mit ihnen umzugehen.
Deine Gefühle zu ordnen, die Sache für dich begreifbar zu machen.«
»Hör auf!«, brüllte Clara und fasste sich an die Stirn.