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Neun Schüsse. Vier Tote. Viele Verdächtige. Schüsse zerreißen die Leipziger Nacht in Stötteritz und löschen vier Leben aus – doch der Täter flieht. War es ein Auftragsmord oder eine Verzweiflungstat? Wurde ein V-Mann liquidiert? Starben die anderen zur Ablenkung? Läuft gar einer der Verdächtigen Gefahr, das nächste Opfer zu werden? Und dann gibt es da noch die Spur zu einer jungen Frau, die in die rechte Szene führt. Für Thomas Tiller und sein Team der Mordkommission beginnt eine Suche, die sie tief in ein Labyrinth aus Hass und Rache führt, über die Grenzen Deutschlands hinaus bis in die Straßen Tokyos und die raue Ödnis Islands. Die Zeit rennt. Und die starren Augen der Toten treiben zur Eile …
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Seitenzahl: 192
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Jan Flieger
Der Vierfachmord von Stötteritz
ISBN 978-3-95655-799-6 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 2014 im fhl-Verlag Leipzig.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2017 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
Die Augen hatten einen schrecklich starren Blick; auf was starrten sie denn überhaupt? Sie starrten und starrten – es war nicht auszumachen, wohin.
Carlo Emilio Gadda
›Die grässliche Bescherung in der Via Merulana‹
Dunkle Wolken zogen der Stadt entgegen, die Leipzig heißt, Wolken, deren Schwärze nichts Gutes verhieß, ja, wenn man es genau besah, sogar Bedrohliches, ein Inferno aus Regen und Sturm. Aber noch ehe es über die Stadt hereinbrechen würde, sollte sich etwas anderes ereignen, weitaus Schlimmeres.
Die digitalen Uhren in Leipzig zeigten 23:12 Uhr an und noch wusste niemand in der Kriminalitätshochburg Sachsens, dass im schönen Stadtteil Stötteritz in drei Minuten etwas Furchtbares geschehen würde, ja, für viele Bewohner etwas nahezu Unfassbares.
Viele Gehwege schienen dort leergefegt zu sein, denn das nahende Gewitter vertrieb die Menschen von den Straßen und aus den Freisitzen der Kneipen. Die einzelne Gestalt, die unterwegs war, vermied es offenbar, bemerkt zu werden, denn kam ihr wirklich jemand entgegen, trat sie rasch in das Dunkel eines Hauseinganges, um sich zu verbergen, was aber nur zweimal geschah.
Die Gestalt im schwarzen Jogginganzug trug einen dunklen Plastikbeutel, in dem, verborgen unter einer schwarzen Kutte und einer weißen Gesichtsmaske, eine schussbereite Pistole lag, deren Magazin fünfzehn Patronen enthielt, und die Gestalt glaubte, sie alle abfeuern zu müssen. Sie lief nicht langsam, aber auch nicht schnell, sie war, so konnte man das mit ruhigem Gewissen sagen, der leibhaftige Tod, der zu seinen künftigen Opfern schritt. Denn in drei Minuten, nahe dem Wäldchen, in einem großen Hinterhof, würden mehrere Menschen ihr Leben verlieren, nur war noch nicht klar, wie viele es sein würden. Es konnten sechs sein, sieben, vielleicht sogar acht oder neun, aber die Patronen im Magazin würden in jedem Fall ausreichend sein.
Ein Paar Augen blickte flüchtig zum Himmel hinauf und zu den drohenden Wolken, aber das kommende Gewitter schien wohl noch abzuwarten, wann es beginnen sollte. Die Gestalt war völlig unbeeindruckt von dieser Situation und ihr Gesicht blieb ausdruckslos.
Und weiter feierten fünf Menschen ausgelassen in dem besagten, mit Bäumen bestandenen Innenhof, drei Männer und zwei Frauen, und eine Sängerin, die Andrea Berg hieß, ließ ihre durch Lautsprecherboxen noch verstärkte Stimme von der CD erschallen, ob man sie hören wollte oder nicht. Den Feiernden jedenfalls gefiel sie, die an einem Tisch saßen, auf dem eine weiße Decke lag und mehrere Weinflaschen standen, die, bis auf eine, schon geleert waren. Die Fünf feierten so laut und fröhlich, dass man den Lärm im gesamten Innenhof hören konnte, der umstellt war von vierstöckigen Häusern, die zu vier Straßen gehörten.
Aber der leibhaftige Tod näherte sich schon den Feiernden, unablässig weiterschreitend. In drei Minuten würde er sich vier Opfer holen und dafür nicht einmal fünfzehn Sekunden benötigen.
Aber der Tod konnte schnell sein, sehr schnell.
Und unerbittlich.
Im ›Conne Island‹ sang noch immer Austin Lucas, ein Berg von einem Kerl voller martialischer Tattoos auf den Armen, mit seiner Gänsehautstimme, ›Run around‹ sang er gerade, ein Anti-Liebeslied erster Güte; flink flogen seine Finger über die Gitarre. Vielleicht hätte seine Stimme gezittert, wenn er wissen würde, was in zwei Minuten in Leipzig geschah, aber er wusste es nicht. Er war ja auch kein Hellseher.
Es war 23:13 Uhr und verschiedene Personen in Leipzig erlebten diesen Zeitpunkt auf sehr unterschiedliche Weise. Einer von ihnen, Oberländer, der einmal vor sehr langer Zeit ein Oberstudienrat gewesen war und nun als Rentner lebte, blickte aus dem Fenster und musterte finster die Feiernden vor dem Nachbarhaus, die er hasste, denn sie feierten einfach zu oft und vor allem zu laut. Aber was half es, wenn man sich beschwerte? Heute mischte man sich nicht mehr ein, nirgendwo, es konnten einem sonst die Reifen zerstochen werden oder der Lack des Autos nahm Schaden. In einem Haus der Parallelstraße sah Oberländer einen rauchenden Mann am Fenster in der dritten Etage stehen, den er flüchtig kannte, er sollte, so wurde erzählt, einmal ein Polizist gewesen sein, ehe man ihn in Unehren entlassen hatte. Aber wo gab es noch Ehre in dieser Gesellschaft?
Oberländer schloss das Fenster, aber sein grenzenloser Hass auf die Lärmenden wollte nicht weichen und so bebte er am ganzen Körper und krallte die Hände in die Handflächen.
Nahezu im selben Augenblick lag ein Mann im Stadtteil Leutzsch in einem Zimmer mit Stuck im Erdgeschoss, an Händen und Füßen gefesselt, auf einem sehr breiten Bett; wehrlos lag er da und völlig nackt und auf sein kalkiges Gesicht presste sich der pralle, schokofarbene Po einer jungen Frau, der alles verdeckte, seinen Mund, seine Nase und seine stets vorquellenden stahlblauen Basedow-Augen. Der üppige Po nahm dem Mann die Luft, und Lust und Angst waren Gefühle, die ihn nun erfüllten, aber die Lust überwog natürlich, sie war einmalig, denn Facesitting, wie man diese Art von Sex nannte, war für ihn wohl das größte Erlebnis, erst seit der Wende kannte er es. Vendys Po war ein herrliches Gefängnis, das einen Mann zur Raserei bringen konnte, und die Reiterin lachte schallend, so war es abgesprochen, dieses Lachen gehörte zu den Dienstleistungen der jungen Dame, die der Gefesselte sich gönnte, weil sie den Druck seines Berufes nahmen, wenn auch nur für eine Stunde, denn die Minuten verrannen nur einfach zu rasch, viel zu rasch, und sie waren auch wahrhaftig teuer, viel teurer als in Berlin.
Dieser genießende Nackte hieß Wolfgang Werner und befasste sich, wenn er nicht auf diesem Bett lag, mit Morden, die in Leipzig geschahen, und seine Kollegen hatten ihm den Spitznamen ›Fischauge‹ gegeben, obwohl sie nicht wagten, ihn so anzureden, denn Fischauge konnte buchstäblich zum angriffslustigen Pitbull werden und sehr nachtragend sein, er vergaß eine Beleidigung auch nach Jahren nicht und schlug irgendwann zurück, denn er besaß das Gedächtnis eines Elefanten.
Sein Chef hingegen, Hauptkommissar Thomas Tiller, eine lebende Legende der Leipziger Mordermittler, saß — ohne allerdings von Fischauges augenblicklichen, seltsamen Genüssen nur das Geringste zu ahnen — im City-Pub ›Kildare‹ im Barfußgässchen, dieser so munteren, auch bei Touristen sehr beliebten und vielbesuchten Kneipenmeile. Er mochte die alten Holzmöbel im Pub, das düstere Licht und das Publikum, diese Mischung aus Jung und Alt, und er trank gerne Bier vom Fass, hier gab es zwölf gute Sorten, und ›Murphy’s Red‹ schmeckte ihm am besten, und irgendwie erinnerte ihn alles ein wenig an Dublin, die Stadt, die sein Mekka war und die er über alles liebte und die er ab und zu einmal anflog, um sie wiederzusehen. Endlich erlebte er einen Sonnabend, an dem er ein wenig Luft hatte vom Dienst und dem ständigen, nie endenden Druck, dem keine Frau gewachsen war als Partnerin, nach der er sich sehnte, aber die er einfach nicht fand, denn für die Suche im Internet fehlte ihm die Zeit – so war und blieb er der einsame Wolf mit dem angegrauten Haar und so saß er reglos, lauschte, nahm Gesprächsfetzen auf, träumte vor sich hin. Sein Gesicht mit dem entschlossenen Kinn war scharf gekerbt, ein Gesicht, das dem des größten Königs aller Preußen ähnelte, von dem ein Bild in seiner Wohnung hing. Er war nun fünfzig Jahre alt. ›Bluthund‹ nannten ihn die Kolleginnen und Kollegen hinter vorgehaltener Hand, weil er einen Täter gnadenlos und verbissen hetzte, ohne sich, wenn es darauf ankam, selbst zu schonen, und im Dienst war er eigentlich immer, und seine Erfolge waren legendär, ja, man war sogar der Meinung, dass er über eine Art sechsten Sinn verfügte. Philipp Raschke, einer seiner Männer, hatte bei einer Weihnachtsfeier über ihn lachend gesagt, Tiller wäre wohl schon als Polizist geboren worden, in seinem grauen Anzug, den er immer trug, und mit einem Dienstgrad und einem Holster und einer Pistole. Diese Worte Raschkes hatte Tiller nicht gemocht, da alle gelacht hatten, er hingegen lachte wenig und auch ein Lächeln huschte selten über sein Gesicht; heute aber, als er einer jungen Dame am Zapfhahn zuwinkte, deutete er ein Lächeln an, denn er mochte Vicky, ihre erfrischende, unkomplizierte Art, aber in ihren Augen war er gewiss schon ein Opa und damit wohl ein geschlechtsloses Wesen.
Der gemütliche Abend wird noch eine Weile dauern, dachte Tiller, da aber sollte er sich täuschen.
Und zwar gewaltig.
Nur wusste er es noch nicht.
Denn das Böse im Leben kam oft sehr überraschend.
Die einzige Frau seines Teams hingegen, die Kommissarin Ivonne Birnbaum, lag im gleichen Augenblick auf dem Bauch und atmete noch immer heftig, und der Mann neben ihr musterte anerkennend ihren kleinen und sehr festen Po, die sehr langen Beine und den schlanken Körper; nur die kleinen Brüste, über die seine Lippen lustvoll gewandert waren, konnte er nun nicht mehr sehen.
»Du bist bestimmt die niedlichste Polizistin Deutschlands«, lobte er sie anerkennend. »Ich wollte schon immer mit einer FrauderMordkommission schlafen«, log er. »Aber so einen Taifun hätte ich nicht erwartet.«
Ivonne schmunzelte, ihre hellbraunen und sehr strahlenden Augen funkelten vergnügt und sie fuhr sich mit den Fingern durch das lange, ein wenig gelockte blonde Haar. Sie war siebenunddreißig Jahre alt und wirkte aber viel jünger durch ihre mädchenhafte Figur und ihr unbekümmertes Wesen, und sie hatte diesen Mann, der Peter hieß, im ›Werk 2‹ bei einem Konzert von Funny van Dannen kennengelernt. Die frechen Songs dieses Liedermachers liebte sie besonders und dieser Mann neben ihr mochte sie offensichtlich auch, und noch nie, das war ihr wohl bewusst, war sie mit einem Mann so schnell im Bett gelandet.
»Wie ist denn – wenn ich das wissen darf – dein Spitzname?«, wollte Peter so vorsichtig wissen, als ob er einen üblen Strafbescheid erhalten konnte, wenn er diese Frage stellte.
»Löwen-Ivo«, erwiderte sie prompt. »Ich habe dich wohl an deine Grenzen gebracht?«
Er verdrehte nickend die Augen. »Das kann man wohl sagen, Löwen-Ivo. Übrigens: Was ist ein Ivo?«
Sie strahlte ihn an. »Die Abkürzung von Ivonne.«
Sie hat das süßeste Lächeln, das ich je gesehen habe, dachte er,sie ist die hundertprozentige Traumfrau.Was er aber nicht wusste: Der Vorhang ihres Lächelns, der über ihrem Gesicht lag, verdeckte auch andere, finstere Gedanken, die sie durchaus haben konnte.
»Uns gehört noch eine ganze Nacht«, versicherte sie vielsagend, schaute zur Uhr und bemerkte, dass er ein wenig erschrocken blickte. Er fürchtet wohl meine Fingernägel, dachte sie, die aber musste ein Mann ertragen, wenn er mit ihr zusammen war, da kannte sie kein Pardon, nie.
In einer Minute aber würde der Tod zuschlagen, in einem Hinterhof, das jedoch konnte sie noch nicht wissen, aber ein paar Minuten später schon, dann nämlich würde ihr Lächeln nicht mehr zu sehen sein, sie würde ernst blicken, so, wie es sich für eine Beamtin der Mordkommission gehörte, die in Tillers Team ihren Dienst versah.
Es war nun 23:15 Uhr.
Auf die Sekunde genau.
Die Feiernden im Innenhof ignorierten noch immer das kommende Gewitter, sie taten so, als könnten sie es mit ihrem Lachen einfach verdrängen, und sie waren vier Personen, denn die fünfte, ein Mann, der Lipinski hieß, war in das Haus gegangen, um dann, leicht schwankend,hinaufzusteigen in seine Wohnung, oben im ersten Stock.
Genau in diesem Augenblick aber drückte die Gestalt das Tor zum Gang auf, hin zum Innenhof, da das beschädigte Türschloss noch nicht ausgebessert war, entnahm dem Beutel die schwarze Kutte, die sie überstreifte, bedeckte mit der weißen, ausdruckslosen Maske das Gesicht, nahm die Waffe aus dem Beutel und ließ ihn auf den Boden gleiten, huschte flink dem Lärm entgegen, lud im Laufen die Waffe durch, um dann den Hof zu betreten, lautlos wie ein Ninja. Die Gestalt stutzte überrascht, ließ sich aber von der Verblüffung nicht beirren.
»Hallo«, jubelte einer der Feiernden. »Wir haben wohl Halloween?«
Da aber schaute der Spaßvogel in den Lauf einer Pistole und dann fielen auch schon die Schüsse in rascher, sehr rascher Folge, neunmal, und der Schreck öffnete die Münder der Feiernden, weitete ihre Augen, ehe das endlose Dunkel über sie kam, und sie starben nahezu ohne Schrei, denn der plötzliche, so tödliche Schreck war wohl zu groß.
Dann verharrte die Gestalt und musterte die Toten, sie schien erneut verdutzt zu sein, machte dann aber mit der linken Hand eine wegwerfende Bewegung. Die Fenster der Häuser, die den Innenhof umstanden, bildeten seit den ersten Schüssen ein Meer aus Lichtern, und Rufe und Schreie hallten durch den Hof.
Die Gestalt aber huschte davon, streifte noch, bevor sie die Straße betrat, die Maske vom Gesicht und schlüpfte aus der Kutte, stopfte beides in den Plastikbeutel, auch die Pistole, und verschwand in der Leipziger Nacht wie ein Gespenst, das sich in Luft auflösen konnte.
Fischauge hörte die Rufe seines Handys.
Vendy hob ein wenig ihren Po, griff nach dem Handy ihres so gut zahlenden und ihr nun schon vertrauten Gastes und hielt es ihm an sein rechtes Ohr.
Fischauge vernahm die Stimme einer Frau, die er kannte, gut kannte, die ihn oft zu einem Einsatz rief und die nun den Stadtteil Stötteritz nannte, die Straße, und von vier Toten in einem Innenhof sprach.
»Ich komme«, ächzte er.
»Sie haben wohl schon geschlafen?«, fragte die Frau, als wäre sie eine Polizistin, die einen Mann bei einer Straftat überraschte.
»Ja«, stöhnte Fischauge auf.
»Dienst ist eben Dienst«, stellte die Anruferin sehr sachlich fest. Fischauge grunzte unzufrieden.
Veralbern konnte er sich alleine.
Vendy löste schon seine Fesseln und sie tat es rasch, sie wusste, wo ihr Gast arbeitete, einmal hatte er es ihr gestanden und seitdem war sie sehr stolz auf diesen Stammgast, weil er ein besonderer Mann war, ein gänzlich außergewöhnlicher, kein geringerer als der stellvertretende Chef der Leipziger Mordkommission.
Und Vendy gab diesem Gast noch einen Klaps auf den Po, den aber ärgerte diese Geste nun gewaltig.
»Lass das«, knurrte Fischauge gereizt, denn er war wieder Polizist und nun wahrhaftig im Dienst, genau wie Tiller in seinem Lieblingspub, der nach seinem Handy griff, von einer schlimmen Ahnung erfüllt, und er sollte sich nicht getäuscht haben, denn was er dann hörte, verschlug ihm beinahe die Sprache.
»Holt mich vom alten Markt ab«, knurrte er. »Ich stehe vor Fielmann.«
Sein linkes Augenlid begann leicht zu zucken, es geschah immer, wenn er erregt war.
Und nun war er erregt.
Vier Tote?
Die Chefin der Leipziger Kripo war auch aus dem Bett getrommelt worden und wollte Tillers ganzes Team, ohne Ausnahme.
Erspart blieb ihm wohl nichts in seiner Laufbahn, rein gar nichts, und der gute Bach würde sich in seinem Grab herumwälzen, wenn er wüsste, was alles in seiner Stadt geschah, und der Hofrat Goethe würde wohl nur noch Krimis schreiben, Regionalkrimis.
Auch Ivonne erschrak, als sie ihr Handy hörte, aber sie war maßlos enttäuscht, dass gerade in diesem Augenblick ein Anruf kam, der nichts Gutes verhieß, aber sie war nun einmal eine Polizistin von der Mordkommission und somit von einem Augenblick zum anderen im Dienst.
»Das ist ja wie im Film«, strahlte der Mann an ihrer Seite. »Wohl ein echter Mord? ›Tatort‹ pur!«
Ivonne strahlte nicht zurück, sie blickte konzentriert und nicht mehr freundlich, ihr Gesicht wirkte nun herb und sie hastete in ihr Bad.
»Du musst dich anziehen«, stieß sie noch hervor. »Die Nacht ist für uns heute zu Ende. Beeil dich!«
Wie kann eine solche Traumfrau nur Polizistin sein?, dachte der Mann,ihr Po ist der süßeste der Welt,ungelogen, den aber konnte er nun nicht mehr berühren, weder mit den Händen noch mit den Lippen, und weitere, noch viel schönere Erlebnisse würden ihm nun auch verwehrt sein. Es war furchtbar, es war einfach zum Kotzen.
Und dann stand sie auch schon vor ihm in einer marinefarbenen Jacke mit sechs Klappentaschen. ›Wellensteyn‹, stellte er fest, als er das kleine Abzeichen mit dem weißen Stern sah, sie war genau der Typ für diese Jacke.
»Beeil dich!«, fauchte die Traumfrau ihn an.
Im ›Plan B‹ in der Härtelstraße 21 gab es noch immer Jazz vom Feinsten, die ›7 Préludes für Jazz-Trio‹ von Stephan König, es war ein gelungener Abend, er war noch lange nicht zu Ende und Jazz war weiter angesagt. Auch, wenn im Stadtteil Stötteritz das Blut floss. Davon wusste ja keiner.
Tiller sah die Streifenfahrzeuge mit zuckendem Blaulicht, als er das Auto verließ, und den dem Bus des Erkennungsdienstes entsteigenden Weiner im weißen Overall, der einen Metallkoffer trug.
»Hallo!«, sagte Weiner, »ihr braucht Overalls und Handschuhe. Wir haben ja erst angefangen.« Er reichte Tiller einen Overall, in den der rasch hineinschlüpfte, um dann durch die Toreinfahrt zu laufen und den Hinterhof zu betreten, wo er über das Absperrband stieg, das den Tatort umgrenzte.
Fillinger hielt ihm einen kleinen Plastikbeutel entgegen. »Neun Patronenhülsen«, erklärte er. »Neun Millimeter. Und vier Tote.«
Tiller rieb sich das Kinn, als neben ihm ein neuer Mann im Overall auftauchte – Fischauge.
Der schüttelte ausgiebig den Kopf. »Ein Schlachthaus«, stellte er angewidert fest. Beide waren so einiges gewohnt, aber diese Situation war für Leipzig ungewöhnlich, sie kamen sich vor, als befänden sie sich in einem Film über die Mafia, und Tiller wäre der Commissario.
Die Männer der Spurensicherung arbeiteten schweigend, wie weiße Gespenster bewegten sie sich in ihren Overalls und ihre Scheinwerfer beleuchteten den Tatort. Nahezu alle Fenstervierecke waren nun erleuchtet und Menschen blickten herab, neugierig, erschrocken, manche einfach aus Lust an fremdem Leid, denn es war beruhigend, wenn es anderen schlecht ging, einem selbst aber gut; es war wie auf der Autobahn bei einem Unfall, nicht anders, nur, dass man hier von oben herabblicken und noch viel besser sehen konnte, und vor allem echtes Blut, kein Stierblut wie in einer Arena in Spanien. Es war sehr aufregend. Das Leben konnte richtig schön sein.
Tiller spürte, dass sein linkes Augenlid noch immer leicht zuckte.
»Hallo«, sagte Dr. Lengenbach, die Gerichtsmedizinerin, ein Typ wie Ivonne. »Einer hat drei Schüsse abbekommen, einen davon ins Gesicht, die drei anderen wurden zweimal getroffen.«
»Hey«, seufzte Ivonne, die plötzlich neben Tiller stand. »Da kommt Arbeit auf uns zu.«
Tiller nickte schweigend, er blickte auf die Toten herab, deren Gesichter starr wirkten, als wären sie Schaufensterpuppen, mit Augen, die in die Unendlichkeit des Alls zu starren schienen, und unwillkürlich, aber nur einen Augenblick lang, musste er an die Beschreibung solcher Augen in dem Roman von diesem Gadda denken, der ›Die grässliche Bescherung in der Via Merulana‹ hieß. Es war ein Bild des Grauens. Dann begrüßte Tiller Phillip Raschke.
»Heilige Mutter Gottes«, stieß Raschke hervor, der aus dem Revuetheater am Palmengarten in der Jahnallee geholt worden war, wo die selbsternannte Diva La Kruttke Einblicke gab in ihre so ureigenste, schräge Welt mit ihren Liedern und Liebesgeschichten zum Lachen und zum Heulen.
Raschke war Mitte dreißig, ein hochgewachsener Mann mit einem schmalen, energischen Gesicht, der gerne mit einem Dreitagebart herumlief, Bukowski las und manchmal, auch in unpassendsten Momenten, irgendwelche unmöglichen Zitate von sich gab, und der heute einen schwarzen Brandungsparka von ›Wellensteyn‹ mit hohem Sturmkragen trug, weil er wohl den Wetterbericht gehört hatte.
Er tippte mit zwei Fingern seiner rechten Hand betont lässig an die rechte Schläfe. »Die Welt ist ein Albtraum«, stellte er fest. Wer sollte ihm da widersprechen?
Als letzten Mann seines Teams begrüßte Tiller Torsten Lieberknecht, einen mittelgroßen drahtigen Mann mit kahlem Schädel und großen Segelohren, dessen Kinnmuskeln immer sichtbar arbeiteten, wenn er nachdachte und dabei die Augen schloss.
Nun schloss er sie nicht.
Er stöhnte nur auf. »Oje, wer tut so etwas?«
»Meine Prognose ist, dass wir es wohl herauskriegen müssen«, meinte Raschke sarkastisch.
Lieberknecht blickte verdutzt, über Späße musste er immer nachdenken, besonders über die flapsigen von Raschke, die ihm oft unpassend erschienen, sehr unpassend.
Tiller begrüßte nun auch die äußerst attraktive Chefin der Leipziger Kripo mit einem sehr kräftigen, ja sogar herzlichen Händedruck und fasste kurz zusammen, was sie wussten; es war nicht viel, es war sogar dürftig, doch äußerte er den Verdacht, der Anschlag habe wohl nur einem Hausbewohner gegolten, die anderen könnten zur Ablenkung getötet worden sein.
»Du kriegst alles, was du brauchst«, vernahm er. »Du wirst eine Soko leiten.«
Dann begaben sie sich in den Schutz der Toreinfahrt, Tiller, Fischauge, Ivonne, Raschke und Lieberknecht, und ein Polizist führte einen Mann zu ihnen, der sich als Andreas Lipinski vorstellte und erklärte, dass er der einzige Überlebende des Massakers sei.
»Sie hatten an der Tafel gesessen?«, fragte Tiller, die Brauen hebend, überrascht. »Und dann?«
»Ich bin nach oben, um auf die Toilette zu gehen, da fielen die Schüsse. Es waren neun.«
Tiller hob die Brauen.
»Da sind Sie sich sicher?«
»Absolut. Ich habe wohl im Unterbewusstsein die Schüsse mitgezählt. So muss es gewesen sein.«
»Und was taten Sie?«
»Ich stand am Fenster und sah hinab. Ich hatte Angst, eine riesige Angst. Ich sah eine Gestalt, die schoss. Es ging alles so schnell.«
»Wie sah die Gestalt aus?«
»Sie trug eine schwarze Kutte und eine weiße Gesichtsmaske. Sie sah grässlich aus. Ich hatte Angst, dass sie mich sehen und auch töten würde. So kam ich erst runter, als ich Polizisten sah und wusste, dass die Gestalt weg ist.«
Tillers linkes Augenlid zuckte noch immer, er starrte nachdenklich den Überlebenden an und massierte dabei mit zwei Fingern seine Nasenwurzel.
»Sie gingen unmittelbar in dem Augenblick in das Haus, als der Täter den Innenhof betrat«, stellte Ivonne fest. »Er hat Sie nicht mehr sehen können.«
»Tja, das ist Schicksal«, sagte Fischauge.
Tiller zog die Augenbrauen zusammen, wobei er ihn mit einem missbilligenden Blick streifte, denn diese Ansicht teilte er nicht.
»Die Nacht ist auf jeden Fall gelaufen«, kam es von Fischauge.
»Der wahre Mensch ist nur der Handelnde. Musil«, ließ sich Raschke zustimmend vernehmen.
Nun sah auch er sich von einem sehr missbilligenden Blick Tillers getroffen.
»Es ist keine Zeit für Scherze«, knurrte der. »Wir stehen vor vier Toten!«
»Ein Auftragskiller«, überlegte Fischauge laut, »der einen Mann oder eine Frau erschießen sollte und die anderen zur Vertuschung gleich mit erschoss.«
»Du bist wohl unter die Hellseher gegangen«, witzelte Raschke.
Fischauge musterte ihn finster.
»Ich habe nur laut gedacht«, fauchte er zurück.
»Du hast wohl recht«, ließ sich Tiller vernehmen. »Wir werden sehen.«
Die Kriminaltechniker hatten in aller Eile ein Zelt errichtet, das den Tatort schützen sollte.
Das Gewitter begann unvermittelt und mit einer gewaltigen Heftigkeit, der Himmel schien förmlich zu bersten, so, als wollte er Leipzig hinwegspülen und zu einem sächsischen Venedig machen.
Leipzig schlief, ein besetztes Haus war inzwischen trotz heftigen Widerstandes linker Autonomer geräumt worden, nur die fleißigen Einbrecher gingen noch ihrer ungeregelten Arbeit nach, heute in den Stadtteilen Connewitz, Gohlis und Eutritzsch, und sie überfielen noch ganz nebenbei eine Spielothek in Möckern. Für sie war es eine gute Nacht.
Diese vielfältigen Geschehnisse aber interessierten die Polizisten des inneren Kerns der ›Soko Hinterhof‹ ganz und gar nicht, sie saßen noch immer im Haus der Polizeidirektion in einem Beratungsraum und sie hatten andere Sorgen, streng genommen sogar weitaus größere, da es um vier Morde ging und der fünfte war nur durch einen Zufall, genauer gesagt durch ein menschliches Bedürfnis verhindert worden.
»Ich fasse zusammen«, sagte Tiller. »Wir haben vier Tote, zwei Männer und zwei Frauen. Der Täter hat mit einer Waffe und dem Kaliber 9 mm neunmal geschossen und ohne nachzuladen; das Magazin der Waffe fasst also wohl mehr als neun Patronen. Drei Personen sind mit zwei Schüssen getötet worden, eine erhielt drei Kugeln, einem Mann wurde in das Gesicht geschossen. Dieser Mann könnte der Schlüssel sein. Wollte der Täter nur eine bestimmte Person töten und die anderen einfach nur zur Ablenkung? Im Haus wohnten neun Personen. Eine Person – ein Mann – überlebte, weil er genau zu der Zeit, als es geschah, in seiner Wohnung war und von oben das Massaker beobachten konnte. Ein Mann war an der Ostsee, eine Frau bei ihrem Sohn, das war ihre Rettung. Ein Mann war im Urlaub, ein anderer im Dienst. Zwei Wohnungen standen leer. Es hätte noch schlimmer kommen können.«
Tiller räusperte sich und er trommelte die Fingerspitzen gegeneinander.
»Wir müssen die dunkle Seite der Hausbewohner erhellen, und sehr rasch, denn wir bekommen einen gewaltigen Druck von oben. Wer war das schwarze Schaf, dem eigentlich die Schüsse galten? Wir haben vier Etagen, wir müssen jeden ausquetschen, der eine Aussage machen kann. Wir gehen wie folgt vor: Das Erdgeschoss übernimmt Wolfgang, die erste Etage Philipp, die zweite Torsten, die dritte Ivonne, ich kümmere mich um die vierte. Wir werden eine Reihe von Kräften bekommen, die das Klinkenputzen in allen Häusern übernehmen, die den Innenhof umstehen, es sind vier Straßen. Leider wird der Täter für uns kein Gesicht bekommen, wir wissen ja alle, wie viele widersprüchliche Aussagen wir bald haben werden. Ach so, es geht um die weiße Maske, ich denke da an diese weißmaskierten Rechtsextremen und ihre Umzüge. Torsten, setz dich bitte mal mit dem LKA in Verbindung, ruf den Verfassungsschützer Stretter an und bestelle ihm einen schönen Gruß von mir. Wir müssen wissen, ob irgendeine Spur von Rechtsextremen zu diesem Haus führt, wir wollen nichts außer Acht lassen.«