Der Weihnachtsmann steigt aus - Astrid Göpfrich - E-Book

Der Weihnachtsmann steigt aus E-Book

Astrid Göpfrich

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Beschreibung

Weihnachtsmann, das war einmal ein Traumberuf: freundliche Kunden, Dienstschlitten gratis, pünktlicher Feierabend und viel Urlaub. Heute hingegen: Nachtschichten, wachsende Paketberge, streikende Rentiere, und danke sagt auch keiner mehr. Es hilft alles nichts, der Weihnachtsmann schmeißt hin und muss zum Arbeitsamt, das auch prompt einen Job für ihn hat. Als Fahrkartenkontrolleur schenkt er jedem Schwarzfahrer 40 Euro, damit dieser sich ein Ticket kaufen kann. Da hat er doch alles richtig verstanden, oder?

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Astrid Göpfrich und Claudia Engel

DER WEIHNACHTSMANN STEIGT AUS

Marion von Schröder

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ISBN 978-3-8437-11630

© 2015 © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München Illustration © Claudia Engel

E-Book: L42 Media Solutions Ltd., Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Himmelreich

Am späten Nachmittag des 28. Dezembers betrat der Weihnachtsmann mit hängenden Schultern das Gasthaus »Zum Himmelreich« und blickte müde in die Runde nachweihnachtlicher Gäste.

Das helle Licht der Gaststube blendete ihn, denn draußen senkte sich bereits die Dämmerung herab und tauchte die Stadt in ein geheimnisvolles Blau.

Der Weihnachtsmann blieb kurz in der Tür stehen, bis seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, und blinzelte. »Schnghbnd …«, gurgelte es aus seinem weißen Bart hervor, der zerzaust bis zum Bauch hinabhing. Das sollte eigentlich »Schönen guten Abend« heißen, aber vor Aufregung bekam der Weihnachtsmann seine Zähne kaum auseinander. Er war es nicht gewohnt, unter so vielen Menschen zu sein.

Die Gäste blickten erstaunt auf die ungewöhnliche Gestalt, die sich suchend nach einem freien Tisch umsah. Sie sahen einen Mann im langen Mantel, dessen Farbe einmal rot gewesen sein musste, jetzt aber ein ausgeblichenes und schmutziges Orange aufwies. Seine Füße steckten in hohen braunen Stiefeln, deren Absätze vollkommen heruntergelaufen waren.

Niemand erkannte den Weihnachtsmann. Die Gäste dachten, ein Landstreicher wäre von dem weithin sichtbaren Licht der warmen Gaststube angezogen worden und hätte Schutz vor der rauhen Witterung gesucht. Gelangweilt wandten sie sich ab und nahmen nach und nach ihre Gespräche wieder auf.

Der Weihnachtsmann setzte sich an den einzigen freien Tisch direkt neben der Tür. Plötzlich merkte er, wie zittrig seine Beine waren, denn er hatte seit Tagen nichts Richtiges gegessen. Hier duftet es ja verheißungsvoll, dachte er und versuchte, den Geruch mit seiner etwas spitzen Nase einzufangen.

Der Weihnachtsmann wusste aber nicht, wie man in einem Gasthaus etwas zu essen bestellt. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie eine junge Frau dampfende Getränke und schmackhaft aussehende Gerichte an die Tische trug. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. »Grrrrrrk …«, grummelte sein Magen erbärmlich, »Grrrrrrkrrrk …«

Vor ihm lag ein schmales Buch mit der Aufschrift »Speisekarte«. Er klappte es auf und las: »Ge…füllte Maul…taschen«, »Schnitzel mit Bratkartoffeln« oder »Pfannkuchen mit Pilzfüllung«. Keines der Gerichte sagte ihm auch nur das Geringste.

In den himmlischen Gefilden, wo er lebte, gab es Sternschnuppensuppe oder Schneeflockenkaltschale und zum Nachtisch Mondsichelmus und Kristalleis, aber niemals hatte er von Gerichten wie diesen gehört. Verwirrt blickte er in die Karte und suchte fieberhaft nach etwas Bekanntem. Er war so sehr in den Klang der eigenartigen Worte vertieft, dass er gar nicht bemerkte, wie eine Kellnerin an seinen Tisch kam und ihn erwartungsvoll ansah.

»Haben Sie was gefunden, junger Mann?«

Der Weihnachtsmann sah erschrocken auf und blickte in zwei freundlich spöttische grüne Augen. Sofort entspannte er sich etwas und zeigte hilfesuchend auf die vielen Gerichte: »Ich weiß nicht …« Sein Zeigefinger wanderte ratlos die Speisekarte auf und ab.

»Ja, unsere Karte ist ziemlich üppig«, sagte die Kellnerin nicht ohne Stolz, »da waren schon viele überfordert.«

»Ja, … ja überfordert«, lachte der Weihnachtsmann erleichtert über die unverhoffte Lösung und lehnte sich zurück. »Könnten Sie mir vielleicht … etwas empfehlen?«, fragte er scheu.

»Klar«, sagte die Kellnerin und strich sich eine vorwitzige blonde Strähne aus dem Gesicht, »nehmen Sie doch einfach das Tagesgericht. Schmeckt köstlich.« Sie zeigte auf eine große Tafel über der Theke, auf der mit Kreide Heute: Käsespätzle mit gerösteten Zwiebeln geschrieben stand.

»Ja … genau, Kesse-Spätzle, das nehme ich«, antwortete der Weihnachtsmann siegessicher, doch er hatte keine Ahnung, was er da gerade bestellte.

Die Kellnerin musste über die falsche Aussprache der Käsespätzle innerlich grinsen, ließ sich aber nichts anmerken. Wahrscheinlich kommt der bärtige alte Mann von auswärts, dachte sie, und damit lag sie ja gar nicht so falsch. »Und was möchten Sie trinken?« Sie notierte das Tagesgericht und wartete mit aufmunternder Miene auf seinen Getränkewunsch.

Aus dem hinteren Teil des Gastraums forderte eine ungeduldige Stimme bereits zum wiederholten Mal die Rechnung.

«Ich nehme … einen Blitzeistee!«, bestellte der Weihnachtsmann sein himmlisches Lieblingsgetränk.

Die Kellnerin lachte: »Blitzeistee so, so, na, Sie sind mir ja ein Juxgebäck.«

Der Weihnachtsmann blickte verständnislos drein.

»Na, ein Scherzkeks, Witzbold oder meinetwegen Spaßvogel, wie Sie wollen.« Sie zwinkerte dem Weihnachtsmann verschwörerisch zu, kritzelte »Eistee« auf ihren Block, rief »Komme gleich« in Richtung des Zahlungswilligen und verschwand zur Theke, wo ein gestreng dreinblickender Wirt die Bestellungen entgegennahm.

Der Weihnachtsmann verstand nicht, was die Heiterkeit der Kellnerin auslöste, aber sie hatte freundlich gelacht, und so besserte sich seine Niedergeschlagenheit ein wenig. Er streckte die Beine unter dem Tisch aus und merkte jetzt erst, wie unsagbar erschöpft er eigentlich war.

Seinen Schlitten hatte er vor zwei Stunden hinter einem Schuppen geparkt, um kein Aufsehen zu erregen und den beiden entkräfteten Rentieren Einar und Elvar noch etwas Heu und frisches Wasser bereitgestellt. Dann hatte er mutlos auf die vielen Pakete geblickt, die hinten auf der Ladefläche des Schlittens lagen.

Das Geschenkpapier war durch den feinen Nieselregen bereits aufgeweicht und vom tagelangen Umherrutschen an den Ecken abgestoßen. Wieder hatte er es nicht geschafft, alle Pakete rechtzeitig an Heiligabend auszuliefern, und wieder würden einige Kinder sehr enttäuscht sein.

»So kann es nicht weitergehen«, sagte er leise zu sich und seufzte. Die Kellnerin zischte mit der Rechnung für den Zahlungswilligen an seinem Tisch vorbei. Könnte ich vielleicht auswandern?, überlegte der Weihnachtsmann und verwarf den Gedanken sogleich wieder. Denn: Wohin sollte er gehen?

Sinterklaas musste in Holland fast noch mehr schuften als er, der französische Père Noël war gerade wegen Burnout in der intergalaktischen Supernova-Kurklinik behandelt worden, und von Jultomten aus Schweden hatte er schon seit zwei Jahren nichts mehr gehört. Obwohl die Weihnachtsmänner Tag und Nacht unterwegs waren und unermüdlich schufteten, schafften es die meisten nicht, pünktlich zum Fest alle Geschenke auszuliefern.

Der Weihnachtsmann seufzte und sah wehmütig zum Nachbartisch, an dem sich eine Familie gerade über die neuesten Schnappschüsse amüsierte. Bestimmt hatte er selbst den dazugehörenden Apparat zu Weihnachten geliefert, aber er erinnerte sich nicht daran.

Früher hatte man beim Ausliefern einen kleinen Schwatz halten können oder war sogar kurz zum Aufwärmen hereingebeten worden. Heute klingelte er, drückte den verdutzten Leuten die Geschenke in die Hand und rannte auch schon wieder zu seinem Schlitten zurück. Manchmal reichte die Zeit sogar nur dafür, die Pakete im Vorbeifahren über den Zaun zu werfen. Dann konnte er nur hoffen, dass sie rechtzeitig gefunden wurden. Die beiden Rentiere Einar und Elvar bekamen viel zu kurze Pausen und waren oft fußkrank. Am schlimmsten ist, dachte er, dass manche Kinder ganz auf ihre Geschenke verzichten müssen.

Weihnachtsmann zu sein, machte einfach überhaupt keinen Spaß mehr.

Nachdem er zwei Stunden ziellos durch die Stadt geirrt und schon bald völlig orientierungslos war, hatte er schließlich das Gasthaus »Zum Himmelreich« entdeckt. Der Name hatte ihn sogleich in seinen Bann gezogen, schließlich wohnte der Weihnachtsmann in himmlischen Gefilden. So hoffte er, hier auf Gleichgesinnte zu stoßen. Genau genommen hatte ihn natürlich auch der köstliche Geruch, der vom Gasthaus ausging, hierher gelockt.

Der Weihnachtsmann blickte sich gespannt in der Gaststube um, als auch schon die Kellnerin mit einer Tasse und einem dampfenden Teller auf ihn zueilte.

»Einmal Blitzeistee und einmal die Kessen Spätzle«, lachte sie, stellte das Geschirr vor ihm ab, drehte sich flugs auf einem Fuß um und war schon wieder am Nachbartisch, um dort eine neue Bestellung aufzunehmen.

Etwas wie die Spätzle hatte der Weihnachtsmann noch nie gesehen, doch sie verströmten einen betörenden Duft von geschmolzenem Käse und gerösteten Zwiebeln. So nahm er entschlossen die Gabel, spießte einige Spätzle und Zwiebeln darauf auf und führte sie zum Mund. Der geschmolzene Käse zog lange Fäden vom Teller zur Gabel und verhedderte sich in seinem Bart.

Das störte den Weihnachtsmann nicht im Geringsten, denn der Geschmack war wirklich sensationell. So würzig und so kräftig, ja, fast besser als die himmlische Sternschnuppensuppe. Er aß und aß und vergaß vor lauter köstlicher Wonne alles um sich herum.

Als der Teller leer war, lehnte er sich zufrieden zurück und rieb sich den Bauch.

»Ach, ich habe ja noch gar nichts von dem Blitzeistee probiert!«, stellte er auf einmal fest und nahm gierig einen großen Schluck. Doch was war das? Der Blitzeistee bestand nicht im Entferntesten aus einer luftigen Essenz von Eiskristallen, wie man ihn im Himmel servierte. »Der ist ja total sauer… und seltsam: zugleich viel zu süß, pfui!« Angewidert spie der Weihnachtsmann den Tee aus und sprühte ihn dabei über den ganzen Tisch.

Schlagartig verstummten an den Nebentischen die Gespräche, und tausend Augenpaare schienen ihn nun feindselig zu mustern.

Der Weihnachtsmann errötete bis unter die Haarwurzeln und tat, als ob er den Flug einer imaginären Fliege verfolgen müsse. Dabei bemerkte er, dass sein Bart über und über mit Käsefäden verklebt war, was ihm so peinlich war, dass das Rot seines Gesichtes sich nun in ein prächtiges Purpur verwandelte.

Der Weihnachtsmann versuchte, seinen Bart hektisch mit der Mütze sauber zu rubbeln, was alles nur noch schlimmer machte. Wenigstens gelang es ihm, den Tisch mit seinem Mantelärmel wieder trocken zu reiben. Aber die schöne Stimmung, die sich durch die schmackhaften Spätzle in seinem Bauch verbreitet hatte, war dahin.

Augenblicklich stiegen auch die alten Sorgen wieder in ihm auf. Wie soll es bloß weitergehen?, dachte er verzagt.

In der Gaststube war es so still geworden, dass man auf einmal den Graupelschnee hören konnte, der sachte an die Fensterscheibe prasselte. Der Weihnachtsmann war es nicht gewohnt, von den Menschen feindselig gemustert zu werden. Wenn er auf die Erde kam, erntete er überall freudige Blicke, schließlich brachte er ja Geschenke mit. Hier freut sich aber keiner, dass ich da bin, dachte er bitter. Er beschloss, das Gasthaus Himmelreich auf der Stelle zu verlassen, auch wenn es draußen noch so garstig sein mochte.

Die Kellnerin beobachtete aus der Ferne, wie er seine verklebte Mütze nahm, sie sich umständlich auf den Kopf setzte und mit dem Stuhl nach hinten rutschte. Rasch eilte sie an den Tisch und fragte: »Der Herr möchte bezahlen?« Sie verabscheute es, wenn jemand versuchte, die Zeche zu prellen, auch wenn es ein netter, alter Landstreicher war, denn am Ende des Tages würde ihr das Geld in der Kasse fehlen.

Der Weihnachtsmann blickte sie erschrocken an. »Bezahlen? Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht!«, stammelte er leise. In den himmlischen Gefilden konnte man überall essen und trinken so viel man wollte. Aber er hatte natürlich schon gehört, dass man hier nichts bekam, ohne es gegen dieses Geld zu tauschen, um das die Menschen so ein großes Aufhebens machten. Das Problem an der ganzen Sache war: Er hatte keins.

Die Kellnerin sah jetzt gar nicht mehr so freundlich aus, obwohl der alte Landstreicher gerade ein wenig mehr in sich zusammenfiel und sie nun hilflos anlächelte. Sie ahnte, dass sie auf der Rechnung sitzenbleiben würde.

Der Wirt, der eine natürliche Witterung dafür besaß, wenn ein Gast nicht zahlungskräftig war, reckte von der Theke seinen mageren Hals zu ihnen hin und knurrte schmallippig: »Frollein Luna, gibt es ein Problem mit dem grauen Zausel da?« Die Blicke der Gäste richteten sich schnurgerade auf die Kellnerin. Diese verabscheute es mindestens genauso, wenn sie von ihrem garstigen Chef vor allen Leuten »Frollein« genannt wurde. Bockig drehte sie ihm den Rücken zu und tat, als ob sie nichts gehört hätte.

»Haben Sie denn gar kein Geld?«, wisperte sie dem Weihnachtsmann zu, während sie aufreizend langsam das Geschirr zusammenstellte.

»Luna«, hauchte der Weihnachtsmann verzückt, »was für ein wunderschöner Name!« Er war überzeugt, in diesem Moment seine himmlische Verbündete gefunden zu haben, Luna bedeutete schließlich »der Mond«.

»Ihre Süßholzraspelei bringt uns jetzt auch nicht weiter«, herrschte die Kellnerin ihn aber ganz unhimmlisch an, »Sie müssen mir jetzt irgendwas in die Hand drücken, das nach Geld aussieht, sonst kriegen wir Ärger mit dem Chef, schnell!«

Der Weihnachtsmann spähte möglichst unauffällig zur Theke, über die sich der Wirt mit seinem dürren Körper jetzt, um ihr Gespräch mitzuhören, so weit hin­überbeugte, dass er fast auf der anderen Seite hing.

Da fiel ihm ein, dass er kleinere Geschenke häufig in seiner Manteltasche transportierte, damit sie nicht durch das Geflecht des Schlittens durchrutschten. Er griff hinein, kramte darin herum und bekam eine kleine Schachtel zu fassen. Der Weihnachtsmann zog sie heraus und bot sie der Kellnerin mit den Worten »Hier, ist das ausreichend?« dar.

Luna nahm das Schächtelchen, hielt es so, dass der Wirt von der Theke aus nichts sehen konnte und wickelte es gespannt aus dem goldglänzenden Papier. Eine kleine, mit rotem Samt bezogene Schatulle kam zum Vorschein, die sie eine Weile andächtig betrachtete. Dann klappte sie sie behutsam auf.

In der hinteren Gaststube fiel der Wirt mit einem lauten »Rums« auf den Dielenfußboden. Luna drehte sich nicht einmal um, denn was sie gerade in ihrer Hand sah, raubte ihr fast den Atem: Ein goldener Ring glänzte im Schein der Gasthausfunzeln wie der hellste Stern, und in seiner Mitte funkelte das kostbarste Juwel, das sie je gesehen hatte: ein blauer Wüstensaphir. »Der ist ja wunderschön!«, stammelte sie.

»Reicht das für eine Portion Kesse Spätzle und den komischen Blitzeistee?«, fragte der Weihnachtsmann unsicher, der überhaupt keine Vorstellung vom Wert der Dinge hatte.

»Dafür«, japste die Kellnerin atemlos, »können Sie sich hier Ihr ganzes Leben lang Käsespätzle und Eistee einverleiben.«

»Dann ist ja gut«, antwortete der Weihnachtsmann zufrieden und wollte sich erheben. Luna drückte ihn sanft auf den Stuhl zurück. «Das kann ich nicht annehmen, der ist viel zu wertvoll!«, protestierte sie.

»Doch, das können Sie«, sagte der Weihnachtsmann bestimmt und tätschelte ein wenig unbeholfen ihre Hand, »ich könnte ja öfter hierherkommen und Kä-se-spätz-le essen. Wenn Sie aber den Eistee vielleicht lieber jemand anderem anbieten?«

Der Weihnachtsmann lächelte noch einmal zaghaft, erhob sich erneut, klappte den Kragen seines Mantels hoch und nickte dem Wirt, der sich gerade mühsam vom Boden aufrappelte und seine staubige Hose ausklopfte, kaum angedeutet zu.

Dann stapfte er durch die Stube hinaus in die ungastliche Dunkelheit und ließ seine himmlische Verbündete großzügig beschenkt, aber sprachlos zurück.

Wo sind die Rentiere?

Von einer Laterne müde beleuchtet wirbelte ein eisiger Wind Schneekristalle durch die menschenleere Straße. Gleich nahm den Weihnachtsmann die klirrende Kälte wieder in Besitz. Er fröstelte, wollte am liebsten umkehren, riss sich dann aber zusammen, straffte sich und sprach zu sich selbst: »Auf geht’s. Ich muss mich schließlich um die Tiere kümmern.«

Allein, der Weihnachtsmann hatte keine Ahnung, wo er die beiden Rentiere geparkt hatte. Hinterm Schuppen, sagte er sich in Gedanken immer wieder. Neben dem blauen Haus mit diesen Sternen im Fenster. Ich gehe mal in diese Richtung. Und so marschierte er los. Häuserzeile um Häuserzeile entlang, um die Ecke hier, um die Kurve dort. Erst nach einer ganzen Weile blickte der Weihnachtsmann auf. Er sah nichts, was ihm auch nur annähernd bekannt vorkam. Da begann er sich zu sorgen: Hätte ich mir bloß Spuren gelegt! Das weiß doch jedes noch so kleine Wolkenschaf, dass man sich auf der Erde den Weg merken muss. Ich bin wirklich ein Zausel! Einar und Elvar haben bestimmt schon Angst um mich.

Wenn der Weihnachtsmann mit seinen Rentieren auf der Erde übernachten musste, stellten sich die beiden gewöhnlich an lockerer Leine nebeneinander auf und legten ihre müden Köpfe auf zwei weichen Kopfkissen am Rande des Schlittens ab.

Der Weihnachtsmann selbst kroch zwischen die Geschenkpakete und deckte sich mit einer riesigen aus Rentierhaar und Sonnenstrahlen gewebten Decke zu.

Aber jetzt lagen die beiden Kissen im Heck des Schlittens. Und Einars Fuß, der seit der vorletzten Landung auf der Erde verstaucht war, würde ohne die abendliche Massage mit Weihnachtsmannspucke am nächsten Tag wieder so fürchterlich knacken, dass an ein Weiterkommen kaum zu denken war.

Mit jedem Schritt wurde der Weihnachtsmann nervöser. Er musste die beiden jetzt einfach finden. »Bitte, bitte!« Seine Worte stießen kurze graue Schwaden in die kalte Nachtluft. »Bitte, bitte! – Bitte, bitte!«

»Kann ich Ihnen helfen?« Eine junge Stimme, freundlich, bekannt! Der Weihnachtsmann blickte auf und sah – Luna. Sie hielt mit dem Fuß die Tür der Gaststätte »Zum Himmelreich« geöffnet und lehnte sich in ihrem kurzen Kellnerinnenkleid in die kalte Nachtluft hinaus. Anscheinend hatte der Weihnachtsmann einen riesigen Bogen gedreht, einen Umweg genommen, eine hoffnungslose Verirrung hingelegt und war nun, völlig verzweifelt, genau hier wieder gelandet: an der Gastwirtschaft »Zum Himmelreich«.

»Luna!« entfuhr es dem Weihnachtsmann »Wo ist mein Schlitten?«

»Ihr Schlitten?«

»Mein Schlitten!«

»Keine Ahnung«, sagte Luna. »Wo haben Sie Ihren ›Schlitten‹ denn abgestellt?«

»Hinterm Schuppen.«

»Hinterm Schuppen, so, so.«

»Neben dem blauen Haus mit diesen Sternen im Fenster. Bitte, Luna, Einar und Elvar haben kein Kopfkissen, und Einars Bein und … bitte, Luna, helfen Sie mir.« Der Weihnachtsmann flüsterte fast. Er fühlte sich so jämmerlich.

Aber jetzt war ja Luna da, seine himmlische Verbündete, sein Mondschein auf Erden. Luna würde schon wissen, was zu tun war. Bald würde alles wieder gut.

»Blaues Haus mit Sternen also …« Luna stockte und sah sich den Weihnachtsmann ganz genau an. War dieser Mann verrückt? Wieso suchte er einen Schlitten? Wer waren Einar und Elvar? Luna sah auf den Finger ihrer rechten Hand. Wieso konnte dieser abgerissene Mann ihr so einen wunderschönen Ring schenken? Überhaupt, der Ring, der löste in Luna Gefühle aus, wie sie sie nie zuvor gespürt hatte. Gefühle, die sie nur als »himmlisch« bezeichnen konnte: unangreifbar, heil, liebevoll und frei fühlte sie sich, seit sie den Ring an ihren Finger gesteckt hatte. Und dieser alte Mann, dieser Penner, Landstreicher, Zechpreller, der hatte ihn ihr geschenkt.

»Ich weiß, welches Haus Sie meinen«, sagte Luna. »Karpartenstraße 5, am Feldrand, der Schuppen sieht ziemlich verfallen aus. Sie gehen geradeaus, die zweite rechts, biegen gleich links, dann wieder rechts ab, um das Einkaufszentrum drum rum, dann etwa tausend Meter an der Ausfallstraße entlang und an der großen Eiche wieder nach rechts. Es ist das letzte Haus in der Straße.«

»Gut«, sagte der Weihnachtsmann und machte sich sofort auf den Weg.

Luna blieb noch eine ganze Weile in der offenen Tür stehen. Nach und nach verschmolz der ausgeblichene Mann mit der Nacht. Luna wunderte sich. Am meisten über sich selbst. Sie kannte gar keine Karpartenstraße. Sie kannte auch kein blaues Haus. Und trotzdem stimmte die Wegbeschreibung. Da war sie absolut sicher. Seltsam, dieser alte verwaschene Mann …

Aus dem Inneren der Gaststube schrillte die Stimme des Wirtes: »Frollein Luuuuna! Sie werden fürs Arbeiten bezahlt, nicht fürs Rumstehen. Hopphopp!«

»Hopphopp«, das war neben »Frollein« das andere Wort, das Luna auf den Tod nicht ausstehen konnte. »Ja, Herr Wirt«, sagte sie scharf, ließ die schwere Wirtshaustür zufallen und ging wieder an ihre Arbeit.

Der Weihnachtsmann, so entkräftet er war, rannte. Keuchend und fast blind vor Anstrengung hastete er den Weg entlang, den Luna ihm beschrieben hatte.

Links, rechts … Als er um das Einkaufszentrum herumkam, prallte er mit voller Wucht in etwas hinein. Ein küssendes Paar schrie auf. Und schimpfte wütend hinter ihm her, als der Weihnachtsmann nur »Entschuldigung« japsend davoneilte. Ein Auto kam mit quietschenden Bremsen gerade noch zum Stehen, als der Weihnachtsmann über die Straße hetzte. Und ein Hund, der die Verfolgung dieses vermeintlichen Fluchttieres aufgenommen hatte, gab eine Weile später einfach wieder auf.

Schließlich entdeckte der Weihnachtsmann eine riesige Eiche. Er bog nach rechts ab und – da stand das blaue Haus! Da waren diese Leuchtsterne an die Fenster geklebt. Und da stand auch der Schuppen und hinter dem Schuppen – sein Schlitten.

»Dem Himmel sei Dank!«

Der Weihnachtsmann ließ sich auf das Trittbrett fallen, schnaufte und röchelte, spürte sein Herz im Viervierteltakt klopfen, streckte Arme und Beine von sich und ließ das Blut in seinem Weihnachtsmannkörper kreisen. Langsam kam er zu sich. Und langsam überkam ihn leider auch die Gewissheit, dass hier etwas fehlte. Jemand fehlte, genauer gesagt. »Einar? – Elvar?« Ganz leise und zittrig klang seine Stimme. Keiner antwortete. Der Weihnachtsmann hievte sich hoch, auf bleiernen Füßen schlich er um seinen Schlitten herum, schaute darunter, schob schwerfällig die Restgeschenke zur Seite, wankte auch noch ein paar Schritte hinter den Schuppen und wusste doch schon längst Bescheid. Die Rentiere waren fort.

»Himmel«, seufzte der Weihnachtsmann. Mehr kam ihm nicht aus der Kehle.

»Himmel.« Dann zog er seine kleine Taschenlampe, mit der er sonst die Klingelschilder mit seiner Zustellliste abglich, aus dem Inneren seines abgewetzten Mantels hervor. Kreuz und quer leuchtete er seinen Schlitten ab.

Er fand nichts. Kein Zeichen, keine Spur.

Plötzlich wurde dem Weihnachtsmann ganz heiß. Was, wenn jemand seine beiden Rentiere entführt hatte? Einer, der Böses vorhatte, der zum Beispiel mit dem Zoo in enger Geschäftsbeziehung stand. Oder – der Weihnachtsmann wagte es kaum zu denken – mit der Tierversuchsanstalt? Oder gar mit dem Schlachthof?! Irgendetwas musste er tun. Jetzt. Sofort.

Bloß was? Und mit seiner ins Unermessliche steigenden Ratlosigkeit kam dem Weihnachtsmann die Wut. Was war eigentlich los mit der Himmelsabteilung? Schliefen die alle? Oder saßen rum da oben auf ihren dicken Hinterteilen und guckten zu? Genossen womöglich seine Hilflosigkeit. Lutschten Nebelbonbons und reichten das große Fernrohr in der Runde herum.

»Ihr Stubenhocker!«, schrie der Weihnachtsmann. »Meine Rentiere sind weg!«

Keine Antwort.

»Ja, vielleicht hab ich Fehler gemacht, vielleicht war ich zu lang in diesem Wirtshaus, kann ja sein, aber jetzt geht es um Leben und Tod!«

Der Himmel zeigte kein Interesse.

»Antwortet!«, fing der Weihnachtsmann wieder an zu schreien. »Verdammt, gebt mir ein Zeichen! Ich, Euer Weihnachtsmann, stehe hier auf der Erde, und ich weiß verflixt noch mal nicht weiter !!!«

Aber der Himmel rührte sich nicht. Keine Wolke schob sich zur Seite, kein Stern begann zu glühen, und niemand ließ einen Zettel vom Himmel fallen.

Nur eine Stimme erscholl. Die allerdings kam eher aus dem Fenster des Hauses gegenüber, und himmlisch klang sie ganz sicher nicht.

»Halt den Rand da draußen, du Penner, sonst hol ich die Polizei! Das ist Ruhestörung, verstanden?« Und als der Weihnachtsmann nicht antwortete, ging es immer weiter. «Hau ab, hab ich gesagt. Hier ist kein Platz für solche wie dich, solche Bekloppten. Verpiss dich, zieh Leine!«

»Herr Starkbier, ist gut jetzt. Sonst hol ich wegen Ihnen die Polizei. Gehen Sie schlafen.« Jetzt war am blauen Haus ein Fenster geöffnet worden. Eine dicke Frau im Nachthemd guckte heraus, und nachdem Herr Starkbier erstaunlicherweise sofort auf die Worte der Frau gehört und sich in sein Gemach zurückgezogen hatte, richtete diese ihre Aufmerksamkeit auf den Weihnachtsmann. »Und Sie? Ist das Ihr Schlitten?«

Der Weihnachtsmann nickte.

»Sind das etwa auch Ihre Hirsche? Diese beiden vernachlässigten Kreaturen konnten kaum die Köpfe heben, als ich sie hier draußen in der Kälte fand. Angegurtet an dieses halbzerfallene Gestell, mit dem Sie vermutlich ›Wintersport‹ betreiben.«

»Haben Sie …?«, wollte der Weihnachtsmann sich weiter erkundigen.

Die Frau jedoch unterbrach ihn sofort. »Tierquäler«, brüllte sie, dann knallte sie das Fenster zu.

Der Weihnachtsmann kombinierte. Die Hirsche, das waren Einar und Elvar. Die Frau hatte sie sozusagen oder vielleicht sogar tatsächlich gerettet. Sie waren also am Leben und befanden sich allem Anschein nach jetzt in Gesellschaft dieser Frau, also in ebenjenem blauen Haus. »Na gut, dann sehen wir morgen weiter«, murmelte der Weihnachtsmann einigermaßen erleichtert. Er kletterte auf den Schlitten, kroch zwischen die Geschenkpakete und griff nach seiner warmen Decke. Schlafen. Nach diesem beschwerlichen Tag nichts als schlafen.

Leider war die Decke auch weg. Vielleicht hatte die Frau sie für Einar und Elvar mitgenommen. Ohne Decke kein Schlaf. Das war klar.

Der Weihnachtsmann drückte zaghaft auf den von Blumen und Elfenbildern umrankten rosafarbenen Klingelknopf. Er trat einen Schritt zurück und bekam trotzdem einen Schreck, als mit Schwung die Tür aufgerissen wurde.

Herausfordernd stand die lila benachthemdete, dicke Dame vor ihm. »Was wollen Sie? Ihre Hirsche? Nix da. Die beiden haben Besseres verdient. Die geb ich nicht raus. Und Ihnen schon gar nicht.«

»Kann ich sie sehen, bitte?«, fragte der Weihnachtsmann.

»Sehen? Wie ihnen die Rippen aus dem Fell stehen? Abgemagert, wie sie sind! Wie lange quälen Sie die beiden schon, hä?«

»Tja, ich weiß gar nicht, zweihundert Jahre, vielleicht dreihundert. Es ist ihr Beruf.«

»Beruf, ja? Und Ihr Beruf ist das Schinden, nicht wahr? Und dann noch schlechte Witze reißen. Haha, dreihundert Jahre, sehr lustig. Die armen Tiere.«

»Es sind Rentiere. Und ich bin der Weihnachtsmann. Wir sind alle drei überarbeitet. Bitte, lassen Sie mich mit den beiden sprechen.«

»Ach, sprechen tun Sie trotzdem mit ihnen, ja? Ist ja süß. Was sagen Sie denn so: ›Heute gibt’s die Peitsche und erst in einer Woche wieder was zu essen?‹«

Gerade wollte der Weihnachtsmann erneut zu einer Erklärung anheben, da stockte die Frau und besann sich. Was hatte sie da gerade gehört?

»Der Weihnachtsmann?« Man konnte das Klicken in ihr geradezu hören.

»Jawohl«, beeilte sich der Weihnachtsmann zu bestätigen. Aber gegen diese Wahrheit schien die dicke Dame wohl doch resistent zu sein.

»Pah, wahrscheinlich sind Sie einfach ein erbärmlicher Fetischist. Ein durchgeknallter Hirschfetischist. Traurig so was. Und die Tiere müssen drunter leiden«, fuhr sie fort.

Hinter dem breitgeschwungenen Becken der Tierschützerin konnte der Weihnachtsmann eine dunkle, leicht feuchte Nase erahnen. »Einar!«, rief er aus. «Einar, da bist du ja. Ist Elvar bei dir? Seid ihr okay?«

Einar gab keine Antwort.

»Die Dame, was hat sie euch zu essen gegeben? Du weißt doch, Elvar verträgt das Menschenessen überhaupt nicht. Und dein Fuß? Tut mir leid, ich hab’s einfach vergessen.«

Einar rümpfte die Nase.

»Ich schäme mich«, kam ihm der Weihnachtsmann entgegen, aber seine Entschuldigungen zeigten keinerlei Erfolg. »Einar? Warum antwortest du mir denn nicht? Komm jetzt. Hol Elvar, wir gehen.«

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