Der Gänsjakob - Eberhard Bohn - E-Book

Der Gänsjakob E-Book

Eberhard Bohn

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Beschreibung

Am 5. Juni 1887 wurde droben in der Reute den Bauerseheleuten Gottlieb und Rosine Strohmeier ein Knäblein geboren. Es war so schwächlich, dass die Hebamme, nachdem sie schon die ganze Zeit bedenklich den Kopf geschüttelt und ihre nötigsten Pflichten getan und ihre Siebensachen zusammengepackt hatte, beim Hinausgehen zur Mutter sagte: "Den wirst du wohl nicht davon bringen!" Auf die zaghafte Anfrage der Mutter, ob man nicht den Doktor holen solle, kam die knappe Antwort, die keinen Widerspruch zuließ: "Das rentiert sich nicht!" So beginnt das bemerkenswerte Leben des Jakob Strohmeier, genannt "Gänsjakob", einem weithin bekannten Original, der sein viel zu kurzes Dasein als Gänsehirte fristete. Eberhard Bohn erzählt uns diese und viele andere teils anrührende, teils schauerliche und fantastische, oft aber auch amüsante Geschichten, die sich während der vergangenen drei Jahrhunderte und bis in unsere Zeit hinein im Schwäbischen Wald, rund um sein Heimatdorf Kirchenkirnberg zugetragen haben. Der Autor Eberhard Bohn wurde 1935 in Kirchenkirnberg im Schwäbischen Wald, im damaligen Oberamt Welzheim, geboren. Nach Schul-, Lehr- und Wanderjahren übernahm er den väterlichen Mühlen- und Silobaubetrieb. Seinen Ruhestand verbringt er unter anderem in beratender Tätigkeit bei historischen Mühlen und Wasserrädern und mit Heimatforschung. Außerdem befasst er sich aus Freude am Erzählen mit dem Schreiben von Geschichten aus der Heimat und aus aller Welt.

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Meiner lieben Frau Ruth gewidmet. Ein echtes Kind des Dorfes und bis ins hohe Alter vielfach engagiert. Wer hat auch nur annähernd so oft in unserer Kirche gesungen wie sie?

Schnurri – 2001-2018

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Der Gänsjakob

Eine Geschichte von treuer Liebe bis zum Grabe

Der Scheintote

„Lottegschichta“ - Die Pfarrlotte

Dr alde Raddle vom Hasahof

Die Raddle-Ballade in Prosa für Nichtschwaben

Die Höhl-Chronik

Der Patenbrief

Das Geistloch

Vom Kleemeister, Schinder, Sympatiedoktor, Scharfrichter und Hexenbanner

Das Siebzehner-Gericht in Nardenheim

Die Kleemeister

Das Wassermannzentrum

Der Tod der Buchhofbäurin

Der Waldschrat

Der alte Dietrich

Mysteriöse Geschichten von heute

Die Rehe

Die Spinnen

Der Harlekin

Verschwunden in Heilbronn

Wahrsagen mit Regina

Anhang

Der Autor

Illustrationen

Vorwort

Dieses Buch versammelt wahre Geschichten und mündlich überlieferte, teils fantastische Erzählungen, welche sich in einem abgelegenen, von Wald umgebenen Dorf und in seiner näheren und weiteren Umgebung während der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte tatsächlich zugetragen haben oder mündlich überliefert wurden. Sie sind teils Kirchenbüchern, alten Akten und Zeitungen entnommen, teils wurden sie von inzwischen längst verstorbenen Leuten erzählt, und werden hier erstmals festgehalten.

Es sind Geschichten wie sie sich bestimmt genau so in vielen andern Dörfern und Städten einmal zugetragen haben könnten, und die nur darauf gewartet haben aufgeschrieben und für die Nachwelt erhalten zu werden.

Es scheint als ob sich in all der langen Zeit am Zusammenleben der Menschen sehr wenig geändert hätte: Misstrauen und Gewinnsucht, Missgunst, Lug und Betrug, Rechthaberei und das Gefühl der Unterlegenheit, Unfälle und Morde, Macht und Reichtum, Neid, Hass, Streit und Raub.

Doch wer weiß: vielleicht ist dies alles sogar nötig, damit die Welt überhaupt in Gang gehalten wird? Nur wenn etwas, aus welchen Gründen auch immer auf den Weg gebracht wird – mögen es auch niedrige Instinkte sein – gibt es Weiterentwicklung und Fortschritt.

Einen großen Unterschied gibt es allerdings: Heutzutage werden alle Geschehnisse aus der ganzen Welt in Windeseile sofort überall verbreitet. Das war früher nicht möglich.

Der Gänsjakob

Das Leben des Jakob Strohmeier, genannt

„Gänsjakob“, von der Reute

A m 5. Juni l887 wurde droben in der Reute den Bauerseheleuten Gottlieb und Rosine Strohmeier ein Knäblein geboren. Es war so schwächlich, dass die Hebamme, nachdem sie schon die ganze Zeit bedenklich den Kopf geschüttelt und ihre nötigsten Pflichten getan und ihre Siebensachen zusammengepackt hatte, beim Hinausgehen zur Mutter sagte: „Den wirst du wohl nicht davon bringen“. Auf die zaghafte Anfrage der Mutter, ob man nicht den Doktor holen solle, kam die knappe Antwort, die keinen Widerspruch zuließ: „Das rentiert sich nicht!“

So eine Hebamme hatte in vielen Häusern wenigstens jedes zweite Jahr zu tun und durfte nicht so zimperlich sein. Sie wusste genau, wie es in der Hauswirtschaft, und was noch wichtiger war: wie trostlos es in den Geldbeuteln der einzelnen Familien aussah. Ja, und eine Krankenkasse, die einsprang und den Doktor bezahlte, gab es damals nicht. Hier bei den Strohmeiers war es immerhin das zehnte Kind, und nach ihrer Meinung waren, wenn dieses armselige Würmchen nicht aufkam, noch genug andere Geschwister da.

Jedoch: die gute Frau hatte sich geirrt. Das Kind überlebte die ersten vierzehn Tage und wurde am 18. Juni in der Kirche zu Kirchenkirnberg auf den damals recht gängigen Namen „Jakob“ getauft.

Aber es kommt trotzdem ganz bitter: Gerade vier Wochen, nachdem Gottlieb Strohmeier die Geburt des Jakob in die Familienbibel eingetragen hatte und gerade 14 Tage nach dessen Taufe, muss er wieder zur Feder greifen und schreibt mit derselben Feder und der gleichen Tinte, man kann das gut sehen, etwas zittrig in die Bibel: „Rosine Strohmeier ist gestorben am samstagabend, um 8 Uhr den 2. Juli 1887.“ Es war seine Ehefrau und Jakobs Mutter.

Wie es bei den Strohmeiers danach weitergegangen ist, konnte ich nicht herausfinden. Ob irgendeine Tante oder Base die Stelle der Mutter eingenommen hat, ob es die damals erst elfjährige Schwester Christine war, oder ob Gottlieb Strohmeier noch einmal geheiratet hat, was aber sehr unwahrscheinlich ist – auf jeden Fall muss eine Frau im Hause gewesen sein, die für Jakob eine ganze und liebe Mutter geworden ist.

Trotz der wenig verheißungsvollen Voraussage der Hebamme und all der widrigen Umstände gedieh der kleine Jakob weiterhin. Zwar blieb er immer etwas schwächlich, aber er blickte mit hellen Augen in die Welt und begann früh zu sprechen. Als er heranwuchs, war er immer da, wo er nicht sein sollte. Er holte die Eier aus den Hühnernestern, kämpfte mit den Gänsen und schlug im Stall heimlich mit einer Rute auf die Kühe ein, obwohl er alle Tiere so gernhatte. Die Kühe schlugen aus und ließen sich nicht mehr melken, die Hühner verlegten ihre Eier, so dass man sie nicht mehr finden konnte. Der Vater ärgerte sich über den nichtsnutzigen Lausbuben und schimpfte, weil er einerseits so wehleidig, auf der anderen Seite so vorlaut und frech war.

Vom Vater bekam Jakob aber auch manche Schläge ab, die eher die Geschwister verdient hatten. Wenn die Mutter protestierte, rechtfertigte er sich mit einem Spruch, der damals als allgemein gültig für die Kindererziehung stand: „Kinder, die der Vater soll ziehn zu allem Guten, die geraten selten wohl ohne Zucht und Ruten“. Aber Gott sei Dank war die Mutter da. In ihre Rockfalten flüchtete Jakob, wenn einmal wieder alles gegen ihn war, und er beklagte sich über den Vater, die Gänse, Geschwister und über die ganze Welt. Die Mutter nahm ihr Sorgenkind in die Arme, und schnell war alles wieder in Ordnung.

Im Frühjahr 1893, Jakob war knapp sechs Jahre alt, schien es, als ob die Prophezeihung der Hebamme doch noch eintreffen würde. Irgendwo in der Scheuer maunzten junge Katzen, und das ließ Jakob keine Ruhe. Er stieg die Oberlingsleiter hinauf und suchte im Heu. Da kam ein Teil von dem wenigen Heu, das noch da war, ins Rutschen und fiel mitsamt Jakob hinunter auf die Scheunentenne.

Der Vater saß beim Vesper hörte einen gellenden Schrei und kam in die Scheuer gestürzt: Da lag Jakob auf dem Boden, auf seiner linken Seite, ob tot oder lebendig, das konnte er im Moment nicht feststellen. Er rannte zur Mutter, die draußen auf dem Feld beschäftigt war und erzählte, was passiert war und schimpfte über den Lausbuben, der einem immer und immer Ärger machte, den er jedoch im Grunde so herzlich gernhatte. Er konnte ja nicht zeigen, wie verzweifelt und hilflos er war.

Sie eilten zur Scheune, standen da, und wussten nicht, was sie tun sollten. Die Mutter fing ganz vorsichtig vom Doktor an, aber das kam so wenig in Frage wie bei der Geburt. Wenn bei einem Stück Vieh etwas nicht stimmte, da holte man ab und zu einmal den Tierarzt. Aber für ein Kind war der Doktor zu teuer. Man griff zu Hausmitteln, machte kalte Umschläge und Schnapswickel. Wenn es Gottes Wille war, dass Jakob davonkam war´s gut, wenn es Gottes Wille war, dass er starb, konnte man sowieso nichts machen. Sie trugen ihn in die Kammer und legten ihn ins Bett.

Nach einigen Wochen musste man feststellen, dass der linke Arm steif war und Jakob die Finger der linken Hand nicht mehr ausstrecken konnte. Außerdem war sein linkes Bein nicht in Ordnung. Die Haltung des linken Armes und der linken Hand sowie das Nachziehen des linken Beines war und blieb, so lange er lebte, das unverwechselbare Erkennungszeichen des Jakob Strohmeier von der Reute.

Schulzeit

Über die Schulzeit des Jakob ist in den zur Verfügung stehenden Akten nichts enthalten. Wahrscheinlich kam er im Frühjahr 1894, schon siebenjährig, in die Schule, war er doch das Jahr vorher so schwer verunglückt. Es war noch manches anders als heute: Das Hauptfach war Religion, und da mussten vor allem Bibelsprüche und Choräle auswendig gelernt werden. Der Meerrohrstock regierte im Klassenzimmer. Es gab Tatzen und Hosenriss. Es herrschte Disziplin!

Die Lehrer hatten noch nicht die Ausbildung wie heute. Die Ferien richteten sich nach dem Jahresrhythmus der Landwirtschaft. Sie waren so gelegt, dass die Kinder bei der Heu- und Kartoffelernte zu Hause waren. Der Herr Lehrer - von wegen Lehrerin! - stand hinter seinem Katheder und hatte zum Wischen der Tafel ein „Waschlavor“ im Klassenzimmer. Die Kinder hatten vielleicht einen Schulranzen auf dem Buckel. Bestimmt nicht alle, dazu fehlte bei den großen Kinderscharen einfach das Geld. Man hatte eine Schiefertafel, öfter auch einmal mit einem Riss, oder es fehlte gleich ein ganzes Stück. Man ging noch nicht so systematisch ans Lesen und Rechnen heran wie heute, und so kam es, dass man im ersten Schuljahr gerade mal gelernt hatte, bis „zehn“ zu zählen. Einigermaßen lesen konnte man erst, nachdem man vier Jahre in die Schule gegangen war.

„Auf, ab, auf, Tüpfele drauf“, so lernte man den kleinen Buchstaben „i“ und zwar in deutscher Schrift. Man hatte nur ein Buch, das war die Fibel. Erst in einer ziemlich höheren Klasse kam noch das Spruchbuch dazu. Musste man, zum Beispiel beim Schönschreiben, doch einmal auf Papier „ins Heft“ schreiben, hatte man mit Tinte aus dem Tintenfass und oft mit einer recht widerborstigen Feder zu kämpfen. Da gab es dann öfter eine rechte „Sau“ ins Heft und wenn dann noch ein paar Eselsohren dazu kamen, hatte man beim Herrn Lehrer schlechte Karten.

Nach dem was Jakob später alles an Sprüchen, Versen und Liedern vortragen konnte und anzuwenden wusste, und nach den wenigen Schriftstücken, die von ihm noch vorhanden sind, war er ein ganz guter Schüler.

Schulentlassung und Konfirmation fielen immer zusammen. Danach wurde man auf Gedeih und Verderb ins Leben hinausgejagt. Jakob wurde am 14. April 1901 mit 14 Jahren konfirmiert und aus der Schule entlassen.

Nach der Konfirmation war es selbstverständlich, dass man weiterhin am Sonntagmorgen in der Kirche war. Am Nachmittag musste man, bis man 18 Jahre alt war die Christenlehre besuchen, lange Zeit noch Buben und Mädchen getrennt.

Weitere Lebensstationen

Trotz seiner Behinderung: Auch Jakob musste hinaus ins feindliche Leben. Auf dem Rabenhof bei Ellwangen, auf dem Staigacker bei Oppenweiler muss er gewesen sein. Da hatte er wohl Heimweh, als er an seine Nichte Fräulein Mina Bareis, in der Reute Kirchenkirnberg O/A Welzheim eine Karte schrieb:

„Herzlichen Gruß ein treues Andenken sendet Dein Dich nie vergessener Jakob Strohmeier.“

Weitere Stationen waren Uttenhofen und Bibersfeld bei Schwäbisch Hall, wo er als Kleinknecht eine Arbeit gefunden hatte. Jedoch seiner Gebrechen wegen wurde er bald wieder nach Hause geschickt. Vielleicht ist er auch abgehauen. Für schwere Arbeiten auf einem Hohenloher Bauernhof war Jakob nicht zu gebrauchen.

Schon damals zeigte sich Jakob sehr selbstbewusst und soll den sehr eingebildeten Lehrer Wilhelm Übele immer mit „Grüß Gott Wilhelm“ begrüßt haben, was diesem sehr peinlich war und ihn saumäßig ärgerte - sehr zur Freude der Bibersfelder Bauern, die diesen auch gar nicht leiden konnten.

Da ergab es sich, dass in Ottendorf die Stelle eines Gänshirten vakant wurde. Jakob bewarb sich und bekam die Stelle. Er hatte nun Arbeit und Brot. Und Ottendorf hatte für viele Jahre eine Attraktion, um die das Dorf von vielen Gemeinden beneidet wurde.

Es wurde abgemacht, dass Jakob im Armenhaus eine Kammer bekam. Es ist das Haus an der Straße links nach Schwäbisch Hall, das auch heute noch zu sehen ist, fast in die Kirchenmauer mit eingebaut.

Es wurde ferner ausgemacht, dass er im Sommerhalbjahr die Gänse von Niederndorf und Ottendorf zu hüten hatte, und dass er sich im Winterhalbjahr nicht in Ottendorf aufhalten durfte. Immer einen Tag weniger als ein halbes Jahr durfte er im Ort sein, sonst wäre er Ottendorfer Bürger geworden und die Gemeinde hätte, falls ihm etwas zugestoßen wäre, für sein Auskommen einstehen müssen.

Aber warum brauchte man eigentlich einen Gänshirten? Anscheinend war er bitter nötig. In Backnang wird von einem regelrechten „Gänsekrieg“ berichtet:

Im Jahr 1607 verboten Gericht und Rat der Stadt Backnang sämtlichen Einwohnern das Gänsehalten, weil die Gänse auf den Feldern großen Schaden anrichteten. 1610 baten die Weiber der Stadt den gerade anwesenden Herzog um Aufhebung des Verbots, weil durch dasselbe, ihre habende Bettgewand feindlich geschwächt werden, indem sie dieselben weder jährlich mit neuen Federn erfrischen, geschweige jemals neue Betten machen können. Sie erlangten zwar einen günstigen Bescheid, allein der Magistrat widersetzte sich den herzoglichen Anweisungen und ließ sogar einige der Rädelsführerinnen in Verhaft nehmen.

Mehrere andere Weiber zogen daraufhin in Stuttgart noch einmal vor den Herzog und zwangen ihre Ratsherren, dass ihre eingesperrten Genossinnen ihre Freiheit und die Stadt Backnang im Februar 1612 eine Gänseordnung bekam. Darin heißt es,

… daß welcher bürger under fünf pfund heller steuer gibt, und ob er auch gar nichts gebe, der ist befugt, drei alte gänß zu halten. Der ihenig, so under der bürgerschaft fünff pfund heller, oder darüber, steuer gibt, mag vier allte gänß halten, aber doch nit mehr, er sei so vermöglich er wöll. Die Gäns alle sollen samentlich unter einem einigen hirtten, der bey seinen zimlichen jahren, und erwachssen, und jedessmahls durch einen Bürgermeister inn gepürende glübt genommen, durchs ganze jahr anderstwo nirgendthhin getriben werden, dann was ihnen jeder Zeit für ein Ortt off dem feld bestimpt würdt. Auch sollte man den Gänßen, wann mann sie off die waiden treiben will, jedesmahls inn der gewohnlichen Strassen bleiben.

Damit ist auch die Aufgabe Jakobs in Ottendorf sehr genau beschrieben. Was er selbst daraus machte, das will ich mit den Worten der Menzlesmüllerin erzählen, die ihren Lebtag immer viele Gänse gehabt hat: Sie war zu einer Hochzeit nach Ottendorf gekommen und war sehr frühzeitig dran. Wie sie auf den Beginn der Hochzeitskirche wartete, kam von Niederndorf her ein Riesengeschrei auf. In allen Gänsegärten, die es damals in Ottendorf in großer Zahl gab, fingen die Gänse an unruhig zu schnattern und mit den Flügeln zu schlagen.

Die Müllerin war gespannt, was das werden sollte. Da kam mitten in der Straße - die heutige B19 - ein kleiner, schwarzgekleideter Mann daher, mit einem schwarzen Hut auf dem Kopf, und einem Schnurrbart, in der rechten Hand einen Stecken. Den linken Arm hielt er in einer eigenartigen Stellung und das linke Bein zog er nach, so dass er einen sehr ungleichmäßigen, ruckartigen Gang hatte. Er hatte im Mund eine Trillerpfeife und pfiff damit.

Zwischendurch rief er mit lauter Stimme: „I – a – nack – nack – nack, i – a – nack – nack – nack, sechsmal tausend Menscher beten um ihr täglich Brot. I – a – nack – nack – nack, i – a – nack – nack i – a – nack – nack – i – a – nack – nack – nack!“ Hinter ihm her kam eine ansehliche Schar Gänse, die zusehends größer wurde und alle schrien: “I – a – nack – nack – nack, i – a – nack – nack – nack.“ Links und rechts der Straße entlang rannten die Leute ganz aufgeregt und öffneten die Türen der Gänsegärten und -ställe und mit lautem „i – a – nack – nack – nack, i – a – nack – nack – nack“ stießen immer mehr Gänse zur Herde. Und vorneweg der Gänshirt trillernd und rufend: „I – a – nack – nack – nack, sechsmal tausend Menscher beten um ihr täglich Brot.“ Die Menzlesmüllerin meinte, dass etliche der Bäuerinnen ebenfalls in das „I – a – nack – nack – nack“ mit einstimmten.

Aus einem Haus kam eine Bäuerin und übergab dem Hirten einen Korb, der wahrscheinlich das Vesper enthielt. An einem anderen Hof war die Stalltüre noch zu und Jakob, der war es natürlich, rief mit lauter Stimme, dass es ganz Ottendorf hörte: „Kathre, dui dauba Kua liegt no em Bett“. Mit hochrotem Kopf kam sie dahergerannt. Ein Rüffel von Jakob, das war schlimm! An der Kirche vorbei bog die ganze Gesellschaft rechts von der Hauptstraße ab, und das Geschrei verlor sich in Richtung Spöck.

Nach 20 Minuten war der ganze Spuk vorbei. Jakob zog mit seiner schnatternden Schar hinaus zum Gänsgarten, der an dem Bächlein, das von Spöck her dem Kocher zufließt, angelegt war. Eine Rinne führte vom Bächlein zu einem großen Brunnentrog, woraus die Gänse trinken konnten. Für den Hirten war ein kleines Holzhäuschen, ähnlich einem Schilderhäuschen, aufgestellt, in dem er sich, vor allem bei Regenwetter, aufhalten konnte. Jakob hatte im Sommer wie im Winter immer drei oder gar vier Kittel an und sagte: „Was gut ist für die Kälte ist auch gut für die Wärme.“

Das Unterstehhäuschen sowie die Wasserrinne waren ständig die unwiderstehlichen Objekte für den Übermut der Ottendorfer Jugend. Es wurde immer wieder umgeworfen, anders aufgestellt als es Jakob haben wollte, oder gar weggetragen und versteckt. Das haben mir einige gestandene Ottendorfer Mannsbilder ganz genüsslich erzählt. Und Jakob schimpfte: „I hol fei d’Bollezei“.

Doch ansonsten entwickelte sich draußen beim Gänsgarten mit der Zeit der Treffpunkt der Ottendorfer Jugend. Beim Gänsjakob war immer was los. Die Gänse weideten in den umliegenden Wiesen und Jakob hatte aufzupassen, dass sie nicht in die Saaten kamen oder irgendetwas anderes anstellten. „O mei, o mei, was hent se jetzt widder doa?“, konnte man ihn oft rufen hören.

Über die Mittagszeit wurden sie in den Garten gesperrt, und Jakob ging in den Ort zum Essen. Entsprechend der Gänsezahl, die eine Bäuerin hatte, musste Jakob reihum verköstigt werden. Ackermanns hatten fünf Gänse. Jakob war also fünf Tage bei ihnen, und dann war der nächste Hof an der Reihe. Das wiederholte sich dann während des Sommerhalbjahres zwei- bis dreimal. Wahrscheinlich heißt man das „Umatzen“. Bei jedem neuen Antritt sagte er der Bäuerin ins Ohr, dass er „morgen fei‘ Geburtstag“ habe, und dass er ein entsprechendes Essen erwarte.

Jakob kannte alle seine Gänse. Er benannte sie mit dem Hausnamen der Bauern: „Du Jackeleskopf, i schlag de, dass koi Bohn mai en de nei goat.“ „Des Niebels-Mensch muß nadirlich au widr näba naus“. „Schulbädes Lombadier goscht her!“

Gegen Abend wurde die ganze Schar immer unruhiger, streckte die Flügel und Hälse, und dann kam der Zeitpunkt, wo sie nicht mehr zu halten waren. Jakob wusste, jetzt war es Zeit zum Aufbruch und dann:

„I – a – nack –nack – nack, sechs mal tausend Menscher baten um ihr täglich Brot“. Wenn das Futter wenig war und seine Herde nicht genug zu fressen hatte, hieß es:

„I – a – nack – nack – nack, sechs mal tausend Menscher kamen um ihr täglich Brot“. Daran hörten die Bäuerinnen schon von weitem, dass sie nachfüttern mussten.

Mit lautem: „I – a – nack – nack – nack“ gings’s wieder durchs Dorf, bis auch in Niederndorf die letzte Gans ihren heimatlichen Stall gefunden hatte. Jakob ging zum jeweiligen Bauern zum Vesper und hatte dann seinen wohlverdienten Feierabend.