Der weiße Büffel, oder Von der großen Gerechtigkeit - Ernst Wiechert - E-Book

Der weiße Büffel, oder Von der großen Gerechtigkeit E-Book

Ernst Wiechert

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Beschreibung

Ein Werk, das heute aktueller denn je zu sein scheint:Ernst Wiecherts Gleichnis, dessen Protagonist der indische Hirtenjunge Vasudewa ist, zeigt auf legendenhafte Art und Weise, dass Gerechtigkeit nicht durch Waffen und Gewalt erreicht werden kann. Vasuweda beachtet die Lehren seiner Mutter nicht, wodurch ihn seine Empörung über Ungerechtigkeit zu einem grausamen Gesetzlosen werden lässt. Erst spät werden ihm seine Irrtümer bewusst, doch ist es nun schon zu spät?-

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Ernst Wiechert

Der weiße Büffel, oder Von der großen Gerechtigkeit

 

Saga

Der weiße Büffel, oder Von der großen Gerechtigkeit

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1946, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726927559

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

I

Lange vor der Zeit, in der zum erstenmal über dem niedrigen Strand der ostindischen Küsten die Flagge des christlichen Abendlandes erschien, wurde in einem kleinen Dorf an den Ufern des Ganges ein Knabe geboren, den die Eltern Vasudeva nannten.

Es geschah nichts Besonderes bei seiner Geburt, außer daß der leise Schmerzenslaut der Gebärenden von dem Todesschrei des Dorfältesten übertönt wurde, der frierend in der Abendsonne über dem Ufer gesessen hatte, die halb erblindeten Augen in das Strömen der heiligen Wasser gerichtet, und den der Tiger aus dem Dschungel geholt hatte, das gleich an der Hütte des Neugeborenen begann. Der Mutter war es, als hätte sie vor der Tür einen Schatten gesehen, der einen anderen Schatten trug, und als hätte das Rohr der niedrigen Hütte geknistert wie unter dem Sprung eines darübersetzenden Tieres. Doch glitten ihre Augen gleich wieder zu dem kleinen Antlitz, das man vor ihr erhob, und Jammern und Wehklagen auf der schnell sich verdunkelnden Dorfstraße waren ihr nur wie ein ferner Schall, gleich dem immer dunklen Brausen des Stromes oder der hohen Wipfel, und wirklich und gewiß erschien ihr nur das rötliche Knistern des Schilfes auf dem alten Lehmherd und der sanfte Widerschein des Feuers in den unbeweglichen und sanften Augen ihres Kindes.

Zwar hielten es die Frauen des Dorfes, flüsternd, betend oder leise wehklagend um das schützende Feuer gekauert, für ein Zeichen, und zumeist für ein böses, als habe Schiwa schon einen seiner vielen Arme vorfordernd auf das Neugeborene gelegt, aber die Mutter lächelte nur, und kaum hatte man das Kind, gewaschen und mit dumpfen Formeln gesegnet, an ihre braune Brust gelegt, als sie auch schon die Augen schloß und die Geräusche der Hütte wie die der Straße ihr mit dem Rauschen des Stromes Zusammenflossen, immer friedlicher und immer ferner, bis der gesegnete Schlaf nach den Schmerzen sie herrlich umfing.

Der Vater kehrte erst heim, als die Sonne den Strom schon vergoldete, so daß er wie ein funkelnder Schacht in die schwarzen Wälder sich hineingrub. Sie kamen vom nächtlichen Fischfang zurück, und alle Männer hatten Fischschuppen im Haar, am dunklen Körper und zwischen den Fingern. Sie blitzten im Licht wie rötliches Silber, und das Kind folgte mit weitoffenen Augen den Bewegungen des glänzenden Wesens, das sich über die Matte beugte.

„Er wird andere tragen“, sagte der Vater, als man ihm alles berichtet hatte, „aber Blut wird an seinen Händen sein.“

Dann betete er, streckte sich auf seiner Matte aus, die Augen mit den Armen gegen das Licht geschützt, und schlief nach der schweren nächtlichen Arbeit. Er lag so still, daß er wie ein Toter aussah.

Nichts geschah in Vasudevas Kindheit, was nicht auch den anderen Kindern in den tausend Dörfern an den Ufern des Stromes geschah. Nichts hob ihn heraus, nichts stieß ihn in die Tiefe, und nichts erinnerte das Dorf an das böse Zeichen bei seiner Geburt und an die Worte seines Vaters. Er war schlank, dunkel und immer unterwegs wie alle seine Altersgefährten. Er nährte sich von Reis und Fischen, von Früchten und dem trockenen Brot, das seine Mutter in der Asche des Herdes buk. Oft hütete er die Kuh, die sie besaßen, und oft vereinigte er sich mit den anderen jungen Hirten des Dorfes, so daß sie dann gemeinsam die kleine Herde bewahrten. Sie schossen mit dem Bambusbogen, sie schleuderten leichte Speere, an deren Spitze sie Fischgräten banden, sie rangen und liefen um die Wette, und ehe sie sich versahen, sank die glühende Sonne hinter die Palmenwedel im Westen. Die Stimmen des Urwaldes stiegen in die kurze Dämmerung empor, und sie erschauerten unter den klagenden und zornigen Lauten einer unbekannten Welt. Silberne Sterne sprangen aus der Schwärze über ihnen, und sie kauerten noch eine Weile im heißen Sand des Dorfplatzes, indes aus den offenen Hütten der rötliche Schein des Schilffeuers tröstlich leuchtete und Funken in ihren halbgeschlossenen Augen tanzen ließ. Sie horchten auf, wenn im Strom der schwere Körper des Menschenräubers von einem treibenden Baumstamm in die Fluten stürzte oder der Schrei des Tigers um die Trinkstellen der Tiere ging. Ihre jungen Seelen erzitterten, und das Leben schien ihnen schwer und verloren in der ungeheuren Landschaft, die sie brütend umschloß.

Dann stießen sie einander in wilder Fröhlichkeit zum Abschied und schlüpften über die niedrigen Schwellen zu den elterlichen Feuern, wo sie kindlich und prahlend von ihrem Tage erzählten, indes die Mutter eine Salbe auf die Bißwunden der roten Waldameisen strich und der Vater die Lehren der Geschlechter vortrug, wie dem bösen Herrn und Mörder des Waldes zu begegnen sei, wobei seine schmalen braunen Hände große Schatten an die Lehmwand der Hütte warfen. Der scharfe Rauch des Schilfes zog träge zur Tür hinaus, und in seinen Lücken stieg mitunter ein Stern über dem anderen Ufer empor, silbern erstrahlend wie zu den Füßen ferner, angstloser Götter.

Mitunter kam ein Bettler oder ein Heiliger durch das Dorf gezogen, den staubigen Pfad entlang, der zur Heiligen Stadt in der Ferne führte. Er kauerte im Schatten der Hütten, trank von dem kühlen Wasser, das man ihm reichte, und sprach, mürrisch oder mit glühender Beredsamkeit, von den Geschehnissen der Zeit, so wie sie über Dörfer und Wälder und Ströme hingegangen waren. Selten war von Glück und Segen zu berichten, öfters von Wundern und Rätseln, am meisten aber von blutiger Bedrückung und harter Gewalttat der Herrschenden, die ihre Knechte aussandten, um Steuern zu erpressen oder Vieh zu rauben, die aber selbst immer in der Ferne blieben, unsichtbar und unerreichbar wie die düsteren Götter in den Nischen der Tempel.

Dann hingen sie an seinem Munde, der so Schreckliches wußte, und ihre Augen gingen scheu über die niedrigen Dächer nach der Schwärze der Wälder, die untertags in gelähmtem Schweigen lagen. Und sie segneten ihr Los, das ihre Hütten arm, ihre Aecker klein und ihren Sinn demütig gehalten hatte.

Vasudeva aber stahl sich heimlich davon, wenn der Fremde sich zur Wanderung rüstete, und erst weit hinter dem Dorfe stand er plötzlich auf dem schmalen Pfad, eine süße Frucht in der Hand, die er dem Fremden bot, mit der Bitte, ihn ein Stück des Weges begleiten und noch mehr von dem hören zu dürfen, was „bei den Gewaltigen“ geschah.

Sein Vater strafte ihn, wenn er atemlos und mit noch verwirrten Augen heimkehrte, aber in der Nacht stahl er sich auf das Lager seiner Mutter, umschlang sie fest mit seinen Armen und flüsterte ihr ins Ohr, was er an Unerhörtem vernommen hatte. „So viel!“ sagte er mit bebenden Lippen. „So viel und so weit . . .“

Sie hörte sein Herz an ihrem Körper schlagen wie damals, als sie ihn getragen hatte, und ihre schwermütigen Augen waren im Dunklen aufgeschlagen, ganz wach, nach den Sternen über dem anderen Ufer. „Es ist der Trug“, sagte sie, „nichts als der Trug, aber du mußt alt werden, um hinter den Schleiern das Bild zu sehen — die Götter mögen deine Füße leiten . . .“

Er lag noch eine Weile wach, mit wirren Gedanken um ihre Worte und den Weg des Fremden kreisend. Dann wurde sein Atem stiller, seine Lippen entspannten sich, und das Letzte, was er tröstlich vernahm, war der Schlag des mütterlichen Herzens, der wie aus einer fernen und vertrauten Schmiede kam.

Immer nach solchen Tagen war er einsam und finster zwischen seinen Gefährten, verzog die Lippen zu ihren gewohnten Spielen und schlug blindlings zu, wenn man ihn reizte. Dann stahl er sich an den Strom, abseits, wo zu gehen ihm nicht erlaubt war, schwang sich an den Luftwurzeln der Riesenbäume in die Höhe, bis er einen grünen und verborgenen Thron fand, und starrte von seinem Sitz auf die schmutzig strömende Flut, über der die Luft in der weißen Sonne kochte. Wohin ging das Wasser, und von wo kam es? Wohin ging die Sonne am Abend, und wer zündete die Sterne an? Weshalb war das Herz so schwer wie ein Stein im Netz? Er beugte sich, legte die Arme vor die Augen und versank ganz und gar in der traurigen Dämmerung seiner Jugend.

Er würde fortgehen, so weit wie die Bettler und die Heiligen, noch weiter fort. Von Dorf zu Dorf, von Strom zu Strom. Er würde alles sehen, alles erleben und erleiden, Straßen und Menschen, Tiere und Sterne, Sonnenzeit und Regenzeit, und am Ende — es würde kein Ende für ihn sein! Für alle anderen, aber nicht für ihn. Nein, kein Ende, gar kein Ende . . .

Später, in der Dämmerung, schlich er sich unter den Farnen am Rande des Waldes zu den jungen Hirten, und mit einem wilden Schrei stürzte er sich plötzlich auf die entsetzten Gefährten. Zwischen ihren blassen, gelähmten Gesichtern ließ er sich lachend zur Erde fallen, und wenn sie sich über ihn warfen, wehrte er sich nur spielend, nahm dankbar die harten Schläge hin und trieb endlich einträchtig mit ihnen die Herde in das Dorf zurück, wobei er leise erzählte, wie er mit dem Tiger gekämpft hätte, und ernsthaft auf den langen blutigen Riß wies, der quer wie ein Schwerthieb über seine magere Brust lief. Sie höhnten und schwiegen abwechselnd, aber als sie sich von neuem über ihn werfen wollten, entwich er lachend in die Hütte seiner Eltern.

Niemand wußte, was in ihm lebte. Nur die Augen seiner Mutter waren ohne Zweifel, wenn sie seinem Gange folgten.

Als er sechzehn Jahre alt war und einige seiner Gefährten schon lange die Frau erhalten hatten, die ihnen bestimmt war, vernahm er eines Tages, gleich nach der Regenzeit, fremde, nie gehörte Laute auf dem Pfade am Strom. Es dröhnte leise und vielfach auf dem Boden, und es klirrte dazwischen wie in der Schmiede, wenn beim Suchen eines Werkzeugs sich Eisen an Eisen rieb.

Er hob die Hand und glitt schnell in den Schatten des Pandanus, der am Ende ihres Weideplatzes stand. Auch die anderen stahlen sich geräuschlos aus dem hellen Licht, und nur die Herde blieb träge und ungestört auf der grünen Lichtung.

Schon fuhr es im Dorfe plötzlich auf, Bewegung und ein einzelner klagender Schrei, der warnend über die Hüttendächer stieg; das Dröhnen auf dem Uferpfad schwoll an, gewann unvermutet einen harten und schnellen Rhythmus, Waffen blitzten wie blanke Vögel zwischen den Zweigen, und dann brach es mit einem fremden, nie vernommenen Schrei zwischen die Hütten ein, Staub und Lärm um sich hebend, hielt auf dem Dorfplatz, und eine hohe, metallene Stimme rief einen Befehl, dem ein tiefes Schweigen folgte.

Den ersten seiner Gefährten, der mit einem Sprung zum Dorfe ansetzte, ergriff Vasudeva bei der Kehle. Flüsternd und zornig sprach er auf sie ein, zog drohend seinen gekrümmten Dolch und trieb sie vor sich her, bis sie die Herde umzingelt und lautlos in das dämmernde Dunkel des gefürchteten Waldes getrieben hatten.

Hier befahl er dreien von ihnen auf das strengste, Wache zu halten, versprach auch, sie abzulösen, und war mit den anderen bald zwischen den Hütten und dann am Rande des Platzes unter den Großen, den Bogen wie immer in der Hand, das junge Gesicht grau vor Erregung, als er die Fremden erblickte.

Sie hielten auf niedrigen Pferden, die Lanzen quer über dem Sattel, Schwert und Peitsche an der Seite, und sahen mit hochmütigen Gesichtern auf Weiber und Alte herunter, die vor ihnen im Staube knieten. Ihre Gesichtszüge waren fremd bis auf einen, der ihr Wegweiser zu sein schien, und auch die Worte, die sie sprachen, kalte und verächtliche Worte, klangen so, als hätten sie sie nur zu dieser Fahrt erlernt. Sie waren gekommen, um im Auftrag des großen Königs und Herrn die Steuer zu holen, die seit Jahren ausgeschrieben sei und von der dieses Hundedorf wahrscheinlich niemals etwas gehört habe.