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Ein Mädchen, ein Motorrad – und eine Weltreise, von der die meisten nur sehnsüchtig träumen. Was der jungen Anne-France aus Paris während der vielen Monate unterwegs durch die Wüsten Asiens, die undurchdringlichen Wälder Kanadas, die öden Gebirge des Orients, durch verträumte Dörfer und verführerisch exotische Städte widerfuhr, das hat sie hier mit leichter Feder, mit Witz und Charme niedergeschrieben. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 325
Anne-France Dautheville
Der Wind war mein Begleiter
Aus dem Französischen von Susanne Lepsius
FISCHER Digital
Wer immer sich in meinem Bericht zu
erkennen glaubt, sei beruhigt:
es handelt sich bestimmt nicht um ihn.
A.-F. D.
Im Grunde genommen war die Idee, in so kurzer Zeit um die Welt zu fahren, idiotisch. Und gefährlich. Idiotisch, weil ich zu viele Dinge zu schnell gesehen, an allem nur geschnuppert und möglicherweise nichts begriffen habe. Gefährlich, weil sich bei meiner Art zu reisen die Eindrücke überstürzen; man lebt dann zu intensiv. Und so hat mich die Reise denn auch aufgewühlt bis ins Innerste und verwirrt zurückgelassen. Der beste Beweis dafür ist, daß ich froh bin, wieder zu Hause zu sein. Und das ohne jede Anpassungsschwierigkeiten. Ich bin einfach zu müde zum Revoltieren. Ich habe in vier Monaten zu viel gesehen.
Es begann damit, daß mir eine haarsträubende Geschichte zu Ohren kam und ich sofort zu Tom stürzte. Der saß mit ein paar Kollegen in seinem Redaktionsbüro. In meiner Wut würdigte ich sie keines Grußes und kam direkt zur Sache.
«Tom, du weißt doch noch, wie ich letztes Jahr gereist bin?»
«Klar – mit deinem Motorrad, deiner Guzzi.»
«Und weißt du, was die Leute jetzt sagen? Ich sei im Kombiwagen gefahren! Hast du das etwa auch gehört?»
«Reg dich ab, Mädchen.»
Ich trat zornentbrannt gegen einen Aktenschrank und versetzte den Stühlen einige kräftige Fußtritte.
«Mit einem Kombiwagen! Ich! (Päng gegen das Möbel.) «Zwanzigtausend Kilometer in einem Kombiwagen!» (Päng gegen einen Stuhl, der ächzend schwankte.)
«Und wer hat das behauptet?»
«Ein Journalist. Ich habe es eben erfahren. Er hat mich noch nie gesehen, und ich kann von Glück reden, daß er mich überhaupt empfing, nach allem, was er von mir gehört hat. Da scheure ich mir zwei Monate lang den Hintern auf einer Guzzi wund, und was tun meine lieben Freunde? Sie erklären, ich sei mit einem Kombiwagen gereist. Oh, ihr Schufte!»
«Immer mit der Ruhe, Mädchen. Wir wissen alle, daß du mit einem Motorrad gefahren bist. Zufrieden?»
«Zufrieden! Ich! Verstehst du denn nicht, wie gemein es ist, zu behaupten, ich sei im Kombiwagen gereist. Hast du das etwa auch gehört?»
«Aber nein», sagte er honigsüß.
«Und ihr?»
Sie schwiegen betreten wie Männer, die in Gegenwart eines gehörnten Ehegatten nicht lachen wollen. Päng, ein weiterer Fußtritt; der Aktenschrank kam bedenklich ins Wanken.
«Nun, wie dem auch sei, was willst du dran ändern?»
«Ich fahre nach Alaska, und zwar allein, verstehst du? Auf einer 125 ccm. Und diesmal lasse ich es mir von der Polizei bescheinigen.»
Tom verpaßte mir einen herzhaften Kuß und spendierte mir drei Runden am Spielautomaten, um meine Nerven zu beruhigen. Schließlich entließ er mich mit einem mitleidigen Blick in seinem treuen Auge.
Und somit fuhr ich nach Alaska. Wohin ich sowieso schon längst wollte.
Aber noch war ich nicht fort. Erstes Problem: das Motorrad. Ich habe ein kleines, sehr schickes Motorrad geerbt – eine Kawasaki. Sie ist gelb wie ein Kanarienvogel, heißt poetischerweise GA 5 und ist kapriziös von Natur. Zumeist rattert sie brav über die Straßen, gelegentlich jedoch bockt sie, stockert, hustet oder braust plötzlich davon. Gebaut ist sie für den Großstadtverkehr und hat eine Lebensdauer von zehntausend Kilometern. Danach bricht sie zusammen und endet auf dem Motorradfriedhof neben ihren Kameraden. Zumindest wird das behauptet; wahrscheinlich von denselben Leuten, die das Gerücht über meine Fahrt im Kombiwagen verbreitet haben. Da ich von Motoren so gut wie nichts verstehe, sagte ich mir folgendes: Bei einem Zweitakter mit nur einem Zylinder (und daher auch nur mit einem Auspuff, so viel weiß ich immerhin) gibt es irgendwo (Gott allein weiß, wo) auch eine Kupplung, einen Kolben und ein Getriebe (der elektrische Zubehör ist wohl mehr als Schmuck gedacht), aber sehr viel kann in dem Getriebe nicht drin sein, ergo, kann wenig kaputtgehen.
Doch sicherheitshalber ging ich zu «Motorrelais». Motorrelais ist eine Garage, wo der Kunde arbeitet. Man leiht ihm Werkzeuge, und er beschmiert sich mit Öl. Aber mit ein paar wohlangebrachten Tränen ist es mir noch immer gelungen, den anderen die Schmutzarbeit aufzuhalsen und mir selbst die gepflegten Fingernägel zu erhalten. Also weinte ich gekonnt, und schon bekam ich einen prächtigen Gepäckständer mit zwei abschließbaren Blechbehältern für meine Sommerfähnchen angeschraubt.
«Und der Motor?»
«Was ist mit dem Motor?» fragte Motorrelais mit einer hochgezogenen Braue.
«Sollte man ihn nicht vielleicht nachsehen, ich meine …»
«Nicht nötig, Fräulein. Im Motor ist ja nichts drin, was soll da kaputtgehen?»
«Sind Sie unter die Hellseher gegangen?»
Die andere Braue schnellte hoch. Und der Motor blieb, wie Nippon ihn geschaffen hatte.
Kurz vor der Abreise traf ich zufällig meine Freunde Greg und Geraldine auf einem Feldweg, achtzig Kilometer vor Paris. Ich liebe die beiden sehr.
«Du gehst also wirklich wieder auf große Fahrt?»
«Ja, klar.»
«Und diesmal nach Alaska?»
«Ich habe Lust auf Natur.»
«Und was machst du, wenn du vom Motorrad fällst?» fragte mich Greg, hämisch wie ein Zollbeamter.
Anfangs war ich nämlich mit meiner schweren Guzzi öfters umgekippt, und Greg war jedes Mal zufällig Zeuge dieser Stürze gewesen. Galanterweise taufte er mich daraufhin «die Gefallene der Landstraße». Die lieben Freunde!
«Du kannst unken, soviel du willst, diesmal falle ich erst, wenn ich mindestens tausend Kilometer auf dem Tacho habe.»
«Wetten?»
«Wette angenommen.»
Der Scherz ist so feinsinnig, daß ihn niemand außer uns dreien richtig würdigen kann. Auf meiner letzten Reise hatte ich nämlich einem Kilometerstein den Garaus gemacht, und das mitten auf dem Mont Cenis, achthundert Kilometer von Paris entfernt. Aber damals hatte der liebe Greg gewettet, ich würde schon nach fünfhundert Kilometern zu Boden gehen.
Schließlich blieb noch das zweite und wichtigste Problem zu lösen: die Dollars. Ich hatte zwar gerade genug Geld für die Reise, aber wenn sich jemand erböte, für mich zu zahlen, war ich zu jeder Bloßstellung bereit. (Natürlich unter Wahrung meiner Sittsamkeit, des öffentlichen Anstands und so weiter.) Und in diesem kritischen Moment schickte mir der Himmel einen höchst fragwürdigen Engel – nennen wir ihn Gabriel. Gabriel ist ein schöner Mensch, mindestens fünfunddreißig Jahre alt, groß, schlank, sonnengebräunt, mit einer Adlernase, großen Augen, einem südfranzösischen Akzent und Jeans, die farblich auf seine Hemden abgestimmt sind. Der offenstehende Kragen enthüllt eine bronzene Brust, auf der ein Medaillon baumelt. Ach ja, und weiße Mokassins schmücken seine Füße.
«Was du vorhast, ist Klasse. Ich werde dir unter die Arme greifen.»
«Nett von dir.»
Zwei Stunden später empfing mich der Leiter einer Rundfunkstation. Er hörte mich mit großer Geduld an. Dann erklärte er mir liebenswürdig, daß heutzutage Krethi und Plethi mit dem Motorrad nach Alaska führen. «Mit der Geschichte locken Sie keine Katze hinter dem Ofen vor.» Und daher könnte er mir leider auch kein Geld geben, aber er würde natürlich gerne versuchen, ob vielleicht jemand anders und so weiter. Zwei Tage später empfing mich der Chefredakteur einer großen Zeitung. Er erklärte mir liebenswürdig, daß heutzutage Krethi und Plethi mit dem Motorrad nach Alaska führen, und daher könnte er mir leider …
Aber mein Gabriel war so leicht nicht zu entmutigen, und so griff er mir weiterhin unter die Arme.
«Paß mal auf, von unterwegs schickst du mir Tonbänder, auf denen du mir alles, aber hörst du, wirklich alles, erzählst. Und bei deiner Rückkehr schreiben wir dann Artikel für die Illustrierten. Die Artikel plaziere ich dir schon. Ich kenne Gott und die Welt.»
Ich lauschte seinen Worten so andächtig wie einem Symphoniekonzert. Großartig, was er mir da alles erzählte. Mit dem Geld, das ich durch ihn verdienen würde, hätte ich ausgesorgt. Als er merkte, daß ich wie gebannt an seinen Lippen hing, sprach er mit mir von «Mann zu Mann». Er verstieg sich sogar dazu, mir einen Orangensaft zu spendieren.
«Ich meine, die Sache, die wir da vorhaben, ist ganz große Klasse, aber sie verlangt natürlich auch vollen Einsatz und Konzentration. Will sagen, wenn ich deine Reise für dich auswerten soll, laß ich alles andere schießen.»
«Ja, ja, natürlich.»
«Wenn du also willst, daß ich einsteige, dann mußt du mir einen Vorschuß geben.»
«Vorschuß?»
«Na ja, Geld braucht der Mensch.»
«Aber – ich habe kein Geld. Wenn du mir irgendeinen Zuschuß an Land ziehst, dann kriegst du deine Prozente ab. Aber dir Geld vorschießen – das kann ich nicht.»
«Kannst du dir nicht was borgen?»
«Du bist wohl nicht recht bei Trost. Ich will schließlich meine Freunde behalten.»
«Aber du kannst es ihnen doch lässig zurückzahlen. Bald schwimmst du in Geld.»
«Na gut, dann warte ab, bis ich schwimme, und dann zieh deine Provision ab.»
Er setzte die Miene eines Geschäftsmannes auf, der voller Bedauern zusieht, wie sein Kunde sich eine einzigartige Gelegenheit entgehen läßt.
«Ja, in dem Fall – muß ich leider verzichten.»
«Du brichst mir das Herz.»
«Aber das tut unserer Freundschaft hoffentlich keinen Abbruch.»
«Natürlich nicht.»
Wir haben uns lang und innig die Hände geschüttelt. Dann entschwand er meinen Blicken samt Medaillon, Arbeitsethos und farblich aufs Hemd abgestimmten Jeans.
Wobei letzteres noch vertretbar ist.
Meine armen Eltern geraten immer noch in einen panikartigen Zustand, sobald ich auch nur das Weichbild der Stadt verlasse. Ich war kaum drei Tage fort, als Gabriel sie anrief. (Wie mir später berichtet wurde.)
«Entschuldigen Sie, es ist mir äußerst peinlich, aber Ihre Tochter schuldet mir Geld, in der Aufregung der Abreise hat sie das wohl vergessen. Könnten Sie vielleicht diese Kleinigkeit regeln?»
Und das werde ich ihm nie verzeihen.
Im letzten Moment hatte ich in meinem Unglück doch noch etwas Glück. Als ich eines Tages von einer Unterredung mit einem Direktor, der mir kein Geld geben wollte, weil heutzutage Krethi und Plethi mit dem Motorrad nach Alaska fahren, bedrückt heimkehrte, empfing mich meine Mutter mit der Miene eines Verschwörers.
«Rat mal, was passiert ist.»
«Was?»
«Die Canadian Airlines zahlen dir deine Reise nach Montreal.»
«Hurra!» rief ich begeistert und schenkte mir einen doppelten Wodka ein, um meine Nerven zu beruhigen. Nun gab es kein Zurück mehr. Die Kanadier zahlten mir mein Billett. Nun hatte ich keinen Vorwand mehr, mich zu drücken, nicht einmal krank werden durfte ich. Sie hatten mich an meinem Ehrgefühl gepackt.
Ehrgefühl zu haben, kann manchmal sehr lästig sein.
Zum ersten Mal in meinem Leben flog ich in einem Jumbojet. Zwei Stewardessen begrüßten mich mit einem strahlenden Jumbo-Lächeln und wiesen mir einen Sitz inmitten eines Regiments von Sitzen an. Doch schon nach kurzer Zeit transferierten sie mich in die erste Klasse – aus schierer Nettigkeit. Dort saß ich nun und bewachte den einen Flügel, damit er auch ja nicht abbräche. Das ist nämlich meine Hauptangst beim Fliegen. Ich beobachte herzklopfend den Flügel und bekomme tief religiöse Anwandlungen. Bei den Canadian Airlines allerdings wurde mir die Bewachung des Flügels schwer gemacht. Alle dreißig Sekunden erschienen die beiden Luftdamen, die inzwischen gehört hatten, daß ich mit einem Motorrad und alleine nach Alaska fahren wollte, und verwöhnten mich mit Sekt, Wodka, Petits Fours und anderen Köstlichkeiten. Es war ein so fürstliches Gelage, daß ich schnöde meinen Beobachtungsposten verließ und in einen süßen Verdauungsschlummer glitt.
«Bitte anschnallen und das Rauchen einstellen.»
Jäh fuhr ich hoch und bezog wieder meinen Beobachtungsposten. Das Auge haftete auf dem Flügel, die Seele richtete sich himmelwärts, die Hand umkrampfte das Schloß des Sicherheitsgurtes, die Muskeln spannten sich, um mich im Notfall durch den Notausgang zu katapultieren. Doch Gott war gnädig. Einige bange Minuten, und die Erde hatte mich wieder. Aber nun ergriff mich aufs neue die andere Angst, die vor der bevorstehenden Reise.
Das Motorrad war in seiner Kiste und wartete darauf, herausgeholt zu werden. Ich quetschte eine Hand durch eine Bretterlücke, fummelte an einem der Gepäckbehälter herum und bekam – o Wunder! – wirklich den Hammer zu fassen.
Hier muß ich einfügen, daß dieser Hammer mein größter Stolz ist. Ganz aus Stahl, hat die eine Seite einen Schlitz zum Nägel-Herausziehen, und das Schaftende ist so abgeflacht, daß man es als Stemmeisen benutzen kann. Mit diesem Wunderwerkzeug zerrte und drehte ich also verbissen an den Nägeln der Kiste. Mir war zumute wie jemand, der mit einer Nagelfeile eine Betonwand attackiert. «Autsch», ich fluchte laut und vernehmlich, was zwei Herren dazu bewog, mir zu Hilfe zu eilen. Sie befreiten das Motorrad aus seinem Gehäuse, und ich brauchte nur noch die Lenkstange anzuschrauben.
«Wohin geht denn die Reise?»
«Nach Alaska.»
«Was – mit dem kleinen Ding? Das bricht Ihnen doch gleich zusammen.»
Ich stand mit geschlossenen Augen da und konzentrierte mich auf die Lenkstange. Ich drehte sie in der Luft mal nach links, mal nach rechts und wartete auf eine Eingebung. Die Herren schwiegen.
«Ich werde es nie lernen. Schraubt man nun linksherum zu und rechtsherum auf oder umgekehrt?»
Den Blicken der beiden Herren entnahm ich, daß sie mir nicht die geringste Chance gaben, auch nur in die Nähe von Alaska zu kommen.
Nach längerem Herumprobieren gewann meine Kawa ihre ursprüngliche Form zurück. Blieb noch ein letztes Problem. Laut Luftsicherheitsvorschriften sind Öl und Benzin zwar in den Flugzeugmotoren zulässig, nicht aber in den Fahrzeugen, die sie transportieren. Das hieß also, ich mußte meinen vollgepackten Lastesel bis zur Tankstelle schieben, die sich gegenüber dem Flughafen befand. Gerade als ich zielbewußt auf die Tür zusteuerte, gab es einen Knacks, und der elektrische Strom versiegte. Kein Licht, kein Nichts, die automatischen Türen blieben hermetisch verschlossen. Montreal war ins Mittelalter zurückgefallen.
Mit einem Fuß stieß ich die einzige Tür auf, die noch altmodisch in Angeln hing. Ich versetzte meinem Motorrad einen kühnen Stoß, fing es mit der rechten Hand wieder auf, rutschte aus, hielt wie durch ein Wunder mein Gleichgewicht, atmete auf und trat den langen beschwerlichen Weg zur rettenden Tankstelle an.
Sollten sie je im Sommer mit leerem Benzintank in Montreal landen, machen Sie sich bitte auf einen kilometerlangen Marsch gefaßt. Und das unter einer tropischen Sonne. Auf meiner ganzen Reise habe ich nirgends so geschwitzt wie in Montreal und Tokio. Als ich bei der Tankstelle ankam, war meine bildschöne neue Lederkombination klitschnaß. Die beiden Tankwarte lagen lässig hingegossen auf ihren Stühlen. Sie warfen mir einen gleichgültigen Blick zu und versanken sofort wieder in Dämmerschlaf. Ich wartete geduldig auf ihr Erwachen. Sie rührten sich nicht. Ich hüstelte diskret. Nichts. Ich kratzte mich hinterm Ohr. Nichts. Meine internationale Pantomime der «Dame, die um Aufmerksamkeit bittet» blieb ohne jeglichen Erfolg. Ich sattelte auf eine Sprechrolle um.
«Verzeihung, ist dies eine Tankstelle?»
«Hm.»
«Könnten Sie mir bitte Benzin verkaufen?»
«Geht nicht. Kein Strom.»
Natürlich, ohne Strom kann eine Pumpe nicht pumpen.
«Und Sie haben keine Pumpe mit Handbetrieb?»
«Wenn wir eine hätten, würden wir Ihnen Benzin verkaufen. Schuld an allem ist das Gewitter. Da, sehen Sie mal.»
Allerdings. In der Ferne strebten die Wolkenkratzer Montreals einem tintenschwarzen Himmel entgegen. Sie ragten steil in die Höhe: weiße, rosa, perlmuttfarbene Riesen, von den letzten Strahlen des schwindenden Schönwetters erhellt. Doch die schwarze Wolkenwand rückte unaufhaltsam vor, drohend und schnurgerade. Die Fassaden wurden schwarz, so als hätte das Universum den Untergang der Stadt beschlossen. Es war unheimlich und schön zugleich.
«Setzen Sie sich und warten Sie ab, bis es vorbei ist», riet mir der kräftigere der beiden lendenlahmen Herren.
«Danke.»
Ich schob das Motorrad in den Schatten, klappte den Ständer heraus. Das Motorrad kippte. Typisch. Als ich es hochhob, sah ich, daß der Ständer in der Mitte durchgebrochen war.
Das fing ja schön an.
In genau diesem Moment erschien ein total Verrückter.
Abstehende Kräuselhaarmähne, dünn wie eine Latte, ungewaschen, mit schlotternden Jeans, die älter waren als er.
«Brauchst du Hilfe?» fragt er auf englisch.
«Es geht schon.»
«Ist das ’ne japanische?»
«Ja.»
«Prima. Und wo willst du hin?»
«Nach Alaska.»
«Was, auf dem Roller? Hast du ’nen Kerl dabei?»
«Brauch’ ich nicht.»
«Donnerwetter.»
Er blinzelte mich verständnisvoll an, seine Haarmähne wippte, dann tuschelte er mir ins Ohr: «Hast du was dabei?»
«Was?»
«Geh, mir kannste’s ruhig sagen. Hast du was dabei? Ja?»
«Was soll ich dabei haben?»
«Aber, aber, ich verpfeif dich doch nicht; wir sitzen im selben Boot, wir zwei.»
Plötzlich ging mir ein Licht auf.
«Du spinnst wohl. Bei dir ist ’ne Schraube locker. Wenn ich Haschisch nur rieche, wird mir speiübel.»
«Reg dich ab, Puppe, mir kannst du …»
In dem Moment kam mir der Tankwart zu Hilfe.
«Laß die Dame in Ruhe! Und verschwinde, aber plötzlich.»
«Okay, okay, ich sag’ ja nichts mehr.»
Der Tankwart setzte sich wieder hin und tippte sich an die Stirn, um mir zu zeigen, daß ich es mit einem Irren zu tun habe.
Das Gewitter schien die Absicht zu haben, längere Zeit dazubleiben, und der Strom, längere Zeit fortzubleiben.
«Hör zu», sagte ich zu dem Irren, «tu mir ’nen großen Gefallen.»
«Klar, sofort.»
«Ich habe kein Benzin, und die Pumpen funktionieren nicht; nimm den Schlauch und zapf mir was ab.»
«Was?»
«Da, nimm den Schlauch und geh auf den Parkplatz.»
Ihm fiel der Unterkiefer runter.
«Aber das ist doch glatter Diebstahl!»
Es gibt Tage, wo mich die Moralbegriffe meiner Mitmenschen restlos verwirren.
Kein Gewitter dauert ewig, und der elektrische Strom kehrt erfahrungsgemäß immer zurück. Ich tankte also, reparierte notdürftig den Ständer und fuhr in Richtung Montreal. In Paris hatte man mir den Sainte-Cathérine Campingplatz empfohlen. Er sollte malerisch liegen, groß und nicht zu teuer sein. Mit Hilfe einiger wohlgenährter Polizisten, die in riesigen Schlitten die Ausfallstraßen abfuhren, gelang es mir auch tatsächlich, ihn zu finden. Es war acht Uhr abends.
«Zwei Dollar. Ihr Motorrad parken Sie dort drüben.»
«Aber ich kann ohne das Motorrad nicht zelten.»
Was stimmt. Statt eines Zeltes habe ich nämlich eine große Plane, die ich am Sattel und an der Lenkstange befestige und dann über mein Campingbett und Gepäck spanne. Also, man sieht, ohne Motorrad kein Dach über dem Kopf.
«Motorräder sind verboten. Nichts zu machen.»
«Aber es gibt doch eine Menge Autos auf dem Campingplatz.»
«Autos sind keine Motorräder.»
Das fing ja gut an.
«Was soll ich bloß machen?»
«Suchen Sie sich einen anderen Campingplatz.»
Der Parkwächter gab mir einige vage Anweisungen und dann: Adieu, mein Schatz!
Die Nacht brach herein. Montreal ist eine riesige Stadt, Kanada ist ein riesiges Land. Es ist äußerst ermüdend, mitten in dieser Riesenhaftigkeit ein Plätzchen zum Schlafen zu suchen.
«Gehen Sie doch auf den Trailer-Park», riet mir der dreiunddreißigste Tankwart, den ich befragte.
Was war ein Trailer-Park? Ich hatte den Ausdruck nie gehört. Nach einigem weiteren Gefrage und Herumgeirre kam ich an ein Schild, das mir die frohe Botschaft: TRAILER-PARK verkündete.
Es war elf Uhr abends und ich zu Tode erschöpft. Immerhin wußte ich aber jetzt, was ein Trailer ist. Also, ein Trailer ist ein riesiger Wohnwagen mit allem Komfort, ein richtiges Haus auf Rädern, das man mit sich führt, wenn man von einer Stadt in die andere zieht. Natürlich benötigt dieses Monstrum einen ganzen Geleitzug: ein Auto mit Blinklichtern, das vorausfährt, dann den Traktor, der den Trailer zieht, dann ein weiteres Auto mit Blinklichtern, das hinterherfährt, von der nachfolgenden langen Autoschlange, die nicht überholen kann, wollen wir gar nicht erst reden. Daher sehen die Straßen Kanadas auch alle so aus, als zögen ständig Zirkusse durchs Land.
Gegen Entrichtung eines Dollars erhielt ich die Erlaubnis, mich an einer Mauer niederzulassen und in einer Holzbude an einem Fluß eine Dusche zu nehmen. Und danach habe ich geschlafen, geschlafen.
Montreal ist ein komisches Konglomerat. Ganze Viertel erinnern mit ihren düsteren, eintönigen Backsteinhäusern an London. Plötzlich aber steht man dann vor gläsernen Stahlriesen, die die Straßen in den Himmel zu verlegen scheinen, und man glaubt sich in New York. Riesige amerikanische Autos gleiten von Verkehrsampel zu Verkehrsampel wie Skarabäen ohne Füße, und hie und da fährt ein Pferdewagen vorbei – wohl als Attraktion für die Touristen gedacht. Ich parke mein Motorrad zwischen zwei «chars», wie man hier sagt, und begebe mich, Sturzhelm in der Hand, zum Schaufensterbummel.
«Hallo, wo kommen Sie her?»
Ein Herr um die Vierzig, mir völlig unbekannt. Irrtum, er will nicht mit mir anbändeln. Ich bin einfach ein Gast in seiner Stadt, und er begrüßt mich sozusagen im Namen Montreals. Ich erkläre ihm auch, ohne zu zögern, wer ich bin, woher ich komme und wohin ich fahre. Wir plaudern ein paar Minuten. Ich habe den Verdacht, er hält mich für eine Verrückte. Auf fünf Meter Bürgersteig wurde ich siebenmal angesprochen, von Jungen sowie von Alten.
Ich habe eine Menge hinzugelernt im Verlauf dieser sieben Gespräche: 1. Die Franzosen sind alle unsympathisch (nur ich bin natürlich eine rühmliche Ausnahme). 2. Die Franzosen sind lästige Besserwisser. 3. Die Kanadier stehen im Ruf, Hinterwäldler zu sein (zu Unrecht). 4. Es gibt vierzehn Ausdrücke für «Mücken», weil sie eine wahre Landplage sind (besonders in den Wäldern). 5. Im Norden sind die Straßen nicht mehr asphaltiert, sondern nur mit Schotter bestreut. 6. Der Norden ist großartig, aber dort gibt es nur Männer. 7. Wenn Kanadier fluchen, tauchen Begriffe auf, die wir nur in der Kirche verwenden.
Montreal ist also eine ganz reizende Stadt, mit ganz reizenden Einwohnern, aber halt eben eine Stadt. Und ich liebe nun mal keine Städte, sogar wenn sie reizend sind. Daher beschloß ich, nach Quebec zu fahren, in die nächste Stadt. Logisch, nicht wahr?
«Quebec?»
«Zwei bis drei Stunden, länger brauchen Sie nicht zu rechnen», versicherte mir der dreiunddreißigste Tankwart, den ich befragte.
Übrigens, es ist gar nicht so einfach, Montreal zu verlassen. Alle Straßen führen mit eiserner Konsequenz zur Autobahn; ich dagegen hatte es mir in den Kopf gesetzt, die Landstraße entlang des Sankt-Lorenz-Stroms zu nehmen. Das hatten aber wiederum die Straßenbauer nicht eingeplant.
Doch meine Irrfahrten haben sich gelohnt. Die Landstraße ist besonders hübsch, und ich hatte alle Zeit, sie ausgiebig zu bewundern. Meine Kawasaki bringt es bestenfalls auf siebzig Stundenkilometer, und so konnte ich fast die Grashalme am Wegrand zählen. Die Straße windet sich durch Wiesen und Weideland, führt dicht an den Veranden alter Holzhäuser vorbei, durchschneidet schneeweiße und grüne Dörfer, wo die Bewohner in mächtigen Schaukelstühlen im Schatten der Bäume sitzen. Alles macht einen unbeschreiblich friedlichen Eindruck, als sei die Zeit hier stehengeblieben, als gäbe es keine Flugzeuge am Himmel und keine Motorräder auf Erden.
Es war wahnsinnig heiß und der Himmel wolkenlos blau. Plötzlich tauchten vor mir drei Dächer und ein hoher Kirchturm auf – bedeckt mit Schnee. Schöner, fester Schnee, weiß wie im Winter. Ich dachte, mich rührt der Schlag. Bei dieser Hitze Schnee! Verrücktes Land! Aber das Land ist gar nicht verrückt, ich wußte bloß nicht, daß man in Kanada die Dächer der Kirchen, Pfarrhäuser und Klöster silbern anstreicht.
Der Abend sank. Meine Landkarte verriet mir, daß ich ungefähr erst die halbe Strecke zurückgelegt hatte. Also einen Campingplatz suchen. Die Straße schlängelte sich weiterhin an grünen Büschen und gigantischen Bäumen vorbei. Die Luft roch nach feuchter Erde, frischgeschnittenem Gras und Feldblumen, und dann fächelte mir die Abendbrise plötzlich den würzigen Duft von Flußwasser zu. Nach der nächsten Biegung kam ich an eine Brücke, die sich über einen breiten, trägen Fluß spannte. Am jenseitigen Ufer leuchteten blau und orange zwei Zelte. Ich fand nach längerem Suchen einen kleinen Weg, doch kein Schild. Ein privater Campingplatz also? Um so besser. Doch wo befand sich die Verwaltung? Vermutlich in einem der beiden Häuser. Bei den Zelten war keine Menschenseele zu sehen. Ich lehnte mein Motorrad an einen Baum und ging auf die Suche.
«Was wollen Sie hier?»
Eine Frau um die Dreißig sah mich reichlich verblüfft an.
«Guten Abend, ich möchte gern zelten. Ich bin allein.»
«Aber das ist kein Campingplatz.»
«Und die Zelte?»
«Sie gehören Freunden von Nachbarn, dies hier ist Privatbesitz.»
Pech gehabt.
«Entschuldigen Sie, das habe ich nicht geahnt. Könnten Sie mir vielleicht sagen, ob es irgendwo in der Nähe einen öffentlichen Campingplatz gibt?»
Sie zögerte einen Moment lang.
«Sind Sie wirklich ganz allein?»
«Ja, und ich will auch kein Zelt aufschlagen, ich schlafe unter einer Plane.»
Das beruhigt die Leute komischerweise, wie ich aus Erfahrung wußte. Eine Plane wirkt vermutlich weniger aufdringlich als ein ganzes Zelt.
«Also gut, übernachten Sie hier, schließlich kann ich Sie nicht in der Dunkelheit herumirren lassen.»
Mein Nachtlager war im Nu bereit. Der Mann der Besitzerin erschien, begutachtete das Motorrad, musterte die Plane.
«Sehr pfiffig.»
Dann ging er wieder.
Ich auch. Allerdings in entgegengesetzter Richtung. Ich hatte nämlich am Anfang des Wegs ein Restaurant erspäht, das Hamburger feilbot. Ich muß Unmengen von ihnen vertilgt haben, denn zum Schluß entlockte ich sogar der mürrischen Kellnerin ein Lächeln.
Bei meiner Rückkehr streckte die Besitzerin den Kopf aus dem Fenster.
«Wollen Sie einen Kaffee?»
Ich betrat das kleine Holzhaus. Es hatte einen reizenden Balkon, der auf den Fluß blickte, allerdings ähnelte er mehr einem Vogelkäfig, da er rundherum mit Drahtgeflecht bespannt war, der Mücken wegen.
Er hieß Roger, sie Nicole. Nach den üblichen Fragen woher und wohin erzählten sie von Kanada, ihrem Kanada.
«Du solltest im Winter hier sein. Du kannst dir nicht vorstellen, wie kalt es ist. Trotzdem kannst du fast in Hemdsärmeln ins Freie gehen, weil die Kälte hier trocken ist. Wir laufen den ganzen Tag im Skianzug herum.»
Mit seiner ruhigen Stimme entrollte Roger vor meinen Augen einen Schneeteppich, und ich vergaß die Hitze, den Sommer, die Mücken, und sah die vereiste Landschaft vor mir, eingehüllt in tiefe Stille. Er sprach von der unvergleichlichen Freude, mit dieser wilden, schönen Natur eins zu sein; er sprach vom Frost und von der Kälte, von der Haut, die beim leisesten Windzug zu glühen anfängt. Die Bilder, die er heraufbeschwor, erinnerten mich an meine eigenen unvergeßlichen Erlebnisse in der iranischen Wüste. Ich liebe weite Landschaften, ich liebe Kanada, und ich liebe die Kanadier, weil sie es verstehen, ihr Land richtig zu lieben. Es war ein schöner, ruhiger Abend, zum Schluß boten sie mir an, auf ihrer Veranda zu schlafen, doch ich lehnte es ab – was gar nicht so leicht war –, denn ich wollte das Rauschen der Blätter und das Plätschern des Wassers nicht missen.
In der Frühe schenkte mir Nicole eine Flasche Eau de Cologne, und die Kinder schenkten mir eine eigenhändig verfertigte Hundezeichnung mit dem Auftrag, sie meinen Katzen zu zeigen. Ein Auftrag, den ich gewissenhaft ausgeführt habe.
Quebec. Endlich. Noch nie im Leben habe ich so steile Straßen gesehen. Was tun sie hier bei Glatteis? Sperren sie die halbe Stadt ab? Sie behaupten nein.
Pflichtgetreu melde ich mich bei den Canadian Airlines, um zu beweisen, daß ich noch am Leben bin. Sofort wird ein Telex nach Paris geschickt. Als Belohnung für mein Durchhaltevermögen zeigt mir der Filialleiter die Stadt. Altmodische Häuser, Straßencafés, viel lachende Jugend, viel Musik. Quebec wirkte an diesem Tag wie eine Stadt im Festgewand.
«Warum besuchen wir nicht Denis?» fragte mein Führer.
Warum nicht. Denis ist der Leiter des französischen Reisebüros.
«Sieh an, wen ich dir hier bringe.»
Denis sieht mich an, ohne zu begreifen, was an mir so ansehenswert sein soll. Doch als er erfährt, daß ich alleine von Montreal nach Quebec gefahren bin und sogar nach Alaska will, habe ich im Nu sein Herz erobert. Um seiner Liebe gebührend Ausdruck zu verleihen, bietet er mir an, sieben Wochenenden in sieben der größten Hotels von Kanada zu verbringen. Ich bin entzückt. Solche Hotels sind meistens wahre Luxusoasen mit Teppichen, in denen man kniehoch versinkt, mit Badewannen von der Größe olympischer Schwimmbassins, mit tellergroßen Steaks und leiser Musik, sogar im Lift. Warum sind die Leute so nett in diesem Land? In der Regel steht die Gastfreundlichkeit in umgekehrtem Verhältnis zum Lebensstandard. Die acht Millionen Einwohner Kanadas beweisen, daß es keine Regel ohne Ausnahme gibt.
Ich will jetzt keine vollständige Liste von allen Campingplätzen aufstellen, die ich im Laufe des Juli kennenlernte. Doch meine zweite kanadische Nacht ist eine Beschreibung wert. Also, der Tag ging zur Neige. Der dreihundertdreiunddreißigste Tankwart schwor mir mit ölbeschmierter Hand auf dem Herzen, ich könnte neben den Wasserfällen von Montmorency meine Plane aufspannen. Es war ein glatter Meineid. Und so irrte ich ein zweites Mal auf der Suche nach einer Bleibe den Sankt-Lorenz-Strom entlang. Ein Motel? Nein, zu teuer. In Afghanistan hatte man mir immer erlaubt, in den Hotel-Gärten zu übernachten. Und da ich Kanada genauso liebe wie Afghanistan, sollte das hier doch auch möglich sein. Beim nächsten Motel schritt ich zum Angriff. Ich gab mir den Anschein einer zu Tode Erschöpften, was mir nicht schwerfiel. Ein Mann mit einem verschrumpelten Apfelgesicht und einer tellergroßen Schirmmütze auf dem Kopf kam auf mich zu.
«Möchten Sie ein Zimmer?» Er sprach mit einem so starken Akzent, daß ich ihn kaum verstand.
«Eigentlich nicht, ich wollte auf Ihrem Rasen zelten. Ist das möglich?» Ich zeigte ihm ein verborgenes Eckchen hinter dem Schwimmbassin.
«Okay», sagte er mit starrem Blick, als hätte er nichts verstanden.
«Was schulde ich Ihnen?»
«Okay, okay. Sie schulden mir nichts.»
«Gut, dann wasch’ ich morgen das Frühstücksgeschirr ab.»
«In Ordnung», sagte er, noch immer mit dem gleichen starren Blick.
Ich richtete mich häuslich ein. Das Schwimmbassin lockte. Ich liebe es, nachts zu baden. Ich kramte also nach meinem Badeanzug und – o Wunder – fand ihn auch, eingeklemmt zwischen einem Schraubenschlüssel und einem Paar Schuhe. Ich sprang ins Wasser. In dem Moment entdeckte mich eine Katze. Eine schöne, große Katze. Sie fixierte mich, miaute, hockte sich unter einen Ligusterbusch und beobachtete mich aufmerksam. Kaum war ich aus dem Wasser, folgte sie mir. Rein in die Plane, rein in den Schlafsack. Sie war mollig und warm und schnurrte wie eine Turbine, während sie ihre gepolsterten Pfoten gegen mein Kinn stemmte. Wir schliefen gemeinsam ein. Später merkte ich, wie sie sich auf leisen Söhlchen davonmachte, so leise, daß ich nicht mal ganz aufwachte. Doch dafür sorgte sie dann in Sekundenschnelle. Zuerst hörte ich einen dumpfen Bums auf der Plane, dann Zschsch, ein Gleiten, gefolgt von einem emsigen Kratzen. Ich sprang auf, griff nach meinem Totschläger, den ich immer dabeihabe, obwohl das von der Polizei aller Länder streng verboten ist, und krabbelte ins Freie. Tiefe Stille. Dann Zschsch, Bums, Kratz, Zschsch! Das süße Tier hatte für sich die Freuden der Rutschbahn entdeckt. Es nahm Anlauf, sprang aufs Motorrad, rutschte die Plane herunter, kratzte am Gepäck, nahm wieder Anlauf, kratzte … Ich rüttelte an der Plane, um meiner Schlafgenossin Angst einzujagen. Völlig erfolglos. Im Gegenteil, sie fand das irrsinnig lustig. Meine Nacht war hin.
Ein letzter Rundgang durch die hochgelegene Altstadt Quebecs. Ich stehe auf der Terrasse Frontenac, hinter mir quillt der Touristenstrom aus dem Schloß, unter mir fließt blausilbern der friedliche Sankt-Lorenz-Strom, die Sonne wärmt meine Schultern.
Und damit habe ich meine touristischen Pflichtübungen absolviert, und nun kommt der vergnügliche Teil. Das heißt, ich kann die Städte hinter mir lassen und in die Wälder fahren. Ich suche die Ausfallstraße, finde sie (gar nicht so einfach), hole tief Atem, und – rums! – fährt ein Riesenschlitten fast in mich rein.
«Kommen Sie aus Paris?»
«Ist das ein Grund, mich totzufahren?»
«Verzeihung.» Seine Reue wirkt ehrlich.
Ich verzeihe ihm gnädig. Er erzählt mir, er habe Vögel im Norden fotografiert, sein Wagen wäre fast neu gewesen, aber der Schotter habe ihn völlig ruiniert.
«Schotter?» Da ist er also wieder, der ominöse Schotter, von dem man mir schon in Montreal erzählt hat.
Auch er erklärt mir, daß die Straßen im Norden nicht asphaltiert seien, sondern zumeist aus Steinen, Kieseln, nun, aus allem, was dazu angetan ist, einen Wagen zu ruinieren, bestünden. Und dann mit einem Blick auf mich:
«Von Motorrädern ganz zu schweigen.»
Aber was soll ich tun? Um nach Anchorage zu kommen, muß ich den Alaska Highway nehmen, tausend Meilen Schotter. Eine andere Straße gibt es nicht.
Er sieht, daß er mir tüchtig Angst eingejagt hat, und fährt hochzufrieden weiter.
Um nach Quebec zu gelangen, war ich am rechten Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms entlanggefahren, und so entschloß ich mich jetzt für das linke Ufer. Die Straße war schmal und so hübsch wie ihr Gegenstück. Sie wand sich durch zahllose Täler, ohne sich je vom Strom zu entfernen. Ich kam an kleinen Dörfern vorbei mit Namen wie: Joliette, Trois-Rivière, Louiseville, alles alte französische Namen. Doch sonst erinnert hier nichts an Frankreich. Dazu sind die Autos zu groß, die Spülmaschinen zu zahlreich, die Menschen zu freundlich. Ich liebe, weiß Gott, mein eigenes Land, aber herrje noch mal, sind wir unhöflich, besonders zu Fremden, zu denen benehmen wir uns direkt ruppig. Drei Kriege in weniger als hundert Jahren hält anscheinend die beste Kultur nicht aus.
Man stelle sich einen Samstagmorgen vor. Die Sonne scheint, die Vögel singen, die Einwohner Montreals fahren in den Park von Verendrye, um sich den Freuden eines von Mücken umschwärmten Picknicks oder Barbecues hinzugeben.
Ein sanfter Wind spielt mit meinem seidigen Haar, und ich bedaure die armen Idioten, die in ihren stickigen Autos hocken, und zwar in Tausenden und aber Tausenden von stickigen Autos. Ich wünschte, es wären ein paar tausend weniger. Mein Kilometerzähler steht auf neunhundertfünfundneunzig. In Gedanken drehe ich Greg eine lange Nase. Noch fünf Kilometer, und er hat seine Wette verloren.
Was macht denn dieser Schwachkopf hinter mir? Will er mich überholen? Verdammt, kommt der nah an mich ran, sein Anhänger …
Nein! Um Gottes willen! Hornochse! Au … sein Anhänger hat mich am Bein erwischt. Nur nicht fallen … die Straße … sie kommt auf mich zu. Warum kommt die Straße … Jetzt ist es aus. Es hat mich erwischt. Ich hab’ einen Unfall … noch nie hat mich ein Auto angefahren … noch nie. Ich werde mir alle Knochen brechen … Krankenhaus … Hilfe … ich falle, ich falle …
Das Motorrad schlittert in den Straßengraben. Es knattert, ich höre es noch. «Entspann dich, laß dich fallen wie eine reife Frucht», die Stimme meines Judolehrers. Ich rutsche nach rechts, immer schneller, mein Knie, es brennt wie die Hölle, halt, halt, ich kann nicht mehr, die Straße verbrennt mir das Knie. Der Arm, schnell mit dem Arm bremsen. Autsch, ich kreisele, ich kreisele um mich selbst, mein Arm ist eine Achse. Der Himmel dreht sich, die Erde dreht sich. Die Welt ist ein Kreisel, und ich bin die Achse.
Ruhe. Alles ist still. Nichts bewegt sich mehr. Der Himmel ist blau, ich sehe also noch, bin also nicht tot. Jetzt bloß nicht denken. Ich bewege die Beine, ich strecke die Arme, ich stehe auf. Nichts gebrochen. Erstaunlich. Mein Motorrad. Wo ist mein Motorrad? Oh, dieses Schwein, dieser Mörder … Wo ist er? Haltet ihn! Er schuldet mir Geld! Die Reparaturen … dort fährt er … Fahrerflucht … die Autonummer. Er verschwindet hinter der nächsten Kurve.
Eine Bremse quietscht neben mir.
«Ich habe seine Nummer», sagt eine männliche Stimme.
«Polizei, rufen Sie die Polizei!»
«Sie bluten», sagt eine andere Stimme.
Richtig, ich bin gestürzt. Meine schöne neue Lederkombination hat ein Loch am Knie. Ich blute. Mein linker Schuh ist fort. Die rechte Hand, der linke Arm … Das Gesicht ist unverletzt. Seltsamerweise tut mir nichts weh.
Eine Frau steigt aus einem Wagen.
«Kann ich Ihnen helfen?»
Ich schüttle den Kopf. «Ich muß die Wunden gleich desinfizieren.»
Ich wühle in meinem Blechbehälter und ziehe eine Flasche mit Jodtinktur, die wie durch ein Wunder heil geblieben ist, hervor.
Ein Mann hebt mein Motorrad auf.
«Die Lenkstange ist verbogen.»
«Lassen Sie doch bitte den Motor an, vielleicht ist er beschädigt.»
Er läßt den Motor an, während die Frau Watte aus ihrem Wagen holt.
«Der Motor ist in Ordnung. Sie haben überhaupt Glück gehabt. Wenn Sie auf die andere Seite gerutscht wären, hätten die entgegenkommenden Wagen keinesfalls rechtzeitig bremsen können.»
Er vermeidet, auf mein Knie, meinen Fuß, meine Hand zu sehen. Ich kann ihn gut verstehen.
Ein anderer Mann kommt auf mich zu.
«Die Polizei wird gleich dasein. Ich habe gesehen, wie der Kerl ohne Signal ausschwenkte, ich war gerade dabei, ihn zu überholen. Als er sah, daß er Sie in den Straßengraben drängte, gab er Gas. Die Polizei hat ihn zum Glück erwischt. Haben Sie Schmerzen?»
«Noch nicht.» Plötzlich lache ich schallend.
«Das sind die Nerven», sagt die Frau.
«I wo! Wissen Sie, warum ich lache?»
Noch immer prustend, berichte ich von meiner Wette mit Greg. «Nur noch fünf Kilometer …»
Sie blicken mich sprachlos an. Lachen bei einem Unfall? Das ist Gotteslästerung. Doch dann lachen auch sie, zuerst ein wenig verlegen, dann immer lauter. Wir sind noch ganz außer Atem, als die Polizei ankommt. Sie betrachtet uns verblüfft; statt eines Trauerspiels findet sie eine Karnevalszene vor. Dann kommt einem psychologisch geschulten Polizisten ein Geistesblitz. «Aha, die Nerven.» Wir schütteln, noch immer glucksend, die Köpfe! «Nein, nicht die Nerven –»
Währenddessen sitzt mein Mörder auf der Polizeistation und wartet auf die Gegenüberstellung. Sie wird ihn eine Lenkstange kosten.
«Sollten wir nicht besser ins Krankenhaus?» fragt der Polizist.
«Ich würde mich lieber gleich um das Motorrad kümmern.»
Ein großer Wagen kommt. Das Motorrad wird aufgeladen, während ich mit einem steifen Bein und nur einem Schuh gute Ratschläge gebe.
Der kleine Herr, der mich angefahren hat, sitzt mißmutig in der Polizeistube. Sein Wochenende hat schlecht begonnen.
«Natürlich», sagt er, «zahlt meine Versicherung.»
Nein, natürlich sah er mich nicht fallen. Wo denke ich hin. Sonst hätte er doch selbstverständlich angehalten. Sehr unangenehm, das Ganze. Was für ein Mißverständnis!
«Machen Sie sich keine Sorgen», sagt einer meiner Retter zu mir. «Ich habe alles gesehen, ich kann den Vorfall bezeugen. Gehen Sie schleunigst ins Krankenhaus.»
Das Krankenhaus ist ein gewaltiger, grauer Komplex. Ein reizendes junges Ding begrüßt mich lächelnd.
«Was ist Ihnen denn zugestoßen?»