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Nach heutigem Stand der Forschung ist das dezimale Zahlensystem mit dem Stellenwert und der Null zuerst in Indien belegt. Anhand der indischen Quellen zeigt der Verfasser, dass es sich bei diesem System nicht um eine einmalige Erfindung einer einzelnen Person bzw. einer Schule handelte. Es entstand allmählich in der Zeit zwischen dem 5. Jh. und dem 6. Jh. durch einen Prozess des Zusammenwirkens von drei unterschiedlichen Zahlensystemen. Das Zeichen des Kreises für die Null ist aus der graphischen Darstellung der Ziffer 10 eines älteren Zahlensystems hervorgegangen.
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Seitenzahl: 198
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„… the Indian sunya was destined to become the turning-point in a development without which the progress of modern science, industry, or commerce is inconceivable. And the influence of this great discovery was by no means confined to arithmetic. By paving the way to a generalized number concept, it played just as fundamental a role in practically every branch of mathematics.”
Tobias Dantzig, 1930/2007, 35
Es ist daran zu erinnern, dass das neuzeitliche Zahlensystem drei charakteristische Merkmale aufweist: erstens gründet das System auf der Zehnerbasis, so handelt es sich um ein dezimales Zahlensystem, zweitens haben die Ziffern einen absoluten Wert und einen Stellenwert, d. h. außer dem absoluten Wert hängt der Wert einer Ziffer von der Position ab, wo sie sich in einem Aneinanderreihen der Ziffern befindet, und drittens besteht das System aus neun unverwechselbaren Ziffern und dem Zeichen der Null mit einem Kreis, der auch als eine Ziffer aufgefasst wird.
Die kulturgeschichtliche Bedeutung des Dezimalsystems mit dem Stellenwert und der Null ist oft gewürdigt worden. Es nimmt nicht wunder, dass man sich seit dem 18. Jahrhundert bemüht, den Ursprung des neuzeitlichen Zahlensystems zu klären. Veröffentlichungen über dieses Thema sind so zahlreich, was Paul Kunitzsch zu der Bemerkung veranlasste: „For the last two hundred years the history of the socalled Hindu-Arabic numerals has been the object of endless discussions and theories, from Michael Chasles and Alexander von Humboldt to Richard Lemay in our times (Kunitzsch 2003, 3).” In der Einleitung der vorliegenden Arbeit werden die Etappen der Forschung anhand der maßgebenden Gedanken einiger Verfasser dargelegt, welche zugleich zum Verständnis der Problematik dienen sollen.
Nach gegenwärtigem Stand der Forschung ist das Zahlensystem zuerst in Indien belegt, die Hintergründe seiner Entstehung einschließlich des Ursprunges der heutigen Null liegen jedoch noch im Dunkeln. Es soll in der vorliegenden Arbeit versucht werden, die offenen Fragen zu klären.
Für das Durchsehen des Textes dankt der Verfasser seiner Frau, Brigitte Das Gupta.
Hamburg, im September 2013 Tapan Kumar Das Gupta
Einleitung
Das Alte Zahlensystem
Das Zahlwörtersystem
Der Übergang
Das Neue Zahlensystem
Die Null
Entstehungszeit
Verbreitung
Benennung
Zusammenfassung
Summary
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
Anhang: Tabellen und Abbildungen
1769 machte sich Gotthold Ephraim Lessing Gedanken über den Ursprung der Zahlen und vertrat die Ansicht, dass das Abendland die heutigen Ziffern von den Indern durch die Vermittlung der Sarazenen in Spanien erhalten hatte: „…die Ziffern, deren wir uns gegenwärtig mit großem Nutzen im gemeinen Leben bedienen, haben wir den Saracenen zu danken; ob sie schon selbst so ehrlich sind, und aufrichtig gestehen, daß deren Erfindung eigentlich den Indianern gehöret, und von diesen erst auf sie gebracht worden.“1 Lessing sprach auch darüber, dass nach allgemeiner Auffassung die arabischen Ziffern erst im 13. Jh. im Abendland bekannt geworden waren und hegte Zweifel an der im 1727 aufgestellten Hypothese von Johann F. Weidler, dass sich die Existenz der heutigen Ziffern bereits in dem fünften und sechsten Jahrhundert nachweisen ließ: „Der Mann“ - gemeint ist Weidler - „ist hinter einen alten Codicem Mscr. des Boethius gekommen, welcher unter dem Titel de Ratione Abaci, eine lateinische Uebersetzung des Euclides enthält. Nun hat es übrigens seine Richtigkeit, daß dieser Boethius im 524 Jahr, auf Befehl des ostrogothischen Königes Dieterich, zu Pavia enthauptet worden (ist). Es ist auch eben so gewiß, daß in ermeld(e)tem Codex, der zu Altdorf in der Bibliothek liegt, bereits dergleichen Ziffern in ihrer alten Gestalt zu finden sind. Aber wenn der Codex selbst geschrieben worden, und ob diese Ziffern nicht ein Werk des Copisten sind? ist eine andere Frage.“2 Es ist nicht weiter verwunderlich, dass der Name Boethius (480-524 n. Chr.) in einer so frühen Phase der Erforschung der heutigen Zahlen erscheint, dies liegt in der Sache selbst, wie in folgenden Betrachtungen anderer Verfasser gleich zu erkennen sein wird. Zugleich hatte Lessing die Problematik der Ziffern im Werk von Boethius richtig erkannt.
1817 leitete der Astronom Jean B. J. Delambre die Diskussion ein, nachdem er sich Einblick in astronomisch-mathematische Werke der Inder verschaffen konnte, die ihm seinerzeit in Übersetzungen zugänglich waren. Er äußerte sich verschiedentlich über das indische Wort śūnya und bemerkte dabei, dass das Wort die „Leere“ bedeutet und mit einem Kreis wiedergegeben wird.3 Delambre machte zugleich darauf aufmerksam, dass das Zeichen der Null mit einem Kreis, über dem sich ein Strich befindet (ō), auch im sexagesimalen Zahlensystem der astronomischen Werke Almagest (Syntaxis) von Ptolemäus vorkommt. Er habe dies in den Schriften von Theon von Alexandria (4. Jh. n. Chr.) gefunden. Delambre ging davon aus, dass es sich um die griechische Bezeichnung ούδέν (nichts) handeln könnte, um einen leeren Platz auszufüllen. Denkbar wäre aber auch, dass das Nullzeichen in irgendeiner Beziehung zu O (Omikron) stünde, da dieser Buchstabe in einem sexagesimalen Zahlensystem keine Verwendung hätte.
Das Zeichen sei bei den Indern und den Griechen unabhängig voneinander aus derselben Idee hervorgegangen, zum selben Zweck verwendet worden und wiese ein etwas ähnliches Aussehen auf. Delambre befasste sich auch mit dem Zahlensystem in der Geometrie von Boethius. Dabei erwähnte er, dass Boethius sich auf Galileo Galilei berief, der glaubte, dass die Pythagoreer Kenntnisse von den Zahlen einschließlich der Null gehabt hatten, die sie aber wegen ihren mystischen Einstellungen geheim hielten. Dazu heißt es weiter: „Der Nachricht des Boethius (in seiner Geometrie am Ende) zufolge, haben die Pythagoräer eine Bezeichnung der Zahlen, wie die unsrige ist, gehabt, und mit diesen Zahlzeichen gerechnet. Er nennt ihre Zeichen Apices vel Characteres. Pythagoras oder einer seiner Nachfolger, muß die Bezeichnungsart von den Indiern bekommen haben, da es nicht möglich ist, daß die Indier sie von einer kleinen Anzahl geheimnisvoller Menschen sollten erhalten haben.“4
1831 erschien das Werk „Grammaire Arabe“ von Silvester de Sacy, in dem er von einem arabischen Manuskript berichtete, das er in der Bibliothek der alten Abtei Saint-Germain-des-Prés entdeckt hatte.5 Das Manuskript enthält charakteristische Zahlen, bezeichnet als die „Gobar/Ghubār-Zahlen (Staub-Zahlen)“. Über den Zahlen werden Punkte angebracht (hier Tab.1), sie geben den jeweiligen Wert der Position an. So über Zehner ein Punkt, über Hunderter zwei Punkte über Tausender drei Punkte usw.6 Einen gewissen Zusammenhang zwischen den Ghubār-Zahlen und den indischen Zahlen konnte de Sacy zwar erkennen, glaubte aber nicht, dass darin auch die Null vorkommt. Alexander von Humboldt machte auf die Bemerkung von de Sacy aufmerksam, fügte aber dann hinzu: „Ich glaube, daß allerdings das Nullzeichen vorhanden sei… Man möchte glauben, daß dunkle Ideen von Bezeichnungen durch Puncte und Nullen sich durch Alexandriner aus dem Orient nach Europa verbreitet hatten. Das wirkliche Nullzeichen, und als etwas Fehlendes, wendet Ptolemäus in der abwärts steigenden Sexagesimal-Scale für fehlende Grade, Minuten oder Secunden an. Auch in Handschriften des Theon, im Commentar zur Syntaxis des Ptolemäus, will Delambre das Nullzeichen gefunden haben. Es ist daher im Occident weit älter, als der Einbruch der Araber.“7
1839 befasste sich Michel Chasles mit dem Werk von Boethius. Tab.2 enthält jeweils neun Zeichen und deren Namen aus der Veröffentlichung von Chasles, die aus einem Manuskript (11. Jh. n. Chr.) der Geometrie von Boethius entnommen sind. Darin ist auch noch ein Kreis mit dem Buchstaben a in der Mitte zu sehen.8 Chasles bemühte sich, die Zeichen und die Namen zu deuten und kam zu dem Schluss, dass es sich bei diesen um ein neues Zahlensystem handelt. Der Kreis mit dem a soll höchst wahrscheinlich die Null bedeuten. Das a sei vielleicht der Endbuchsstabe des Wortes syphra, das im Text Sipos bezeichnet wird. Nach seiner Meinung war das Zeichen der Null aber nicht im ursprünglichen Werk von Boethius enthalten: „Wir nehmen nicht an, dass sich dieses zehnte Zeichen in der Autographie des Boëtius selbst finde; sie wird später hinzugefügt sein. Aber es ist gut, dieselbe in einem Manuscript des 11ten Jahrhunderts zu bemerken, weil es eine Meinung ist, die von sehr angesehenen Schriftstellern getheilt wird, dass die Null erst zu Anfang des 13ten Jahrhunderts von Fibonacci eingeführt wurde“.9 So soll die Null im 11. Jh. bekannt gewesen sein, und es sei nicht Leonardo von Pisa (Fibonacci), der die Null zum ersten Mal in Abendland einführte. Chasles hielt es auch für unwahrscheinlich, dass Gerbert de Aurillac (940-1003 n. Chr., seit 999 Papst Silvester II.) das indische Zahlensystem gekannt hatte, folglich schloss er aus, dass Gerbert die Zahlen von den Sarazenen in Spanien empfangen haben konnte.
In einer eingehenden Untersuchung über den Inhalt des Werkes von Boethius gelangte Gottfried Friedlein 1861 zu einem Ergebnis, das den Ansichten von Chasles diametral entgegengesetzt war. Er hob zunächst hervor, dass die Bedeutung der Apices in der Geometrie von Boethius noch nicht vollständig geklärt sei. Friedlein referierte dann unterschiedliche Deutungen, die hierfür seinerzeit vorgeschlagen worden waren, und bemerkte anschließend: „Mag nun aber das Urtheil über diese Namen noch ausfallen, wie immer, so viel scheint mit Sicherheit anzunehmen, dass die Quelle davon das Arabische ist und dass, weil nach der Geschichte römischgermanische und arabische Cultur zuerst an den Gränzen Frankreichs und Spaniens zusammentrafen, dort der Uebergang derselben in das christliche Europa zu suchen ist. Als Vermittler desselben wurde Gerbert genannt und angenommen, bis Chasles dieses in Zweifel zog und auf Boethius aufmerksam machte.“10 Friedlein zeigte nun, dass in dem Werk, das dem Boethius zugeschriebenen wird, Textpassagen erhalten sind, die aus Schriften anderer Verfasser entnommen worden sein müssen. Dies gilt nicht nur für die Geometrie allein, sondern auch für den arithmetischen Teil des Werkes: “So bin ich nun mit der genauen Betrachtung des Textes im Einzelnen zu Ende gekommen und glaube auf Grund derselben jetzt auch von den arithmetischen Stücken als sicher aussprechen zu können, dass sie nicht von Boethius sein können“.11 Anders als Chasles hielt Friedlein es für sicher, dass Gerbert seine Kenntnisse über die neuen Zahlen in Spanien erworben hatte und vertrat die Ansicht, dass die Apices des Boethius und die Ghubār-Zahlen der Araber auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen. Die Null war nicht im 6. Jahrhundert durch Boethius, sondern im 10. Jahrhundert durch Gerbert in Europa bekannt geworden. Ihre volle Bedeutung in einem Zahlensystem wurde jedoch noch nicht erkannt, dies geschah erst durch Leonardo von Pisa, also doch erst im 13. Jahrhundert.
1863 ging Franz Woepcke auf die Bedeutung des Zeichens ō bei Ptolemäus im sexagesimalen System ein, das von Delambre entweder als „leer (ούδέν)“, oder als „der Buchstabe O (Omikron)“ gedeutet wurde. Woepcke war der Ausfassung, dass die Deutung des Sachverhaltes weiter abgegrenzt werden kann.12 Denn die Griechen benutzten den Buchstaben O (Omikron) für die Zahl 70, und es lässt sich leicht erkennen, dass es sich bei dem Zeichen für die Null nicht um diesen Buchstaben handeln kann. Die Meinung könne nicht stimmen, dass die Zahl 70 in einem sexagesimalen System überflüssig sei und deshalb sich das Zeichen O für die Null verwenden lasse. Im Almagesta komme der Buchstabe Omikron in der Bedeutung 70 vor, z.B. um die Breite von 70 Grad der Sterne zu verzeichnen. Gehe man davon aus, dass es sich bei dem Zeichen der Null um den Buchstaben Omikron handele, dann sei zwischen ihr und der Zahl 70 nicht mehr zu unterscheiden. Es sei offensichtlich, dass das Zeichen verwendet wurde, um einen leeren Platz zu kennzeichnen, und auch deshalb angemessen sei, es als „leer (ούδέν)“ aufzufassen. Die Einführung des Zeichens könnte im Rahmen einer Verbesserung des sexagesimalen Systems zurzeit Theons von Alexandria stattgefunden haben, was später von den Araber übernommen worden wäre. Was die Ghubār-Zahlen anbelangt, sollen sie vor der Ankunft der Araber in Spanien bereits vorhanden gewesen sein. Die Spanier sollen sie ca. 450 n. Chr. aus Indien durch die Vermittlung der Neo-Pythagoreer aus Alexandria erhalten haben.13
Georg H. F. Nesselmann hatte jedoch zuvor im Jahre 1842 daran Zweifel, ob das Zeichen ō in den Schriften von Ptolemäus tatsächlich von ihm selbst stammte, so könne die Angelegenheit nur anhand der Belege aus älteren Manuskripten geklärt werden: „Zur Vermeidung von Irrthümern war es bei diesem System zwar nicht durchaus nothwendig, aber doch wünschenswerth, das Fehlen eines der Glieder in der geometrischen Progression durch ein eigenes Zeichen anzudeuten, und so erscheint auf einmal in der Sehnentafel bei Ptolemäus das Nullzeichen mit einem Horizontalstrich über sich, ō, wahrscheinlich als Abkürzung von ούδέν, obgleich weder Ptolemäus selbst, noch sein Commentator Theon auch nur ein Wort, über die Einführung und den Gebrauch dieses bis dahin ganz unbekannten Zeichens verlieren. Möchte es vielleicht erlaubt sein, aus diesem argumentum a silentio den Schluß zu ziehen, daß das Zeichen ō erst in spätere Manuscripte hineingetragen worden ist, nachdem man sich durch den Gebrauch der aus dem Arabischen gemachten Bearbeitungen an dasselbe gewöhnt hatte? Ich mag darüber nichts entscheiden; auch könnte nur das Vorhandensein oder das Fehlen des Zeichens in sehr alten Handschriften etwas für oder wider die Hypothese beweisen.“14
1883 veröffentlichte Edward C. Bayley den zweiten Teil seiner Arbeit über die indischen Zahlen. Anders als die oben genannten Verfasser hatte Bayley unmittelbaren Zugang zu den indischen Quellen. So war es ihm nicht unbekannt, dass in den altindischen Brāhmī-Zahlen von Nānāgha (2. Jh. n. Chr.), von denen unten ausführlich die Rede sein wird, die Null nicht vorkommt. Im Anschluss an die Auffassungen von Woepcke stelle er unter Berücksichtigung möglicher Lösungen des Problems folgende Hypothese auf: „The demand for cursive signs would, as was the case with the symbols for the units, tend to reversion towards the simpler forms of the older signs, and the “spurred’ circle of the Naná Ghát ‘ten’ may have thus become the original of our modern ‘zero’, or, what is perhaps even more probable, the still simpler from of the Ptolemaic ‘zero’, when it became known to the Indians (whether through the Arabs, or by earlier direct intercourse, which is quite possible), was finally adopted as the usual representative of the ‘únya‘, together with the ‚bindu‘ or point which, as has been said, die Indians appear to have used to fill up lacunae in MSS. The oldest figures directly derived from the Indian signs for ten, however, might well have been retained by the writers of Arabic versions of Ptolemy, and of similar works, to designate and, indeed, to distinguish the sexagesimal ‘zero’ in regard to which ‘cursive’ writing was comparatively little needed.”15 Damit umriss Bayley alle von ihm denkbaren Möglichkeiten zur Lösung des Problems, er selbst verzichtete aber darauf, einen seiner Vorschläge die Priorität einzuräumen und ließ die Frage offen.
Mit der Entzifferung der Keilschrift empfing die Forschung nun neue Impulse. Als es bekannt geworden war, dass ein Zeichen für die Null mit zwei schrägen Strichen/Keilen in den babylonischen Keilschriften vorkommt (Tab.3), war es klar, dass weder die Inder, noch die Griechen, sondern die Babylonier die ersten waren, die von der Null Gebrauch gemacht hatten.16 Es wurde ersichtlich, dass Babylon die Herkunft der Null bei dem sexagesimalen Zahlensystem in astronomischen Berechnungen von Ptolemäus war. Otto Neugebauer, ein profunder Kenner der astronomisch-mathematischen Schriften der Babylonier und der Ägypter bemerkte, dass zwar heute die Werke von Ptolemäus oder von Theon nur in byzantinischen Manuskripten erhalten sind. Es gibt aber auch Papyri aus der Zeit der ptolemäischen Herrschaft in Ägypten, in denen sich das Zeichen der Null findet. Er machte dann darauf aufmerksam, dass eine Reihe von Varianten für das Zeichen ō in den griechischen Texten vorkommt, und lehnte ausdrücklich die Deutung des Zeichens als der griechische Buchstabe Omikron ab. Es soll ein Trennzeichen sein, das nach dem Vorbild des babylonischen Gebrauchs geschaffen worden war, um einen leeren Platz auszufüllen: “In the from ō and related variants this zero symbol is found until the latest periods in Arabic geographical and astronomical manuscripts where numbers were written in the alphabetic notation. Only in Byzantine manuscripts do I know of the bare o-like shape which is usually considered as the first letter of Greek ουδων ‘nothing’. The papyri do not support this explanation (which is on itself very implausible since omicron already represented a numerical value, namely 70) but suggest an arbitrarily invented symbol intended to indicate an empty place. This would correspond exactly to the Babylonian zero symbol which is also not a letter or a syllable but a mere separation mark.”17
Was die Verwendung der Null in Indien anbelangt, äußerte sich Neugebauer nur indirekt. Er schrieb 1936 eine Besprechung zu einer Veröffentlichung über die Geschichte der indischen Mathematik von Bibutibhusan Datta/Avadesh Singh.18 Neugebauer war der Auffassung, dass aus dem ursprünglichen Zahlensystem der Inder, das keinen Stellenwert besaß, ohne fremde Einflüsse ein Zahlensystem mit dem Stellenwert entstanden sein konnte. Datta/Singh hatten in ihrer Arbeit darauf hingewiesen, dass Pigala 200 v. Chr. in seinen „Lehrfaden von Versmaßen“ den Ausdruck śūnya verwendete (s. hier unten ausführlich). Dies nahm Neugebauer als einen Hinweis dafür, dass die Null in Indien vor Ptolemäus (2. Jh. n. Chr.) bekannt war. Er ging deshalb davon aus, dass die Inder den Stellenwert der Ziffern in der Seleukidenzeit durch die Vermittlung der Griechen erhalten hatten, so haben die Inder das Prinzip des Stellenwertes aus dem sexagesimalen Zahlensystem auf ihr dezimales System übertragen: “…mit der babylonischen Astronomie der persisch-hellenistischen Zeit kam auch die Kenntnis des positionellen Rechenverfahrens, das sich ja von dem unsern in keinem wesentlichen Punkt unterscheidet, zu den Indern. Wie immer bei der Übernahme fremder Ergebnisse, stehen die neuen Benutzer diesem Material freier gegenüber, sind befähigter, es unter neuen Gesichtspunkten zu modifizieren. Hier führt die Erlernung dieses Systems, kombiniert mit dem Wunsch, es in das eigene Dezimalsystem zu übersetzen, zum wirklichen Verständnis des mathematischen Kernes des Verfahrens und damit zu einer der größten Erfindungen der Geschichte, die nur eine Parallele hat, nämlich die Erfindung einer Buchstabenschrift.“19 Neugebauer implizierte damit, dass auf diesem Wege auch die Idee der Null aus Babylon nach Indien gelangte. Diese Position behielt er noch in seinen späteren Schriften bei.20
David Pingree - er war persönlich und wissenschaftlich Neugebauer verbunden21 - nahm in einer seiner letzten Arbeiten eine Revision der Hypothese seines Mentors vor, in der er versuchte, aktuelle Kenntnisse der Forschung über die indischen Zahlen einzubeziehen. Ihm, dem Kenner der astronomisch-mathematischen Werke der Inder, war es klar, dass das Dezimale Zahlensystem mit dem Stellenwert und der Null in Indien zurzeit Pigala, also im 200 v. Chr. nicht bekannt sein konnte - Pigala benutzte die Bezeichnung śúnya, um einen leeren Platz zu kennzeichnen (s. hier unten). Pingree machte sich auch Gedanken darüber, wie der Kreis für die Null in einem Zahlensystem in Gebrauch kam und glaubte, die Lösung des Problems in den Werken der Jainas gefunden zu haben. R. C. Gupta hat zuvor gezeigt, dass die Jainas über eine Methode verfügten, mit der die Anzahl einer ausgeführten Handlung aufgezeichnet werden konnte.22 Dabei wurden Rechensteine bzw. Stäbchen an die Plätze gelegt, die jeweils die Position von Einern, Zehnern und Hundertern usw. einnahmen. Pingree vermutete, dass das Verfahren dazu geführt haben könnte, den Begriff śúnya für einen leeren Platz zu verwenden. So war zwar die Vorstellung von śúnya als solche eine indische Erfindung, das Zeichen des Kreises für die Null wurde aber später unter Einfluss der Griechen auf ein dezimales Zahlensystem übertragen: „At the beginning of the common era Greeks appeared in India in large numbers, bringing with them, among other things, astronomical tables in which, in the sexagesimal fractions, the ‚empty’ places were occupied by a circular symbol for zero such as are found in the Greek papyri of that period… In translating these tables into Sanskrit, the symbol was taken over as a circle (pūra) or a dot (bindu)… At some time in the period before A. D. 400, someone writing numbers in the decimal placevalue system with numerals used the sexagesimal symbol for zero instead of writing śúnya”.23
In seiner jüngsten Arbeit geht Stephen Chrisomalis zwar im Anschluss an die Auffassung von Neugebauer ebenfalls davon aus, dass das Zeichen ō mit dem griechischen Wort ούδέν nichts zu tun hat, lehnt jedoch zugleich irgendeine Beziehung zwischen der indischen und der griechischen Null ab: “The astronomical numerals used a special sign as a place-holder to indicate an empty position in order to avoid ambiguity. In some late (fourth- to first-century BC) Babylonian texts, a placeholder sign that served some of the functions of zero was used… Greek astronomers from the first century AD onward took up this practice… The zero-sign was probably a paleographic outgrowth of the earlier form, which was, like the Babylonian placeholder sign, purely ideographic. As far as can be discerned, however, it is completely unrelated to the later Hindu zero, which emerged in the sixth century AD in India.”24 Zur Begründung seiner Auffassung verweist Chrisomalis auf die Veröffentlichungen von Alexander Jones und Rida A. K. Irani. Jones hat die astronomischen Papyri seit der römischen Zeit ausgewertet, die sich in Obhut des Ashmolean Museums, Oxford befinden. Es handelt sich um Funde aus der antiken Stadt Oxyrhynchus, heute Al Bahnasa in Ägypten, die bei Ausgrabungen in den Jahren 1896 und 1906 zutage gekommen sind. Jones fügt eine Liste der Variante des Zeichens der Null hinzu, die in den Papyri vorkommen (hier Tab.4).25 Irani untersucht elf astronomische Manuskripte der Araber aus der Zeit von 1082 bis 1788 n. Chr., aus denen die paläografische Entwicklung der arabischen Null zu erkennen ist (hier Tab.5).26 Es werden zugleich die Belege der Null aus astronomischen Papyri der Griechen aus dem 1. Jh. bis 467 n. Chr. vorgelegt und der Schluss gezogen (hier Tab.4): Die grafische Darstellung der Null bei den Griechen wandelte sich im Laufe der Zeit, und bei der Verwendung der Null in ihren astronomischen Manuskripten orientierten sich die Araber an der griechischen Null. Damit werden zwar die Beziehungen zwischen den babylonischen, griechischen und arabischen Darstellungen der Null in den astronomischen Werken geklärt, nicht jedoch die Herkunft der indischen Null in einem dezimalen Zahlensystem.
Nach eingehender Untersuchung der arabischen Quellen hegte P. Kunitzsch keinen Zweifel daran, „daß die neuen Ziffern und die Null sowie das Rechnen damit vor dem 7. Jahrhundert in Indien erfunden wurden und sich von daher in die umgebenden Kulturen verbreiteten. Die verschiedenen abweichenden Theorien aus den letzten zwei Jahrhunderten über die Entstehung des Systems dürften daher heute als erledigt gelten.“27 Nur bleiben die Fragen offen, wann und wie in Indien das dezimale Zahlensystem mit dem Stellenwert und der Null entstanden war, worauf Kim Plofker hinweist: „The scarcity of physical documents from ancient India means that we have only a very incomplete idea of how the writing of numbers emerged and developed. It is common knowledge that the decimal place-value digits we use today were first recorded in India, whence they moved westward via the Islamic world into Europe, undergoing various modifications in form. The Syrian bishop Severus Sebokht famously wrote in the midseventh century of the Indian ‘nine sings’ for expressing numbers. But how and when was the decimal place-value system invented?”28 Die Antwort der gestellten Fragen und ein Versuch, die Herkunft der indischen Null zu klären, ist der Gegenstand dieser Arbeit. Nun haben intensive und auch kontroverse Diskussionen über dieses Thema viel dazu beigetragen, die Angelegenheit von verschiedenen Seiten zu durchleuchten.29 Es wäre sehr unwahrscheinlich, wenn dabei Ansätze zur Lösung der Probleme nicht bereits zutage gekommen sein sollten. Diese zum Vorschein zu bringen, soll die Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein. Hierfür erweisen sich die Arbeiten von Karl Menninger, Georges Ifrah und George G. Joseph als besonders ergiebig.30
Von alters her gab es in Indien eine Reihe von Zahlensystemen.31 Allgemein herrscht die Meinung, dass das neuzeitliche Zahlensystem der Inder auf ein älteres System, auf die Brāhmī-Zahlen zurückgeht. Was die graphische Gestaltung der Ziffern anbelangt, stimmt sicherlich diese Auffassung. Der Verfasser dieser Arbeit vertritt jedoch die Ansicht - und sie soll unten noch zu begründen sein -, dass das System mit dem Stellenwert und der Null nicht allein aus den Brāhmī-Zahlen entstanden sein kann, hier hat ein anderes Zahlensystem eine entscheidende Rolle gespielt. Es handelt sich um eine Klasse der