Der weite Weg nach Schwabistan - Eberhard Bohn - E-Book

Der weite Weg nach Schwabistan E-Book

Eberhard Bohn

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Beschreibung

"Der weite Weg nach Schwabistan - Die Heimat verlassen und Fuß fassen in einem fremden Land" begleitet eine Familie von Geflüchteten aus Afghanistan nach deren Ankunft in der schwäbischen Provinz. Der damals schon über 80-jährige Autor folgte im Jahr 2016 dem Aufruf der Lokalzeitung, Geflüchtete einem Heim mitten im Schwäbischen Wald beim Kennenlernen der deutschen Sprache und Kultur zu unterstützen. Er freundet sich dabei mit einer afghanischen Familie an und unterstützt sie nicht nur beim Erlernen der Sprache, sondern auch bei der Bewältigung von allerlei Widrigkeiten im Alltag. Dabei notiert er akribisch, was ihm die Menschen über ihr Leben in Afghanistan, die Gründe und genauen Umstände ihrer Flucht, die Zerstreuung der Familie in die ganze Welt und das neue Leben im Schwabenland erzählen. Der Leser begleitet die Hauptprotagonistin, Zohal, durch Höhen und Tiefen beim Einleben in "Schwabistan", beim Kampf mit der deutschen und schwäbischen Sprache und vor allem bei der für eine ehrgeizige junge Frau schwierigen Berufswahl. Aus diesen persönlichen Erfahrungen und den Notizen entstand das Manuskript - teils in Erzählform, teils in persönlichen Berichten.

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Inhalt

Orient trifft Okzident

Aber von Anfang an …

Afghanistan

Zohal

Edris

Der Verlust des Paradieses nach dem Koran

Auf der Flucht

Ankunft in Unterhagbach

Trotz allem: Das Leben geht weiter

Ahmad

Ein bisschen Aufregung zwischendurch

„Der Busfahrer mit dem Bart“

Zarmina

Vorstellung in der Alten Abtei

Und jetzt auch noch eine Liebesgeschichte

Die Geschichte von Abraham, Sahra und Hagar

Jobcenter und Praktika

Praktikum beim Bäcker

Tante Rösles Birnenkuchen

Das Praktikum in der Unfallchirurgie

Der Führerschein

Poetry Slam

Doch auch die Geschichte mit Aaryan geht weiter

Zeitungsbericht: Blutiges Ende einer Hochzeit in Kabul

Ernüchterung

Und jetzt greift auch noch Allah ein

Fatima

Abraham, Sarah und Hagar nach der Bibel

Muslimisches Denken?

Eine orientalische Mühlengeschichte

Fortsetzung und Schluss der großen Liebe

Der letzte Tag: Abschied

Mehr vom „General“

Einhalt – Rückblicke

Kulturvergleich

Die Familie, Verwandtschaft, Bekanntschaft

Der Vater Mohamad Osman

Die Pilgerreise afghanischer Muslime nach Mekka

Der Vater und der jüngste Sohn

Die Hiobsgeschichte

Haija – eine außergewöhnliche Frau

Die andere Seite der Familie

Edris

Zarminas weiterer Weg

2023: Erdbeben in Afghanistan

Nach vier Jahren in Deutschland

Nachts auf der Trögleswiese

Geburtstagfeier mit Pfarrern

„Glück zu“ in Weilheim

Besuche im Krankenhaus

Die verpasste Deutschprüfung

Das Praktikum in der Psychiatrie

Der Alltag in der Psychiatrie

Erschöpft!

Sind Namen nur Schall und Rauch?

Die perfekte Stadtverwaltung

Abschied von der Psychiatrie

Brief an Zohal

Es muss ja weitergehen!

Ausbildung und Unterricht am „Diak“

Im Fahrstuhl mit Evi

Frau Anne

Abschluss der Ausbildung

Bewerbungsschreiben

Bestanden!

Bewerbung in Ludwigsburg

Am Klinikum Ludwigsburg

Voll in Arbeit

Ein Mensch wird Vater und Mutter verlassen …

Zum Schluss

Nachwort des Editors

Vorwort

Als in den Jahren 2015 und 2016 aufgrund des Bürgerkriegs in Syrien und der sich abzeichnenden Machtübernahme der Taliban in Afghanistan eine große Zahl von Flüchtlingen nach Deutschland kam, wurde in einem winzigen Weiler, mitten im Wald, ein ehemaliges Seniorenheim zur Flüchtlingsunterkunft umgewidmet. Für mehrere Jahre waren dort etwa sechzig Menschen aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, dem Irak und anderen Ländern untergebracht – Einzelpersonen, aber auch Familien mit Kindern.

Im Sommer 2016 veröffentlichte die Lokalzeitung einen Aufruf zum bürgerlichen Engagement bei der Betreuung der Menschen dort, insbesondere zur Unterstützung beim Erlernen der deutschen Sprache. Da meldete sich auch der damals schon über 80-jährige Autor – aus einer Laune heraus und ohne konkrete Vorstellungen darüber, was diese freiwillige Aufgabe bedeuten würde.

Bis zu Schließung der Unterkunft unterrichtete er dort Deutsch – oder doch eher Schwäbisch? – und schloss im Laufe der Zeit engere Kontakte zu einigen Bewohnern der Unterkunft. Besonders zu einer Familie aus Afghanistan entwickelte sich nach und nach ein intensiver Kontakt.

Aus den damals gemachten schriftlichen Notizen und Erinnerungen über deren Erzählungen zur Situation in Afghanistan, der abenteuerlichen und gefährlichen Flucht mit unbekanntem Ziel, sowie die Ankunft in einem fremden Land entstand dieses Buch.

Zum Schutz der Privatsphäre aller Beteiligten wurden im Folgenden alle Personen- und Ortsnamen verändert, auch wenn dadurch einige Details, wie etwa Entfernungen und Zugverbindungen, oft nicht mehr ganz schlüssig erscheinen.

Insgesamt hat sich alles jedoch genauso wie nachfolgend erzählt zugetragen ...

Orient trifft Okzident

Sternschnuppen – Erlebnisse – Gedankensplitter

Ich sitze an einem warmen Abend mit meiner Frau zusammen im Auto vor dem Rathaus in Rottweil, auf dem Rücksitz eine etwas ältere Frau aus Afghanistan. Wir warten auf jemanden und beobachten das Leben und Treiben in der Innenstadt. Es ist nicht viel los, eher langweilig. Im Freien, vor den Restaurants, sind einige junge Leute, essen ein Eis Ein junger Mann, dem Aussehen nach Ausländer, füttert mit Popcorn die Stadttauben. Einige Leute laufen herum, ab und zu fährt ein Auto durch. Eine Frau fällt mir auf: knielange kurze Hose, olivgrün. Dazu ein Blouson in derselben Farbe, sommerlich, schlabberig, jedenfalls nicht sehr aufregend. Aber sie ist keine Ausnahme. Deutsche Kultur. Sommerkultur?

Da erscheinen drei Frauen, mit bodenlangen, schwarzen Kleidern, keine Burkas, Kleider! Mit dezent farbigen wunderschönen Kopftüchern. Sie schwatzen und lachen. Leben pur! In einer davon meine ich eine meiner ehemalige Sprachschülerinnen aus Unterhagbach zu erkennen. Was für ein Bild! Ich bin fasziniert.

Unsere Afghanin auf dem Rücksitz sagt: „Es sind sicher afghanische Frauen. So war auch das Leben zu Hause in Masar-e Scharif.“

Das ist Orient!

Aber von Anfang an

Meine Gedanken und Wege sind nicht deine Gedanken und Wege

Die ersten Notizen zu diesem Buch wurden von mir während des Jahreswechsels 2017/18 in meinem Büro erstellt. Der eigentliche Hintergrund: Edris wurde aufgefordert Deutschland innerhalb von drei Wochen zu verlassen.

Grundlage war ein in Dari, einer in Afghanistan gesprochenen Variante der persischen Sprache, von Edris und seiner Schwester Zohal Nabizada erstellter Bericht. Dieser wurde mit Hilfe von Google Translate automatisch aus der Sprache Dari in die englische Sprache übersetzt. Diese automatische Übersetzung war äußerst unbefriedigend. Mit Hilfe von Zohal, welche inzwischen die deutsche Sprache einigermaßen beherrscht, wurde der Bericht nach unzähligen Rücksprachen korrekt ins Deutsche übertragen.

In der Regel besuchen in Afghanistan nur Jungen einige wenige Jahre die Schule. Mädchen fast überhaupt nicht. Auch heute noch. Heute erst recht nicht!

Bei dem, was es hier zu erzählen gibt, kann von einem Mann, der gerade einmal drei Jahre die Schule besucht hatte, nicht erwartet werden, dass er sich immer korrekt auszudrücken vermag! Und vor allem: Seine Erzählungen sind mit ungeheuer starken Emotionen belastet.

Des Weiteren: Es ist in Afghanistan – auch auf Ämtern – nicht üblich, irgendwelche Daten und Zeiten (Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden, Geburtstage etc.) schriftlich festzuhalten. Deswegen werden Zeitangaben immer aus dem Gedächtnis, sozusagen „gefühlt“, wiedergegeben. Daraus entstehen unter Umständen große Unstimmigkeiten. Zum Beispiel: Als Zeit des Aufenthalts im kanadischen Camp wird von Edris der Monat „Ramadan“ angegeben. Der Monat Ramadan richtet sich nach dem Mond und findet nach unserem Kalender jedes Jahr zu einer anderen Zeit statt.

Dasselbe gilt auch für die Namensgebung: Der Name wird nicht schriftlich festgehalten und kann gewechselt werden.

Afghanistan

Afghanistan ist ein sehr bergiges Land. Drei Viertel des Landes ist Gebirge. Das heißt: Große Teile sind nicht bewohnbar und können nicht bewirtschaftet werden. Der höchste Berg ist der Nashak im Hindukusch, er ist mit 7485 m zweieinhalbmal so hoch wie die Zugspitze, der höchste Berg Deutschlands, mit 2962 m.

Flüsse und Seen von internationaler Bedeutung oder Interesse gibt es in Afghanistan nicht.

Das Klima: In Afghanistan gibt es je nach Höhenlage sehr unterschiedliche Temperaturen in meiner Heimatstadt Masar-e Scharif liegen diese bei -40 oC im Winter und +40 oC im Sommer.

Es gibt Bodenschätze!

Schätzungen zufolge liegen in Afghanistan Bodenschätze im Wert von bis zu 3 Billionen US-Dollar. 3.000.000.000.000; eine 3 mit zwölf Nullen!

Das sind zum einen Kupfer, Kobalt, Gold, aber auch Lithium und andere seltene Erden. Und das sind genau die Elemente, die in der Herstellung der modernen Batteriespeichertechnik und zur Herstellung von Computern so dringend benötigt werden.

Genug Potential für großen Reichtum Afghanistans, aber eben auch viel Potential für nie endende Kriege.

Nebenbei, Afghanistan ist Erdbebengebiet.

Flächenmäßig ist Afghanistan beinahe doppelt so groß wie Deutschland, ca. 653.000 km2 (Deutschland: 358 000 km2), hat aber nur ca. 35 Millionen Einwohner im Gegensatz zu Deutschland mit 83 Mill. Einwohnern. Das heißt, in Afghanistan leben 52 in Deutschland 232 Menschen pro km2.

Auf der anderen Seite: Berlin hat 3,8 Millionen, die Hauptstadt Afghanistans Kabul ca. vier Millionen Einwohner. Nach neueren Angaben 2019 über 7,5 Millionen. Das heißt, das Land ist relativ dünn besiedelt und die Einwohner konzentrieren sich in wenigen großen Städten.

Einige größere Städte in Afghanistan1:

Kabul: 7,5 Millionen Einwohner

Masar-e Scharif: 516.000 Einwohner

Herat: 507.000 Einwohner

Kandahar: 462.000 Einwohner

Kunduz: 300.000 Einwohner

Ähnlich wie Deutschland ist Afghanistan umgeben von unterschiedlichen Staaten. Staaten mit anderen Kulturen, Religionen und Sprachen. Die bedeutendsten Nachbarstaaten sind Iran, Pakistan und China. Von dort wird die Politik Afghanistans sehr stark beeinflusst.

1 Zahlen gemäß Wikipedia, 2018

Zohal

Ich, Zohal Nabizada, wurde in Afghanistan geboren und bin in Afghanistan aufgewachsen. Ich bin Afghanin. Mein Heimatland Afghanistan liegt in Zentralasien. Ich bin seit 2016 hier in Deutschland. Ich wurde 1986 in Masar-e Scharif, Afghanistan geboren.

Masar-e Scharif ist eine große Stadt im Norden Afghanistans mit ungefähr 540.000 Einwohnern.

Es ist eine orientalische Stadt. Es gibt Bazare. Viele Bazare! Dort kann man vieles sehen und erleben:

Überall quirliges Leben! Man kann Einkaufen, Essen! Es gibt viele Restaurants im Freien; auf der Straße. Die Düfte und Gerüche! Und es gibt viele Hotels.

Man sitzt im Freien und die Männer machen mit Geschäftsfreunden ein Geschäft, man hält mit Freunden ein Schwätzchen. Man hat Zeit! Vielleicht raucht man eine Wasserpfeife.

Frauen? Die haben auf der Straße nichts verloren, die haben zu Hause zu bleiben.

Dort, im Zentrum der Stadt, bin ich mit zwei Schwestern und drei Brüdern aufgewachsen. Meinem Vater gehörten fünf Kaufläden. Vier davon hatte er vermietet, einen betrieb er selbst. Er verkaufte Autoteile. Wir haben gut gelebt; wir waren keine armen Leute.

Was nur wenigen Mädchen in Afghanistan möglich war: Ich konnte die Schule besuchen, bis zum Abitur.

Es gibt in Masar-e Scharif drei Universitäten. Ich war zehn Jahre Lehrerin und habe dann sieben Semester an der Balkh–Universität Jura studiert. Doch dann, vor meinem Abschluss, musste ich, unsere ganze Familie, aus politischen Gründen Masar-e Scharif verlassen.

Das große politische Problem in Afghanistan ist, dass es den Taliban gelang, die reguläre Regierung im Land immer mehr auszuschalten und so die Herrschaft mehr und mehr zu übernehmen.2

Lange Zeit war in unserer Stadt von ihnen nur wenig zu spüren. Es gab ab und zu einen Anschlag auf ein öffentliches Gebäude, oder auf einzelne Personen. Aber so etwas hat es in Afghanistan schon immer gegeben. Doch dann, es war Oktober 2015, geriet unsere Stadt ganz in die Hände dieser Leute. Ab jetzt herrschte Chaos!

Täglich musste ich, auf dem Weg zu meiner Arbeit in der Schule, mit ansehen und erleben wie Kinder ohne Eltern, „Straßenkinder“, von Frauen mit Binden eingewickelt, mit Drogen betäubt im Halbschlaf bettelnd, am Straßenrand saßen oder lagen.

Eine „Bettlermafia“ im Hintergrund kassierte dann am Abend von den Frauen das erbettelte Geld.

Im Koran ist den Gläubigen vorgeschrieben, den Armen, den Hilflosen zu helfen.

Und dann: Die Frauen und die Mädchen!

Das Leben eines Mädchens in Afghanistan besteht von der Geburt bis zum Grab nur aus Angst!

Aber ich fragte mich immer mehr, warum ist das so, muss das so sein?

Lassen Sie mich einige wirklich widerliche Beispiele aufzeigen:

Kinder-, Mädchen-, und Frauenhandel in Afghanistan:

Ein Vater „bezahlt“ beim Glücksspiel mit seiner 12–jährigen Tochter.

Zwei Hundebesitzer, jeder hat eine Tochter, lassen ihre Hunde gegeneinander kämpfen. Da der Besitzer des besiegten Hundes kein Geld hat, muss er seine Tochter dem „Sieger“ zur Frau geben.

Bei zwei schon langen zerstrittenen Familien kommt es irgendwann zum ganz großen Streit. Dabei erschießt das Oberhaupt der einen Familie das Oberhaupt der anderen Familie.

So kann es nicht weitergehen! Der Mörder geht zur anderen Familie, entschuldigt sich und überbringt seine Tochter als Versöhnungsgeschenk.

Der über Generationen währende Familienstreit scheint beendet.

Nur: Für das Mädchen beginnt ein nie endender Leidensweg. Ihr wird von ihrem Gatten, von der ganzen Verwandtschaft, bei jeder Gelegenheit vorgehalten, dass ihr Vater der Mörder seines Bruders ist und sie wird dafür immer wieder bestraft, gedemütigt und vor allem geschlagen.

Bei den zahlreichen üblichen Festen wird dann für ein paar Stunden alles übertüncht. Sie wird zur Prinzessin, sie wird herausgeputzt und schön eingekleidet. Das gehört zur Repräsentation.

Als ich selbst 13 Jahre alt war erschien bei meinem Vater ein großer, alter, schlecht angezogener, übelriechender Mann und verlangte mich zur Frau. Mein sehr liberal eingestellter Vater war so erbost, dass er ein Glas ergriff und es nach dem "Verehrer" warf, der dann rasch das Weite suchte und glücklicherweise nie wieder kam.

Aber – ich war eine der wenigen Ausnahmen: Mein Vater hatte eine sehr moderne, aufgeschlossene Lebenseinstellung und ermöglichte es mir, die Grundschule, dann eine höhere Schule bis zum Abitur zu besuchen. Ich wurde Lehrerin!

Mit derartigen Problemen wurde ich jeden Tag konfrontiert und ich fing an mich dagegen aufzubäumen. Ich stellte einen Briefkasten auf, in welchem meine Schülerinnen sich anonym zu ihren Sorgen und Probleme äußern konnten. Damit die schon größere Mädchen, die immerhin zur Schule gingen und lesen und schreiben konnten und zwischen 15 und 22 Jahren alt waren, eine Möglichkeit hatten, sich zu wehren, wurde an verborgenen Stellen in der Schule „Kummerkästen“ angebracht. Ihre eigenen Namen waren darauf in der Regel nicht zu finden, sie hatten Angst und genierten sich. Die Namen ihrer Peiniger, auch solche aus der eigenen Familie, wurden sehr wohl genannt.

Diese „Kummerkästen“ wurden einmal im Monat im Beisein von ziviler Polizei und Sicherheitskräften angeschaut.

Ich fing an, mich zu wehren, in der Öffentlichkeit, auch im Fernsehen, und war dadurch, trotz meiner Jugend, in der ganzen Stadt bekannt.

Gerade diese wenigen Freiheiten, die sich die Frauen im Laufe der Zeit erkämpft hatten, wurden uns nun von den Taliban wieder gnadenlos entrissen.3

Ich wagte mich daraufhin nur noch in der mir so sehr verhassten Burka auf die Straße. Wir, meine Familie, lebten – nicht nur wegen mir – in panischer Angst! Am meisten Angst hatte ich vor einer Entführung!

Und dann stand eines Nachmittags – ich wollte gerade zu meiner Arbeit, zur Schule – beim Öffnen der Haustüre plötzlich, einen Schal um den Kopf gewickelt, schmutzig, dreckig, einfach widerlich, ein Taliban vor mir und griff nach mir. Wie oft hatte ich diese Situation schon in meinen Träumen durchlebt. Jetzt war sie Wirklichkeit geworden. Ich stieß den Mann zurück und schlug die Türe zu. Darauf schoss er mit drei Schüssen durch die Türe auf mich. Zum Glück traf er mich nicht. Im Haus, im Hintergrund, der gellende Schrei meiner Mutter.

Dadurch, dass meine Brüder Edris und Ahmad für das deutsche und kanadische Militär gearbeitet hatten, wurde das Leben für unsere Familie immer gefährlicher.

Als meine Eltern immer öfters telefonisch bedroht wurden, mein Bruder Ahmad in seinem fahrenden Auto durch die Türe, ins Bein geschossen wurde, mein Bruder Edris nur mit einem gewagten Sprung aus einem fahrenden Auto der Taliban einer Entführung und mit Sicherheit einer Exekution entkommen konnte, war das, was ich jetzt erleben musste, der letzte Auslöser: Wir sahen uns gezwungen zu fliehen! Mitten in der Nacht mussten wir Masar-e Scharif, unsere Heimat, alles, verlassen.

Unsere Flucht von Masar-e Scharif nach Deutschland dauerte ungefähr zwei Monate. Was wir in diesen zwei Monaten erleben mussten, kann man nicht im Detail erzählen oder aufschreiben. Es war zu furchtbar!

Wir kamen nach Deutschland. Zwei Jahre lebten wir in einem Heim für Flüchtlinge in Unterhagbach. In dem Haus, vorher einmal ein Altersheim, lebten einige Zeit lang 65 Personen. Ich, meine Schwester und mein Bruder mit unserer Mutter in einem Zimmer. Jetzt wohnen wir in Rottweil in der Marienstraße.

In Deutschland wird uns viel geholfen, dafür sind wir so sehr dankbar.

Trotzdem habe ich in der Nacht immer noch und immer wieder furchtbare Träume und große Angst …

2 Laut Spiegel vom 26.1.2019 sind zu dieser Zeit 55% Afghanistans in den Händen der Taliban. Die ganze Problematik mit der Taliban-Bewegung soll und kann hier aber nicht aufgezeichnet werden.

3 Oliver Müller, Leiter von Caritas International: „Die Not in Afghanistan hat ein weibliches Gesicht. Ich hoffe, dass das Land nicht vergessen wird. Die Frauen befinden sich in einem Teufelskreis aus Armut, Rechtlosigkeit und Unterdrückung.“

Edris

Ich bin ebenfalls seit 2016, genauso wie meine Mutter und meine Schwestern, hier in Deutschland.

Ich wurde am 4. 4. 1989 in Masar-e Scharif, Afghanistan, im 4. Distrikt geboren und bin hier zusammen mit zwei Brüdern und drei Schwestern aufgewachsen. Von meinem 7. bis zu meinem 10. Lebensjahr besuchte ich die Grundschule in Masar-e Scharif.

Von meinem 14. Lebensjahr an erlernte ich bei einem afghanischen Meister das Schreinerhandwerk.

2006 begann ich bei einer deutschen Firma in Masar-e Scharif als Zimmermann zu arbeiten. Ich bildete mich bei den Deutschen weiter aus und erstellte mit ihnen zusammen ein Camp aus Holzhäusern und Baracken für die deutsche Schutztruppe. Dies dauerte ungefähr eineinhalb Jahre.

Als dieses Projekt fertig gestellt war, ging ich zurück in meine eigene Werkstatt und baute verschiedene Möbel und verkaufte sie.

Ungefähr sechs Monaten später begann ich für eine deutsche Institution zu arbeiten. Ich arbeitete dort beim Wiederaufbau von zivilen, afghanischen Einrichtungen – Wasserleitungen, Toiletten, Schulen, Wohnhäuser... Für alle Arbeiten mit Holz war ich zuständig. Dort arbeitete ich mehr als ein Jahr.

2010 begann ich bei der Spezialschutztruppe aus Kanada zu arbeiten. Ein afghanischer Mann namens Mostafa, der bei den Kanadiern als Dolmetscher eingesetzt war, hatte mich dazu aufgefordert.

Ich hatte aus der Zeit, als ich mit den Deutschen bei der Erstellung von Holzhäusern arbeitete, also 2006 bis 2010, einen sehr guten Ruf und erstellte, zuerst, wie bei den Deutschen, für die kanadische „Special Force“, Holzhäuser.

Ab 2011 war ich für die ganzen Abläufe in der Bauabteilung zuständig. Ich war für den Einkauf der Baumaterialien, für das Bauen der Häuser, ebenso für das Anheuern afghanischer Arbeitskräfte aus dem Umland, zuständig.

Von 2010 bis Anfang 2011 lief bei uns in Masar-e Scharif alles recht gut – normal.

Zu Beginn des Jahres 2011 bekam ich zum ersten Mal einen Anruf, dass ich und mein Bruder Ahmad für die „Ungläubigen“ arbeiten würden. Der Anrufer warnte uns und empfahl uns, nein, er forderte uns auf, unsere Arbeit aufzugeben.

Ich nahm diesen Anruf jedoch nicht besonders ernst.

Wir arbeiteten weiter. Ungefähr einen Monat später klingelte bei mir wieder das Telefon und man hieß mich einem widerlichen Spion, einen Buben, der für die „Ungläubigen“ arbeitet und spioniert.

Er drohte, mich, meinen Bruder Ahmad, ja unsere ganze Familie umzubringen.

Ich erzählte dem kanadischen Chef meiner Gruppe – jetzt habe ich den Namen vergessen – von dem Anruf. Dieser regte sich über das, was ich ihm da erzählte, sehr auf.

Er fragte den obersten Chef seiner Abteilung: „Was denkst du darüber, und was glaubst du wo es herkommt?“ Er: „Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll oder wer dahintersteckt.“

An mich stellte er noch einige weitere Fragen und meinte, ich solle mich darüber nicht aufregen, sie, die Kanadier, hätten die Möglichkeit zu verfolgen und ausfindig zu machen, woher der Anruf kam.

Nach drei oder vier Tagen riefen sie mich zu sich und sagten mir, der Anruf komme aus Chardara, einem Dorf ein Stück weit von Masar-e Scharif entfernt. Der Ort war als Stützpunkt der Taliban bekannt. Sie rieten mir äußerst vorsichtig zu sein, es gehe um mein Leben. Ich soll kein Auto benützen und wenn ich mit dem Auto fahre, dann unterschiedliche Routen wählen, immer wieder die Wege wechseln.

Später stellte sich heraus, dass unser Nachbar Farouq dahintersteckte.

Mein Bruder und ich waren sehr beunruhigt, gingen aber weiterhin unsrer Arbeit bei den Kanadiern nach. Wir hatten keinen Grund den Job aufzugeben. Sie hielten uns für Spione, das war klar. Unsere Nachbarn, wie auch alle anderen Leute wussten selbstverständlich, dass wir bei der Schutztruppe arbeiteten.

Es gab für uns aber auch keine andere Möglichkeit.

Nebenbei: Im Sommer 2012 hatten die Taliban einen meiner afghanischen Mitarbeiter mit Namen Nasser bei Nacht aus seiner Wohnung geholt. Er lebte im Distrikt. Als sein Vater sie anflehte und beteuerte, dass sein Sohn ein ganz normaler, einfacher Arbeiter sei, und dass sie einfache, hilflose Leute seien und der Sohn erst vor kurzem geheiratet habe, eröffneten sie das Feuer auf den Vater. Er verlor dabei sein rechtes Bein. Den Sohn, Nasser, brachten sie an einen unbekannten Ort und töteten ihn.

Von Tag zu Tag wurde die Warnung an uns alle immer dringlicher. Nun wurde ich von meinem Chef aufgefordert, im Camp zu bleiben und dort zu übernachten.

Ich verbrachte den ganzen Fastenmonat Ramadan im Camp, und noch einen weiteren Monat, also insgesamt zwei ganze Monate.

Es geschah ungefähr zwei Monate später, da griff ein kanadisches Spezialkommando in Zivil in der Nacht in einem Ortsteil von Chardara, Qarye Yatim, eine Gruppe der Taliban an. Dort saß die berühmt-berüchtigte Gruppe eines Mullahs.

Mehrere Leute der Gruppe wurden dabei getötet, das Gebäude wurde zerstört, aber der Mullah war in die Berge entkommen. Ich wurde über diese Aktion erst 15 Tage später informiert.

Zwei bis drei Monate danach wurde ich angerufen und ein Mann sagte: „Ich bin Mullah Matin und habe herausgefunden, dass du und deine Familie den Kanadiern Informationen zuträgst und diese dann unsere Häuser und Wohnstätten attackieren und uns töten. Aber ich bin Mullah Matin und: Mullah Matin lebt, der Taliban lebt! Du bist ein Spion. So Allah will, werden wir dich und deine Familie töten. Darauf kannst du dich verlassen.“

Mullah Matin war ein bedeutender Taliban– Anführer in Afghanistan.

In unserer Nachbarschaft wohnte ein Mann namens Farouq. Er wurde immer nur „Kommandant Farouq“ genannt. Er hatte drei Söhne, die etwas älter als ich und meine Geschwister waren. Sein Haus war immer ein geheimer Treffpunkt der Taliban, das wussten, oder ahnten wir. Zwei der Söhne waren bei der Stadtverwaltung beschäftigt. Von einem namens Mullah Abdullah war bekannt, dass er in Chardara dem Dorf in der Nähe von Masar-e Scharif, mit der “Roten Taliban“ als sehr radikaler Führer zusammenarbeitete.

Vor ihm hatten wir immer sehr große Angst. Als mein Bruder und ich bei den Deutschen bzw. den Kanadiern anfingen zu arbeiten, fragte Farouq meinen Vater, warum er es erlaube, dass seine Söhne bei den Ungläubigen arbeiten. Es sei eine Sünde, Teufelswerk mit den Ungläubigen zusammen und für sie zu arbeiten. Mein Vater lachte darüber und sagte nichts dazu.

Farouq saß in der Regel auf den Stufen vor seiner Haustüre und betrachtete das Treiben auf der Straße im Stadtzentrum. Er ging keiner Arbeit nach, hatte aber immer genug Geld.

Ich unterhielt mich mit meinem kanadischen Chef darüber und sagte ihm, dass ich darüber sehr beunruhigt sei. Auch weil der Winter bevorstand und die Kanadier dabei waren, sich aus Masar-e Scharif zurückzuziehen.