Der Verdächtige - John Grisham - E-Book
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Der Verdächtige E-Book

John Grisham

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Beschreibung

Lacy Stoltz hat als Anwältin bei der Gerichtsaufsichtsbehörde in Florida schon viele Fälle von Korruption erlebt. Seit sie einer Richterin, die Millionen abkassiert hat, das Handwerk legte, ist sie sogar zu gewisser Berühmtheit gelangt. Doch nun wird sie mit einem Fall konfrontiert, der jenseits des Vorstellbaren liegt: Denn der Richter, gegen den sie ermittelt, nimmt anscheinend keine Bestechungsgelder von Leuten. Er nimmt ihnen das Leben.

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DASBUCH

Drei Jahre ist es her, dass Lacy Stoltz einen großen Bestechungsskandal aufgedeckt hat. Mittlerweile ist sie gehörig gelangweilt von ihrer Arbeit in der Gerichtsaufsichtsbehörde von Florida. Da kommt eine Frau auf sie zu, die aus Angst vor Verfolgung nur unter einem Decknamen auftritt. Jeris Vater wurde vor zwanzig Jahren ermordet, und seitdem widmet sie ihr Leben der Aufklärung dieses Verbrechens. Sie ist der festen Überzeugung, den Täter gefunden zu haben. Aber sie kann ihn nicht anklagen, sondern fühlt sich im Gegenteil ihres eigenen Lebens nicht mehr sicher. Denn der Verdächtige ist ein amtierender Richter. Ein hochintelligenter Mann, der genau weiß, welche Schlupfwinkel die Gesetzeslage bietet und welche blinden Flecken es bei den Ermittlungsbehörden gibt. Doch er hat die Rechnung ohne Lacy Stoltz gemacht, die den Fall übernimmt. Auch wenn sie dadurch ebenso wie Jeri in höchster Gefahr schwebt.

DERAUTOR

John Grisham ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Seine Romane sind ausnahmslos Bestseller. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke werden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.

JOHN

GRISHAM

DER

VERDÄCHTIGE

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Bea Reiter, Imke Walsh-Araya

und Kristiana Dorn-Ruhl

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Judge’s List

bei Doubleday, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2021 by Belfry Holdings, Inc.

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Oliver Neumann

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung von shutterstock.com/ElliottBoydPhotography

Herstellung: Mariam En Nazer

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26624-0V001

www.heyne.de

1

Der Anruf kam auf der Festnetzleitung über ein System, das mindestens zwanzig Jahre alt war und sich sämtlichen technologischen Neuerungen widersetzt hatte. Er wurde von einer tätowierten Sekretärin namens Felicity entgegengenommen, einer neuen Mitarbeiterin, die kündigen würde, bevor sie mit der Telefonanlage richtig umgehen konnte. Alle schienen kündigen zu wollen, vor allem die Bürokräfte. Die Fluktuation war beängstigend, die Stimmung unterirdisch. Das Board on Judicial Conduct, für Berufsaufsicht und standeswidriges Verhalten von Richtern zuständig, hatte gerade das vierte Jahr in Folge Budgetkürzungen hinnehmen müssen, auf Betreiben eines Gesetzgebers, dem die Existenz der Behörde kaum bewusst war.

Felicity gelang es, das Gespräch einige Büros weiter zu dem mit Akten übersäten Schreibtisch von Lacy Stoltz durchzustellen. »Anruf auf Leitung drei«, verkündete sie.

»Wer ist dran?«, fragte Lacy.

»Wollte sie nicht sagen.«

Das erforderte eigentlich eine Reaktion. Doch Lacy langweilte sich gerade und wollte keine emotionale Energie damit verschwenden, der Neuen einen Rüffel zu erteilen und ihr zu erklären, wie ihre Aufgaben aussahen. Arbeitsabläufe und Prozesse lösten sich auf. Die Disziplin im Büro bröckelte, während das BJC zunehmend in führungslosem Chaos versank.

Als dienstälteste Mitarbeiterin musste sie Vorbild sein, und so sagte sie: »Danke«, und drückte auf die blinkende Taste an ihrem Telefon. »Lacy Stoltz.«

»Guten Tag, Ms. Stoltz. Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?«

Weiblich, gebildet, ohne hörbaren Akzent, Mitte vierzig, plus/minus drei Jahre. Lacy versuchte immer, von der Stimme auf die Person zu schließen. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Fürs Erste ist mein Name Margie, aber ich benutze noch andere.«

Lacy fand das lustig und hätte beinahe gelacht. »Wenigstens sind Sie so ehrlich und sagen es gleich. Normalerweise dauert es eine Weile, bis ich hinter die Decknamen komme.«

Anonyme Anrufer waren Routine. Leute, die sich über Richter beschweren wollten, waren immer vorsichtig und zögerten, sich gegen das System zu stellen. Fast alle fürchteten Vergeltungsschläge von Menschen mit Macht und Einfluss.

»Ich würde gern unter vier Augen mit Ihnen sprechen.«

»Kommen Sie doch zu mir ins Büro.«

»O nein«, keuchte die Anruferin. Der Gedanke daran machte ihr offenbar Angst. »Auf keinen Fall. Kennen Sie das Siler Building gleich nebenan?«

»Natürlich.« Lacy stand auf und sah aus dem Fenster zum Siler Building, einem von mehreren unscheinbaren Regierungsgebäuden im Stadtzentrum von Tallahassee.

»Im Erdgeschoss gibt es ein Café. Können wir uns dort treffen?«, sagte Margie.

»Von mir aus. Wann?«

»Jetzt. Ich bin bei meinem zweiten Latte.«

»Trinken Sie langsamer. Ich brauche ein paar Minuten. Wissen Sie, wie ich aussehe?«

»Ja. Ihr Foto ist auf der Website. Ich sitze ganz hinten auf der linken Seite.«

Lacys Büro wäre durchaus für ein vertrauliches Gespräch geeignet gewesen. Der Raum links von ihr war leer, nachdem ein Ex-Kollege zu einer größeren Behörde gewechselt war. Ein Büro gegenüber war zu einer behelfsmäßigen Abstellkammer umfunktioniert worden. Auf dem Weg zu Felicity schaute sie bei Darren Trope vorbei, der seit zwei Jahren beim BJC war, aber bereits nach einem anderen Job suchte.

»Bist du sehr beschäftigt?«, fragte sie, als sie Darren bei dem unterbrach, was er gerade tat.

»Eigentlich nicht.« Es war egal, ob er beschäftigt war oder nicht. Wenn Lacy etwas brauchte, gehörte Darren ihr.

»Du musst mir einen Gefallen tun. Ich gehe rüber ins Siler Building und treffe mich dort mit einer mir unbekannten Frau, die gerade zugegeben hat, einen falschen Namen zu benutzen.«

»Ich stehe auf geheimnisvolle Unbekannte. Entschieden besser, als hier rumzusitzen und Akten über einen Richter zu lesen, der anzügliche Kommentare gegenüber einer Zeugin gemacht hat.«

»Wie anzüglich?«

»Sehr.«

»Fotos, Videos?«

»Noch nicht.«

»Gib mir Bescheid, wenn du sie hast. Könntest du in fünfzehn Minuten rüberkommen und ein Foto von ihr machen?«

»Na klar. Keine Ahnung, wer sie ist?«

»Überhaupt keine.«

Lacy verließ das Gebäude, lief langsam um den Block, genoss die kühle Luft und schlenderte dann in die Lobby des Siler Building. Es war kurz vor vier Uhr, und zu dieser Zeit gab es keine anderen Gäste, die Kaffee tranken. Margie saß an einem kleinen Tisch ganz hinten, auf der linken Seite. Sie winkte nur kurz, als wollte sie vermeiden, dass es jemandem auffiel. Lacy lächelte und ging auf sie zu.

Afroamerikanerin, Mitte vierzig, berufstätig, attraktiv, gebildet, elegante Hose zu hohen Absätzen und besser angezogen als Lacy, allerdings war beim BJC zurzeit alles erlaubt. Ihr alter Chef hatte auf einer Kleiderordnung bestanden und Jeans verabscheut, doch er hatte sich vor zwei Jahren in den Ruhestand verabschiedet und so gut wie alle Regeln mitgenommen.

Lacy machte einen Schlenker zur Bar, wo sich die Barista mit beiden Ellbogen auf die Theke gestützt hatte und wie hypnotisiert auf ihr pinkfarbenes Handy starrte. Sie kam nicht auf die Idee, den Kopf zu heben und den Gast zu begrüßen. Lacy beschloss, dass sie für heute genug Koffein intus hatte.

Margie streckte die Hand aus, ohne aufzustehen. »Schön, Sie kennenzulernen«, sagte sie. »Möchten Sie einen Kaffee?«

Lacy lächelte und setzte sich ihr gegenüber an den quadratischen Tisch. »Nein, danke. Sie sind Margie, richtig?«

»Fürs Erste.«

»Ich glaube, wir haben keinen guten Start hingelegt. Warum benutzen Sie einen falschen Namen?«

»Es wird Stunden dauern, meine Geschichte zu erzählen, und ich bin mir nicht sicher, ob Sie sie hören wollen.«

»Wozu dann die Mühe?«

»Ms. Stoltz, bitte.«

»Lacy.«

»Sie haben keine Ahnung, Lacy, was für ein emotionales Trauma ich durchgemacht habe, um diesen Punkt in meinem Leben zu erreichen. Ich bin ein Wrack.«

Sie schien völlig in Ordnung zu sein, wirkte allerdings leicht nervös. Vielleicht lag es am zweiten Latte. Margies Blick huschte unruhig umher. Ihre schönen Augen wurden von einer großen violetten Brille umrahmt, die vermutlich nicht gebraucht wurde. Sie war Teil des Outfits, eine geschickte Tarnung.

»Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll«, erwiderte Lacy. »Fangen Sie doch einfach an, vielleicht kommen wir so weiter.«

»Ich habe einiges über Sie gelesen.« Margie zog eine Akte aus einem Rucksack, der unter dem Tisch lag. »Der Fall mit dem indianischen Spielkasino vor nicht allzu langer Zeit. Sie haben eine Richterin dabei erwischt, wie sie Gelder abgezweigt hat, und sie dafür ins Gefängnis gebracht. Ein Reporter hat es den größten Bestechungsskandal in der Geschichte der amerikanischen Jurisprudenz genannt.« Die Akte war fünf Zentimeter dick und sah aus, als wäre sie perfekt organisiert.

Lacy fiel auf, dass sie das Wort »Jurisprudenz« benutzte. Für einen Laien war das ungewöhnlich.

»Es war ein großer Fall«, sagte sie mit gespielter Bescheidenheit.

Margie lächelte. »Groß? Sie haben eine kriminelle Vereinigung gesprengt, die Richterin eines Verbrechens überführt und eine Menge Leute hinter Schloss und Riegel gebracht. Ich glaube, sie sitzen alle noch.«

»Stimmt, aber das war ich nicht allein. Das FBI war maßgeblich an den Ermittlungen beteiligt. Es war ein komplizierter Fall. Und einige Menschen sind ermordet worden.«

»Wie Ihr Kollege, Hugo Hatch.«

»Ja, wie Hugo. Ich bin neugierig. Warum die Recherche über mich?«

Margie faltete die Hände und ließ sie auf den Aktenhefter sinken, den sie nicht aufgeschlagen hatte. Ihre Zeigefinger zitterten leicht. Sie warf einen Blick zum Eingang und sah sich wieder um, obwohl niemand die Lobby betreten hatte, niemand gegangen war, niemand sich gerührt hatte, nicht einmal die Barista, die immer noch auf ihr Telefon starrte. Margie sog am Strohhalm ihres Getränks. Wenn es wirklich ihr zweiter Latte war, hatte sie kaum etwas davon getrunken. Sie hatte das Wort »Trauma« benutzt. Zugegeben, ein »Wrack« zu sein. Lacy wurde klar, dass die Frau Angst hatte.

»Oh, Recherche würde ich das nicht nennen«, sagte Margie. »Nur ein bisschen Material aus dem Internet. Online findet man alles.«

Lacy lächelte und versuchte, sich in Geduld zu üben. »Ich glaube, so kommen wir nicht weiter.«

»Ihre Aufgabe ist es, Ermittlungen anzustellen, wenn einem Richter Fehlverhalten vorgeworfen wird, richtig?«

»Richtig.«

»Und Sie machen das seit wann?«

»Entschuldigung, aber warum ist das wichtig?«

»Bitte.«

»Seit zwölf Jahren.« Als Lacy die Zahl aussprach, hatte sie das Gefühl, eine Niederlage einzugestehen. Es hörte sich so lang an.

»Wie kommen Sie an einen Fall?«

Lacy holte tief Luft und ermahnte sich erneut zu Geduld. Leute, die kurz davor standen, eine Beschwerde einzureichen, waren häufig nervös. Sie lächelte. »In der Regel werden wir von jemandem mit einer Beschwerde über einen Richter kontaktiert, und dann treffen wir uns mit der Person. Wenn der Vorwurf begründet zu sein scheint, legt der oder die Betreffende eine offizielle Dienstaufsichtsbeschwerde ein, die wir fünfundvierzig Tage lang unter Verschluss halten, während wir sie uns näher ansehen. Das heißt bei uns Fallprüfung. In neun von zehn Fällen ist dann Schluss, und die Beschwerde wird abgewiesen. Liegt ein mögliches Fehlverhalten vor, stellen wir dem Richter oder der Richterin die Beschwerde zu, und er oder sie hat dreißig Tage Zeit für eine Stellungnahme. In der Regel nehmen sich die Richter dann einen Anwalt. Wir ermitteln, setzen Anhörungen fest, ziehen Zeugen hinzu, das volle Programm eben.«

Während Lacy redete, schlenderte Darren herein und störte die Barista, indem er einen koffeinfreien Kaffee bestellte. Er ignorierte die beiden Frauen, während er auf sein Getränk wartete. Mit der Tasse in der Hand suchte er sich einen Tisch auf der anderen Seite des Raums, wo er einen Laptop aufklappte und sich in seine Arbeit zu vertiefen schien. Unauffällig richtete er die Kamera des Laptops auf Lacys Rücken und Margies Gesicht, zoomte für eine Nahaufnahme heran und begann zu filmen. Er nahm ein Video auf, dazu einige Fotos.

Falls Margie ihn bemerkte, ließ sie es sich nicht anmerken.

Sie hatte Lacy aufmerksam zugehört und fragte jetzt: »Wie oft wird ein Richter seines Amtes enthoben?«

Wieder überlegte Lacy, warum das wichtig war. »Zum Glück nicht sehr oft. Wir sind für eintausend Richter zuständig, und die allermeisten von ihnen sind ehrliche, hart arbeitende Vertreter ihres Berufsstandes. Fast alle Beschwerden, die bei uns eingehen, sind nicht schwerwiegend genug. Unzufriedene Prozessparteien, denen das Urteil nicht gefällt. Viele Scheidungsfälle. Viele Anwälte, die sich darüber aufregen, dass sie verloren haben. Wir haben jede Menge zu tun, aber in der Regel lassen sich die Streitigkeiten klären.« Sie beschrieb ihre Arbeit als langweilig, und nach zwölf Jahren kam sie ihr auch so vor.

Margie trommelte mit den Fingern auf dem Aktenhefter herum. Dann holte sie tief Luft. »Die Person, die die Beschwerde einreicht – wird er oder sie immer genannt?«

»Letztendlich ja«, erwiderte Lacy, nachdem sie kurz nachgedacht hatte. »Es ist sehr selten, dass der Beschwerdeführer anonym bleibt.«

»Warum?«

»Weil der Beschwerdeführer in der Regel die Fakten des Falls kennt und gegen den Richter aussagen muss. Man kann einem Richter nur schwer etwas nachweisen, wenn die Leute, die sein Verhalten kritisieren, Angst haben, den Mund aufzumachen. Haben Sie Angst?«

Schon das Wort schien Margie zu verstören. »Ja, das könnte man so sagen«, gab sie zu.

Lacy runzelte die Stirn und tat so, als würde sie sich langweilen. »Wir sollten endlich auf den Punkt kommen. Wie schwerwiegend ist das Verhalten, von dem Sie sprechen?«

Margie schloss die Augen. »Mord«, brachte sie heraus. Dann schlug sie die Augen wieder auf und blickte sich um, weil sie befürchtete, belauscht worden zu sein. Doch bis auf Lacy saß niemand nah genug, um etwas gehört zu haben.

Lacy nahm die Anschuldigung mit der nüchternen Skepsis auf, die sie nach so vielen Jahren in ihrem Job entwickelt hatte, und mahnte sich ein weiteres Mal zur Geduld.

In Margies Augen standen jetzt Tränen.

Lacy beugte sich vor und fragte leise: »Wollen Sie damit andeuten, dass einer unserer amtierenden Richter einen Mord begangen hat?«

Margie biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es.«

»Darf ich fragen, woher?«

»Mein Vater war eines seiner Opfer.«

Als Lacy klar wurde, was das bedeutete, sah auch sie sich um. »Eines seiner Opfer? Es gibt mehr als eines?«

»Ja. Ich glaube, mein Vater war sein zweites Opfer. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt, aber ich weiß, dass es der Richter war.«

»Interessant.«

»Das ist eine Untertreibung. Wie viele Dienstaufsichtsbeschwerden hatten Sie bis jetzt, in denen einem Richter Mord vorgeworfen wurde?«

»Äh … keine.«

»Und wie viele Richter wurden in der Geschichte der Vereinigten Staaten wegen Mordes verurteilt, während sie im Amt waren?«

»Ich weiß von keinem.«

»Richtig. Keiner. Also tun Sie es nicht als ›interessant‹ ab.«

»Ich wollte Sie nicht vor den Kopf stoßen.«

Darren war mit seiner wichtigen »Arbeit« fertig, klappte den Laptop zu und ging. Keine der beiden Frauen nahm ihn zur Kenntnis.

»Schon okay«, erwiderte Margie. »Ich werde jetzt nichts mehr dazu sagen. Ich habe eine Menge Informationen, die ich ausschließlich an Sie weitergeben möchte, aber nicht hier.«

Lacy hatte schon mehr als genug Verrückte und verwirrte Seelen mit Kartons und Papiersäcken voller Dokumente erlebt, die belegen sollten, dass irgendein Drecksack auf der Richterbank korrupt war. Nachdem sie sich ein paar Minuten mit ihnen unterhalten hatte, konnte sie sich fast immer ein Urteil bilden und erste Vorkehrungen treffen, um die Sache in den Aktenschrank mit den abgewiesenen Beschwerden zu befördern. Im Lauf der Jahre hatte sie sich eine gute Menschenkenntnis angeeignet. Aber bei vielen der durchgeknallten Spinner, die zu ihr kamen, war eine schnelle Einschätzung keine große Herausforderung.

Margie – oder wie auch immer sie heißen mochte – war allerdings weder verrückt noch durchgeknallt. Sie wusste etwas, und sie hatte Angst.

»Okay. Und was jetzt?«, fragte Lacy.

»Das kommt darauf an.«

»Sie haben mich kontaktiert. Wollen Sie reden oder nicht? Für Spielchen habe ich nichts übrig, außerdem habe ich keine Zeit, um Ihnen oder irgendjemandem sonst, der sich über einen Richter beschweren möchte, jedes Wort einzeln aus der Nase zu ziehen. Ich verschwende sehr viel Zeit damit, Informationen aus Leuten herauszulocken, von den ich angerufen werde. Und einmal im Monat lande ich mit meinen Ermittlungen in einer Sackgasse. Also: Wollen Sie reden oder nicht?«

Margie begann zu weinen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Lacy versuchte, ihr so viel Mitgefühl wie möglich entgegenzubringen, aber sie war drauf und dran, aufzustehen und zu gehen.

Doch die Sache mit dem Mord machte sie neugierig. Es gehörte zu ihrem Alltagstrott beim BJC dazu, sich die banalen und unbegründeten Anschuldigungen unzufriedener Menschen anzuhören, die kleine Probleme und nicht viel zu verlieren hatten. Ein amtierender Richter, der einen Mord begangen hatte? Das hörte sich zu spektakulär an, um glaubhaft zu sein.

»Ich habe ein Zimmer im Ramada an der East Gaines«, sagte Margie schließlich. »Wir könnten uns nach Dienstschluss dort treffen. Aber Sie müssen allein kommen.«

Lacy nickte, als hätte sie damit gerechnet. »Unter gewissen Vorsichtsmaßnahmen. Wir haben eine Vorschrift, die es mir verbietet, die erste Besprechung mit einem Beschwerdeführer außerhalb der Behörde und allein durchzuführen. Ich müsste einen zweiten Ermittler mitbringen, einen meiner Kollegen.«

»Zum Beispiel Mr. Trope da drüben?« Margie warf einen vielsagenden Blick auf Darrens leeren Stuhl.

Lacy drehte sich langsam um und tat so, als wüsste sie nicht, was Margie meinte, während sie krampfhaft nach einer Antwort suchte.

»Liegt an Ihrer Website«, erklärte Margie. »Lächelnde Gesichter sämtlicher Mitarbeiter.« Sie holte ein großes Farbfoto von sich aus dem Rucksack und schob es über den Tisch. »Hier, mit den besten Empfehlungen. Ein aktuelles Verbrecherfoto von mir, das erheblich besser ist als die Aufnahmen, die Mr. Trope gerade heimlich gemacht hat.«

»Wovon reden Sie?«

»Ich bin sicher, dass er mein Foto bereits durch Ihre Gesichtserkennungssoftware gejagt und null Treffer bekommen hat. Sie werden mich in keiner Datenbank finden.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Margie lag richtig, doch Lacy war noch nicht bereit, ihr die Wahrheit zu sagen.

»Oh, ich glaube, Sie wissen genau, was ich meine. Sie kommen allein, sonst werden Sie mich nie wiedersehen. Sie sind die erfahrenste Ermittlerin Ihrer Behörde, und Ihre Chefin ist nur vorübergehend da. Sie können vermutlich tun, was Sie wollen.«

»Ich wünschte, es wäre so einfach.«

»Nennen wir es doch einfach einen Feierabenddrink. Wir treffen uns in der Bar, und wenn alles gut läuft, gehen wir nach oben auf mein Zimmer und unterhalten uns dort ungestört.«

»Ich kann nicht mit Ihnen auf Ihr Zimmer gehen. Das verstößt gegen unsere Vorschriften. So etwas ist erst zulässig, nachdem eine Beschwerde eingereicht wurde, und falls ein Gespräch unter vier Augen notwendig ist. Jemand muss wissen, wo ich bin, zumindest am Anfang.«

»Na gut, meinetwegen. Um wie viel Uhr?«

»Wie wäre es mit achtzehn Uhr?«

»Ich werde ganz hinten in der Ecke sitzen, auf der rechten Seite, und ich werde allein sein, genau wie Sie. Keine versteckten Mikrofone oder Kameras, keine Aufnahmegeräte, keine Kollegen, die so tun, als würden sie etwas trinken, und dabei heimlich filmen. Und grüßen Sie Darren von mir. Vielleicht lernen wir uns ja eines Tages kennen. Abgemacht?«

»Abgemacht.«

»Okay. Sie können jetzt gehen.«

Während Lacy wieder in ihr Büro hinüberging, musste sie sich eingestehen, dass sie bei einem Erstgespräch noch nie so einen kräftigen Tritt in den Hintern bekommen hatte.

Lacy schob das Farbfoto über Darrens Schreibtisch. »Gute Arbeit. Wir sind aufgeflogen. Sie kennt unsere Namen und unsere Gesichter. Sie hat mir dieses Foto gegeben und gesagt, es sei erheblich besser als die Aufnahmen, die du mit deinem Laptop gemacht hast.«

Darren nahm das Foto und hielt es hoch. »Sie hat recht.«

»Hast du eine Ahnung, wer sie ist?«

»Nein. Ich habe ihr Gesicht durch unsere Software laufen lassen und keinen Treffer bekommen. Was, wie du weißt, nicht viel zu bedeuten hat.«

»Es bedeutet, dass sie in den letzten sechs Jahren nicht von der Polizei in Florida festgenommen wurde. Kannst du das FBI um Hilfe bitten?«

»Vermutlich nicht. Die Jungs brauchen einen Grund, und da ich nichts über die Frau weiß, kann ich ihnen keinen geben. Darf ich dich mal etwas Offensichtliches fragen?«

»Aber natürlich.«

»Das BJC ist doch eine Ermittlungsbehörde, richtig?«

»Eigentlich schon.«

»Warum stellen wir dann unsere Fotos und Bios auf eine ziemlich dumme Website?«

»Frag die Chefin.«

»Wir haben keine Chefin. Wir haben eine karrieresüchtige Bürokratin, die weg sein wird, bevor wir sie vermissen können.«

»Vermutlich. Darren, diese Diskussion hatten wir schon so oft. Wir wollen nicht, dass unsere Gesichter auf irgendeiner Seite des BJC im Internet zu sehen sind. Deshalb habe ich seit fünf Jahren kein neues Foto von mir hochgeladen. Ich sehe immer noch aus wie vierunddreißig.«

»Ich würde sagen einunddreißig, aber ich bin voreingenommen.«

»Danke, Darren.«

»Es ist ja auch nicht weiter schlimm. Wir haben es schließlich nicht mit Mördern und Drogenhändlern zu tun.«

»Stimmt.«

»Worüber will sich unsere große Unbekannte eigentlich beschweren?«

»Ich weiß es noch nicht. Jedenfalls danke für deine Unterstützung.«

»Hat ja viel gebracht.«

2

Die Lobby des Ramada nahm einen großen Teil des gewaltigen Lichthofs des Hotels ein. Um achtzehn Uhr wimmelte es in der chromblitzenden Bar nur so von Lobbyisten in dunklen Anzügen, die auf der Jagd nach attraktiven Sekretärinnen aus den umliegenden Behörden waren, und die meisten Tische waren besetzt. Fünf Blocks weiter tagte Floridas Legislative im State Capitol, und in sämtlichen Bars der Innenstadt drängten sich wichtige Leute, die über Politik redeten und nach Geld und Sex suchten.

Lacy betrat die Bar, wurde von den männlichen Anwesenden mit abschätzenden Blicken bedacht und ging nach rechts in den hinteren Teil, wo Margie allein an einem kleinen Tisch in einer Ecke saß, ein Glas Wasser vor sich. »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie, während Lacy sich setzte.

»Gerne. Kennen Sie die Bar?«

»Nein, ich bin zum ersten Mal hier. Scheint sehr beliebt zu sein.«

»Zu dieser Zeit des Jahres schon. Wenn der Karneval vorbei ist, wird es ruhiger.«

»Der Karneval?«

»Die Legislaturperiode. Januar bis März. Schließt den Alkohol weg. Versteckt Frauen und Kinder. Sie wissen schon.«

»Tut mir leid, das sagt mir nichts.«

»Dann sind Sie also nicht von hier?«

»Nein.«

Eine gehetzt wirkende Kellnerin blieb an ihrem Tisch stehen und fragte, ob sie etwas trinken wollten, während sie einen missbilligenden Blick auf das Glas Wasser warf. Es war klar, was sie damit ausdrücken wollte: Mädels, der Laden ist voll, und ich kann euren Tisch auch jemandem geben, der Alkohol bestellt.

»Ein Glas Pinot Grigio«, sagte Lacy.

»Für mich auch, bitte«, fügte Margie schnell hinzu. Die Kellnerin eilte davon.

Lacy sah sich um, weil sie sicher sein wollte, dass niemand ihr Gespräch belauschen konnte. Es war unmöglich. Die Tische standen weit genug voneinander entfernt, und das laute Stimmengewirr an der Theke übertönte alles andere.

»Sie sind nicht von hier, und Ihren richtigen Namen kenne ich nicht«, stellte Lacy fest. »Ich würde sagen, wir kommen nur langsam voran, was ich gewohnt bin. Aber ich habe Ihnen, glaube ich, bereits gesagt, dass ich eine Menge Zeit mit Leuten verschwende, die mit mir Kontakt aufnehmen und dann den Mund nicht mehr aufbekommen, wenn sie auspacken sollen.«

»Was möchten Sie als Erstes wissen?«

»Wie wär’s mit Ihrem richtigen Namen?«

»Das ginge.«

»Großartig.«

»Aber ich würde gern wissen, was Sie mit meinem Namen machen. Legen Sie eine Akte an? Ist es eine digitale Akte oder eine altmodische in Papierform? Wenn sie digital ist: Wo wird sie gespeichert? Wer außer Ihnen wird meinen Namen kennen?«

Lacy schluckte und starrte Margie an, die ihrem Blick nicht standhielt und die Augen niederschlug.

»Sie sind nervös und verhalten sich, als würden Sie beschattet werden«, stellte Lacy fest.

»Ich werde nicht beschattet, aber alles hinterlässt eine Spur.«

»Eine Spur, der jemand folgen kann. Ist dieser Jemand der Richter, den Sie des Mordes verdächtigen? Margie, Sie müssen mir schon mehr verraten. Ich brauche etwas. Irgendetwas.«

»Alles hinterlässt eine Spur.«

»Das sagten Sie bereits.«

Die Kellnerin hastete vorbei und blieb nur so lange stehen, bis sie zwei Gläser Wein und ein Schälchen mit Nüssen auf den Tisch gestellt hatte.

Margie ignorierte den Wein, doch Lacy trank einen Schluck. »Wir kommen also wegen der Sache mit Ihrem Namen nicht weiter. Gut, ich werde ihn mir aufschreiben und fürs Erste aus dem System heraushalten«, versprach sie.

Margie nickte und wurde jemand anders. »Jeri Crosby, sechsundvierzig, Professorin für Politikwissenschaft an der University of South Alabama in Mobile. Eine Ehe, eine Scheidung, ein Kind. Eine Tochter.«

»Danke. Und Sie glauben, Ihr Vater wurde von einem Richter ermordet, der sein Amt in Florida ausübt. Richtig?«

»Ja.«

»In diesem Fall kommen etwa tausend Personen infrage.«

»Er ist Richter im 22. Bezirk.«

»Großartig. Jetzt sind es nur noch ungefähr vierzig. Wann bekomme ich den Namen Ihres Verdächtigen?«

»Sehr bald. Könnten wir etwas langsamer machen? Zurzeit braucht es nicht viel, um mich aus dem Konzept zu bringen.«

»Sie haben Ihren Wein noch nicht angerührt. Vielleicht hilft er ja.«

Jeri trank einen Schluck und atmete tief durch. »Sie dürften um die vierzig sein«, sagte sie dann.

»Fast. Neununddreißig, es wird also nicht mehr lange dauern, bis ich vierzig werde. Traumatisches Ereignis?«

»Ich glaube schon. Aber das Leben geht weiter. Vor zweiundzwanzig Jahren waren Sie auf der Highschool, richtig?«

»Vermutlich ja. Warum ist das wichtig?«

»Lacy, lassen Sie mich einfach reden, okay? Wir machen Fortschritte. Sie waren noch ein Teenager und haben vermutlich nie etwas über den Mord an Bryan Burke gelesen. Ein Juraprofessor im Ruhestand.«

»Sagt mir gar nichts. Ihr Vater?«

»Ja.«

»Tut mir leid.«

»Danke. Mein Vater hat fast dreißig Jahre an der juristischen Fakultät der Stetson University in Gulfport, Florida, unterrichtet, im Raum Tampa.«

»Ich kenne die Fakultät.«

»Mit sechzig ist er aus familiären Gründen in den Ruhestand gegangen und in seine Heimatstadt in South Carolina zurückgekehrt. Ich habe eine dicke Akte über meinen Vater angelegt, die ich Ihnen irgendwann einmal geben werde. Er war ein bemerkenswerter Mann. Sein Tod war ein schwerer Schlag für uns, und ehrlich gesagt habe ich ihn bis heute nicht verwunden. Wenn ein Elternteil früh stirbt, ist das schon schlimm genug, aber bei einem Mord, und zudem einem ungelösten, sind die Folgen sogar noch verheerender. Zweiundzwanzig Jahre später ist der Fall immer noch nicht aufgeklärt, und die Polizei hat quasi aufgegeben. Als uns klar wurde, dass die Ermittlungen nicht vorankommen, habe ich geschworen, alles zu versuchen, um den Mörder meines Vaters zu finden.«

»Die Polizei hat aufgegeben?«

Margie trank einen Schluck Wein. »Mit der Zeit, ja. Der Fall ist noch offen, und gelegentlich rede ich mit einem von den Cops. Ich mache ihnen keinen Vorwurf. Unter den gegebenen Umständen haben sie ihr Möglichstes getan, aber es war ein perfekter Mord. Alle seine Morde sind perfekt.«

Lacy griff nach ihrem Glas. »Perfekt?«

»Ja. Keine Zeugen. Keine Spuren oder zumindest keine, die einen Hinweis auf den Mörder geben. Kein erkennbares Motiv.«

Und was soll ich dann bitte tun?, hätte Lacy fast gefragt. Stattdessen nippte sie an ihrem Weinglas. »Ich bin mir nicht sicher, ob das BJC über die Möglichkeiten verfügt, in einem alten Mordfall in South Carolina zu ermitteln.«

»Darum bitte ich Sie doch gar nicht. Ihre Behörde ist zuständig für Richter in Florida, denen Fehlverhalten vorgeworfen wird, richtig?«

»Richtig.«

»Und Mord gehört dazu?«

»Ich glaube schon, aber bis jetzt hatten wir es noch nie mit einem solchen Fall zu tun. Das ist weitaus ernster und dürfte eher etwas für die State Police sein, vielleicht auch für das FBI.«

»Die State Police hat es versucht. Das FBI hat aus zwei Gründen kein Interesse. Erstens, es liegt kein Verstoß gegen Bundesrecht vor. Zweitens, es gibt keine Beweise dafür, dass die Morde zusammenhängen. Das FBI weiß also nicht, dass wir es hier mit einem Serienmörder zu tun haben. Außer mir weiß das vermutlich niemand.«

»Sie haben das FBI kontaktiert?«

»Schon vor Jahren. Als Familie des Opfers haben wir jede Möglichkeit ausgeschöpft. Es hat nichts gebracht.«

Lacy trank noch einen Schluck. »Sie machen mich nervös, daher sollten wir alles noch einmal ganz langsam durchgehen. Sie glauben also, dass ein amtierender Richter vor zweiundzwanzig Jahren Ihren Vater umgebracht hat. War der Richter zum Zeitpunkt des Mordes bereits im Amt?«

»Nein. Er wurde 2004 gewählt.«

Lacy dachte darüber nach und schaute sich um. Ein Mann am Nebentisch, der vermutlich Lobbyist war, sah zu ihr herüber, mit der anzüglichen Aufdringlichkeit, die im Umfeld des State Capitol häufig vorkam. Sie starrte ihn so lange an, bis er den Blick abwandte, dann beugte sie sich vor. »Es wäre mir lieber, wenn wir uns woanders unterhalten könnten. Hier wird es zu voll.«

»Ich habe einen kleinen Konferenzraum hier im Hotel reserviert«, sagte Jeri. »Ich verspreche Ihnen, dass Sie dort sicher sind. Falls ich gewalttätig werden sollte, können Sie schreien und weglaufen.«

»Das dürfte in Ordnung gehen.«

Jeri übernahm die Rechnung für den Wein, dann verließen sie die Bar und die Lobby und nahmen den Aufzug ins Zwischengeschoss mit den Banketträumen, wo Jeri ein kleines Konferenzzimmer aufschloss, eines von vielen. Auf dem Tisch lagen mehrere Aktenhefter.

Die beiden Frauen setzten sich einander gegenüber an den Tisch, die Hefter in Reichweite zwischen sich. Abgesehen davon befand sich nichts vor ihnen. Keine Laptops. Keine Notizblöcke. Die Mobiltelefone steckten noch in den Handtaschen. Jeri war sichtlich entspannter als unten in der Bar. »Wir unterhalten uns einfach, inoffiziell, ohne Notizen. Zumindest fürs Erste«, sagte sie. »1990 gab mein Vater, Bryan Burke, seine Lehrtätigkeit an der Stetson University auf. Er hatte dort fast dreißig Jahre unterrichtet und war eine Legende, ein bei allen beliebter Professor. Er und meine Mutter beschlossen, nach Gaffney in South Carolina zu ziehen, wo sie aufgewachsen waren. Dort lebte der größte Teil ihrer Familien, und sie hatten ein Grundstück in der Gegend geerbt. Sie bauten ein wunderschönes kleines Haus im Wald und legten einen Garten an. Meine Großmutter mütterlicherseits zog zu ihnen. Alles in allem war es ein angenehmer Ruhestand. Sie hatten keine finanziellen Probleme, waren bei recht guter Gesundheit und engagierten sich in der Kirchengemeinde. Mein Vater las sehr viel, schrieb Artikel für juristische Fachzeitschriften, pflegte alte Freundschaften, schloss ein paar neue in der Stadt. Und dann wurde er ermordet.«

Jeri nahm einen der Hefter, blau, Format A4, etwa drei Zentimeter dick, genau wie die anderen. »Ich habe Artikel über meinen Vater, seine Karriere und seinen Tod gesammelt«, erklärte sie, während sie die Akte über den Tisch schob. »Einige sind in Zeitungen erschienen, ein paar stammen aus dem Internet, aber ich habe nichts von dem Material online gespeichert.«

Lacy ließ den Hefter liegen.

»Hinter dem gelben Trennstreifen finden Sie ein Foto meines Vaters vom Tatort. Ich habe es schon mehrmals gesehen und möchte mir den Anblick lieber ersparen. Schauen Sie es sich an.«

Lacy schlug die Akte an der markierten Stelle auf und starrte das vergrößerte Farbfoto an. Das Opfer lag zwischen Unkraut auf dem Boden, um den Hals ein Stück Seil, das fest angezogen war und sich in seine Haut grub. Es schien aus Nylon zu bestehen, war blau und mit Flecken aus getrocknetem Blut überzogen. Im Nacken war es mit einem dicken Knoten abgebunden.

Lacy klappte den Hefter zu. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie.

»Wissen Sie, es ist komisch. Nach zweiundzwanzig Jahren habe ich gelernt, mit dem Schmerz zu leben und ihn zu unterdrücken, was in der Regel auch funktioniert, wenn ich mir Mühe gebe. Aber wenn ich nicht aufpasse, kommen die Erinnerungen zurück. Im Moment bin ich okay. Im Moment geht es mir richtig gut, weil ich mit Ihnen rede und etwas dagegen tue. Sie haben keine Ahnung, wie viele Stunden es gedauert hat, bis ich so weit war, dass ich hierherkommen konnte. Das ist alles so schwer, so schrecklich für mich.«

»Könnten wir vielleicht über das Verbrechen selbst reden?«

Jeri holte tief Luft. »Ja, sicher. Mein Vater hat gern lange Spaziergänge durch den Wald hinter dem Haus gemacht. Meine Mutter hat ihn oft begleitet, aber sie hatte Arthritis. An einem schönen Frühlingsmorgen 1992 hat er sich mit einem Kuss von ihr verabschiedet, seinen Gehstock genommen und ist aufgebrochen. Die Obduktion hat später ergeben, dass er durch Ersticken gestorben ist, aber es wurde auch eine Kopfverletzung festgestellt. Die Vermutung lag nahe, dass er unterwegs jemandem begegnet ist, der ihm einen Schlag auf den Kopf versetzt hat, wodurch er das Bewusstsein verloren hat. Dann hat dieser Jemand meinen Vater mit dem Nylonseil erdrosselt. Er ist vom Weg in einen Graben geschleppt worden, wo er am späten Nachmittag gefunden wurde. Am Tatort wurden keine Spuren entdeckt – kein stumpfer Gegenstand, keine Schuh- oder Stiefelabdrücke. Der Boden war trocken. Keine Anzeichen für einen Kampf, keine vom Täter zurückgelassenen Haare oder Fasern. Nichts. Das Seil wurde von mehreren kriminaltechnischen Laboren untersucht und hat keinerlei Hinweise geliefert. Eine Beschreibung davon ist in der Akte. Das Haus ist nicht weit von der Stadt entfernt, liegt aber ziemlich abgelegen, es gab keine Zeugen und nichts, was ungewöhnlich gewesen wäre. Kein Pkw oder Pick-up mit Kennzeichen aus einem anderen Bundesstaat. Keine Fremden, die in der Nähe herumgeschlichen sind. Dort sind viele Stellen, an denen man parken und sich heimlich heranschleichen und dann ohne eine Spur wieder verschwinden kann. In zweiundzwanzig Jahren hat sich nichts Neues ergeben, Lacy. Der Fall ist nach wie vor ungelöst. Und inzwischen haben wir uns damit abgefunden, dass dieses Verbrechen nie aufgeklärt werden wird.«

»Wir?«

»Na ja, eigentlich ich. Meine Mutter ist zwei Jahre nach meinem Vater gestorben. Sie ist nie über seinen Tod hinweggekommen und hat dann rapide abgebaut. Ich habe einen älteren Bruder in Kalifornien, der mich einige Jahre bei meinen Recherchen unterstützt hat, bis er das Interesse verloren hat. Wir reden hin und wieder miteinander, erwähnen unseren Vater aber nur selten. Ich bin also auf mich allein gestellt. Es ist ganz schön einsam da draußen.«

»Klingt furchtbar. Und es scheint mir ein langer Weg zu sein von einem Tatort in South Carolina bis zu einem Gericht im Florida Panhandle. Wie sieht der Zusammenhang aus?«

»Es gibt wirklich nicht viel, was ich Ihnen dazu sagen kann. Nur ein paar Spekulationen.«

»Wenn Sie nur Spekulationen hätten, wären Sie nie so weit gekommen. Was ist mit dem Motiv?«

»Ein Motiv ist alles, was ich habe.«

»Haben Sie vor, es mir zu verraten?«

»Immer mit der Ruhe, Lacy. Sie haben ja keine Ahnung. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich hier sitze und jemanden des Mordes beschuldige, ohne auch nur einen einzigen Beweis dafür zu haben.«

»Jeri, Sie beschuldigen niemanden. Sie haben einen möglichen Tatverdächtigen, andernfalls wären Sie gar nicht hier. Sie sagen mir seinen Namen, den ich für mich behalten werde. So lange, bis Sie mir erlauben, ihn weiterzugeben, okay? Alles klar?«

»Ja.«

»Zurück zum Motiv.«

»Das Motiv hat mich von Anfang an verwirrt. Ich habe niemanden im Umfeld meines Vaters gefunden, der etwas gegen ihn hatte. Er war Akademiker, bekam ein gutes Gehalt und hat sein Geld immer gespart. Er hat nie dubiose Geschäfte gemacht, nie in Grundstücke oder dergleichen investiert. Bauunternehmer und Spekulanten hat er geradezu verachtet. Einige seiner Kollegen, Juraprofessoren wie er, hatten mit Aktien oder Immobiliengeschäften Geld verloren, wofür er wenig Verständnis aufbrachte. Es gab keine Unternehmensbeteiligungen, keine Partner, keine Joint Ventures, nichts, was in der Regel für Konflikte und Feinde sorgt. Er hasste Schulden und zahlte seine Rechnungen immer pünktlich. Soweit wir wissen, war er seiner Frau treu und liebte seine Familie. Wenn Sie Bryan Burke gekannt hätten, hätten Sie es mit Sicherheit für unmöglich gehalten, dass er seine Frau betrügt. Sein Arbeitgeber, die Stetson University, hat ihn immer fair behandelt, und seine Studenten haben ihn bewundert. In den dreißig Jahren seiner Lehrtätigkeit wurde er vier Mal zum besten Juraprofessor der Universität gewählt. Eine Beförderung zum Dekan hat er wiederholt abgelehnt, weil er die Lehre für die höchste Berufung hielt und nicht mit Unterrichten aufhören wollte. Er war nicht perfekt, Lacy, aber er war verdammt nah dran.«

»Ich wünschte, ich hätte ihn gekannt.«

»Er war ein charmanter, sehr netter Mann, der meines Wissens keine Feinde hatte. Es war kein Raubüberfall, denn seine Brieftasche hatte er zu Hause gelassen, und an seiner Leiche fehlte nichts. Ein Unfall war es mit Sicherheit auch nicht. Deshalb stand die Polizei von Anfang an vor einem Rätsel.«

»Aber.«

»Aber. Da könnte noch mehr sein. Ich habe Durst. Sie auch?«

Lacy schüttelte den Kopf. Jeri ging zu einem Sideboard, nahm sich Eiswasser aus einem Krug und setzte sich wieder. Nachdem sie tief Luft geholt hatte, fuhr sie fort: »Wie ich schon sagte, unterrichtete mein Vater leidenschaftlich gern. Für ihn war es eine Art Auftritt, mit ihm als dem einzigen Schauspieler auf der Bühne. Er musste immer alles unter Kontrolle haben, die Umgebung, sein Material und ganz besonders seine Studenten. Im ersten Stock der juristischen Fakultät gibt es einen Raum, der jahrzehntelang seine Domäne war. Inzwischen hängt eine Gedenktafel dort, und der Raum wurde nach ihm benannt. Es ist ein kleiner Hörsaal mit achtzig Plätzen, die halbkreisförmig angeordnet sind, und jeder seiner Auftritte war ausverkauft. Seine Vorlesungen über Verfassungsrecht waren mitreißend, anspruchsvoll, oft auch lustig. Er hatte viel Humor. Für Verfassungsrecht wollten alle Studenten zu Professor Burke – er hasste es, Dr. Burke genannt zu werden –, und die, die es nicht in sein Seminar geschafft hatten, besuchten seine Vorlesungen oft als Gasthörer. Es war nichts Ungewöhnliches, dass sich Gastdozenten, Dekane, Absolventen und andere ehemalige Studenten in den Saal setzten, häufig auf Klappstühlen ganz hinten oder in den Gängen zwischen den Plätzen. Auch der Rektor der Universität, selbst Anwalt, kam regelmäßig. Sie verstehen, was ich damit sagen will?«

»Ja, und ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich denke mit Grausen an mein Seminar in Verfassungsrecht zurück.«

»Das scheint der Normalfall zu sein. Die achtzig Studenten, die er für sein Seminar zuließ, waren alle im ersten Jahr und wussten, dass er von ihnen erwartete, gut vorbereitet zu sein und sich ausdrücken zu können.«

Jeri schossen wieder Tränen in die Augen, als sie an ihren Vater dachte. Lacy nickte lächelnd und bewegte sie zum Weitersprechen.

»Mein Vater unterrichtete leidenschaftlich gern und war Anhänger des sokratischen Dialogs, bei dem er zufällig einen Studenten oder eine Studentin auswählte und ihn oder sie darum bat, vor allen anderen einen Fall zu erläutern. Wenn jemand einen Fehler machte oder seine Position nicht verteidigen konnte, gab es häufig kontroverse Diskussionen. Im Lauf der Jahre habe ich mich mit vielen seiner ehemaligen Studenten unterhalten, und obwohl alle mit größter Hochachtung von ihm sprechen, werden sie bei dem Gedanken daran, mit Professor Burke über Verfassungsrecht zu streiten, immer noch blass. Er wurde gefürchtet, aber letztendlich sehr bewundert. Alle waren geschockt von dem Mord. Keiner wäre auf die Idee gekommen, dass irgendjemand ein Interesse daran haben könnte, ihn zu töten.«

»Sie haben mit ehemaligen Studenten gesprochen?«

»Ja. Unter dem Vorwand, Anekdoten über meinen Vater zu sammeln, für ein Buch über ihn. Das mache ich schon seit Jahren. Das Buch wird nie geschrieben werden, aber es ist eine großartige Möglichkeit, um ein Gespräch zu beginnen. Man behauptet einfach, an einem Buch zu arbeiten, und schon fangen die Leute an zu reden. Ich habe mindestens zwei Dutzend Fotos, die mir ehemalige Studenten geschickt haben. Mein Vater bei der Abschlussfeier. Mein Vater, der bei einem Softballturnier der Uni Bier trinkt. Mein Vater, der bei einem Scheingericht auf der Richterbank sitzt. Alles Momentaufnahmen des College-Lebens. Sie haben ihn alle sehr gemocht.«

»Ich bin sicher, dass Sie eine Akte dazu haben.«

»Natürlich. Nicht hier, aber ich zeige Sie Ihnen gern.«

»Vielleicht später einmal. Wir haben gerade über das Motiv gesprochen.«

»Richtig. Vor vielen Jahren habe ich mich mit einem Anwalt in Orlando unterhalten, der bei meinem Vater studiert hat. Er hat mir eine interessante Geschichte erzählt. In seinem Jahrgang gab es einen Studenten, der bestenfalls Durchschnitt war, nichts Besonderes also. Eines Tages wurde dieser Student von meinem Vater gebeten, einen Fall zu diskutieren, bei dem es um den Vierten Verfassungszusatz ging, Durchsuchungen und Beschlagnahmungen. Der Junge war vorbereitet, aber er hatte eine gänzlich andere Meinung dazu als mein Vater, was zu einer ziemlich heftigen Auseinandersetzung führte. Mein Vater fand es großartig, wenn Studenten engagiert diskutierten und ihm Kontra gaben. Doch dieser Student machte ein paar Bemerkungen, die etwas extrem waren und zu weit gingen, außerdem wirkte er bei dem Schlagabtausch frech und anmaßend. Mein Vater schaffte es, die Diskussion mit einem Witz zu Ende zu bringen. Bei der nächsten Vorlesung dachte der Student vermutlich, dass er für eine Weile Ruhe haben würde, und kam unvorbereitet. Mein Vater nahm ihn wieder dran. Der Versuch zu improvisieren war eine unverzeihliche Sünde, und der Student blamierte sich bis auf die Knochen. Zwei Tage später kam er zum dritten Mal dran. Er hatte sich vorbereitet und war auf einen Kampf aus. Es ging hin und her, während mein Vater ihn langsam in die Ecke drängte. Es ist nicht sehr klug, mit einem Professor zu streiten, der jahrelang denselben Stoff gelehrt hat, aber der Junge war arrogant und selbstsicher. Der K.-o.-Schlag war eine kurze, witzige Bemerkung, die sämtliche Argumente von ihm widerlegte und stürmischen Beifall auslöste. Er war gedemütigt und verlor die Beherrschung. Er fluchte, warf seinen Notizblock auf den Boden, packte seinen Rucksack und stürmte aus dem Hörsaal.

Und dann sagte mein Vater mit perfektem Timing: ›Ich glaube nicht, dass er mit Geschworenen zurechtkommen wird.‹

Alle brüllten vor Lachen, so laut, dass es der Student mit Sicherheit gehört hat. Er brach das Seminar ab und startete einen Gegenangriff, indem er sich beim Dekan und beim Rektor beschwerte. Er war der Meinung, dass er lächerlich gemacht worden sei, und gab sein Jurastudium an der Stetson University auf. Er schrieb Briefe an Absolventen, Politiker, andere Professoren, ein sehr seltsames Verhalten. Auch mein Vater erhielt Briefe von ihm. Sie waren bemerkenswert gut formuliert, aber weitschweifig und nicht wirklich bedrohlich. Der letzte kam aus einer psychiatrischen Privatklinik in der Nähe von Fort Lauderdale und war mit der Hand auf dem Briefpapier der Einrichtung geschrieben. Darin behauptete der Junge, einen Nervenzusammenbruch erlitten zu haben, der ausschließlich die Schuld meines Vater sei.« Sie hielt inne und trank einen Schluck Wasser.

Lacy wartete. »Das ist alles? Das Motiv ist ein gekränkter Jurastudent?«, fragte sie schließlich.

»Ja, aber es ist noch erheblich komplizierter.«

»Das hoffe ich. Was ist aus ihm geworden?«

»Er hat sich wieder gefangen und sein Jurastudium in Miami abgeschlossen. Inzwischen ist er Richter. Lacy, ich weiß, dass Sie Zweifel haben, und das aus gutem Grund, aber er ist der einzig mögliche Verdächtige.«

»Warum ist es komplizierter?«

Jeri starrte die Aktenhefter am anderen Ende des Tisches an. Es waren fünf, alle knapp drei Zentimeter dick, jeder in einer anderen Farbe. Lacy folgte ihrem Blick, und plötzlich wurde ihr klar, was es mit den Heftern auf sich hatte. »Sind das fünf weitere Opfer ein und desselben Täters?«, fragte sie.

»Wenn ich das nicht glauben würde, wäre ich nicht hier.«

»Sicher gibt es eine Verbindung?«

»Zwei. Zum einen die Methode. Alle sechs wurden von einem Schlag am Kopf getroffen und dann mit der gleichen Art von Nylonseil erdrosselt. Die Schlinge war so fest zugezogen, dass sie sich tief in die Haut am Hals eingeschnürt hat. Sie war immer mit dem gleichen Knoten abgebunden und zurückgelassen worden, als eine Art Visitenkarte. Zum anderen hatten alle sechs Opfer irgendwann einmal eine unschöne Begegnung mit dem Richter.«

»Eine unschöne Begegnung?«

»Er hat alle gekannt. Und jahrelang gestalkt.«

Lacy stockte der Atem. Sie schluckte schwer und spürte, wie sich ihr Magen vor Angst verkrampfte. »Sagen Sie mir auf keinen Fall seinen Namen. Ich glaube nicht, dass ich schon so weit bin«, brachte sie heraus, obwohl ihr Mund plötzlich staubtrocken war.

Das Gespräch geriet ins Stocken, und beide Frauen starrten eine Weile die Wand an. »Für heute habe ich genug gehört. Lassen Sie mich eine Weile darüber nachdenken. Ich rufe Sie an«, sagte Lacy schließlich.

Jeri lächelte, nickte und wurde mit einem Mal recht einsilbig. Sie gaben sich ihre Handynummern und verabschiedeten sich. Lacy rannte fast durch die Lobby des Hotels und konnte es kaum erwarten, zu ihrem Auto zu kommen.

3

Lacy wohnte in einem schicken, ultramodernen Apartment in einem umgebauten Lagerhaus unweit der Florida State University. Sie lebte allein, jedenfalls die meiste Zeit, abgesehen von Frankie, ihrer schlecht erzogenen Französischen Bulldogge. Der Hund wartete immer an der Tür und überschlug sich fast vor Aufregung, weil er in den Blumenbeeten das Bein heben wollte, egal, wie spät es war. Lacy ließ ihn nach draußen, damit er pinkeln konnte, dann goss sie sich ein Glas Wein ein, streckte sich auf dem Sofa aus und starrte durch die große Glasfront.

Es war Anfang März, die Tage wurden länger, waren aber immer noch zu kurz. Lacy war im Mittleren Westen aufgewachsen und vermisste die kalten, dunklen Winter mit zu viel Schnee und zu wenig Sonne überhaupt nicht. Sie liebte den Panhandle mit seinen milden Wintern, ausgeprägten Jahreszeiten und warmen Frühlingstagen. In zwei Wochen wurde auf Sommerzeit umgestellt, dann würde es länger hell bleiben und in der Universitätsstadt würde noch mehr los sein – Grillfeste, Pool-Partys, Cocktails auf Dachterrassen und Abendessen im Außenbereich der Restaurants. Das war für die Erwachsenen. Die Studenten würden viel Zeit in der Sonne und am Strand verbringen und an ihrer Bräune arbeiten.

Sechs Morde.

Lacy ermittelte seit zwölf Jahren gegen Richter und war der Meinung, dass es nichts mehr gab, was sie schockieren konnte. Außerdem war sie einiges gewohnt und abgebrüht genug, um ernsthafte Zweifel an Jeris Geschichte zu haben, wie bei jeder Beschwerde, die auf ihrem Schreibtisch landete.

Aber Jeri Crosby log nicht.

Ihre Theorien waren vielleicht falsch, ihre Vermutungen zu weit hergeholt, ihre Ängste unbegründet. Doch sie war fest davon überzeugt, dass ihr Vater von einem amtierenden Richter ermordet worden war.

Lacy hatte die Besprechung im Ramada mit leeren Händen verlassen. Den Aktenhefter, in den sie einen Blick geworfen hatte, hatte sie im Hotel zurückgelassen. Schließlich wurde sie neugierig. Sie warf einen Blick auf ihr Handy und stellte fest, dass sie zwei Anrufe von Allie Pacheco, ihrem Freund, verpasst hatte. Er war beruflich unterwegs, sie würde später mit ihm reden. Sie holte ihren Laptop und begann zu suchen.

Der 22. Gerichtsbezirk bestand aus drei Countys in der nordwestlichen Ecke Floridas. Unter den etwa vierhunderttausend Einwohnern im 22. gab es einundvierzig Bezirksrichter, die von eben jener Bevölkerung gewählt worden waren. Lacy konnte sich nur an zwei oder drei kleinere Fälle aus dem 22. erinnern, die sie in ihren zwölf Jahren beim BJC bearbeitet hatte. Jeri hatte gesagt, dass ihr Verdächtiger seit 2004 im Amt sei. In diesem Jahr waren fünfzehn der einundvierzig Richter gewählt worden, und von diesen fünfzehn hatte nur einer das Jurastudium an der University of Miami absolviert.

In weniger als zehn Minuten hatte Lacy den Namen herausgefunden: Ross Bannick.

Er war neunundvierzig, Geburtsort Pensacola, Bachelorabschluss an der University of Florida, Ehefrau oder Familie wurden nicht erwähnt. Knappe Biografie auf der Website des Gerichtsbezirks. Sein Foto zeigte einen recht gut aussehenden Mann mit dunklen Augen, markantem Kinn und vollen, grau melierten Haaren. Lacy fand ihn ziemlich attraktiv und fragte sich, warum er nicht verheiratet war. Vielleicht war er geschieden. Sie suchte noch eine Weile, kam aber nicht richtig weiter. Über Richter Bannick war nicht viel zu finden. Allem Anschein nach war es ihm während seiner zweieinhalb Amtszeiten gelungen, sämtlichen Kontroversen aus dem Weg zu gehen. Sie warf einen Blick in die Datenbank des BJC, fand aber keine Dienstaufsichtsbeschwerde über ihn. In Florida mussten Anwälte jedes Jahr eine Bewertung der Richter abgeben, mit denen sie arbeiteten, anonym natürlich. In den letzten fünf Jahren hatte Bannick stets Bestnoten bekommen und wurde in den höchsten Tönen gelobt: schnell, pünktlich, vorbereitet, höflich, professionell, witzig, mitfühlend, klug, »beeindruckender Intellekt«. Lediglich zwei andere Richter im 22. Bezirk wurden genauso gut bewertet wie er.

Sie grub weiter und fand endlich etwas Negatives. Es war ein Zeitungsartikel aus dem Pensacola Ledger vom 18. April 2000. Ein ortsansässiger Anwalt, Ross Bannick, Alter fünfunddreißig, hatte sich zur Wahl gestellt und versuchte, einem alten Richter im 22. Bezirk das Amt streitig zu machen. Als einer von Bannicks Mandanten, ein Bauunternehmer, einen Wasserpark auf einem Filetgrundstück in der Nähe eines Strandes von Pensacola errichten wollte, löste dies eine heftige Kontroverse aus. Widerstand gegen den Park kam aus allen möglichen Ecken, und mitten in dem Gerichtsverfahren und dem damit verbundenen Wirbel stellte sich heraus, dass Bannick mit zehn Prozent an dem Projekt beteiligt war. Der Sachverhalt war nicht ganz klar, aber es wurde behauptet, dass er versucht habe, sein finanzielles Interesse an dem Geschäft zu verheimlichen. Der Amtsinhaber nutzte die Gunst der Stunde und schaltete Anzeigen, die fatale Folgen hatten. Einer späteren Ausgabe der Zeitung war zu entnehmen, dass Bannick die Wahl haushoch verlor. Aufgrund der dürftigen Beweise ließ es sich nicht mit Sicherheit behaupten, aber es sah so aus, als hätte Bannick nichts Unrechtes getan. Trotzdem musste er eine vernichtende Niederlage hinnehmen.

Lacy fand die Presseberichte über die Wahl von 2004, bei der Bannick erneut angetreten war. Sie entdeckte ein Foto des alten Richters, der aussah wie mindestens neunzig, und zwei Artikel über seine nachlassende Gesundheit. Bannick führte einen routinierten Wahlkampf, seine umstrittene Rolle bei dem Bauprojekt von vor vier Jahren hatte man anscheinend vergessen. Er gewann die Wahl mit einem Vorsprung von tausend Stimmen. Sein Widersacher starb drei Monate später.

Lacy bekam Hunger und holte die Reste einer Quiche aus dem Kühlschrank. Allie war seit drei Tagen unterwegs, und sie hatte sich nicht die Mühe gemacht zu kochen. Sie schenkte Wein nach, setzte sich mit dem Laptop an den Küchentisch und suchte weiter. 2008 stellte sich Bannick ohne Gegenkandidaten zur Wiederwahl. Amtierende Richter mussten in Florida und sämtlichen anderen Bundesstaaten selten mit ernst zu nehmender Opposition rechnen, und ihm schien eine lange Karriere auf der Richterbank bestimmt zu sein.

Als ihr Handy klingelte, zuckte Lacy zusammen. Sie war derart in ihre Arbeit versunken gewesen, dass sie sogar die Quiche neben sich vergessen hatte. Unbekannter Anrufer.

»Wissen Sie schon, wie er heißt?«, fragte Jeri.

Lacy musste lächeln. »Das war nicht gerade schwierig«, erwiderte sie. »Jurastudium in Miami, gewählt 2004 im 22. Bezirk. Es gab nur einen, der infrage kam.«

»Gut aussehender Typ, nicht wahr?«

»Ja. Warum ist er nicht verheiratet?«

»Kommen Sie mir nicht auf dumme Gedanken.«

»Keine Sorge.«

»Mit Frauen hat er ein Problem, das gehört zu seiner Vorgeschichte dazu.«

Lacy holte tief Luft. »Okay. Kennen Sie ihn eigentlich persönlich?«

»Um Himmels willen, nein. Ich halte mich von ihm fern. Er hat überall Sicherheitskameras installieren lassen – in seinem Gerichtssaal, seinem Büro, seinem Haus.«

»Eigenartig.«

»Das dürfte eine Untertreibung sein.«

»Sind Sie gerade im Auto?«

»Ja. Ich bin auf dem Weg nach Pensacola, vielleicht fahre ich auch noch bis Mobile. Könnten wir uns morgen treffen?«

»Wo?«

»Pensacola.«

»Das ist drei Stunden von hier!«

»Wem sagen Sie das.«

»Und warum sollten wir uns dort treffen?«

»Lacy, ich habe nur ein Ziel im Leben, und Sie kennen es bereits.«

»Ich habe viel zu tun morgen.«

»Sie haben jeden Tag viel zu tun, stimmt’s?«

»Leider ja.«

»Okay. Dann werfen Sie bitte einen Blick in Ihren Terminkalender und geben mir Bescheid, wann wir uns in Pensacola treffen können.«

»Okay, ich werde nachsehen.«

In der Leitung blieb es still.

»Sind Sie noch dran?«, fragte Lacy schließlich.

»Ja. Tut mir leid. Manchmal schweifen meine Gedanken ab. Haben Sie viel im Internet gefunden?«

»Einiges. Mehrere Artikel über die Wahlen, alle aus dem Ledger.«

»Auch den von 2000 über das Grundstücksgeschäft und den korrupten Bauunternehmer? Der ihn die Wahl gekostet hat?«

»Ja. Den habe ich gelesen.«

»Ich habe eine Akte mit den Artikeln. Sie können sie haben.«

»Mal sehen.«

»Der Reporter hieß Danny Cleveland, aufgewachsen irgendwo im Norden. Er hat sechs Jahre für den Ledger geschrieben und anschließend für einige andere Blätter gearbeitet. Die Zeitung in Little Rock, Arkansas, war seine letzte Station.«

»Seine letzte Station?«

»Ja. Er wurde tot in seiner Wohnung gefunden. Erdrosselt. Gleiches Seil, gleicher ungewöhnlicher Knoten. Von Seeleuten wird er doppelter Mastwurf genannt, er ist ziemlich selten. Noch ein ungelöstes Rätsel, noch ein ungeklärter Fall.«

Lacy versuchte zu antworten und bemerkte, dass ihre linke Hand zitterte.

»Sind Sie noch dran?«, fragte Jeri.

»Ja. Wann war …«

»2009. Der Täter hat keine Spuren hinterlassen. Lacy, wir telefonieren zu viel miteinander. Ein Gespräch unter vier Augen ist mir lieber. Melden Sie sich, wenn wir uns wieder treffen können.« Sie beendete das Gespräch.

Lacy war seit drei Jahren mit Allie Pacheco liiert und der Meinung, dass ihre Beziehung an einem toten Punkt angelangt war. Er war achtunddreißig und hatte immer noch mit den Folgen seiner ersten Ehe vor elf Jahren zu kämpfen, obwohl er das selbst seinem Therapeuten gegenüber abstritt. Sie hatte vier katastrophale Monate gedauert und war zum Glück ohne Schwangerschaft zu Ende gegangen.

Das größte Hindernis für den nächsten Schritt in ihrer Beziehung war ein Umstand, der immer offensichtlicher wurde: Beide lebten gern allein und genossen die damit verbundenen Freiheiten. Lacy hatte seit der Highschool nicht mehr mit einem Mann zusammengewohnt und kein Interesse daran, sich einen ins Haus zu holen. Sie hatte ihren Vater geliebt, aber als herrschsüchtigen Macho in Erinnerung, der seine Frau wie ein Dienstmädchen behandelt hatte. Ihre unterwürfige Mutter hatte sein Verhalten entschuldigt und immer wieder geflüstert: »Seine Generation ist eben so.«

Es war eine faule Ausrede, und Lacy hatte sie nie akzeptiert. Doch Allie war anders. Er war ein liebenswürdiger, rücksichtsvoller und lustiger Mensch und ihr gegenüber fast immer zuvorkommend. Außerdem war er Special Agent beim FBI und verbrachte gerade den größten Teil seiner Arbeitszeit in Südflorida, wo er Drogenhändler jagte. Wenn nicht so viel los war, was selten vorkam, wurde er der Terrorismusabwehr zugeteilt. Es war sogar die Rede davon, dass er versetzt werden sollte. Nach acht Jahren als Special Agent und unzähligen Belobigungen bestand immer die Gefahr, dass er seinen Marschbefehl bekam. Jedenfalls Lacys Meinung nach.

Allie hatte eine Zahnbürste und einen Rasierapparat in ihrem Gästebad deponiert, dazu Sportbekleidung und ein paar Sachen zum Anziehen in einem Schrank, gerade so viel, dass er bei ihr übernachten konnte, wenn er wollte. Auch Lacy hatte sich in seinem kleinen Apartment eingerichtet, das fünfzehn Minuten von ihr entfernt lag. Ein Schlafanzug, alte Sneaker, eine abgetragene Jeans, eine Zahnbürste und ein paar Modemagazine auf dem Couchtisch im Wohnzimmer. Keiner der beiden war eifersüchtig, doch jeder hatte still und leise sein Revier in der Wohnung des anderen markiert.

Lacy wäre schockiert gewesen, wenn sie herausgefunden hätte, dass Allie sie mit anderen Frauen betrog. Er war einfach nicht der Typ dazu. Da er viel unterwegs war und beide lange Arbeitstage hatten, bestand das Problem eher darin, dass sie kaum Zeit für Sex hatten. Es wurde immer mühsamer und anstrengender, was eine enge Freundin mit den Worten »Du bist eben nicht mehr die Jüngste« kommentierte. Lacy war entsetzt gewesen und hatte im darauffolgenden Monat öfter als sonst bei Allie übernachtet, bis beide erschöpft waren und eine Pause voneinander gebraucht hatten.

Allie rief um 19.30 Uhr an, und sie unterhielten sich kurz. Er war gerade bei einer »Observation«, was immer das auch zu bedeuten hatte, und konnte nicht lange reden. Sie wusste, dass er sich irgendwo in der Nähe von Miami aufhielt. Nachdem beide »ich liebe dich« gesagt hatten, war das Gespräch zu Ende.

Allie war ein erfahrener FBI-Beamter, dem seine Karriere alles bedeutete, und Profi genug, um nicht viel von seiner Arbeit zu erzählen, jedenfalls nicht Lacy gegenüber. Flüchtigen Bekannten nannte er nicht einmal den Namen seines Arbeitsgebers. Wollte es jemand trotzdem wissen, antwortete er immer »Sicherheitsbranche«. Er sprach das Wort mit solchem Nachdruck aus, dass keine weiteren Fragen kamen. Seine Freunde waren ebenfalls FBI-Leute. Doch manchmal, meist nach einem oder zwei Drinks, gab er seine Zurückhaltung auf und sprach mit vagen Formulierungen über seine Arbeit. Sie war häufig gefährlich, und wie die meisten seiner Kollegen fieberte er dem Adrenalinkick bei seinen Einsätzen entgegen.

Lacys Fälle dagegen waren die immer gleichen banalen Beschwerden über Richter, die zu viel tranken, Geschenke von Anwaltskanzleien akzeptierten, Verfahren verschleppten, befangen wirkten oder in die Lokalpolitik verstrickt waren.

Sechs Morde würden mit Sicherheit etwas Abwechslung in ihre Arbeit bringen.

Sie schickte eine E-Mail an ihre Chefin und teilte ihr mit, dass sie morgen etwas erledigen müsse und nicht ins Büro kommen werde. Ihr Arbeitsvertrag sah vor, dass sie sich viermal im Jahr aus persönlichen Gründen einen Tag freinehmen konnte, ohne Rückfragen. Sie nutzte die Regelung nur selten und hatte sogar noch drei dieser Tage vom letzten Jahr übrig.

Dann rief sie Jeri an und vereinbarte für den nächsten Tag, dreizehn Uhr, ein Treffen mit ihr in Pensacola.

4

Wenn Frankie nicht gewesen wäre, hätte Lacy an ihrem freien Tag ausgeschlafen, doch davon konnte sie nur träumen. Der Hund meldete sich schon vor Sonnenaufgang und wollte nach draußen. Anschließend streckte sich Lacy auf dem Sofa aus und versuchte, ein wenig vor sich hin zu dösen, doch Frankie war der Meinung, dass es Zeit für sein Frühstück sei. Also sah Lacy mit einer Tasse Kaffee in der Hand zu, wie der Tag langsam erwachte.

Ihre Gedanken drehten sich um das Treffen mit Jeri, dem sie mit Spannung entgegensah, und um ihre Karriere, die ihr Sorgen bereitete. In sieben Monaten wurde sie vierzig, eine Tatsache, die sie traurig stimmte. Sie genoss das Leben, hatte aber das Gefühl, dass es an ihr vorbeiging, und Heiraten war eigentlich nicht geplant. Sie hatte nie Kinder gewollt und längst beschlossen, dass sie keine bekommen würde. Was für sie kein Problem war. Alle ihre Freunde hatten Kinder, einige sogar schon welche im Teenageralter, und sie war froh darüber, dass ihr diese Herausforderung erspart geblieben war. Sie konnte sich nicht vorstellen, die Geduld aufzubringen, um Kinder im Zeitalter von Mobiltelefonen, Drogen, Gelegenheitssex, sozialen Medien und anderen Ausprägungen des Internets großzuziehen.

Lacy hatte vor zwölf Jahren beim BJC angefangen. Sie hätte schon vor Jahren gehen müssen, so wie praktisch alle Kollegen, die dort gearbeitet hatten. Das BJC war nicht schlecht, wenn man am Anfang seiner Karriere stand, aber eine Sackgasse, wollte man als Anwältin wirklich etwas erreichen. Ihre beste Freundin aus dem Jurastudium war inzwischen Partnerin in einer Großkanzlei in Washington, führte aber ein Leben, das nur aus Arbeit bestand und für Lacy nicht infrage kam. Ihre Freundschaft musste mühsam gepflegt werden, und Lacy fragte sich oft, ob es die Mühe wert war. Zu ihren anderen Freundinnen aus der Studienzeit hatte sie den Kontakt verloren, sie waren überall in den Vereinigten Staaten verstreut und hatten viel zu tun, an ihren Schreibtischen und – wenn dafür noch Zeit blieb – zu Hause bei ihren Familien.

Lacy wusste nicht so genau, wo sie nach einer neuen Stelle suchen sollte oder was sie eigentlich wollte, daher war sie viel zu lange beim BJC geblieben. Und jetzt befürchtete sie, dass sie bessere Karrierechancen verpasst hatte. Ihr wichtigster Fall, der Höhepunkt ihrer bisherigen Arbeit, lag bereits hinter ihr. Vor drei Jahren hatte sie Ermittlungen geleitet, in deren Folge einer Bezirksrichterin Bestechung nachgewiesen wurde. Einer der größten Justizskandale der Geschichte Floridas. Lacy hatte die Richterin der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung überführt, die Millionen von einem indianischen Spielkasino abgezweigt hatte. Sämtliche Beteiligten waren zu langen Gefängnisstrafen verurteilt worden und hatten noch Jahre abzusitzen.

Der Fall hatte für Aufsehen gesorgt und dem BJC für kurze Zeit Ruhm und Ehre verschafft. Die meisten ihrer Kollegen hatten den Erfolg genutzt und sich bessere Jobs gesucht. Die Legislative hatte ihre Dankbarkeit allerdings durch weitere Budgetkürzungen gezeigt.

Lacys größter Fall war sie teuer zu stehen gekommen. Sie war bei einem arrangierten Autounfall in der Nähe des Kasinos schwer verletzt worden und hatte Wochen im Krankenhaus und danach Monate mit Physiotherapie verbracht. Ihre Verletzungen waren verheilt, doch sie hatte immer noch Schmerzen und eine eingeschränkte Beweglichkeit. Hugo Hatch, ihr Freund, Kollege und Beifahrer, war bei dem Unfall ums Leben gekommen. Seine Witwe hatte auf Schadenersatz wegen schuldhaft verursachten Todes eines Menschen geklagt, Lacy ihre eigenen Ansprüche geltend gemacht. Es sah vielversprechend aus, eine Entschädigung in beträchtlicher Höhe war so gut wie garantiert, aber das Verfahren schleppte sich wie die meisten Zivilklagen dahin.

Lacy musste ständig an die Entschädigung denken. Eine Menge Geld war in Reichweite gerückt, das aus der Beschlagnahmung schmutziger Konten und anderer Vermögenswerte durch staatliche Behörden stammte. Doch der Sachverhalt war kompliziert, sowohl straf- als auch zivilrechtlich. Außerdem gab es zahlreiche andere Geschädigte mitsamt ihren hungrigen Anwälten, die lautstark einen Anteil forderten.

Für Lacys Fall war noch kein Prozesstermin festgesetzt, und man hatte ihr von Anfang an versichert, dass er nie vor Gericht landen werde. Ihr Anwalt war zuversichtlich, dass es der Gegenseite davor graute, vor Geschworene zu treten und die detaillierte Planung eines absichtlich herbeigeführten Autounfalls, bei dem Hugo getötet und sie verletzt worden war, mit einer fadenscheinigen Erklärung abzutun. Die Verhandlungen für einen Vergleich sollten bald beginnen, und der zum Auftakt genannte Betrag würde mehr als »siebenstellig« sein.

Vierzig zu werden mochte traumatisch sein, aber ein gut gepolstertes Bankkonto würde dem Geburtstag viel von seinem Schrecken nehmen. Lacy hatte ein ordentliches Gehalt, ein kleines Erbe von ihrer Mutter, keine Schulden und jede Menge Ersparnisse. Das Geld aus der Klage würde ihr die Entscheidung abnehmen und ihr erlauben, einfach zu gehen. Wohin, wusste sie noch nicht, aber es machte Spaß, darüber nachzudenken. Ihre Tage beim BJC waren gezählt, und das an sich genügte, um sie zum Lächeln zu bringen. Es war Zeit für eine neue Karriere, und sie fand es spannend, keine Ahnung zu haben, was als Nächstes kam.