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Als Programmschrift eines revolutionären Konservatismus wurde dieses Buch bei seinem ersten Erscheinen im Jahr 1951 verstanden, oder auch als »Brevier für den geistig-politischen Partisanen«. Neben den Arbeiter und den Unbekannten Soldaten stellte Jünger eine dritte Modellgestalt, den Waldgänger, der im Unterschied zu den beiden anderen dem Jetzt und Hier angehört. Der Wald ist der Ort des Widerstands, wo neue Formen der Freiheit aufgeboten werden gegen neue Formen der Macht.
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Seitenzahl: 144
Ernst Jünger
Der Waldgang
Mit Adnoten von Detlev Schöttker
J.G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH
Klett-Cotta
Der Text dieser Ausgabe folgt Ernst Jüngers Fassung letzter Hand in den Sämtlichen Werken in 22 Bänden, erschienen bei Klett-Cotta.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2014 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg,
unter Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96104-1
E-Book: ISBN 978-3-608-10603-9
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Inhalt
Der Waldgang
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Übersicht
Adnoten zu »Der Waldgang«
Informationen zum Autor
ERSTAUSGABE1951
»Jetzt und hier«
Der Waldgang – es ist keine Idylle, die sich hinter dem Titel verbirgt. Der Leser muß sich vielmehr auf einen bedenklichen Ausflug gefaßt machen, der nicht nur über vorgebahnte Pfade, sondern auch über die Grenzen der Betrachtung hinausführen wird.
Es handelt sich um eine Kernfrage unserer Zeit, das heißt, um eine Frage, die auf alle Fälle Gefährdung mit sich bringt. Wir reden ja viel von Fragen, ähnlich wie unsere Väter und Großväter das schon getan haben. Inzwischen hat sich freilich bedeutend verändert, was man in diesem Sinne eine Frage nennt. Sind wir uns dessen schon bewußt genug?
Noch sind die Zeiten kaum vergangen, in denen man solche Fragen als große Rätsel, etwa als Welträtsel, auffaßte, und zwar mit einem Optimismus, der sich ihre Lösung zutraute. Andere Fragen galten eher als praktische Probleme, wie die Frauenfrage oder die soziale Frage überhaupt. Auch diese Probleme hielt man für lösbar, wenngleich weniger durch Forschung als durch Entwicklung der Gesellschaft zu neuen Ordnungen.
Inzwischen ist die soziale Frage auf weiten Gebieten unseres Planeten gelöst worden. Die klassenlose Gesellschaft hat sie so entwickelt, daß sie eher zu einem Teil der Außenpolitik geworden ist. Natürlich heißt das nicht, daß damit die Fragen überhaupt verschwinden, wie man im ersten Eifer glaubte – es treten vielmehr andere und noch brennendere auf. Mit einer solchen beschäftigen wir uns hier.
Der Leser wird an sich selbst erfahren haben, daß sich das Wesen der Frage geändert hat. Wir leben in Zeiten, in denen ununterbrochen fragenstellende Mächte an uns herantreten. Und diese Mächte sind nicht nur von idealer Wißbegier erfüllt. Indem sie sich mit ihren Fragen nähern, erwarten sie von uns nicht, daß wir einen Beitrag zur objektiven Wahrheit liefern, ja nicht einmal, daß wir zur Lösung von Problemen beitragen. Sie legen nicht auf unsere Lösung, sie legen auf unsere Antwort Wert.
Das ist ein wichtiger Unterschied. Er nähert die Fragen den Verhören an. Man wird das an der Entwicklung verfolgen können, die vom Wahlzettel zum Fragebogen führt. Der Wahlzettel zielt auf die Feststellung reiner Zahlenverhältnisse und deren Auswertung. Er soll den Willen des Wählers ermitteln, und der Wahlvorgang ist dahin ausgerichtet, daß dieser Wille rein und ohne fremde Einflüsse zur Darstellung gelangt. Die Wahl wird daher auch von einem Gefühl der Sicherheit, ja selbst der Macht begleitet, wie es den freien, im Rechtsraum abgegebenen Willensakt auszeichnet.
Der Zeitgenosse, der einen Fragebogen abzugeben sich veranlaßt sieht, ist weit entfernt von solcher Sicherheit. Die Antworten, die er erteilt, sind folgenschwer; oft hängt von ihnen sein Schicksal ab. Man sieht den Menschen in eine Lage kommen, in der von ihm verlangt wird, Urkunden zu schaffen, die auf seinen Untergang berechnet sind. Und was für belanglose Dinge bestimmen heute oft den Untergang.
Es leuchtet ein, daß sich in dieser Veränderung der Fragestellung eine ganz andere Ordnung andeutet, als wir sie zu Anfang unseres Jahrhunderts vorfanden. Hier gibt es die alte Sicherheit nicht mehr, und unser Denken muß sich danach einrichten. Die Fragen rücken uns enger, dringender auf den Leib, und immer bedeutungsvoller wird die Art, in der wir antworten. Dabei ist zu bedenken, daß Schweigen auch eine Antwort ist. Man fragt uns, warum wir dann und dort geschwiegen haben, und gibt uns die Quittung dafür. Das sind die Zwickmühlen der Zeit, denen keiner entrinnt.
Merkwürdig ist, wie in solchem Zustand alles zur Antwort in diesem besonderen Sinne wird, und damit Stoff der Verantwortung. So sieht man vielleicht selbst heute noch nicht deutlich genug, in welchem Maße etwa der Wahlzettel sich zum Fragebogen wandelte. Ein Mensch, der nicht gerade das Glück hat, in einem Naturschutzpark zu leben, ist sich indessen, soweit er handelt, darüber klar. Wir stimmen ja immer unser Handeln eher als unsere Theorien auf die Bedrohung ab. Aber erst mit der Besinnung gewinnen wir neue Sicherheit.
Der Wähler also, an den wir denken, wird sich der Urne mit ganz anderen Gefühlen nähern als sein Vater oder Großvater. Er wäre ihr gewiß am liebsten ferngeblieben, doch hätte sich gerade darin eine unmißverständliche Antwort ausgedrückt. Aber auch die Beteiligung erscheint gefährlich, wo man die Wissenschaft des Fingerabdrucks und durchtriebene statistische Verfahren in Rechnung ziehen muß. Warum soll man denn wählen in einer Lage, in der es keine Wahl mehr gibt?
Die Antwort lautet, daß unserem Wähler durch den Wahlzettel Gelegenheit geboten wird, sich an einem Beifall spendenden Akt zu beteiligen. Nicht jedermann wird dieses Vorzuges für würdig erachtet – so fehlen in den Listen sicher die Namen der zahllosen Unbekannten, aus denen man die neuen Sklavenheere rekrutiert. Der Wähler pflegt daher zu wissen, was von ihm erwartet wird.
Insofern liegen die Dinge klar. Im Maße, in dem die Diktaturen sich entwickeln, ersetzen sie die freien Wahlen durch das Plebiszit. Der Umfang des Plebiszits übergreift aber jenen Ausschnitt, den vor ihm die Wahlen einnahmen. Die Wahl wird vielmehr zu einer der Formen des Plebiszits.
Das Plebiszit kann öffentlichen Charakter tragen, wo sich die Führer oder die Symbole des Staates zur Schau stellen. Der Anblick großer, leidenschaftlich erregter Massen ist eines der wichtigsten Zeichen dafür, daß wir in ein neues Zeitalter eingetreten sind. In solchem Bannkreis herrscht, wenn nicht Einhelligkeit, so doch gewiß Einstimmigkeit, denn wo hier eine andere Stimme sich erhöbe, würden sich Wirbel bilden, die ihren Träger vernichteten. Daher kann sich der Einzelne, der sich auf diese Weise bemerkbar machen will, auch gleich zum Attentat entschließen: es läuft in den Folgen auf dasselbe hinaus.
Wo aber das Plebiszit sich in die Formen der freien Wahl verkleidet, wird man auf den geheimen Charakter Wert legen. Die Diktatur sucht damit den Nachweis zu erbringen, daß sie sich nicht nur auf die ungeheure Mehrheit stützt, sondern daß deren Beifall zugleich im freien Willen der Einzelnen verwurzelt ist. Die Kunst der Führung liegt nicht nur darin, die Frage richtig zu stellen, sondern zugleich in der Regie, die monopolistisch ist. Sie hat den Vorgang als überwältigenden Chorus darzustellen, der Schrecken und Bewunderung erregt.
Bis hierher scheinen die Dinge übersichtlich, wenngleich für einen älteren Betrachter neuartig. Der Wähler sieht sich einer Frage gegenüber, auf welche die Antwort aus triftigen Gründen im Sinne des Fragestellers abzufassen sich empfiehlt. Die eigentliche Schwierigkeit liegt aber darin, daß zugleich die Illusion der Freiheit erhalten bleiben soll. Und damit mündet die Frage, wie jeder moralische Prozeß in diesen Räumen, in die Statistik ein. Mit ihren Einzelheiten wollen wir uns näher beschäftigen. Sie führen auf unser Thema zu.
Technisch gesehen, bereiten Wahlen, bei denen hundert Prozent der Stimmen im gewünschten Sinne abgegeben werden, kaum Schwierigkeit. Die Ziffer wurde bereits erreicht, ja überschritten, insofern in gewissen Bezirken mehr Stimmen als Wähler auftauchten. Dergleichen deutet auf Fehler in der Regie, wie sie nicht allen Bevölkerungen zuzumuten sind. Wo feinere Propagandisten am Werk sind, liegen die Dinge etwa so:
Hundert Prozent: das ist die ideale Ziffer, die, wie alle Ideale, stets unerreichbar bleibt. Man kann sich ihr indessen annähern – ganz ähnlich, wie man sich im Sport gewissen, auch unerreichbaren Rekorden um Bruchteile von Sekunden oder Metern annähert. Wie groß nun die Annäherung sein darf, das wird wiederum von einer Fülle verwickelter Erwägungen bestimmt.
An Plätzen, wo die Diktatur schon stark gefestigt ist, würden neunzig Prozent Bejahungen schon zu stark abfallen. Daß sich in jedem Zehnten ein geheimer Gegner verbirgt: den Gedanken kann man den Massen nicht zumuten. Dagegen würde eine Zahl von ungültigen und Gegenstimmen, die sich um zwei Prozent herum bewegt, nicht nur erträglich, sondern auch günstig sein. Diese beiden Prozente wollen wir nun nicht einfach als taubes Metall betrachten und abstreichen. Sie sind der näheren Betrachtung wert. Man findet heute das Ungeahnte gerade in den Rückständen.
Der Nutzen dieser beiden Stimmen für den Veranstalter ist ein doppelter: sie geben einmal den übrigen achtundneunzig Stimmen Kurs, indem sie bezeugen, daß jeder ihrer Träger sein Votum hätte abgeben können wie jene zwei Prozent. Damit gewinnt sein Ja an Wert, wird echt und vollgültig. Den Diktaturen ist der Nachweis wichtig, daß die Freiheit, Nein zu sagen, bei ihnen nicht ausgestorben ist. Darin liegt eines der größten Komplimente, die man der Freiheit machen kann.
Der zweite Vorteil unserer zwei Prozent liegt darin, daß sie die ununterbrochene Bewegung unterhalten, auf welche die Diktaturen angewiesen sind. Aus diesem Grunde pflegen sie sich immer noch als »Partei« zu geben, obwohl das sinnlos ist. Mit hundert Prozenten wäre das Ideal erreicht. Das würde die Gefahren mit sich bringen, die mit jeder Erfüllung verbunden sind. Man kann auch auf dem Lorbeer des Bürgerkrieges einschlafen. Beim Anblick jeder großen Fraternisierung muß man sich fragen: wo steht der Feind? Solche Zusammenschlüsse sind zugleich Ausschlüsse – Ausschlüsse eines Dritten und Verhaßten, der dennoch unentbehrlich ist. Die Propaganda ist auf einen Zustand angewiesen, in dem der Staatsfeind, der Klassenfeind, der Volksfeind zwar durchaus aufs Haupt geschlagen und schon fast lächerlich geworden, doch immerhin noch nicht ganz ausgestorben ist. Die Diktaturen können von der reinen Zustimmung nicht leben, wenn nicht zugleich der Haß und mit ihm der Schrecken die Gegengewichte gibt. Nun würde aber bei hundert Prozent guter Stimmen der Terror sinnlos werden; man träfe nur noch Gerechte an. Das ist die andere Bedeutung der zwei Prozent. Sie weisen nach, daß zwar die Guten in ungeheurer Mehrheit, doch auch nicht gänzlich ungefährdet sind. Im Gegenteil ist anzunehmen, daß angesichts so überzeugter Einheit nur eine besondere Verstocktheit sich unbeteiligt verhalten kann. Es handelt sich um Saboteure mit dem Stimmzettel – und was liegt näher als der Gedanke, daß sie auch zu anderen Formen der Sabotage schreiten werden, wenn sich Gelegenheit ergibt?
Das ist der Punkt, an dem der Wahlzettel zum Fragebogen wird. Es ist dabei nicht nötig, eine individuelle Haftung für die erteilte Antwort anzunehmen, doch darf man sicher sein, daß ziffernmäßige Beziehungen bestehen. Man darf gewiß sein, daß jene zwei Prozent nach den Regeln der doppelten Buchführung auch in anderen Registern als denen der Wahlstatistik in Erscheinung treten, wie etwa in den Namenslisten der Zuchthäuser und Arbeitslager oder an jenen Stätten, wo Gott allein die Opfer zählt.
Dies ist die andere Funktion, die diese winzige Minderheit auf die ungeheure Mehrheit ausübt – die erste bestand, wie wir sahen, darin, daß sie den achtundneunzig Prozenten erst Wert, ja Wirklichkeit verlieh. Noch wichtiger ist indessen, daß niemand zu den zwei Prozent gerechnet werden will, in denen ein böses Tabu sichtbar wird. Im Gegenteil wird jeder Wert darauf legen, recht bekannt zu machen, daß er eine gute Stimme abgegeben hat. Und sollte er zu den zwei Prozent gehören, so wird er das auch seinen besten Freunden gegenüber geheim halten.
Ein weiterer Vorteil dieses Tabus liegt darin, daß es auch gegen die Klasse der Nichtwähler gerichtet ist. Die Nichtbeteiligung gehört zu den Haltungen, die den Leviathan beunruhigen, doch deren Möglichkeit der Außenstehende leicht überschätzt. Sie schwindet angesichts der Bedrohung rasch dahin. Man wird dann immer mit einer fast restlosen Wahlbeteiligung rechnen können, und nicht viel geringer wird die Anzahl der im Sinne des Fragestellers abgegebenen Stimmen sein.
Der Wähler wird Wert darauf legen, daß er bei der Abstimmung gesehen wird. Wenn er ganz sicher gehen will, dann wird er auch einigen Bekannten den Zettel zeigen, bevor er ihn in die Urne legt. Man tut das am besten gegenseitig und kann dann bezeugen, daß das Kreuz an der rechten Stelle stand. Es gibt hier eine Fülle lehrreicher Varianten, von denen sich der gute Europäer, der solche Lagen nicht studieren konnte, nichts träumen läßt. So zählt zu den Figuren, die immer wiederkehren, der Biedermann, der seinen Zettel etwa mit den Worten überreicht:
»Man könnte ihn ja auch offen abgeben.«
Darauf der Wahlbeamte mit wohlwollendem, sibyllenhaftem Lächeln:
»Ja, ja – es soll aber nicht sein.«
Der Besuch solcher Stätten schärft die Augen im Studium der Machtfragen. Man nähert sich einem der Nervenknoten an. Doch würde es zu weit führen, wenn wir uns mit den Einzelheiten der Einrichtung beschäftigten. Wir wollen uns damit begnügen, die eigenartige Figur des Mannes zu betrachten, der ein solches Lokal in der festen Absicht, mit Nein zu stimmen, betreten hat.
Die Absicht unseres Mannes ist vielleicht gar nicht so eigenartig; sie mag von vielen anderen geteilt werden, wahrscheinlich von bedeutend mehr als von den erwähnten zwei Prozenten der Wählerschaft. Dagegen sucht die Regie ihm vorzuspiegeln, daß er sehr einsam sei. Und nicht nur das – die Mehrheit soll nicht nur ziffernmäßig imponieren, sondern auch durch die Zeichen moralischer Überlegenheit.
Wir dürfen annehmen, daß unser Wähler dank seiner Urteilskraft der langen, eindeutigen Propaganda widerstanden hat, die auf geschickte Weise sich bis zum Wahltag steigerte. Das war nicht einfach; dazu kommt, daß die Kundgebung, die von ihm verlangt wird, sich in höchst achtbare Fragestellungen kleidet; man fordert ihn zur Teilnahme an einer Freiheitswahl oder Friedensabstimmung auf. Wer aber liebte Frieden und Freiheit nicht? Er müßte ein Unmensch sein. Das teilt dem Nein schon einen kriminellen Charakter mit. Der schlechte Wähler gleicht dem Verbrecher, der zum Tatort schleicht.
Wie anders fühlt der gute Wähler sich durch diesen Tag erquickt. Bereits beim Frühstück erhielt er durch den Rundfunk den letzten Auftrieb, die letzte Anweisung. Dann geht er auf die Straße, auf der festliche Stimmung herrscht. Von jedem Hause, aus jedem Fenster hängen Fahnen herab. Im Hof des Wahllokales begrüßt ihn eine Kapelle, die Märsche spielt. Die Musikanten sind in Uniform gekleidet, und auch im Wahlraum fehlt es an Uniformen nicht. Dem guten Wähler wird in der Begeisterung entgehen, daß dagegen von einer Wahlzelle kaum noch gesprochen werden kann.
Das freilich ist der Umstand, der die Aufmerksamkeit des schlechten Wählers vor allem in Anspruch nimmt. Er sieht sich mit seinem Bleistift dem uniformierten Wahlkollegium gegenüber, dessen Nähe ihn verwirrt. Die Eintragungen finden auf einem Tische statt, der vielleicht sogar die Reste eines grünen Vorhangs trägt. Die Vorrichtung ist ohne Zweifel genau durchdacht. Es ist nicht wahrscheinlich, daß man die Stelle, die der Wähler ankreuzt, sehen kann. Ob aber das Gegenteil ganz ausgeschlossen ist? Gestern noch hat er flüstern gehört, daß man die Stimmzettel mit Schreibmaschinen ohne Farbband numerieren soll. Gleichzeitig muß er sich vergewissern, ob auch der Hintermann ihm nicht über die Schulter sieht. Von der Wand blickt das riesenhafte Porträt des gleichfalls uniformierten Staatschefs mit starrem Lächeln auf ihn herab.
Der Wahlzettel, dem er sich nun zuwendet, strahlt gleichfalls Suggestivkraft aus. Er ist das Ergebnis sorgfältiger Erwägungen. Man sieht unter dem Wort »Freiheitswahl« einen großen Kreis, auf den zum Überfluß ein Pfeil hinweist: »Hierher gehört dein Ja.« Daneben verschwindet fast der kleine, für das Nein bestimmte Kreis.
Der große Augenblick ist gekommen: der Wähler macht seine Eintragung. Wir wollen im Geist an seine Seite treten; er hat tatsächlich mit Nein gestimmt. Zwar ist der Akt ein Schnittpunkt von Fiktionen, die wir noch untersuchen wollen – : die Wahl, der Wähler, die Wahlplakate, das sind Etiketten für ganz andere Dinge und Vorgänge. Es sind Vexierbilder. In ihrem Aufstieg leben die Diktatoren zum großen Teile davon, daß man ihre Hieroglyphen noch nicht entziffern kann. Dann finden sie ihren Champollion. Er bringt zwar die alte Freiheit nicht zurück. Doch lehrt er richtig antworten.
Man hat den Eindruck, daß unser Mann in eine Falle gegangen ist. Das macht sein Verhalten nicht weniger bewundernswert. Wenngleich es sich bei seinem Nein um eine Kundgebung auf Verlorenem Posten handelt, so wird es dennoch fortwirken. Dort freilich, wo die alte Welt sich noch im Abendsonnenglanze badet, an schönen Hängen, auf Inseln, kurzum in milderen Klimaten, wird es nicht bemerkt werden. Dort imponieren die achtundneunzig anderen Stimmen, die auf das Hundert abgegeben worden sind. Und da man seit langem immer gedankenloser den Kult der Mehrheit feiert, übersieht man die zwei Prozent. Sie spielen im Gegenteil die Rolle, die Mehrheit anschaulich und überwältigend zu machen, denn bei hundert vom Hundert fiele die Mehrheit fort.
In Ländern also, in denen man noch echte Wahlen kennt, wird der Erfolg zunächst Erstaunen, Achtung und auch Neid hervorrufen. Wenn seine Wirkung sich auch außenpolitisch bemerkbar macht, können diese Gefühle in Haß und Verachtung umschlagen. Auch dann wird man, anders wie Gott vor Sodom, die zwei Gerechten übersehen. Man wird die Ansicht hören, daß sich dort alle dem Bösen verschworen haben und zum verdienten Untergang reif geworden sind.
Wir wollen nun die achtundneunzig Prozent abstreichen und uns den beiden restlichen zuwenden, als den Goldkörnern, die wir gesiebt haben. Zu diesem Zwecke wollen wir die verschlossene Tür durchschreiten, hinter der man die Stimmen zählt. Wir treten hier in einen der Taburäume der plebiszitären Demokratie, über die es nur eine amtliche Meinung gibt und zahllose geflüsterte.