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Eine junge Frau erobert mit Mut, Charme und Motorrad den südamerikanischen Kontinent. Mit seltener Frische und Direktheit beschreibt Anne-France Dautheville ihre Abenteuer abseits aller Zivilisation, erzählt von ihren aufregenden Erlebnissen zwischen Revolutionen und ausufernden Volksfesten, Voodoo-Ritualen und Versuchen machismo-besessener Männer, ihr um jeden Preis »Gutes« tun zu wollen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 480
Anne-France Dautheville
Wohin der Wind mich trieb
Aus dem Französischen von Susanne Lepsius
FISCHER Digital
Eine junge Frau erobert mit Mut, Charme und Motorrad den südamerikanischen Kontinent.
Jedesmal, wenn ich mich auf fremde Landstraßen begebe, habe ich Angst. Ich bin in Bogotá angekommen, den Tod auf den Fersen. Die Herren von Honda Kolumbien haben mir mein Motorrad ausgeladen, das in einer Kiste reiste, die fast so bequem war wie mein Flugzeugsitz. Sie schälten es sorgfältig aus seiner Umhüllung. Ich wurde nur schon vom Zuschauen erschöpft. Und dann stand es vor uns: weiß, massiv, mit zwei großen Satteltaschen auf dem Gepäckständer, und dennoch wirkte es schlank, rank und elegant – mein hübsches Motorrad. Wir haben es gemeinsam bewundert, und aus dieser Bewunderung entstand eine Freundschaft. Aber die Angst in mir wuchs.
Herrgott, warum bin ich nur so ein Hasenfuß! In vier Tagen werde ich siebenunddreißig. Alle meine Altersgenossen sind geschieden und mit zahllosen Kindern behaftet, während ich, der Teufel weiß warum, mich dazu veranlaßt fühle, die Anden in ihrer ganzen Länge und Breite zu durchqueren, angefangen in Kolumbien bis hinunter nach Argentinien. Aber das Verrückteste an der ganzen Sache ist, daß ich seit meiner Kindheit von dieser Reise träume und nur der Tod mich von diesem Plan abbringen könnte.
Es war bereits Nacht, als wir das Motorrad aus der Garage schoben. Hernán und Carlos bestiegen ihren kleinen Lieferwagen, um mich durch die Stadt zu schleusen. Und ich entdeckte Bogotá für mich: glitzernde Hochhäuser, die sich vor einer düsteren Bergkette erheben, entlang den Boulevards Autos, Stoßstange an Stoßstange, deren Fahrer unentwegt hupen, um den Stau ein wenig unterhaltsamer zu gestalten. Orangene Omnibusse, die weder Gott noch Satan respektieren, schlängeln sich durch den Verkehr und sind entzückt, wenn sie andere streifen. Bricht ein Autobus zusammen, muß man sich ganz auf die Geschicklichkeit des Fahrers verlassen; und wenn sie das Leben einiger Fußgänger kostet, was macht das schon! Meine beiden Schutzengel lotsen mich durch Seitenstraßen bis zu einer Avenue, durch deren Mitte unter hohen Bäumen ein Rinnsal fließt, das so tut, als sei es ein Kanal. Es gibt sogar einen Esel, der auf dem Rasen grast, und eine kleine, bucklige Brücke. Rechts und links stehen Villen aus rotem Backstein mit schmucken Gärten nach englischer Manier. Bogotá ist ein lärmendes Brighton. Kolumbien ist England!
Nicht weit entfernt von dem Esel spielt ein Junge mit einer leeren Papiertüte. Er ist fünf oder sechs Jahre alt, sein Haar ist verwuschelt, die Nase nicht ganz sauber; seine Umgebung interessiert ihn nicht im geringsten. Man hört soviel von den Straßenbanden Bogotás. Von Kindern, die von ihren ebenso zeugungsfreudigen wie armen Eltern verstoßen wurden und die sich selbst überlassen in dieser großen Stadt vegetieren. Kleine Diebe, die Marihuana rauchen in einem Alter, in dem andere Kinder an Zuckerstangen lutschen, Herumtreiber, die sich kichernd zwischen Abfalleimern betatschen, während die artigen Buben und Mädchen schon längst brav im Bett liegen – bedauernswerte und rührende kleine Gestalten, die nur das Recht des Stärkeren kennen und auf kein Verständnis hoffen dürfen, wenn sie zu Delinquenten werden. Die auf ihren guten Ruf bedachte Regierung hat sie aufgreifen lassen. Bogotá wurde gesäubert. Die Straßenjungen befinden sich in Heimen. Bravo! Nur, in diesen Heimen durfte man keine sexuellen Spielchen treiben oder einen Joint rauchen, sondern man mußte irgendeinem Kerl gehorchen, der nicht einmal stärker war als man selbst. Die Bengel haben sich gelangweilt und sind ausgerissen; die Sehnsucht nach der Gosse, nach den im Vorbeirennen entrissenen Handtaschen, nach dem Geruch, dem Wind, der Brutalität Bogotás hatte gesiegt.
Mein Haus hat nichts Englisches an sich, ausgenommen vielleicht eine gewisse Düsterkeit im Speisezimmer und eine eisige Kälte, sobald die Sonne sinkt. Ich sage mein Haus, denn ich habe solche Angst an diesem Abend des 18. März 1981, daß die Adresse, die mein Freund Philippe mir gegeben hat, mir wie ein heimatlicher Hafen vorkommt. Keine schlechte Art vermutlich, sich mit diesem furchteinflößenden Ort, diesem Land, diesem Kontinent vertraut zu machen. Dennoch fühle ich mich endlos verloren.
Philippe wohnt am anderen Ende der Stadt und hat es seinen Freunden Alexander und Sylvie überlassen, mich in Empfang zu nehmen.
Um die Reise noch ein wenig hinauszuzögern, habe ich mir die Grippe geholt und mich ins Bett gelegt. Am Abend meines Geburtstags bin ich aufgestanden, um die roten und teuren Geschenke, die ich mir erbeten hatte, in Empfang zu nehmen: eine Erdbeertorte und ein Plastikmotorrad, 10 cm lang und 5 cm hoch, made in Taiwan. Mit gefülltem Magen und meinem Motorrad auf dem Kopfkissen bin ich wieder in die Federn gesunken.
Nach drei Tagen verließ mich die Grippe. In Bogotá ist mir der Tod offensichtlich aus dem Weg gegangen, und so mußte ich mich aufmachen, um ihn woanders zu treffen. Am 24. März zur Mittagszeit setzte ich mich daher auf meine Honda. Alexander winkte, Sylvie schnitt Grimassen, Philippe machte Fotos, und dann fuhr ich ab – meinem Schicksal entgegen.
Es ist grau und scheußlich. Beim Abschied von meinen Freunden hatte ich den Eindruck, daß ich sie nie wiedersehen würde. In Bogotá fährt der Kolumbianer wie ein Schwein, außerhalb Bogotás fährt er wie ein Verbrecher. Im Reich der Schweine stehen luxuriöse Wohnhäuser, aber je weiter man sich vom Zentrum entfernt, desto häßlicher werden die Häuser. Im Reich der Verbrecher sind die Böschungen mit Einwickelpapier dekoriert, das jedoch nicht mal fettig ist, weil man hier zu arm ist, um sich auch nur ein Quentchen Butter leisten zu können. Kilometerlang nichts als nackte Ziegelbaracken und Wellblechhütten, unasphaltierte Straßen, schmutzverkrustete Läden, wo man sehr viel mehr redet, als man kauft. Bogotá hat hier nichts Verführerisches mehr.
Das Gewühl ist unvorstellbar: Lastwagen und Omnibusse spielen Verfolgungsjagd; aus den Auspuffen entweichen stinkende Fürze und verpesten die Luft. Dreck, wo man hinsieht. Das Elend trifft einen so unvermutet wie eine unerwartete Ohrfeige. Ist das Südamerika?
Ich fahre weiter – und lerne schnell. Man muß dicht auf die Stoßstange des Vordermanns auffahren, weil einen sonst der Hintermann überholt, nur um die Lücke aufzufüllen. Ob man dabei zerquetscht wird, ist egal. Und hupen muß man wie verrückt, sobald ein Kind nur einen Ball, einen Kiesel oder einen Passanten auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig ansieht. Wenn man merkt, daß ein Lastwagenfahrer mit dem Gedanken spielt, anzuhalten, dann hilft nur noch, scharf auf die Bremse zu treten und in den Graben zu springen. Man muß unentwegt die sinnlosesten Reaktionen voraussehen, aber vor allem muß man überholen, um jeden Preis, um dieser Hölle, diesen schwarzen Abgasen, diesem ohrenbetäubenden Motorenlärm, diesem unfallschwangeren Wahnsinn zu entrinnen.
Die Armen sind zu sehr damit beschäftigt, ihr eigenes Leben zu retten, als an das ihrer Nachbarn zu denken; die Sorge um den Nächsten erwacht erst, wenn der Magen gefüllt ist.
Wie weit bin ich in diesem angstschlotternden Zustand gefahren, sechzig, siebzig Kilometer? Ich weiß es nicht, aber allmählich werden die Lastwagen seltener, die Berge flacher; plötzlich ist der Himmel blau, und es wird warm, wirklich warm. Meine Angst läßt ein wenig nach, und ich schiebe sie vollends beiseite, um diese unbeschreiblich grünen Hänge in mich aufzunehmen, die prächtigen Bäume, die bis an den Straßenrand wachsen: Bananen- und Kaffeebäume! Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich, wo der Kaffee wächst. Kaffeebäume sehen aus wie Stechpalmen, die meinen, sie seien Buchsbäume; das Grün ist so dunkel, daß es fast schwarz wirkt. Dörfer fliegen vorbei mit niedrigen Häusern hinter Pseudo-Platanenreihen, und durch die offenstehenden Türen sieht man in blumengefüllte Höfe.
Ein alter Mann, der vor einer Kneipe ein Bier trinkt, hebt den Kopf, lächelt mich an und hebt segnend die Hand, eine Geste voller Einfachheit, mit der er mich seinem Gott anvertraut. Andere Tage und andere Dörfer folgten, aber nur in Kolumbien haben mich Männer und Frauen, wenn unsere Blicke sich zufällig trafen, mit dieser sanften Frömmigkeit gesegnet.
Und dennoch habe ich nie wieder ein Land gesehen, das soviel Gewalttätigkeit ausstrahlt. Die Männer tragen ihre Macheten wie alle Männer in südamerikanischen Ländern, nur hat man hier das Gefühl, sie seien immer bereit, sich ihrer auch zu bedienen, und zwar nicht nur für landwirtschaftliche Zwecke.
Von 1948 bis 1958 hat La Violencia Kolumbien zerrissen. Die Liberalen haßten die Konservativen und umgekehrt, und das Land versank in Wahnsinn. Nachbarn töteten sich für ein unbedachtes Wort oder einfach aus schlechter Laune; die Gewehre waren öfter zu vernehmen als die Stimmen der Frauen. Während zehn Jahren wußte der Familienvater am Morgen nicht, ob er am Abend zurückkehren würde. Die Macheten schnitten zischend Baumzweige, Köpfe und Hände ab. Folter und Tod färbten die Erde Kolumbiens rot mit Blut.
Und dann erlosch La Violencia, erschöpft von ihrer eigenen Raserei. Heutzutage tötet man nur noch aus den üblichen Gründen: aus Habgier oder aus verletztem Ehrgefühl. Die Polizei versucht sogar, die Schuldigen zu finden, ein Zeichen, daß die Zivilisation zurückgekehrt ist. Aber etwas von dieser schrecklichen Zeit ist noch in der Atmosphäre zu spüren. Die Machete in ihrem an einem langen Riemen hängenden Lederetui, die gegen die Schenkel der Männer schlägt, ist kein einfaches Handwerkszeug mehr, weil sie zu lange eine Waffe war.
Die Angst hat mich endgültig verlassen. Ich habe mich in dieses zwiespältige Kolumbien verliebt.
An jenem Abend, als die Landschaft sich im Licht der untergehenden Sonne vergoldete, hielt ich in Gualanday an, mitten im Herzen dieses warmen Landstrichs. Ich war entschlossen, glücklich zu sein. Das Hostal Rozal machte mir einen besonders angenehmen Eindruck, obwohl es die gleiche verblaßte Farbe hatte wie die anderen Hotels und das gleiche ärmliche, abweisende Äußere, so als sei es irgendwann einmal am Rand dieser Straße achtlos abgestellt worden. In der großen Küche am Ende des Hofes – eigentlich glich sie mehr einer Werkstatt mit ihren vom Alter geschwärzten Wänden und den schweren, häßlichen Möbeln – befanden sich nur Frauen. Könnte ich ein Zimmer haben? Gewiß doch. Mein Motorrad in den Hof schieben? Gewiß doch. Zu essen bekommen? Gewiß doch.
Ich brachte mein Gepäck in einen Raum ohne Fenster, in dem sich zwei Betten, ein Tisch und ein Stuhl befanden. An der Doppeltür hing ein Hängeschloß – richtige Schlösser sind zu teuer.
«Woher kommst du?» fragte mich die älteste der Frauen.
«Ich bin Französin.»
«Aha … die Dusche ist dort oben.»
Eigentlich hätte ich mich lieber ausgeruht, aber um die Ehre Frankreichs zu retten, nahm ich ein Stück Seife und stellte mich unter Fluten von kaltem Wasser.
Die Elektrizität ist vorübergehend abgeschaltet. In Bogotá geschieht das ganz offiziell zwei Stunden pro Tag in jedem Bezirk, um eine Überlastung des Stromnetzes zu vermeiden.
In Gualanday fällt der Strom mit mehr Phantasie aus. Wir essen im Schein einer Petroleumlampe. Die Kellnerin hat mich an einen Holztisch unter ein Wetterdach gesetzt. Eine Katze macht mir zurückhaltend den Hof. Die Enkelin des Hauses legt ihre Schulhefte neben meinen Teller und vertieft sich mit gesenktem Kopf und vor Konzentration halboffenem Mund in ihre Arbeit. Von Zeit zu Zeit blickt sie auf und sieht mich halb neugierig, halb beunruhigt an. Ich begutachte die lange Linie von «A»’s und sage, ich fände sie sehr schön. Sie lächelt und schickt sich an, die nächste Seite zu erobern.
Ich ziehe nun auch meinerseits die Schreibutensilien hervor und beginne den ersten von vielen Briefen an meine Familie. Dieser Abend im gelben Licht der Petroleumlampe gehört zu meinen schönsten Erinnerungen. Die Luft war lau, Tierchen mit singenden Flügeldecken durchfurchten im Zickzack-Flug die Dunkelheit unter den wachsamen Augen der Katze. Es roch gut nach Blumen und sonnengewärmten Steinen. Das Motorrad war zwischen zwei grünen Pflanzen eingekeilt und schlief, erschöpft von der ersten Etappe unserer Reise.
Die Straße steigt schon über eine Stunde an und schraubt sich in Haarnadelkurven in die Höhe. Nirgends ein Parkplatz, um sich zu verschnaufen. Die Steigung ist enorm, und die Laster kriechen wie plumpe Schnecken hinauf. Sie überholen einander, obwohl sie keinen Meter weit sehen können; die langsamsten fahren fünfzehn, die schnellsten zwanzig Stundenkilometer. Die Überholmanöver dauern eine kleine Ewigkeit. Sollten ihnen zwei andere, sich im Überholen befindliche Laster entgegenkommen, käme es zu einer vierfachen Katastrophe, im Zeitlupentempo zwar, aber unvermeidbar, da so etwas wie Bremsen nicht existiert. Und hinter ihnen ich, die ich nur mit einer kurzen Handbewegung Gas zu geben brauchte, um diesem infernalischen Gestank zu entfliehen. Also gut, wenn ich fünf Meter weit sehen kann, werde ich sie überholen. Ein gefährliches, aber auch aufregendes Spiel, in dieses Loch voll frischer Luft vorzustoßen, während die Ungetüme hinter mir stöhnen und keuchen. Ich weiß, wenn ich umkippe, würden sie nicht anhalten, da sie bei dieser Steigung unmöglich wieder starten könnten. Ich hüpfe also wie ein Floh, um schneller voranzukommen; der Motor wird sich schon erholen. Zufällig habe ich eine freie Strecke vor mir, und ich sause davon, um einen möglichst großen Abstand von den Urtieren zu gewinnen. Eben wollte ich vor einer Kurve Gas geben, als die Sonne in ihren Strahlen blaue Rauchfäden einfing, die zwei Meter über dem Asphalt schwebten. Ich drosselte sofort mein Tempo. Zu meinem Glück! Vor mir schlich ein Zwanzigtonner, groß wie ein Wohnblock, den Berg hinauf, ein anderer Laster kam mir entgegen. Das war mir eine Lektion: Von nun an würde ich vor Kurven bremsen, denn nicht immer würden mich blaue Rauchfähnchen vor einer Todesgefahr warnen.
Auf der Gebirgshöhe war es kalt und grau. Die Bäume waren goldgrünen Pflanzen gewichen, eine Farbe zwischen Mandeln und Herbst, die ich nirgendwo anders je wiedergesehen habe. Zuweilen in einer Felsnische stand eine winzige Kapelle, die eine blau und rosa bemalte Madonna barg. Rundherum hatten Reisende abmontierte Autoscheinwerfer aufgestellt, Dutzende, Hunderte, wie tote Augen. Gewisse Kapellen schienen sich besonderer Beliebtheit zu erfreuen. Zusätzlich zu den Scheinwerfern gab es Wachskerzen, die sich in zarten Kringeln selbst verzehrten. Diese kleinen, hellen Flammen ließen die Berge noch grauer, die Wolken noch trostloser erscheinen.
Wie traurig war doch dieses Kolumbien, als ich in Cajamarca ankam! Eine Brücke mit operettenartigen Laternen überspannte eine Schlucht, durch die ein Flüßchen plätscherte. Ärmliche Häuser schmiegten sich an ein Gebäude, das vielleicht ein Kloster war. Eine zu breite Straße führte hinauf zu einem zu großen Platz – eine dem Wind, der Kälte, der Verzweiflung ausgelieferte Stadt. Gott, bin ich hungrig!
Auf einer Reise per Motorrad muß man regelmäßig essen, wenn man seine Etappen einhalten will.
Ein Restaurant ohne Türen und Fenster und mit sehr wenig Mauerwerk bildet die Ecke des Platzes und der Straße. Ich halte an, und sofort scharen sich fünf oder sechs Halbwüchsige um meine Honda. Kleine Jungen drängeln sich vor mit offenen, runden Mündern und aufgesperrten Augen; einige Männer versuchen, ihr Erstaunen hinter gleichgültigen Mienen zu verbergen.
Auf der anderen Seite des Platzes aus einem Laden ertönt laute ländliche Musik. In Frankreich ist die Folklore ein Phantom, das man mit lärmenden Festen wiederzuerwecken versucht. Hier ist sie lebendig geblieben. Die Flöten trillern, die Harfen bringen die Beine der Mädchen zum Tanzen, die Trommeln geben den Rhythmus, und alles ist voll ungebrochener Lebenskraft.
Ich betrete das Restaurant und setze mich an einen mit einem häßlichen Plastiktuch bedeckten Tisch. Ein Kellner empfiehlt mir die Suppe – her mit der Suppe! Und Fleisch – her mit dem Fleisch! Und bitte eine Flasche Mineralwasser! Die Jungen stellen sich in einer Reihe vor meinem Tisch auf; an ihren Schultern hängen Kästen mit Bürsten, Lappen und Schuhcreme. Hier lautet die Devise: Wer laufen kann, ist groß genug, um zu arbeiten! Großes Gelächter über meine drei Worte Spanisch. Aber zusammen mit den fünf, die mir die Jungen beibringen, gelingt es mir, auf ihre Fragen zu antworten: «Woher kommst du? Wohin fährst du? Wieviel kostet dein Motorrad?»
Hinter ihnen steht ein Schwachsinniger und starrt mich unentwegt an. Sein Kinn hängt herunter, sein Blick ist gierig, sein Rücken gekrümmt. Ich scheine ihn zu faszinieren. Als ich meine Suppe aufgegessen habe, bleiben noch ein paar Fleisch- und Gemüsestückchen übrig, die zu hart zum Beißen sind. Der Idiot tritt einen Schritt vor und bittet mich durch eine Geste, ihm den Teller zu geben. Blöde Gans, nicht du hast ihn fasziniert, auf deine Speisereste war er scharf! Er hat Hunger und schlingt die Nahrung hinunter, schnell, bevor sie ihm einer aus der Hand reißt. Und ich schäme mich. Ich verzehre nur die Hälfte meiner Fleischportion und reiche ihm den Rest … Aber was hilft das schon?
Auch das ist Südamerika.
Wolken haben sich auf die Straße gelagert. Sie sind zu müde, um über den Kamm der Anden zu klettern, und so kriechen sie über das Gras wie weiche Tintenfische, strecken ihre Tastarme aus, die sich langsam auflösen, und dann weinen sie. Es ist kalt. Ich sehe keine drei Räder weit. Plötzlich zerreißt der Nebel. Eine Palme. Eine Palme in 3500 m Höhe! Eine riesige Königspalme, ganz allein auf einem Berggrat, großartig und verachtungsvoll. Nicht sie ist fehl am Platz, sondern das Gebirge.
Ich würde sie gerne fotografieren, aber wenn ich anhalte, holt mich der Zwanzigtonner ein, und dann muß ich ein zweites Mal an ihm vorbei. Tut mir leid, schöne Palme, aber wir sehen uns in meiner Erinnerung wieder.
Die Wolken lasten immer noch schwer am Straßenrand. Wenn sie sich teilen, erblicke ich erneut goldgrüne Hänge und Blockhütten, in denen Kinder, braun wie Holzbretter, Unterschlupf suchen. Auf einer Leine hängen rote, gelbe und blaue Wäschestücke. Nichts im Leben finde ich deprimierender als nasse Wäsche, die nicht trocknen will.
Hitze, Sonne! Felder voll Zuckerrohr, durchzogen von rötlich schimmernden Wegen, die sich im rechten Winkel schneiden. Eine kasteite Landschaft, die lächelt. Der Río Cauca fließt sanft zwischen der Straße und den Bäumen dahin, und das Wasser, das mich dort oben im Gebirge so trübsinnig gestimmt hat, erfreut hier unten mein Herz. Vorhin habe ich im Parador Rojo haltgemacht, wo die Straßen von Medéllin und Ibágue sich kreuzen. Eine überdimensionale Pseudostrohhütte voller Ananas und Kuchen. Ich habe mir ein großes Glas Passionsfruchtsaft genehmigt, ein herrliches Getränk, das in sich den Geschmack von Pfirsichen, Trauben, Birnen, Äpfeln und allen köstlichen Dingen dieser Welt vereint. Und diese Königin der Früchte verbirgt sich in einer unscheinbaren Schale, die einer verschrumpelten Pflaume gleicht.
Die Kellnerinnen und der Wirt haben mein Motorrad bewundert. Ich habe erst knappe fünfhundert Kilometer geschafft, aber für sie bin ich eine Heldin, weil ich aus Frankreich komme, weil ich allein bin, weil ich eine Ledermontur trage und eine Maschine für Männer fahre. Sie finden mich einfach großartig.
Alle finden mich großartig, solange ich auf dem Motorrad sitze. Meine Probleme fangen erst an, wenn ich absteige, denn dann bin ich nicht mehr die Drei-Groschen-Heft-Heldin, sondern nur noch ich selbst. Was für eine Enttäuschung!
Auch weiterhin sind die Flüsse klar und frisch, die Zuckerrohre wie Wellen im Wind, und die Luft ist wunderbar lind. Gut, man liebt mich für etwas, das ich nicht bin, aber wenigstens liebt man mich.
Es ist heiß. Die Lastwagen werden rar. In einem ausgehöhlten Baumstamm auf dem Wasser steht aufrecht ein nackter Mann – o nein, er trägt einen Lendenschurz – und wirft sein Netz aus. Unbeweglich, allein auf der Welt, wächst sein Körper aus der Piroge, als sei er ein knospender Ast. Mit einer geschmeidigen, kräftigen Bewegung des einen Arms entfaltet er das Wurfnetz, das in einem Sprühregen aufs Wasser fällt. Kaum zwei Sekunden später kommt erneut Leben in den Körperast: ein perfektes Zusammenspiel von Muskelkraft und Geschick. Er zieht das Netz ein, leert es und wirft es wieder aus.
Fasziniert halte ich an, kauere mich hinter ein Gebüsch, nehme meinen Fotoapparat und rufe: «Darf ich Sie fotografieren?»
Mit einer Kopfbewegung bietet er mir sein Königreich an: den Fluß, die Piroge, das ganze warme Kolumbien. Zweimal, dreimal wirft er sein Netz aus und beobachtet mich aus den Augenwinkeln. Ich weiß, er tut es nicht, um zu fischen, sondern um mir einen Gefallen zu erweisen.
«Vielen Dank, das war sehr schön.»
«Kommst du baden?»
Oh, wie gerne würde ich mich in den Fluß gleiten lassen und die Sonne an seiner Seite trinken. Wie gerne wäre ich unkompliziert und sanft. Verzeih, Fischer, du sprichst nur zu meinem Bauch, aber bei mir muß alles erst durch den Verstand gehen.
Als ich von Bogotá und «meinem» Haus erzählt habe, habe ich Thierry nicht erwähnt. Ich hätte es getan, wenn er dagewesen wäre. Aber Thierry ist in Myriam verliebt, und Myriam wohnt in Cali. Thierry hat am Tag meiner Ankunft Bogotá verlassen, um Myriam zu besuchen, und so kam es, daß ich in Thierrys Bett schlief und daß Myriam meine Freundin wurde. Myriam ist das schönste Mädchen, das ich auf meiner ganzen südamerikanischen Reise gesehen habe. Thierry hatte mir seine Adresse in Cali gegeben und mir versprochen, daß ich dort übernachten könne, wiederum in seinem Bett, weil er inzwischen in Bogotá sein würde.
Und so landete ich eines Abends, nachdem ich mich erst mal ausgiebig in den Vororten Calis verfahren hatte, unter der Führung eines anderen Motorradfahrers, der mir aus schierer Freundlichkeit half, ohne etwas von mir zu wollen, bei den Osorios.
Sie bewohnen ein reizendes Gartenhaus in einem neuen Stadtteil. Entlang den blühenden Alleen patrouilliert ein Wachmann, Pistole an der Hüfte, den die Anwohner bezahlen. Auf den ersten Blick sind kolumbianische und französische Familien zum Verwechseln ähnlich. Der Vater geht ins Büro, die Mutter ist müde, es gibt einen Hund, eine Katze und einen Kanarienvogel, die Töchter helfen den Tisch decken, die Söhne lassen sich bedienen.
Aber auf den zweiten Blick ändert sich das Bild. Ein Dienstmädchen putzt die Küche – das ist billiger als eine Geschirrspülmaschine. Frau Osorio hat sechs Kinder großgezogen. Als sie erfuhr, daß meine Mutter nur zwei Töchter hat, war sie erstaunt, fast schockiert.
Eine Stunde nach meiner Ankunft habe ich mich Anna genannt. Muñeca, die kleine Hündin, folgte mir auf Schritt und Tritt; Fernando, einer der Söhne, der ein Taxi fährt, hat mir meine Stiefel geputzt, weil ich mich so ungeschickt angestellt habe. Der Macho ist auch nicht mehr das, was er mal war …
Zwei Tage lang ließ ich mich von den Osorios verwöhnen. Einen ganzen Nachmittag lang hat José Fernando seinen Taxameter abgestellt und Myriam und mich kreuz und quer durch Cali gefahren. Cali ist wie Bogotá eine Stadt, die sich zu schnell modernisiert und vergrößert hat. Die Autos sind verbeult, und die Omnibusse fallen auseinander. Die Motorräder schlängeln sich mit einer lässigen Unbekümmertheit durch das Verkehrsgewühl. Die Polizei hat das Tragen von Helmen in der Stadt verboten. Die Mafia pflegte ihre Mörder, ausgestattet mit Sturzhelm und Visier, auf Motorrädern loszuschicken. Sie töteten, flüchteten, und keiner konnte sie wiedererkennen. Woraufhin die Polizei, durchaus logisch, das Tragen von Helmen in der Stadt verboten hat. Resultat: Im Krankenhaus von Cali gibt es eine spezielle Station, «Kawasaki» genannt, in der man versucht, die Schädel der Motorradfahrer wieder zusammenzukitten.
Ich habe Cali schweren Herzens verlassen. In der Küche der Osorios zwischen Herd und Tür standen auf dem Boden zwei brennende Kerzen vor dem Bildnis des San Marco del León – die eine für María Eugenia, die gerade ein Examen ablegte, die andere für mich.
Heute gegen Mittag bin ich in Popayán angekommen, einer wunderbaren alten Kolonialstadt. Schmale Straßen, gesäumt von weißen Häusern. Die Türen sind geschnitzt wie Altarumrahmungen; die Dächer mit ihren runden Dachziegeln haben die gleiche Schräge wie die spanischen. Und das Ganze wirkt, vielleicht gewollt, ein wenig schelmisch geheimnisvoll. Auch wenn die Fassaden ein wenig engbrüstig aussehen, vermutet man dahinter Weiträumigkeit, Höfe mit üppigen Pflanzenkübeln, Balkons, Korridore, die nach Zitronenkraut duften. Gelegentlich steht hinter den geschwungenen Gittern, die das Haus verteidigen, ein Fenster offen, das einem den Blick auf einen strahlenden Lichtflecken freigibt. Dort ist er, der Hof, der die Wärme festhält, aber verhindert, daß sie in die Wohnräume eindringt. Es herrscht Stille in Popayán.
Auf dem Hauptplatz, den große Bäume beschützen, sitzen Männer und Frauen auf Bänken und plaudern. Einige jüngere Leute warten – auf was? Wie vertreibt man sich hier die Zeit? Was durchbricht die Langeweile? Vielleicht ein Mädchen? Vielleicht eine weiße Honda, von einer Französin chauffiert?
Ein alter, zahnloser Mann sitzt vor dem Eingang eines Restaurants; zuweilen sinkt sein Kopf vornüber. Aus Müdigkeit? Aus Hunger?
«Seine Kinder haben ihn verlassen oder sie sind tot. Er schläft nachts im Park. Der arme Alte!» erzählt mir die Kellnerin. Die Nächte sind kalt in Popayán, das fast 1800 Meter hoch liegt.
Aber, mein Gott, was kann man schon tun? Was würde es nützen, wenn ich diesem alten Mann einen Kuchen oder diesem Kind dort ein Stück Brot kaufen würde? Ihr Hunger wäre für eine halbe Stunde gestillt, aber der Hunger kommt immer zurück – er läßt sich nicht vertreiben. Ich fahre ziellos durch die Straßen von Popayán, um den alten Mann und mein schlechtes Gewissen zu vergessen. Er erinnerte mich an ein verwundetes Tier, das geduldig wartet, bis der Tod es von seinen Leiden erlöst. Und wenn er sich umbringen würde, käme er in die Hölle. Selbst dieser Ausweg ist ihm versperrt.
Den Flüssen entlang ragen die Berge wieder wild zerklüftet empor, immer höher und immer grüner. Wenn in Frankreich ein Tal zehn Kilometer breit ist, dann ist es groß; hier muß man alles verdoppeln, verdreifachen. Auf keiner meiner Reisen hatte ich den Eindruck, durch ein so maßloses Land zu fahren. Sogar die Pflanzen in den Straßengräben sind riesig groß. Dennoch bin ich mir hier nie klein oder unbedeutend vorgekommen – im Gegenteil. Weil meine Augen sehen konnten, waren sie auf der Höhe dessen, was sie sahen.
Ich sah Lehmdörfer, und ich sah Indianer in dunklen Ponchos in den Schluchten, den Rücken beladen mit mächtigen Reisigbündeln oder Kisten. Ein Gewicht, unter dem auch der stärkste Mensch zusammengebrochen wäre. Aber sie, sie gehen nicht, sie traben; sie schleppen, als gäbe es keine Höhe, keine Hügel, als gäbe es kein zwanzigstes Jahrhundert, keine Motorräder und keine Lastwagen.
Es war eine großartige Straße, solange die Sonne schien. Sie führte mitten durch die Berge, nur daß sich die Felswände zu beiden Seiten immer näher rückten, als die Nacht sank. Und es gab kein einziges Dorf, kein einziges Hotel, nur vereinzelte Blockhütten, die sich an den Erdboden klammerten, um nicht in den Abgrund zu gleiten.
Arme Närrin, hat man dir nicht oft genug gesagt, nicht nachts zu fahren!
Und nun habe ich wieder Angst, besonders da mein Scheinwerfer hartnäckig die Sterne anstrahlt, während der Asphalt voller Löcher ist von den Steinen, die die Felswände ausgespuckt haben. Ganz zu schweigen von den unzähligen Straßenräubern, die hinter Felsbrocken verborgen auf mich lauern. Und weit und breit kein einziger Laster mit flackernden Warnlichtern.
Wenn ich anhalte, dann weiß Gott allein, was ich riskiere; wenn ich weiterfahre, steht die Wette zehn zu eins, daß ich gegen einen Felsen fahre oder in ein Loch falle. Und wenn das Motorrad mit seinem großen Tank umfällt, kann ich es nicht allein wieder aufrichten.
Drei Stunden lang fuhr ich nach meinem inneren Radar. Wenn wenigstens der Mond geschienen hätte! Aber nein! Komplette Finsternis hüllte mich ein.
Als ich endlich einen Lastwagen sichtete, war ich nahe daran, ihm einfach zu folgen, aber er fuhr so langsam und spuckte mir solche Dreckschwaden ins Gesicht, daß ich ihn überholte und mich wieder meiner Panik des Nicht-sehen-Könnens auslieferte.
Endlich erreichte ich Chachagui, und dort gab es ein Hotel: El Imperio de los Incas. Badezimmer, Schwimmbassin, für 12,– DM. Zu Tränen ermüdet, mit schmerzenden Schultern, schleppte ich mich zum Empfang und bat um ein Zimmer. Sie hätten mir ein Vermögen abverlangen können; ich hätte jeden Preis gezahlt, so total fertig war ich.
«Wir sind leider besetzt, wir haben einen Kongreß für Familienplanung», erklärt mir der Direktor.
«O Gott, wie entsetzlich! Gibt es ein anderes Hotel im Ort?»
«Nein, Sie müssen nach Pasto fahren. Es ist ganz nah, keine dreißig Kilometer von hier.»
«Vorher werde ich hier auf diesem Teppich sterben. Für die Beerdigungskosten setzen Sie sich bitte mit meiner Mutter in Verbindung.»
Ich muß wie ein Gespenst ausgesehen haben, denn er verschwand, offensichtlich um eine Lösung bemüht.
Eine Frau erschien – Auftritt wie im Theater – braunes Haar, um die fünfunddreißig. Sie musterte mich. «Ich bin die Kassiererin. Kannst du mir die Karten legen?»
Das mir! Ausgehungert, erschossen.
«Natürlich kann ich das, aber zuerst muß ich unter die Dusche und etwas essen.»
Sie geht, und der Direktor kommt zurück. «Ich werde Sie bei mir unterbringen.»
Kartenlegen! Ich bin in die Hände von Verrückten gefallen.
Herr und Frau Direktor führen mich über einen großen Hof in ein geräumiges Zimmer; der Duschraum ist gleich gegenüber. Ich seufze auf vor Erleichterung: Ich habe ein Bett für die Nacht.
Kartenlegen für Frau Direktor. Sie ist sechzehn Jahre alt und hat die Wangen und die Stimme eines kleinen Mädchens, ein kleines Herz und eine große Zuneigung zu ihrem Mann. «Und ihr werdet glücklich sein euer ganzes Leben lang», sage ich.
Dieses erfreuliche Schicksal habe ich dem unschuldigen Häschen unter den wachsamen Augen der Kassiererin Yolanda angedichtet. Sie belauerte mich wie eine Katze, und kaum hatte ich den letzten Bissen verschlungen, sprang sie mich an und schleppte mich in das Büro des Verwalters.
«Leg mir die Karten!»
Ah, sie hatte ein interessantes Leben! An Karten kann man glauben oder nicht. Mir jedenfalls haben sie Gelegenheit gegeben, in die Köpfe dieser Leute einzudringen, Dinge zu erfahren, die sie mir sonst nie preisgegeben hätten. Nicht, daß sie sie mir gebeichtet hätten, denn ich verbiete es, daß man während des Kartenlegens mit mir spricht, nein, ich entdecke die Dinge, verborgen zwischen den Treffs, Herzen, Piks und Karos. Yolanda war so alt wie ich, Asche und Ruinen lagen hinter ihr; geblieben waren die Narben an der Seele und die sonnigen Stunden im Herzen – wie bei mir.
Ich habe ihr die Gegenwart gedeutet und die Zukunft vorausgesagt. Sie tat das gleiche für mich.
«Hüte dich vor Dieben», betonte sie dreimal, nachdem sie mir viele persönliche Dinge gesagt hatte – zu persönlich, um sie hier zu wiederholen. Seitdem sind sie Wirklichkeit geworden, und im großen und ganzen bin ich zufrieden.
Am nächsten Morgen kam ich mit verschlafenen Augen in die Küche, um zu frühstücken. Sieben Küchenmädchen standen in einer Reihe und streckten mir die Hände entgegen. «Bitte, lesen Sie uns aus der Hand.»
Ich ließ meiner Phantasie freien Lauf.
Ein Indianer und seine Frau sitzen nebeneinander, Hand in Hand, den Rücken der Straße zugekehrt, allein auf der Welt. Beide betrachten die geweihte Stätte von Las Lajas.
Irgendein wahnsinniger Gott hatte eines schönen Morgens die Idee, eine neugotische Kirche über einer Schlucht zu bauen. Nicht daneben, nicht im Tal – das wäre zu einfach gewesen. Nein, direkt auf einer Brücke, die über eine Schlucht führt.
ECUADOR steht auf einer großen Tafel auf der anderen Seite der Rumichaca-Brücke, COLOMBIA stand auf derjenigen, die ich gerade passiert habe.
Meine erste ecuadorianische Stadt heißt Tulcán. Der Tag neigte sich, als ich ankam. Auf der Plaza de Armas setzt ein Steinpferd zum Sprung an; die Hinterbeine stehen auf einem Sockel, der Rest bäumt sich himmelwärts mit einem General auf dem Rücken. Wieso fällt das Ganze nicht um? Geheimnis plus Klebemasse.
In den Läden rings um die Kirche sind die Lichter bereits angezündet, und dennoch wirkt die Stadt düster und traurig. Ich trat bei einem Schuster ein, da er hübsche Sachen im Schaufenster hatte. «Bist du eine Deutsche?»
«Nein, Französin. Mir gefallen deine Schuhe. Woher bekommst du sie?»
«Ich fertige sie selbst an.»
Er legte mir dicke, drei Jahre alte Kataloge mit Schuhen von Jourdan, Carel und anderen europäischen Spezialisten vor. Man sucht sich seinen Traum aus, und er verwirklicht ihn. «When I get the blues, I buy me a pair of shoes», singen die Schwarzen aus Alabama.
Ich drehte den erlesenen Schuhen, made in Tulcán, den Rücken zu und ging auf Befehl meines Magens in ein Restaurant, wo die Beleuchtung nicht zu grell und die Musik nicht zu laut war und wo die Kellnerin lächelte. Am hinteren Ende des Saals diskutierten an einem Tisch mit Stapeln von Büchern und mehreren leeren Bierflaschen zwei betagte Poeten. Ich verstand nicht, was sie sagten, aber das spielte gar keine Rolle, denn ihre Unterhaltung war wie ein Tanz. Mal streckte sich ein Arm aus, und das kleine Restaurant verwandelte sich in einen Ozean, mal blätterte eine Hand in einem Buch, und das Lokal wurde zum Tempel zeitloser Weisheit. Das sind die wahren Poeten, die sich die Welt nach ihren eigenen Gesetzen formen.
Als ich meine Mahlzeit beendet hatte – in den Anden ernährt man sich von Suppen aus Mais, Kartoffeln und Reis, die zuweilen mit ein wenig hauchdünn geschnittenem Fleisch angereichert sind –, trat einer der Poeten mit königlicher Grazie auf mich zu. «Wir sprechen über Literatur, und es wäre uns eine Ehre, wenn Sie sich zu uns setzen würden.»
Ich setzte mich zu ihnen unter ihre Lampe. Eine weitere Flasche Bier mußte dran glauben, dann eine zweite und dritte. Ein Geschwader bierseliger Musen trug uns in die Gefilde der Gefühle und der vereinigenden Worte. Meine beiden Poeten lasen mir aus ihren Werken vor, die schlicht, kraftvoll und schön waren. Das Bier und die Worte schickten uns zwischen die Sterne zum Tanzen … Ich fürchte, ich war nicht ganz nüchtern an diesem Abend.
Als ich mich von meinen Freunden, meinen Brüdern, verabschiedete, schrieben sie mir je ein Geschenk in mein blaues Notizbuch: «Für eine Reisende, die des Weges zieht wie die Poeten. Carlos Posso, Tulcán, 28. März 1981.» Und: «Nur die Horizonte des Menschen auf seiner endlosen Reise machen aus uns drei Reisende für immer. Umberto Varda, Tulcán, 28. März 1981.»
Am nächsten Morgen weigert sich mein Motorrad, anzuspringen. Ich habe mindestens tausendmal auf den verfluchten Kickstarter getreten.
«Das liegt an der Höhe», belehrt mich ein Passant.
«Wie hoch?»
«3000 Meter.»
Mit einem Tritt voller Wut setze ich es schließlich doch in Bewegung.
Im unteren Teil der Stadt schlafen die Toten.
Der Friedhof von Tulcán ist in ganz Südamerika berühmt für seine Skulpturen. Sie sind weder aus Holz noch aus Stein, es sind Baumskulpturen.
Seit vierzig Jahren formt Benigno Franco, Gärtner von Beruf und aus Leidenschaft, Buchsbäume zu Vögeln, Tieren oder Engeln, schneidet sie zu Tunneln oder zu einer Art Wand, die er mit komplizierten Basreliefs ausschmückt. Man geht auf diesen Friedhof wie in ein Museum. Wenn Benigno Franco stirbt, werden die Buchsbäume in ihren wilden Zustand zurückkehren, denn niemand versteht wie er, mit Bäumen umzugehen. Und die Toten werden ihre Stille zurückgewinnen, und Tulcán wird wieder nichts als eine kleine Grenzstadt sein.
Im Moment belebt noch eine andere Art von Gewerbe dieses Gebiet: Zwischen Kolumbien und Ecuador herrscht ein reger Handel, besonders Schwarzhandel. So hinterging ein Mann jahrelang die Zollbeamten, bis er eines schönen Tages erwischt und ins Gefängnis gesteckt wurde.
Der Mann richtete sich für längere Zeit in seiner Zelle ein. Seine Frau kam ihn besuchen, seine Kinder kamen ihn besuchen und seine Vettern und die Vettern der Vettern; der Besucherstrom aus der Stadt riß nicht mehr ab. Man wunderte sich, stellte Nachforschungen an und entdeckte, daß der Inhaftierte einen kleinen Supermarkt im Gefängnis betrieb. Es soll sogar Leute gegeben haben, die mit einer Waschmaschine oder einem Eisschrank davonzogen.
«Wann wird dieser Mißstand endlich beseitigt?» entrüstete sich tugendhaft das Lokalblättchen.
Sie kamen auf Dämonen mit eisenbeschlagenen Hufen, die Funken sprühten, wenn sie auf die Steine am Wegrand schlugen. Im Arm hielten sie einen Ast, zur Hälfte aus Metall, der Feuer und Tod ausspie.
Sie schändeten die Tempel und Gräber, pinkelten auf die heiligen Mumien, lachten und sangen in ihrer Sprache. Die Priester, die Kaziken und Inkas schrien unter ihren Marterwerkzeugen. Die Fremden wollten Gold. Sie brannten ganze Dörfer nieder, schnitten den Männern die Hoden ab und vergewaltigten sterbende Frauen, weil sie Gold wollten. Die Indianer, die Söhne der Sonne, wurden weniger geachtet als Hunde. Alles eigneten die mächtigen Fremden sich an, sogar die Seele ihrer Sklaven. Unter Peitschenhieben und Androhung des Scheiterhaufens zwangen sie die Sklaven, die Messe zu singen. Sie sagten ihnen: «Leide für deine Sünden; wenn du tüchtig weinst, erwirbst du das ewige Leben.» Aber die Indianer glaubten nicht ans ewige Leben; die Brutalität hatte jeden Glauben in ihnen zerstört.
Nachdem die Fremden das Gold gestohlen hatten, entdeckten sie den guten Ackerboden am Fuß des Gebirges. Und wiederum knallten die Peitschen: «Mach das Land urban, Indianer! Arbeite! Pflanze! Ernte! Schneller … spute dich!»
Sie waren Menschen der Gipfel. Der Wind, der in die Haut der Weißen biß, war ihr Freund; die nächtliche Kälte, wenn die Sterne glitzerten, war ihre Gefährtin. In der Ebene starben sie an Fieber, Erschöpfung und Heimweh. Daraufhin schickten die Fremden ihre Schiffe nach Afrika und kauften dort Neger.
In den Sklavenhütten folgten auf die Bambusflöten die Tamtams. Aber das Blut hatte die gleiche Farbe unter der Peitsche, und die Verzweiflung war gleich groß.
Die Pflanzen gediehen, die Weißen wurden reich. Alles andere war ihnen gleichgültig. Aus dieser grauenvollen Zeit ist die schöne, traurige Musik übriggeblieben, und das Elend, und die Negerdörfer in den tropischen Niederungen.
Plötzlich, nachdem ich eine Berghöhe überwunden hatte, fand ich mich in Afrika wieder. Rote Hänge endeten in einem Tal voller grüner Obstbäume. Häuser mit Wellblechdächern standen entlang einer staubigen Straße, Dutzende von schwarzen nackten Kindern liefen hinter einem alten Ball her. Frauen in rosa Kattungewändern kamen zu zweit oder dritt vom Fluß her, wo sie Wasser geholt hatten.
Dann ging es von neuem bergauf, und ich fuhr wieder durch indianisches Gebiet. Endlich ging mir ein Licht auf. Eben noch pinkelte ein Neger am Straßenrand, und jetzt ist es ein Indianer. Seine Beine sind aneinander gepreßt, der Rücken ist etwas gebeugt, die Hände liegen flach auf dem Bauch. Er schämt sich, das Wasser zu verlieren, das der Himmel ihm anvertraut hat. Der Neger dagegen steht breitbeinig da, eine Hand in die Hüfte gestützt, das Gesicht der Sonne zugewandt. Er bietet der Natur den Saft seines Körpers dar.
Und so reiste ich auf dieser kurzen Strecke zwischen Südamerika und Afrika hin und her. Die Berge waren mal grün, mal braun, rot oder blau, steil, und immer überwältigend.
In San Antonio de Ibarra zeigt mir Segundo Benavides, Bildhauer und Maler, wie man aus einem kleinen Stück Holz einen Christus hervorzaubert. Sein Meißel wirbelt kleine Späne in die Höhe; die Wange rundet sich, die Nase verfeinert sich, der Mund nimmt einen schmerzlichen Zug an. Segundo verbringt sein Leben mit dem Schnitzen von Heiligen, Märtyrern und Aposteln und hört dabei Radio.
Seine Figuren werden in Kirchen aufgestellt, wo die Menschen vor ihnen niederknien, Alte und Junge, und ihnen alle Leiden dieser Welt anvertrauen. Und das kleine Stück Holz füllt sich allmählich mit tausend Gebeten, tausend Hoffnungen, tausend heimlichen Wünschen – und mit Liebe.
Ein großes Unwetter ballt sich über Ibarra zusammen. Ich sehe, wie es sich heimlich nähert; einige ferne Donnerschläge verraten es. Schnell den fünften Gang einlegen und Kurs nach Süden nehmen.
Der Motor grunzt, zufrieden, daß er seinen Zylinder säubern kann. Nur fort aus den Vororten Ibarras, nur fort von hier. Am Rand der Landstraße verkauft eine Frau Maiskolben. Ich vergesse das Unwetter und halte bei der Feuerstelle, wo sie die Kolben röstet. Sie ist eine schöne Frau mit herben Zügen, schwarzen Augen und kupferfarbener Haut. Sie trägt einen langen dunklen Rock, eine bestickte weiße Bluse, einen Filzhut und eine vielreihige Kette aus goldenen Perlen, die ihr wie ein Schal um den Hals liegen. Kaum erblickt sie mich, fängt sie an zu lachen. Ein Mädchen in einer weißen Ledermontur und mit einem Astronautenhelm allein auf einem Motorrad – das gibt’s doch nicht! Ich lasse mich nicht beirren.
«Du bist die erste Indianerin in Tracht, die ich sehe. Darf ich dich fotografieren? Du bist sehr schön.»
«Wieviel zahlst du mir?»
«Und du? Wieviel zahlst du mir, wenn ich dich fotografiere?»
«Knips schon!» Sie lächelt und zeigt mir zwei Reihen vergoldeter Zähne. Bei jeder anderen wäre es häßlich, aber bei ihr wirkt es als Schmuck.
Meine Erinnerungskanone verschluckt sie. Klick, klick – jetzt ist sie unsterblich.
«Willst du eine französische Zigarette?»
Sie nimmt eine Gauloise und riecht an ihr.
«Ist Kokain drin?»
«Was für eine Idee!»
Wir rauchen wie zwei alte Bekannte. Aus der Entfernung beobachtet uns ein Mann. Ihr Gatte. Ich glaube, er hat Angst. Als ich abfahre, winkt er mir verstohlen nach.
Das Unwetter holt mich am Ufer des Cuicochasees ein. Vielleicht ist der See sehr hübsch. Ich habe allerdings nur ein wenig horizontales Wasser gesehen, unter Strömen von vertikalem Wasser.
Es gibt dort ein angenehmes modernes Restaurant, vor dem Indianer Andenken verkaufen: Flöten, Ponchos, maschinell hergestellte Stickereien und Skulpturen. Die Indianer sehen sehr edel aus mit ihren gut geschnittenen Gesichtern, dem jettschwarzen, zu einem langen, geschmeidigen Zopf geflochtenen Haar, den breiten Schultern und schmalen Hüften. Ich bewundere sie bis hinunter zu ihren weißen Leinwandschuhen. Ihre Haut muß sich so glatt und weich anfassen wie Seide. Sie versprechen mir, auf meine Maschine und mein Gepäck aufzupassen. Beruhigt lasse ich den Regen vor der Tür und betrete das Lokal.
Zwei große Sofas, weich wie Wolken, laden mich ein. Ich versinke förmlich in den Kissen. Ein Kellner fragt sofort: «Kaffee?» Mit Vergnügen. Vor den Fenstern fällt unablässig der Regen. Eine indianische Harfe ertönt. Diese Melodie kenne ich doch! Die Noten tanzen mir im Kopf herum, erwecken Heimweh. Plötzlich fällt der Groschen: Piaf! Piaf auf südamerikanisch …
Als der Platzregen sich besänftigt hat, verlasse ich das Restaurant und fahre in das zwölf Kilometer entfernte Dorf Cotacachi. Die Besitzerin des Kolonialwarenladens nimmt Reisende auf. Man geht durch eine Seitentür und kommt in einen mit Blumenkübeln vollgestellten Hof. Ein schwarz-weißer Kater flieht über eine Treppe, die zu einer Galerie führt. Das Haus ist alt und voller Charme; seit einigen Jahrhunderten fragt es sich, nach welcher Seite es eines Tages umfallen soll. Vorläufig hält es sich jedoch weiterhin aufrecht. Die Besitzerin öffnet mir ihr bestes Zimmer, in dem kreuz und quer mindestens elf Betten stehen.
«Wählen Sie aus, welches Sie wollen», sagt die Besitzerin und schließt die Tür, um das Fenster zu öffnen. Und plumps, schon fällt ein Stück der Decke herunter. Meine Wirtin stößt einen Seufzer aus und weist dann in die andere Ecke des Zimmers. «Nehmen Sie das Bett dort drüben.»
«Gibt es warmes Wasser und eine Dusche?»
«Nein, dafür müssen Sie zum Friseur gehen.»
Und so trabe ich, mit Handtuch und Seife bewaffnet, durch die Straßen von Cotacachi auf der Suche nach dem Figaro. Die Straße hat Kopfsteinpflaster, eine ständige Gefahr für die Knöchel. Die Häuser sind niedrig und waren irgendwann einmal weiß. Sie haben nur wenige Fenster, dafür aber viele offenstehende Türen, die den Blick auf spärlich möblierte Innenräume freigeben. Gestikulierende Passanten helfen mir, meine Dusche zu finden.
Auf dem Platz vor der Kirche wachsen Bäume, Büsche und Blumen und dienen den Vögeln als Nahrung. An der Krümmung einer Allee wartet ein Indianer, unbeweglich in sich ruhend. Sein Gesicht ist gleichzeitig heiter und tragisch. Eingehüllt in ein dunkelblaues Wolltuch erscheint eine Frau, die um den Hals goldene und am Arm rote Perlen trägt. Sie geht schnell, tritt dicht an den Mann heran und spricht mit ihm. Er hört ihr zu mit kaum wahrnehmbar geneigtem Kopf. Obwohl sie sich nicht berühren, umgibt die beiden ein Fluidum der Vertrautheit, als gehörten sie seit Ewigkeiten zusammen – ein einziges Wesen Frau-Mann. Ich gehe lautlos vorbei, und zum ersten Mal in meinem Leben verspüre ich Eifersucht.
Es ist Nacht. Die Kirche ist erleuchtet, die Türme sind mit elektrischen Girlanden eingefaßt, die ihre Silhouetten konturieren, vor dem Hintergrund des friedlich schlafenden Dorfes.
Gegen drei Uhr früh brach in Cotacachi der Wahnsinn aus. Eine Meute betrunkener Männer trampelte immer wieder die Straßen entlang und grölte ein Loblied auf la divina cerveza, das göttliche Bier. Sie waren offensichtlich höchst unsicher auf den Beinen, denn ab und zu krachte es dumpf, wenn einer von ihnen an eine Mauer oder Tür stieß, was die anderen jedoch nicht daran hinderte, ihre Lobeshymne weiterzugrölen, nur daß sie ein wenig aus dem Takt gerieten. Als sie zum dritten Mal vorbeikamen, polterten sie gegen meine Hausmauer, genau unter meinem Balkon, und ich dachte schon, das Ende der Welt sei gekommen. Die Wände zitterten, und von der Decke fielen weitere Gipsstücke herunter. Die Männer setzten ihre Prozession zu Ehren des edlen Gebräus unbekümmert fort, und ich sank wieder in Schlaf.
Neun Uhr morgens. Ungefähr vierzig Indianer versammeln sich auf dem Platz. Ich halte nach übernächtigten Gesichtern, rotunterlaufenen Augen Ausschau. Nichts dergleichen. Die Männer in grauen Ponchos tragen Schaufeln, Mistgabeln und Harken auf den Schultern, die Frauen in blauen Wolltüchern schleppen Bündel. Sie ziehen auf die Felder – wie sanfte Vögel.
Eine Frau stößt schauerliche, langgezogene Schreie aus, die die Lastwagen übertönen. Ihre Freunde, ihre Verwandten stehen um sie herum und stützen sie. Sie strauchelt und verheddert sich in ihrem schwarzen Crêpeschleier. Der Sarg, den man in die Erde senkt, entreißt ihr für immer das Liebste, das sie besessen hat. Ihr bleiben nur noch Tränen und ungehemmtes Leid. So ist das hier. Anstatt den Kummer jahrelang mit sich herumzuschleppen, läßt man ihm freien Lauf; er gleicht einem Vulkanausbruch, theatralisch und unberechenbar. Danach geht das Leben weiter.
Der Boulevard führt mich am Friedhof, an grauen Häusern, an Läden mit Autoersatzteilen vorbei – alles von trostloser Häßlichkeit – bis ins Herz von Quito.
Bogotá bis Quito! Ich habe erst lumpige 1200 Kilometer hinter mich gebracht. Trotzdem habe ich das Gefühl, ich hätte Dämonen und Engel besiegt. Voller Stolz fahre ich um den großen Platz herum, wo die Sonne vergeblich einen Wald riesiger Bäume zu durchdringen versucht. Kinder spielen Ball, die Eltern picknicken auf dem Gras – man meint, im Bois de Boulogne zu sein.
Auf der einen Straßenseite befindet sich die Bank of America, auf der anderen das Hotel Colón mit einem Milliardär an jedem Fenster. Die Reise wird gut ausgehen, ich weiß es, ich fühle es! Ich freue mich auf Quito. Aber zuerst muß ich meine Honda parken und Geld wechseln. Eine elegante Limousine, am Steuer ein eleganter Herr, kommt aus dem Parkplatz der Bank. Er sieht mich. Mit bescheidener Miene lasse ich meinen Motor brummen, das Vorderrad hebt sich in die Höhe. Da rutsche ich auf dem Trottoir aus, und bums! Ich schlage mit dem Kinn auf dem Asphalt auf, und die Honda landet im Rinnstein. Wie peinlich! «Kann jedem passieren!» sagt grinsend der Herr auf französisch. Mein Stolz hat einen argen Dämpfer bekommen.
Als Balsam für meine verwundete Seele bestelle ich mir in der Cafeteria des Colón einen schauderhaften Hamburger. Die Küche taugt nicht viel, aber der Maître d’hôtel, mager, klein und drahtig, mit eingezogenem Kinn, um den Hals gerade zu halten, und tadellos sitzendem schwarzen Anzug, ist eine wichtige Persönlichkeit – das sieht man auf den ersten Blick. Vielleicht war er in seiner Jugend ein Torero?
Am Rande der Altstadt, dort, wo die Neustadt atemlos ihre Wolkenkratzer in den Himmel hinauf jagt, steht die Residencia Pichincha. Das Haus, gebaut im Kolonialstil, mit Balkons, Terrassen und Mauervorsprüngen, verschachtelt und dennoch graziös, hält sich elegant an einem Steilhang fest. Selbst unaufmerksame Besucher merken, daß die alten, noch leicht rosa gefärbten Mauern müde sind und sich demnächst in die Tiefe stürzen werden. Ringsumher versuchen auch die Häuser niedrigerer Herkunft vornehm auszusehen, vergeblich und doch irgendwie rührend.
Ich bin an einem Montag voller Sonne und Autos in Quito angekommen. Nach unzähligen verbotenen Manövern, die unumgänglich sind, weil hier die Mitte der Straße mit so vielen Betonmarkierungen blockiert ist, daß man sie nirgends überqueren kann, habe ich endlich die Elizalde, eine Art lokale Champs-Elysées, und dann die Residencia Pichincha erreicht. In meinem Reiseführer steht, daß man sein Fahrzeug im Hof abstellen kann. Beim Tor zum Hof gibt es zwei Klingeln, eine rechts, eine links; eine funktioniert, die andere nicht. Welche funktioniert, habe ich während meines Aufenthalts nicht herausbekommen.
Ich drücke auf beide Klingeln, und nach geraumer Zeit öffnet mir ein Junge in einem roten Trikot und uralten Jeans. Seine Nasenlöcher sind gen Himmel gerichtet, das restliche Gesicht blickt auf die Erde. Fausto. Die meiste Zeit nenne ich ihn Augusto, aber das stört ihn nicht. Vermutlich hat er noch ganz andere Dinge von einer weiblichen Kreatur erwartet, die aus Paris kommt und eine riesige Honda fährt.
Verwirrt durch mein plötzliches Erscheinen holt er Hilfe. Der Sohn des Hauses eilt herbei. Gestreifter Pullover, saubere Hosen. Und wohlerzogen, wie er ist, zeigt er keinerlei Erstaunen bei meinem Anblick, erklärt mir aber, daß er nicht ganz sicher sei, ob er ein Zimmer für mich habe. Die jetzige Bewohnerin habe zwar gesagt, sie würde ausziehen, sei aber immer noch da.
Eins habe ich auf meinen vielen Reisen gelernt: nur nicht lockerlassen! Ich schließe daher mein Gepäck in Faustogustos Zimmer ein, setze mich auf ein mit Plastik bezogenes Sofa im Korridor und warte. Zwei Stunden vergehen. Endlich öffnet sich eine Tür, und ein rundliches, mürrisches Mädchen geht ohne ein Wort von dannen.
Mein Zimmer ist frei geworden. Es hat angenehme Proportionen, ist jedoch kärglich möbliert wie eine Zelle. Das Fenster geht auf den Hof, die Fensterläden sind innen angebracht. Die Tapete ist zu einer melancholischen Ockerfarbe verblichen. Vor dem Fenster steht ein kleiner geschnitzter Tisch und ein Plastikstuhl. Das Metallbett an der hinteren Wand quietscht, wenn man es nur schon ansieht, aber insgesamt ist das Zimmer sauber und höchstens ein wenig seltsam.
Fausto bringt mir zwei zu kurze Laken und eine noch kürzere Decke. Wir richten andächtig mein Nachtlager her. Bevor Fausto sich zurückzieht, erklärt er mir noch, wie die Dusche funktioniert. Sie befindet sich hinter einem Plastikvorhang, zusammen mit einem blauen Klo und einem weißen Waschbecken. Der Boden ist mit Zeitungen ausgelegt, um die Feuchtigkeit aufzusaugen, und neben dem Klo steht ein Eimer für Papier, denn in diesen Ländern wirft man das benützte Papier nicht ins Klo, sondern in einen Eimer, weil sonst das Abflußrohr verstopft. Jeden Morgen leert Fausto diesen Eimer. Eine widerliche Arbeit.
Die Dusche verdient eine spezielle Beschreibung. Oben befindet sich ein runder Wasserbehälter, in dem sich ein elektrischer Widerstand um eine Bakelitachse windet. Man dreht das Wasser auf und drückt auf einen großen Schalter an der Wand. Darauf erhitzt sich der Widerstand, desgleichen das Wasser. Wenn man das Wasser abdreht, bevor man den Schalter abstellt, wird der Widerstand zu heiß und schmilzt. Ein System, in dem Kurzschlüsse gleichsam vorprogrammiert sind. Aber was tut man nicht alles, um heißes Wasser zu haben?
In der Residencia Pichincha wohnen die unterschiedlichsten Menschen. So zwei nette Jünglinge aus dem Norden, die behaupten, hier auf die Universität zu gehen. Das einzige, was sie an der französischen Kultur interessiert, ist, ob ich Marihuana rauche. Dann gibt es eine hochschwangere Frau. Sie lacht die ganze Zeit, weil ihr das Leben gefällt. Nachdem sie ein Jahr verheiratet war, fing ihr Mann an, den Mädchen nachzustellen, und brachte sie sogar mit nach Hause. Die Küken bekamen Küsse, sie dagegen nur Knüffe. Vor anderthalb Jahren ließ sie sich scheiden, und nun haust sie in einem winzigen Zimmer in der Residencia. Nach ihrer Niederkunft will sie arbeiten.
Des weiteren gibt es einen fast schwarzen Studenten mit verschlagenem Gesichtsausdruck, der zu allen höchst unfreundlich ist, besonders zu mir.
Eine Dreierbande bewohnt das riesige Zimmer neben der Dusche. Ich habe nicht herausgefunden, wer es mit wem treibt, was aber auch nicht weiter wichtig ist, da sie eine kleine, geschlossene Gruppe bilden.
Und dann ist da noch Gilda, ein kleines Mädchen mit fliegenden schwarzen Zöpfen. Sie erzählt mir mit hoher Stimme tausend Geschichten, die ich nur zum kleinsten Teil verstehe. Das stört mich jedoch gar nicht, weil die Kleine an sich mich fasziniert. Sie ist ein winziger Dreikäsehoch und reicht mir knapp bis zur Hüfte, obwohl sie elf Jahre alt ist. Wenn sie zu plappern beginnt, denkt man unweigerlich an ein Disney-Eichhörnchen. Wenn ich ihr meinerseits Geschichten erzähle, lacht sie laut, hebt die Schultern, zieht den Kopf ein, kneift die Augen zusammen und sagt: «Qué lindo!» Wie niedlich! – mit einer derartigen Begeisterung, daß ich jedesmal gerührt bin. Sie lebte früher in Santo Domingo de los Colorados auf einem einsamen Bauernhof mit zwei Schlafzimmern, einem gemeinsamen Raum, einer Küche und einem Haufen Kinder, ohne Elektrizität. Nun wohnt sie zusammen mit ihrer Schwester und ihrem Schwager in einem mit Kisten und Kästen vollgestellten Zimmer. Sie schläft auf dem Boden am Bettende, doch das macht ihr nichts aus. Sie ist gern in Quito.
Jeden Morgen kommt ein Student und gibt ihr drei Stunden Unterricht. Am besten gefällt ihr Grammatik. Im nächsten Jahr soll sie auf die Schule kommen. Sie will sich erst verloben, wenn sie siebzehn ist, und Englisch und tippen lernen. Sie wird mich in Frankreich besuchen. Aber bis es soweit ist, unterhält sie mich, während ich meine Wäsche am Wasserstein im hinteren Teil des Gartens wasche. Zuweilen gesellt sich ein kleiner Junge zu uns. Er ist anderthalb Jahre alt, aber schreitet schon munter aus. Ich nenne ihn «Pilz» wegen seiner Wollkappe. Das amüsiert ihn ungemein. Da er noch nicht sprechen kann, macht er sich auf seine Art verständlich: Mit starrem Blick fixiert er meine Nasenmitte, hebt ein Bein und stampft mit dem Fuß auf, worauf ich mich zu ihm hinunterbeuge und meinerseits mit dem Fuß aufstampfe. Das findet er zum Totlachen. Warum, weiß kein Mensch.
Gegenüber der Residencia führt eine Frau ein billiges Lokal namens El Vecino. Am ersten Abend ging ich dorthin essen. Sie setzte sich zu mir an den Tisch, umgeben von drei Kindern unterschiedlichen Alters. Die Jüngste ist mindestens zwei Jahre alt, aber sie gibt ihr noch immer die Brust, weil die Nahrungsmittel so minderwertig seien. Sie spricht über Schwangerschaftsverhütung; die hiesigen Ärzte verstünden es nicht, die Spirale einzusetzen, zwei ihrer Freundinnen seien verblutet. Sie klagt über die Steuern. «Die Reichen haben alles, die Armen haben nichts.» Sie spricht mit mir, als ob sie mich seit Jahren kennte.
Am nächsten Tag gehe ich wieder hin.
«Ich verkaufe diese Bretterbude», sagt sie verzweifelt.
«Und warum?»
«Der Reis wird nächste Woche teurer. Niemand kommt mehr zu mir, seit auf der Hauptstraße die vielen Restaurants aufgemacht haben. Die Steuern sind zu hoch …»
Gemeinsam entwerfen wir einen Plan für die Zukunft. Sie wird sich Geld borgen und ein Lokal in der Neustadt eröffnen. Ich werde ihr eine Menge französischer Rezepte geben, und zweimal in der Woche wird sie ausländische Menüs zusammenstellen.
Gott schütze sie.
Das Frühstück nehme ich im Café Bolivar auf der Avenida Colombia ein, gegenüber einer Reiterstatue von Bolivar, der sich mit Elan in die Leere emporschwingt; die Hinterbeine des Pferdes sind natürlich fest in einem Sockel verankert. Der Tee ist trinkbar, und die cachos, Butterhörnchen, sind einfach köstlich und nahrhaft, und nicht einmal teuer.
Eines Morgens nehme ich Gilda mit. Das Café liegt nur dreißig Meter von der Residencia entfernt, aber sie ist noch nie dagewesen. Mit entzückter Miene trinkt sie einen Passionsfruchtsaft und knabbert an einem Butterhörnchen wie ein kleines Hasenkind.
Am nächsten Tag überqueren wir die Avenida Colombia und gehen in das Museum der Zentralbank. Im fünften Stock sind indianische Dinge – Schmuck, Keramik und andere Objekte – ausgestellt. Ein wenig grob, aber kräftig und schön. Im sechsten Stock spanische Kunstgegenstände. Sie sind reich verziert, verschnörkelt, vergoldet, doppelt vergoldet, dreifach vergoldet, und mit verzückt blickenden Heiligen und perlenbesetzten Madonnen dekoriert. Das reinste Zuckerwerk. Und dann gibt es einen Raum mit Gegenständen aus echtem Gold. Auf dunklem Samt liegen Inka- und Vorinka-Schmuckstücke. Keine so schöne Auswahl wie in Bogotá, aber das weiß Gilda ja nicht. Sie bestaunt sie mit tellergroßen Augen und bringt kein Wort heraus.
An einem Donnerstagmorgen ging ich mit meinem Handtuch über dem Arm ins Bad, wo ich Fausto über die Kloschüssel gebeugt vorfand, mit einer Pumpe in der Hand; er stocherte und pumpte stundenlang. Endlich richtete er sich erschöpft, aber zufrieden auf. «Jetzt funktioniert es wieder, du kannst es benutzen.»
Naiv, wie ich bin, glaubte ich ihm, aber als ich im klaren Wasser plötzlich gelbe Kotbrocken hochschwappen sah, da wurde es mir zuviel. Ich zog aus.
Mein Zimmer in der Residencia Versalles kostet das Fünffache, aber dafür habe ich eine marmorverkleidete Eingangshalle, einen Garten und ein eigenes Bad.
Als ich durch den Garten gehe, merke ich, daß irgend etwas mit meiner rechten Wade los ist. Ich fasse an meine Wade und entdecke einen zauberhaften kleinen Hund, schneeweiß und wuschelig, der seine Schnauze an meinen Stiefel preßt. Er heißt Kuki und erinnert an ein Wollknäuel. Er läßt sich lange bitten, aber dann spielt er voller Begeisterung. Ich sitze am Boden, und er trommelt mit seinen Pfoten auf meine Füße; dann stoße ich meine Hand gegen seine Brust, er purzelt hintenüber, und alles fängt von vorne an.
Um elf Uhr abends streiten sich zwei Katzen auf dem Dach über meinem luxuriösen Zimmer. Es ist ein Wellblechdach, und jedes Kratzen hallt einzeln wider. Sie miauen, fauchen sich an und fallen vom Dach ins Gras, wo die Auseinandersetzung fortgeführt wird. Ich öffne wütend die Tür, um sie zu verscheuchen. Und wer steht da? Kuki, offenbar wild entschlossen, seine Rolle als Wachhund zu erfüllen. Er fängt an zu bellen, und alle Hunde der Nachbarschaft antworten ihm.
Nach zwei Stunden hebe ich den Telefonhörer auf und sage dem Nachtportier, daß kein Mensch bei diesem Lärm schlafen könne. Seinem schlaftrunkenen Gemurmel entnehme ich, daß es zumindest ihm gelungen ist.
Doch er muß sich hochgerappelt haben, denn ich vernehme seine schleppenden Schritte. Er legt den unzufriedenen Kuki an die Leine. Ich schlafe ein. Um sechs Uhr früh wird es Kuki zu dumm, er fängt laut an zu jaulen. Um halb acht läßt man ihn frei. Um acht Uhr stehe ich auf, um neun Uhr zahle ich, um zehn Uhr bin ich im Hotel Embajador, einem alten, riesigen Gebäude, ohne Hunde oder Katzen. Es kostet nur 280 Sucres, Heißwasser eingeschlossen.