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Ein mystischer Steinkreis, eine ewige Freundschaft und eine große Liebe – fesselnde romantische Mystery
Sommer ist eingekehrt im Internat von Wyldcliffe. Die drei magiebegabten Freundinnen Sarah, Evie und Helen hoffen auf eine ruhige, friedliche Zeit: Der böse Hexenzirkel ist besiegt, der fast sichere Untergang abgewendet. Dann trifft Velvet in Wyldcliffe ein, und Sarah spürt, dass von der neuen Mitschülerin eine dunkle Bedrohung ausgeht. Evie und Helen jedoch glauben ihr nicht – nur der junge Roma Cal, Sarahs heimliche Liebe, steht ihr noch zur Seite. Bis die Ereignisse sich überschlagen und die drei Freudinnen in einem verzweifelten Kampf gegen das Böse wieder zueinanderfinden ...
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Seitenzahl: 382
Veröffentlichungsjahr: 2012
Buch
Im Internat von Wyldcliffe hat das Sommertrimester begonnen. Nach dramatischen Kämpfen gegen die Mitglieder des Hexenzirkels hoffen die drei magiebegabten Freundinnen Sarah, Evie und Helen, dass ihnen nun ein ruhiger, harmonischer Sommer bevorsteht.
Doch bald schon gibt es ungute Vorzeichen. Ein neues Mädchen aus der amerikanischen High Society kommt nach Wyldcliffe. Velvet Romaine, Tochter eines Musikstars und eines Models, legt es von Anfang an darauf an, von der Schule geworfen zu werden, und hat, wie Sarah sofort bemerkt, eine dunkle Aura. Doch ihre beiden Freundinnen teilen Sarahs Besorgnis nicht. Bald schon streiten sich die Mädchen so heftig, dass ihre eingeschworene Gemeinschaft zu zerbrechen droht.
Gleichzeitig beginnen sich seltsame Vorkommnisse zu häufen. Immer wieder hört Sarah eigenartige Trommeln und wird von seltsamen Träumen heimgesucht. Das Tagebuch ihrer zauberkundigen Ahnin Maria berichtet von geheimnisvollen magischen Verbündeten, und eine Vision weist Sarah den Weg zu einem nahe gelegenen Steinkreis. Dort soll sie Unterstützung finden in ihrem Kampf gegen das drohende Böse. Doch wird sie ohne die Hilfe ihrer Freundinnen gegen die wieder erstarkten dunklen Mächte bestehen können? Und welche Rolle spielt Cal, der junge Roma, in den Sarah schon seit langem heimlich verliebt ist?
Autorin
Gillian Shields hat ihre Kindheit damit verbracht, über die Moore von Yorkshire zu wandern und dabei von den Brontë-Schwestern zu träumen. Nach ihrem Studium in Cambridge, London und Paris arbeitete sie als Lehrerin an einem Mädcheninternat und an einer Schauspielschule, die sich in einem viktorianischen Waisenhaus befand. Dort machten Gerüchte von einem Geist die Runde. Angeblich konnte man nachts ein junges Mädchen weinen hören – sicherlich eine Inspirationsquelle für die Romane von Gillian Shields. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in England. »Der Zauber der Steine« ist der dritte Band ihrer auf vier Bände angelegten Reihe um »Die Schwestern der Dunkelheit«.
Von Gillian Shields ist im Goldmann Verlag außerdem lieferbar:
Die Abtei von Wyldcliffe. Die Schwestern der Dunkelheit (47324)Das heilige Feuer. Die Schwestern der Dunkelheit (47325)
Gillian Shields
Der Zauberder Steine
Die Schwesternder Dunkelheit
Roman
Aus dem Amerikanischenvon Ingrid Ickler
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011unter dem Titel »Eternal« bei Katherine Tegen Books,an imprint of HarperCollins Publishers, New York.
1. AuflageTaschenbuchausgabe Mai 2012Copyright © der Originalausgabe 2011 by Gillian ShieldsCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Published by arrangement with HarperCollins Children’s Books,a division of HarperCollins Publishers.Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © Beauty Archive/Getty Images;© Jim Richardson/GettyRedaktion: Waltraud HorbasTh · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-07621-4V002www.goldmann-verlag.de
Für Sarah Massini
»Es ist der ewige Kampf zwischen diesen beidenPrinzipien – gut und böse.«
Abraham Lincoln
»Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben,die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu.«
Das Buch Daniel 12, 2
Prolog
Ich bin nicht wie Evie. Ich gehöre nicht in eine große romantische Liebesgeschichte, sondern bin nur die gute Freundin im Hintergrund. Immer verlässlich, immer mit beiden Beinen auf dem Boden. Die gute alte Sarah. So war es immer schon. Bis zu diesem Moment.
Jetzt muss ich die schwerste Entscheidung meines Lebens treffen. Weitermachen oder aufgeben.
Ich stehe auf den Hügeln hoch über Wyldcliffe. Gerade geht die Sonne unter, und mein Blick schweift über das weite schroffe Land. Ich liebe diesen Ort. Ich liebe den Wind auf meinem Gesicht, die schrillen Schreie der Vögel, ich liebe die Geheimnisse und das verborgene Leben in dieser urzeitlichen Hügellandschaft. Wie Knochen liegen die Felsen da, überwuchert von Ginster und Heidekraut, und sie erzählen mir von Macht, Stärke und Ewigkeit.
Als alles begann, dachte ich, ich könnte genau so sein wie diese Steine: unerschütterlich, stark und eine Stütze für die anderen. »Die gute alte Sarah, die wird mit allem fertig.« Doch ich habe erfahren müssen, dass ich auch schwach bin. Dass ich mich nicht nur um die Sorgen und Nöte der anderen kümmern will. Auch ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ich liebe. Ich hasse. Ich bin wütend. Und meine Gefühle machen mir Angst. Sie stehen mir womöglich im Weg bei dem, was ich tun muss.
Die Sonne ist jetzt fast verschwunden, und langsam legt sich die Dämmerung über die Moors. Irgendwo dort draußen, im weiten Land, das ich so liebe, muss Evie sein. Der Feind hat sie sich geholt, sie ist eine Gefangene der verborgenen Welt. Nur ich kann sie retten. Es ist an mir zu handeln.
Wo ist mein Mut geblieben? Meine Tatkraft? Was soll ich tun?
Es gibt keine Antworten. Der Tag neigt sich seinem Ende zu, und ich muss mich entscheiden. Unter dem finster werdenden Himmel, der sich über den Hügeln wölbt, mache ich mich auf den Weg ins Tal des Todes.
Eins
Das hatte ich nicht erwartet. In all dem Chaos und der Unsicherheit der vergangenen Monate hatte ich gelernt, mich selbst mit noch so seltsamen Dingen abzufinden, und ich hielt mich für abgeklärt genug, dass mich nichts mehr aus der Bahn werfen könnte.
Aber dann kam sie.
Velvet Romaine.
Natürlich hatte ich schon von ihr gehört; jeder kannte Velvet Romaine. Die schillernden Details ihres sechzehnjährigen Lebens waren durch den Blätterwald der Regenbogenpresse gerauscht. Aber ich hatte nicht erwartet, sie in der Wyldcliffe Abbey School für junge Ladys auftauchen zu sehen. Wyldcliffe ist nicht gerade die Art von Schule, die Töchter von Rockstars anzieht. Die Töchter von Herzoginnen vielleicht, aber nicht ein schrilles, rebellisches Mädchen wie Velvet, das sich gegen alles auflehnt. Und dennoch: Als ich am ersten Tag des Sommerhalbjahrs in die Abteischule kam, war sie da und sorgte für Aufsehen. Eine protzige Limousine hatte vor dem altehrwürdigen gotischen Gebäude gehalten, und kaum war sie ausgestiegen, wurde Velvet auch schon von aufgeregten Schülerinnen und einer Horde Paparazzi umringt. Sie schien das Blitzlichtgewitter der Fotografen und die allgemeine Aufmerksamkeit regelrecht zu genießen. Dabei sah sie aus, als hätte sie sich für einen Auftritt in irgendeinem schmierigen Nachtclub zurechtgemacht.
Aber das soll nicht abwertend klingen. Denn: Hey, ich bin’s doch, Sarah Fitzalan, der bodenständige, fürsorgliche Typ, für jeden ein freundliches Wort, immer das Gute im Blick, allseits bereit, sich für die Underdogs einzusetzen. Sagt man jedenfalls.
Ich hatte die Rückkehr in die Schule voller Ungeduld herbeigesehnt. Nicht dass ich ein Genie wäre oder so. Der Unterricht in Wyldcliffe war es nicht, der mich zurück in das abgeschiedene Tal zog. Es waren auch nicht die verwunschenen wilden Moors, wo Ginster und Schlüsselblumen blühen. Die erwachende Erde rief nach mir, doch ich wandte meinen Blick von den Hügeln ab und dachte an nichts anderes als an mein Wiedersehen mit Evie und Helen.
Was sagen viele Mädchen über ihre Freundinnen? »Wir sind uns so nahe, dass wir Schwestern sein könnten?« Nun, Evie, Helen und ich sind tatsächlich Schwestern. Uns verbindet zwar keine Blutsverwandtschaft, dafür aber etwas viel Tieferes. Mystische, elementare Kräfte halten uns zusammen, in diesem Leben und darüber hinaus auch im nächsten. Es mag seltsam klingen, aber ich habe immer schon daran geglaubt, dass es Dinge im Leben gibt, die wir nicht verstehen oder die wir nicht sehen, und trotzdem sind sie da. Das Gefühl für einen Ort, für Stimmungen, Warnzeichen und Prophezeiungen – ich glaube, all das hat eine Bedeutung, einen tieferen Sinn. Ich glaube an die Unsterblichkeit der Seele und daran, dass Tote zu uns sprechen können. Und als Evie damals als schüchterne Stipendiatin zum ersten Mal nach Wyldcliffe kam und sie Visionen von einem Mädchen aus längst vergangener Zeit hatte, habe ich sie nicht für verrückt erklärt. Ich habe ihr geglaubt. Ich habe ihre Geschichte und alles, was danach kam, akzeptiert.
Ich habe akzeptiert, dass das Mädchen aus der Vergangenheit Lady Agnes Templeton war, Evies Urahnin. Dass Agnes vor mehr als hundert Jahren die Geheimnisse des Mystischen Weges entdeckt hatte und eine Dienerin des Heiligen Feuers geworden war. Dass Agnes’ früherer Verehrer, Sebastian Fairfax, identisch war mit dem geheimnisvollen jungen Mann, den Evie heimlich traf. Dass Sebastian besessen war von seinem sinnlosen Streben nach Unsterblichkeit. Dass wir drei Schwestern die Elemente entdeckt hatten, die uns Kraft gaben: Wasser für Evie, Luft für Helen und Erde für mich, und dass diese Kräfte der Natur schließlich geholfen hatten, Sebastians Seele zu retten. Und auch die Tatsache, dass Sebastian letzten Endes von uns gegangen war und Evie mit dem Schmerz einer hoffnungslosen Liebe zurückgelassen hatte.
Gesprächsstoff gab es also genug. Wir hatten gemeinsam Verluste erlitten und dem Tod ins Auge gesehen. Evie hatte ihre erste Liebe verloren, und Helen trauerte um ihre Mutter. Und ich litt mit ihnen. Ich hatte wie immer all meine Kraft aufgebracht, sie zu verstehen, mit ihnen zu fühlen und mich um sie zu kümmern. Doch um ehrlich zu sein: Als ich mich am Ende des Halbjahrs von ihnen verabschieden musste und nach Hause fuhr, fühlte ich mich verloren und entwurzelt. Als würde ich ohne Evie und Helen und ihre Probleme nicht existieren, als ob ich nur am Rand meines Lebens entlangwandern würde. Sarah, die Nette, die Hilfsbereite … Doch wenn es niemanden gab, der meine Hilfe brauchte, was sollte ich dann tun?
Und dann hatten die Träume begonnen.
Jede Nacht die gleichen, immer und immer wieder. Ich war in einer finsteren Höhle, Fackeln spendeten spärliches Licht. Jemand war in meiner Nähe. Wir sahen uns an. Es war jemand, der mich kannte, durch und durch. Jemand, vor dem ich keine Geheimnisse hatte. Jemand, der mich liebte. Nicht deswegen, weil ich hilfsbereit und stark war, sondern nur um meiner selbst willen, so wie ich war, mit guten und schlechten Seiten. Ich wollte ihn küssen, ich sehnte mich nach seinen Lippen, und dann plötzlich der Schock: Das Gesicht verwandelte sich in eine schrumpelige Maske. Da war ein Messer. Ich hatte Schmerzen. Dichter Rauch hüllte mich ein. Musik und Gesang waren zu hören und der Klang von Trommeln, es trommelte in meinem Kopf, lauter und lauter, bis ich dachte, ich würde den Verstand verlieren.
Vielleicht war das nur eine Reaktion auf all das, was ich mit Evie und Helen erlebt hatte, aber ich war sicher, dass es ein unheilvolles Omen war, ein Zeichen drohender Gefahr. Was auch immer es sein mochte, die Träume und die Finsternis zogen mich nach Wyldcliffe zurück, und ich sehnte mich danach, meine Freundinnen wiederzusehen. Deshalb war ich von Velvet Romaines schrillem Auftritt gar nicht begeistert, der den Alltag in der Abteischule durcheinanderzuwirbeln schien.
Da stand sie und posierte neben ihrem Luxusschlitten. Die Stimmen der Fotografen überschlugen sich: »Velvet! Ja, genau! Schenk uns ein Lächeln!« Aber sie lächelte nicht, im Gegenteil, sie wirkte wütend. Ihr tiefschwarzes Haar war zu einer Kleopatra-Frisur geschnitten, und sie strahlte eine bedrohliche Sinnlichkeit aus, genau wie ein klassischer Filmstar. Ihre nicht enden wollenden Beine wurden von dem Minirock kaum verdeckt, dazu trug sie verschlissene Netzstrumpfhosen und sündhaft teuer aussehende schwarze Schnürstiefel. Die Wyldcliffe-Schülerinnen dagegen trugen triste grau-rote Schuluniformen und starrten Velvet ungläubig an. Ich fragte mich, wie Velvet wohl aussehen würde, wenn die Lehrerinnen ihr die Designerklamotten, den dicken Eyeliner und den Gruftilippenstift erst einmal abgenommen hätten. Doch in diesem Augenblick hatte sie ihren großen Auftritt, machte einen Schmollmund für die Fotografen und gab sich temperamentvoll und rebellisch. Welche Geheimnisse aus der Vergangenheit Wyldcliffe auch verbergen mochte, so etwas hatte es sicher noch nicht gegeben. Mich erinnerte Velvet an ein in die Enge getriebenes Tier, das trotzig ein letztes Mal die Zähne zeigt, bereit, jeden zu attackieren, der sich ihm in den Weg stellt.
»Ist sie das wirklich?«, flüsterte Camilla Willoughby-Stuart, ein Mädchen aus meiner Klasse. »Velvet Romaine?«
»Sieht so aus.«
»Was macht sie hier? Lebt sie nicht in L. A. oder so? Sie wird sich in Wyldcliffe bestimmt zu Tode langweilen, wo sie doch sonst auf diesen Megapartys mit Filmstars und Rockstars unterwegs ist. Das steht schließlich in allen Zeitschriften. Und letztes Jahr ist sie mit einem Typen durchgebrannt, doppelt so alt wie sie …«
Andere Geschichten über Velvet Romaine tauchten in meiner Erinnerung auf. Allem Reichtum und Glamour zum Trotz hatte sie auch schon die Schattenseiten des Lebens kennengelernt. Ich erinnerte mich daran, dass sie in einen schweren Autounfall verwickelt gewesen war, bei dem ihre Schwester getötet wurde. Und dann gab es da noch die Sache mit dem Feuer in dem Internat, in dem sie zuletzt gewesen war, aber da wusste ich nichts Genaueres. Normalerweise las ich Pferdezeitschriften und keine Klatschblätter. Camilla dagegen schien alles über sie zu wissen.
»Ooh, an der École des Montagnes muss es schrecklich für sie gewesen sein«, sprudelte es aus ihr heraus, »das ist eine fantastische Schule in den Schweizer Alpen, alle europäischen Adelsfamilien lassen dort ihre Kinder erziehen. Ihre beste Freundin war nach diesem Feuer dort für immer traumatisiert. Kein Wunder, dass Velvet nicht bleiben wollte. Aber warum gerade Wyldcliffe? Das ist doch viel zu spießig für jemanden wie sie!«
»Vielleicht ist es genau das, was ihre Eltern für sie wollen«, sagte ich, »du weißt schon, Ordnung, Disziplin, Zielvorstellungen und all das. Traditionelle Werte.«
Camilla zog eine Grimasse. »Sie wird es hassen. Hast du ihre Klamotten gesehen? So was von cool. Ich wünschte, meine Mutter würde mich solche Stiefel tragen lassen.«
Während Camilla weiter plapperte, tauchte eine Frau mit streng zurückgekämmten Haaren in der massiven Eichentür auf, ging die Treppenstufen hinunter und stellte sich neben Velvet. Der Trubel schien sie nicht im Mindesten zu beeindrucken. Es war Miss Scratton, unsere Geschichtslehrerin. Mit kalter Stimme herrschte sie die Fotografen an: »Sie befinden sich auf Privatbesitz. Wenn Sie diesen Ort nicht unverzüglich verlassen, sehe ich mich gezwungen, die Polizei zu rufen. Respektieren Sie bitte die Tatsache, dass dies eine Schule und ein Ort des Lernens ist.« Dann wandte sie sich an Velvet. »Ich bin Miss Scratton, die neue Schulleiterin von Wyldcliffe. Ich möchte dich gerne bei uns willkommen heißen, aber lass uns an einen ruhigeren Ort gehen. Und ihr? Was steht ihr hier herum mit offenen Mündern wie die Goldfische? Ziemlich unangemessen. Ich bin sicher, ihr habt mit Auspacken und Einrichten genug zu tun, bevor morgen der Unterricht wieder beginnt.«
Die gaffenden Mädchen zogen sich murrend zurück und Miss Scratton winkte mich zu sich. »Sarah, wartest du bitte einen Moment?« Sie lächelte schwach. »Du bist genau die Person, die ich gesucht habe. Du kannst Velvet herumführen.«
Velvet Romaine warf mir einen kurzen hochnäsigen Blick zu, als wäre ich einer ihrer Dienstboten. Mir rutschte das Herz in die Hose. Normalerweise half ich gerne neuen Schülerinnen, aber sie wirkte so feindselig. Als ob sie meine Gedanken lesen könnte und nicht viel von ihnen halten würde. Aber wenn Miss Scratton wünschte, ich solle freundlich zu Velvet Romaine sein, würde ich natürlich mein Bestes geben. Auch wenn ich eigentlich so schnell wie möglich meine Freundinnen treffen wollte. Ich fühlte mich unbehaglich und blickte mich um. »Hmm, eigentlich war ich auf der Suche nach …«
»Evie und Helen?«Wieder blitzte ein Hauch von Sympathie in Miss Scrattons dunklen Augen auf. »Sie sind noch nicht eingetroffen. Ich nehme an, sie sind gemeinsam im Zug nach Wyldcliffe unterwegs. Du wirst sie noch früh genug treffen. Und jetzt kommt, ihr beiden, folgt mir!«
Das Blitzlichtgewitter der Fotografen verfolgte uns, bis wir hinter Miss Scratton durch die schwere Eingangstür im Haus verschwunden waren. Sie schloss die Tür, und ich fand mich in der vertrauten Eingangshalle wieder. Die nüchternen schwarz-weißen Kacheln, die imposante Marmortreppe und der gemauerte Kamin: Alles war wie immer, und doch hielt ich überrascht den Atem an. Einen Augenblick lang meinte ich, auf der anderen Seite der spärlich erleuchteten Halle Evie zu sehen. Das Gesicht eines Mädchens mit meergrauen Augen und langen roten Haaren zog mich in seinen Bann.
»Du bewunderst das Porträt von Lady Agnes, wie ich sehe«, sagte Miss Scratton zu mir. »Ich habe es während der Ferien hier aufhängen lassen. Es kommt in der Eingangshalle sehr gut zur Geltung, meinst du nicht auch?«
Einen Moment hatte es mir die Sprache verschlagen, aber Velvet blickte flüchtig auf das Bild und sagte dann in unverschämtem Tonfall: »Sie sieht genauso verrückt aus wie alles hier. Wer ist sie überhaupt?«
»Lady Agnes war die Tochter von Lord Charles Templeton, der dieses Haus im 19. Jahrhundert errichten ließ.« Miss Scratton antwortete betont langsam und ruhig. »Sie war eine außerordentlich talentierte junge Frau, die leider früh verstorben ist. Ich finde es nur recht und billig, dass wir uns ihrer erinnern.«
Dann rauschte sie durch die Halle und bog in einen fensterlosen düsteren Korridor ein. Unsere Schritte auf dem Steinboden hallten von den Wänden wider, während wir ihr folgten. Velvet trottete gelangweilt hinter Miss Scratton her, und auch ich versuchte möglichst desinteressiert zu wirken. Aber so unvermittelt auf das Porträt von Agnes zu stoßen hatte mich aus dem Konzept gebracht.
Für mich war sie nicht nur einfach ein Stück würdevoller Geschichte, an das man sich in Ehrfurcht erinnern konnte. Für mich war sie real. Agnes war Evies Verbindung zur Vergangenheit, und sie war unsere mystische Schwester, die das vierte Element verkörperte: das Feuer. In ihren meergrauen Augen hatte eine unmissverständliche Warnung gelegen: Obwohl wir den Kampf im letzten Halbjahr gewonnen hatten, war er noch nicht vorbei.
Zwei
Ich wollte nicht nach Wyldcliffe kommen. Ich bin bereits von sechs Schulen geflogen, und wahrscheinlich werden Sie mich hier auch rausschmeißen.« Velvet blickte Miss Scratton angriffslustig über den Mahagoni-Schreibtisch hinweg an. Wir waren im Arbeitszimmer der High Mistress, dessen Wände mit Büchern bedeckt waren. Ich fragte mich, ob Velvet mit ihrem aggressiven Verhalten über ihre Einsamkeit hinwegtäuschen wollte, doch als sie sich jetzt lässig im Besucherstuhl zurücklehnte und die Beine übereinanderschlug, machte sie einen ausgesprochen selbstzufriedenen Eindruck. Ihre tiefe Stimme klang rau, und ihr Tonfall war eher amerikanisch als englisch.
»Nun ja, deine Eltern haben mir bereits über deine bewegte Schullaufbahn berichtet, Velvet«, antwortete Miss Scratton. »Hoffen wir, dass die Disziplin, der geregelte Tagesablauf und die Traditionen in Wyldcliffe dir die so nötige Sicherheit geben werden. Wenn du Schwierigkeiten mit dem Eingewöhnen haben solltest, kannst du dich an mich oder an Sarah wenden. Sie wohnt im gleichen Schlafsaal wie du und ist bereits seit fast fünf Jahren in Wyldcliffe. Sarahs Mutter war auch schon Schülerin hier, genau wie ihre Großmutter, Lady Fitzalan, und sie weiß alles über die Gepflogenheiten der Schule.«
Als sie den Namen meiner Großmutter hörte, blitzte auf Velvets verkniffenem Gesicht ein Hauch von Überraschung und Interesse auf. »Hat hier etwa jeder einen Titel? Das ist ein ziemlich versnobter Schuppen, was?«
»Wir sind glücklich darüber, Töchter aus den altehrwürdigsten Familien des Landes erziehen zu dürfen. Aber wir sind darüber hinaus davon überzeugt, dass jeder die Werte erwerben kann, die eine echte Lady auszeichnen: Selbstlosigkeit, Loyalität und Ehre. Wir interessieren uns für den Menschen und nicht für seine Ahnentafel.«
»Tja, meine macht auch nicht viel her«, meinte Velvet amüsiert, »mein Vater verbrachte seine Kindheit in den Slums, und meine Mutter war erst sechzehn, als ich zur Welt kam. Aber die beiden haben immerhin etwas, was Ihre aufgeblasenen Ladys hier nicht vorweisen können: Talent!«
»Dann können wir ja hoffen, dass du etwas davon geerbt hast. Wyldcliffe bietet viele Möglichkeiten, sich der Musik zu widmen.«
»Sie haben es nicht kapiert, oder? Mein Vater ist Rick Romaine, der größte Rockstar dieses Planeten! Ich habe mit ihm eine Hitsingle aufgenommen, als ich zwölf war, und ich werde nicht in irgendeinem spießigen Schulchor singen. Ich werde überhaupt nichts tun, was ich nicht will, und Sie können mich zu nichts zwingen.«
Miss Scratton hielt Velvets provozierendem Blick einen Moment stand, dann seufzte sie. »Wir wollen dir und deinen Eltern nur helfen, Velvet. Du weißt hoffentlich, dass dich keine andere seriöse Schule mehr aufnehmen würde. Wyldcliffe könnte somit deine letzte Chance sein.«
»Na und? Vielen Dank für Ihre Güte und so weiter, aber je früher ich aus diesem alten Kasten wieder rauskomme, desto besser.«
»Wir werden sehen«, entgegnete Miss Scratton ruhig. »Sarah, würdest du Velvet bitte die Schule zeigen? Und dann bringst du sie in den Schlafsaal. Sie muss noch die Schuluniform anziehen, bevor es zum Abendessen klingelt.«
Ich bemerkte, dass Velvets Gesicht wieder diesen rebellischen Ausdruck bekam, und zog sie schleunigst aus Miss Scrattons Arbeitszimmer, bevor sie eine weitere Szene machen konnte. Wir waren kaum draußen, da bedachte sie mich mit einem charmanten Lächeln, aber ich fühlte, dass sie wieder nur eine Pose ausprobierte.
»Tut mir leid, dass ich deine ach so geliebte Schule miesmache«, sagte sie lachend, »aber ich muss rechtzeitig damit anfangen, wenn ich mein Ziel erreichen will.«
»Was meinst du damit?«
»Wenn ich richtig Stunk mache, wird es wohl nicht mehr als vier Wochen dauern, bis sie mich rausschmeißen. Dann kann ich wieder zurück nach L. A. Mein Gott, ich habe keine Ahnung, wie du das hier nur aushältst. Das wirkt alles so tot«, meinte sie, während ihr Blick die alten Stiche und Gemälde an den Wänden streifte. Auf unserem Weg durch die Schule zeigte ich ihr noch die prachtvolle Bibliothek und die Klassenräume mit den hohen Decken. »Okay, das ist ja alles ganz schick«, gab Velvet zu, »aber das heißt nicht, dass ich bleiben werde. Ich bin ja schon viel rumgekommen, aber diese Schule hier ist mit Abstand die seltsamste. Keine Jungs, keine männlichen Lehrer, kein Fernsehen, kaum Kontakt mit der Außenwelt und noch dazu am Ende der Welt, mitten in der Pampa. Meine Eltern müssen nicht ganz zurechnungsfähig gewesen sein, als sie dieses Höllenloch für mich ausgesucht haben.«
»Vielleicht wollten sie dir nur helfen.«
»Auf diese Art von Hilfe kann ich verzichten.« Einen Moment lang zitterten ihre Lippen, und sie wirkte seltsam hilflos, aber dann fing sie sich wieder und sagte: »Okay, was hast du sonst noch zu bieten? Kalte Duschen? Verliese?«
»Komm mit nach draußen, dann wirst du schon sehen.« Ich schlug den Weg zu den Parkanlagen ein. Die meisten Mädchen waren in den Schlafsälen und packten ihre Koffer aus, aber einige wollten den wundervollen Aprilnachmittag genießen. Alles sah frisch und grün aus. Sie hatten es sich in kleinen Gruppen unter den Bäumen bequem gemacht oder tollten über die Rasenfläche, die vom Hauptgebäude bis zum See reichte. Auf der glatten Wasseroberfläche spiegelten sich die verfallenen Gemäuer der alten Klosterkapelle. Jenseits des von Wald gesäumten Sees erstreckten sich die wilden Moors bis zum Horizont. Der Anblick war atemberaubend. Selbst Velvet konnte davon nicht unberührt bleiben.
»Das ist echt cool«, sagte sie und ging auf die Kapelle zu. »Sieht aus wie das Schloss von Dornröschen oder so. Was geht hier so ab?«
»Nicht viel. Aber wir haben jedes Jahr eine Prozession zur Erinnerung an Lady Agnes’ Todestag.«
»Dann ist diese Lady Agnes hier eine große Nummer? Coole Sache. Ich stehe auf Gespenster.«
»Sie ist kein Gespenst«, antwortete ich knapp, aber Velvet hörte mir gar nicht zu. Die Neugier hatte sie gepackt, und sie war inzwischen ins Innere der Kapelle geschlendert. Die Wände standen nur noch zum Teil, und die Überreste des großen Ostfensters zeichneten sich wie ein zerfetztes Spinnennetz gegen den Himmel ab. Wie steinerne Zeugen erhoben sich zerborstene Pfeiler, dort, wo einst eine Reihe von Rundbögen die Seitenschiffe der Kapelle markiert hatten. Heute wuchs Gras zwischen den verwitterten Steinen, und das Dach war längst eingestürzt. Velvet stand auf dem grünen Hügel, wo sich einst der Altar befunden hatte, und reckte ihre Arme dramatisch gen Himmel. »Hier geht richtig was ab! Ein Voodooritual oder irgendwas mit schwarzer Magie. Mein Vater steht auf so was.«
Ich erinnerte mich dunkel an einen Skandal im Zusammenhang mit Rick Romaine vor einigen Jahren, der mit seinen sogenannten »okkultistischen Performances« zu tun gehabt hatte. Einige Eltern hatten damals ein Verbot gefordert und wollten Warnhinweise auf seine CDs drucken lassen. Velvet warf den Kopf zurück und begann sich hin- und herzuwiegen, dabei zuckte sie rhythmisch mit dem Oberkörper, sie wirkte wie in Trance. Dann begann sie mit klagender dunkler Stimme zu singen, als ob sie unsichtbare Mächte anrufen wollte.
»Hör auf!«
Sie brach abrupt ab und starrte mich an. »Hey, das war doch nur Spaß. Was ist los, Sarah, hast du etwa Angst vor dunklen Mächten? Ich nicht. Ich habe vor nichts und niemandem Angst. Ehrlich gesagt finde ich diesen heidnischen Kram echt klasse. Ich sehe mich schon als Priesterin! Und du?«
Ich versuchte ihre Show zu ignorieren. »Ich sehe nur, dass du einen Tadel bekommst, wenn du nicht deine Schuluniform trägst, bevor es zum Abendessen läutet. Komm, wir gehen in den Schlafsaal.«
»Aber ich habe doch noch gar nichts gesehen«, maulte sie. »Was für cooles Zeug gibt’s denn noch? Miss Scratton meinte doch, du solltest mir alles zeigen.«
»Ich fürchte, die Ruinen sind das Highlight des Rundgangs. Es gibt noch ein Freischwimmbad hinter den Bäumen dort, das wir im Sommer nutzen können«, erklärte ich und deutete in die Richtung.
»Klingt gar nicht übel.«
»Ich an deiner Stelle würde nicht allzu viel erwarten, das Wasser ist normalerweise ziemlich kalt. Und die Sportanlagen sind hier den Weg runter, an der großen Eiche vorbei. Wir spielen Hockey und Lacrosse. Die Ställe liegen in der Nähe des Haupthauses.«
»Mein Gott, ich hasse Mannschaftssport. Dann lieber zu den Ställen. Aber ich bin hier eigentlich noch nicht durch. Mit diesen verfallenen Gemäuern könnte man irgendwann noch etwas starten.«
»Etwas starten? Und was?«
»Keine Ahnung, vielleicht eine heidnische Party«, antwortete Velvet lässig, »das wäre ziemlich cool. Magie um Mitternacht, was meinst du? Das würde den Ruinen ein bisschen Pep geben.«
Ich schlug den Weg zu den Ställen ein. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, Velvet so über Rituale und Magie lästern zu hören. Für mich und meine Freundinnen waren all diese Dinge Realität. Bedrohliche, sogar tödliche Realität. Es gab zwei Wyldcliffes. Auf der einen Seite die exklusive Traditionsschule mit Unterricht und Examen. Dort waren gute Noten und die Vorbereitung auf die Universität wichtig, aber auch der sportliche Erfolg der Schulteams sowie Einladungen zu gesellschaftlichen Ereignissen während der Ferien. Aber es gab auch das andere Wyldcliffe: ein Schlachtfeld im Kampf zwischen Finsternis und Licht. In dieser Welt herrschten die Mächte der Vergangenheit und die mystischen Kräfte.
An diesem strahlend hellen Frühlingstag war es schwer zu glauben, dass wir erst vor wenigen Wochen erleben mussten, wie Sebastians Seele in die Ewigkeit entlassen wurde und Mrs Hartle, die frühere Schulleiterin und Helens Mutter, als rachsüchtiger Geist auf die dunkle Seite wechselte. Sie hatte sich entschlossen, ihre bizarre Persönlichkeit dem durch und durch verdorbenen König der Unbesiegten zu unterstellen, jenen schrecklichen Mächten, die den Tod betrogen und eine unheilige Allianz mit der Schattenwelt eingegangen waren. Wer konnte wissen, ob sie uns jetzt in Ruhe lassen oder einen weiteren Angriff planen würde? Und was war aus Mrs Hartles Hexenzirkel der Dunklen Schwestern geworden? Hatten sie ihr Streben nach elementarer Macht aufgegeben, oder warteten sie nur darauf, sich wieder zusammenzuschließen, um noch gewaltiger und gefährlicher zu werden als zuvor? Als ich mit Velvet durch den erblühenden Frühlingsgarten lief, schlug mein Herz wie eine Trommel in meiner Brust, und ich fühlte, wie mich in den Hügeln verborgene Augen anstarrten wie beutegierige Aasgeier. Das Trommeln erfüllte nicht nur meinen Körper, sondern auch meinen Kopf und machte mir Angst.
Mein Wyldcliffe, mein reales Wyldcliffe, war ohnehin schon voller alltäglicher kleiner Dramen, da hatte mir Velvets selbstverliebter Schwachsinn gerade noch gefehlt. Ich musste unbedingt Evie und Helen treffen, um unsere nächsten Schritte zu besprechen. Ich würde Velvet noch die Ställe zeigen, sie zum Schlafsaal bringen und dann dort alleine lassen, damit sie auspacken und sich einrichten konnte. Dann hätte ich meine Pflicht erfüllt und könnte meine Freundinnen begrüßen. Außerdem brauchte mich Velvet Romaine wohl kaum als Babysitter.
Je näher wir den Ställen kamen, umso ruhiger wurde ich. Pferde hatte ich schon immer gemocht, das ist wie eine Familientradition. Mein Vater trainiert Rennpferde, mal seine eigenen, mal die Tiere anderer wohlhabender Leute. Der mir entgegenströmende erdige Geruch der Ställe gab mir Trost und Zuversicht, eine würzige Mischung aus Stroh, Futter und dem süß-scharfen Duft von Pferdehaaren. Das alles erinnerte mich an eine Zeit, in der die Natur noch ursprünglich gewesen war und wir in Harmonie mit unseren Pferden und der Landschaft lebten. Ich ging zu einer der Boxen, wo mein Pferd Starlight schon wartete, und küsste es auf seine weiche Nase. Einer unserer Stallburschen hatte es schon gestern mit dem Anhänger nach Wyldcliffe gebracht, zusammen mit Bonny, meinem lustigen, geduldigen und ziemlich übergewichtigen Pony. Eigentlich war ich ein bisschen zu groß für ihn, aber ich hatte Bonny für Evie mitgenommen, die auf seinem breiten Rücken das Reiten gelernt hatte und sich auf anderen Pferden unsicher fühlte.
»Deins?«, fragte Velvet und tätschelte Starlights Hals. »Hübsch.«
»Ja. Reitest du auch?«
»Allerdings. Wir haben einige Zeit in Argentinien gelebt, und ich habe mich mit dem Poloteam herumgetrieben. Coole Sache. Wow, wem gehört denn dieses Prachtexemplar?« Sie ging zur anderen Stallseite und bewunderte die herrliche weiße Stute, die in der großen Box angebunden war. Velvet pfiff durch die Zähne und begutachtete das Tier von allen Seiten. Sie war es gewöhnt, mit Pferden umzugehen, das konnte man sehen. »Du hast es verdient, geritten zu werden, meine Schönheit«, sagte sie leise, dann drehte sie sich zu mir. »Wem gehört sie?«
»Seraph ist Miss Scrattons Pferd. Niemand sonst darf es reiten.«
»Was du nicht sagst. Das werden wir ja noch sehen.«
»Mal ehrlich, Velvet, mach bloß keine Dummheiten.«
»Wo ist das Problem?«, fragte sie. »Was kann sie mir schon tun? Mich rauswerfen? Tja, das ist doch genau das, was ich will. Außerdem bin ich eine echt gute Reiterin. Mir passiert schon nichts.«
»Ich dachte eher an das Pferd«, antwortete ich kühl.
Velvet starrte mich verdutzt an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus. »Ich mag dich, Sarah. Du bist irgendwie anders. Auf den ersten Blick wirkst du so, wie soll ich sagen, so hilfsbereit, aber ich bin nicht sicher, ob du wirklich so nett bist, wie du tust.«
Ich wurde rot. Evie hatte mich immer »die Gute« genannt. Süß, gut und bekömmlich wie eine reife Frucht. Aber manchmal war es auch anstrengend, gut zu sein. Gut zu sein bedeutete, nicht zuerst an sich, sondern an die anderen zu denken. Auf Dinge zu verzichten, die man selbst gerne mochte. Ich schüttelte nur den Kopf und wandte mich ab. Velvet sollte nicht merken, wie sehr mich ihre Worte getroffen hatten. Ich öffnete die Tür zu einer kleinen Kammer, wo die Sättel und das Zaumzeug gelagert wurden, und begann über das Erstbeste zu sprechen, was mir in den Kopf kam. »Wenn du gerne Reitstunden bei Mrs Parker nehmen möchtest, dann musst du dich hier in das Buch – oh.«
Meine Stimme stockte. Zwei Gestalten, die sich im Dunkel der Kammer sehr nahe gewesen waren, stoben schuldbewusst auseinander. Ein hochgewachsener junger Mann mit weizenblonden Haaren – Josh Parker. Und … Evie.
Drei
Oh, Sarah, ich wollte gerade nach dir sehen!«
Evie trat einen Schritt nach vorne und schlang die Arme um mich, doch einen Augenblick lang fühlte ich Enttäuschung in mir aufsteigen. Evies erster Weg nach ihrer Ankunft in Wyldcliffe führte sie nicht zu mir, sondern zu Josh. Und was hatten die beiden da in der schummrigen Ecke gemacht? Hatte sie Sebastian etwa schon vergessen? Doch sofort schämte ich mich meiner egoistischen Gedanken. Ich war einfach überempfindlich. Welches Recht hatte ich, Evie zu verurteilen? Nur unsere Freundschaft zählte, alles andere war unwichtig. Ich drückte sie fest an mich.
»Ich bin so froh, dass du da bist, Evie. Wo ist Helen? Miss Scratton meinte, ihr würdet zusammen ankommen?«
»Stimmt, vor ungefähr zehn Minuten. Helen meinte, sie brauche nach all den Stunden im Zug und im Taxi einfach etwas Bewegung. Sie macht einen Spaziergang ins Dorf, um frische Luft zu schnappen, bevor sie mit dem Auspacken anfängt.«
»Ist sie wirklich ganz allein unterwegs?«
»Aber klar, warum nicht? Unser Jahrgang darf das Schulgelände an den Sonntagen verlassen.«
Das wusste ich auch. Ich dachte vielmehr an die unsichtbaren Gefahren, die rund um Wyldcliffe lauerten.
»Evie, ich gehe dann besser«, sagte Josh, »ich muss mich um die Pferde kümmern. Wir sehen uns, Sarah«, fügte er beiläufig hinzu und schob mich zur Seite, als er die Kammer verließ. Ich spürte den mir wohl bekannten Schmerz, als sich unsere Körper flüchtig berührten. An der Tür blieb er stehen und nickte Velvet zu, die ihn anerkennend musterte, dann wandte er sich wieder zu Evie. »Morgen nach der Schule?« Joshs Stimme war warm, voll von verborgenem Glück. Offensichtlich war er schwer verliebt, aber eben leider nicht in mich. Natürlich nicht. »Um fünf, was meinst du, Evie?«
Doch Evie machte nicht gerade einen glücklichen Eindruck, lächelte aber zurück. »Einverstanden, bis morgen.«
Er ging, und eine bedrückende Stille entstand. Zum Glück hatte ich in Wyldcliffe perfekte Manieren gelernt. »Das ist Velvet Romaine, unsere neue Mitschülerin. Ich habe ihr alles gezeigt. Velvet wird in unsere Klasse gehen. Velvet, das ist meine beste Freundin, Evie Johnson.«
»Hi«, grüßte Velvet betont lässig, »wo habt ihr den denn aufgetrieben? Ich dachte, hier sei männerfreie Zone?«
»Josh ist kein Schüler, er arbeitet manchmal in den Ställen und unterstützt seine Mutter beim Reitunterricht«, erklärte Evie.
Aber Josh war mehr als nur das. Er war unsterblich in Evie verliebt. Nichts Neues für mich, denn ich wiederum war lange Zeit unglücklich in ihn verliebt gewesen. Er hatte sein ganzes Leben in Wyldcliffe verbracht, war mit vielen Geheimnissen vertraut und wusste auch von Evies Verbindung mit Sebastian und dem Hexenzirkel. Aber Josh hatte sich davon nicht abschrecken lassen und selbst in schwierigsten Situationen an Evies Seite gestanden. Und auch jetzt hatte sich daran nichts geändert. Er war für sie da, hingebungsvoll und selbstlos. Ansonsten war Josh ein cleverer Typ, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen stand. Aber nicht nur das, er sah auch verdammt gut aus, was Velvet wohl nicht verborgen geblieben war.
»Bei ihm könnte ich mir irgendwann auch mal eine Reitstunde vorstellen«, Velvets Augen blitzten herausfordernd unter ihrem rabenschwarzen Haarschopf hervor, »und wer weiß, vielleicht kann ich ihm ja auch das eine oder andere beibringen.«
Evies Lächeln erstarb, sie war verärgert. »Du bist also DIE Velvet Romaine? Die aus den Zeitschriften?«
»Genau! Die mit den berühmten Eltern, der verkorksten Kindheit, den Drogenproblemen und den unpassenden Freunden? Genau die.« Velvets dunkle Augen funkelten zornig.
»Entschuldige, ich wollte nicht …«, begann Evie.
»Vergiss es. Das bin ich gewöhnt. Und es geht mir am Arsch vorbei, wie man so schön sagt.«
Ich versuchte die Situation zu entspannen: »Ich bringe dich jetzt besser zum Schlafsaal, Velvet, dann kannst du dich umziehen. Können wir beide noch vor dem Essen miteinander reden, Evie? Wir könnten Helen ein Stück entgegengehen. Hast du schon gehört, dass Miss Scratton die neue Schulleiterin ist? Wusstest du das?«
»Mmm … ja, einige der anderen Mädchen sprachen darüber.« Evie wandte ihren Blick von Velvet ab und sah mich an. »In ein paar Minuten am Tor? Ich warte dort auf dich.«
»Alles klar. Komm schon, Velvet, wir müssen uns beeilen.«
Wir verließen die Stallungen und gelangten durch einen der vielen Seiteneingänge ins Hauptgebäude. Rasch durchquerten wir einen hallenden Korridor und standen schon bald wieder in der schwarz-weiß gefliesten Eingangshalle, von der die breite Marmortreppe in die oberen Stockwerke führte. Ich ging voran.
»Im zweiten Stock sind die Zimmer der Lehrerinnen und ihr Aufenthaltsraum«, erklärte ich Velvet. »Wenn du die Hausdame suchst oder ins Krankenzimmer musst, dann gehst du ebenfalls in den zweiten Stock. Die Schlafsäle sind alle im dritten Stock.«
»Ich hasse Schlafsäle. Ich hasse es, mit jemandem ein Zimmer zu teilen.«
Während wir die gewundene Treppe hinaufgingen, fragte ich mich, wie sich Velvet jemals in Wyldcliffe einleben sollte. So vielen Menschen war hier schon Leid angetan worden, Agnes, Laura, Helen, Evie und selbst der armen kleinen Harriet, die von Mrs Hartle im letzten Halbjahr für ihre Zwecke missbraucht worden war. Sie alle waren wie orientierungslose Vögel im tosenden Sturm gewesen, unfähig, dem Fluch dieses mysteriösen Tales zu entfliehen. In diesem Moment durchfuhr mich ein erschreckender Gedanke: Bald würde ich an der Reihe sein.
»Deine Mutter war auch hier?«, fragte Velvet. »Und deine Großmutter?«
»Beide Großmütter eigentlich«, ich lächelte sie fast entschuldigend an, »und meine Urgroßmutter auch. Ich fürchte, ich bin durch und durch eine Wyldcliffe.«
»Deine Familie muss ziemlich vornehm sein, wenn deine Großmutter Lady Dingsbums war und so.«
»Wahrscheinlich ist die Tatsache, dass dein Vater ein Rockstar und deine Mutter ein Topmodel ist, für die Leute viel interessanter als irgendjemand aus meiner vornehmen Familie. Amber Romaine gilt als eine der schönsten Frauen der Welt, oder?«
»Ja stimmt, vor allem in ihren eigenen Augen«, antwortete Velvet sarkastisch, »sie ist selbst ihr größter Fan.«
Ich war ein wenig überrascht, Velvet so von ihrer Mutter sprechen zu hören. Ich wollte nicht neugierig sein, aber einen Augenblick lang hatte Velvet ihre Maske fallen lassen, und ich hatte einen Anflug von Trauer in ihrem Gesicht entdeckt. »Ihr versteht euch also nicht so gut?«
Velvet zuckte die Schultern. »Es ist kein Geheimnis, dass wir dauernd Krach haben. Warum würde sie mich sonst in all diese Internate stecken? Meine jüngere Schwester Jasmine war immer schon ihr Liebling. Aber sie lebt nicht mehr.« Velvet starrte mich herausfordernd an. Mir war klar, dass es nichts gab, was ich hätte erwidern können, außer irgendetwas Abgedroschenes.
»Ich habe davon gehört. Es tut mir wirklich leid.«
»Tja. Wahrscheinlich sind wir uns einfach zu ähnlich, Amber und ich. Und eine Tochter im Teenageralter zu haben stand bei ihr einfach nicht auf dem Programm. Lässt sie älter wirken, nehme ich an. Wir streiten, dass die Fetzen fliegen, und mein Vater versucht uns dann jedes Mal zu beschwichtigen, indem er uns tonnenweise Geschenke kauft. Komisch, aber sein ganzes Geld nützt ihm nichts. Sie hasst mich trotzdem.«
Ich war schockiert. Ich liebte meine Mutter über alles, und obwohl es Dinge gab, die ich nicht mit ihr teilen konnte, geheime Träume und Hoffnungen zum Beispiel, war sie immer in meiner Nähe, umsorgte und unterstützte mich. Wenn ich in der Schule mit Evie und Helen zusammen war, sprach ich nur selten über sie, denn ich hatte immer im Hinterkopf, dass Evies Mutter tot war und Helens Mutter ihr nichts als Kummer und Leid gebracht hatte. Und jetzt kam auch noch Velvet, die so abschätzig und aggressiv über ihre Mutter sprach.
»Sie kann dich nicht hassen, sie ist deine Mutter.«
»Was soll’s.« Velvet kehrte wieder zu ihrer oberflächlichen Fassade zurück. »Erzähl mir lieber was über deine Großeltern-Snobs.«
»Sie sind keine Snobs«, wehrte ich mich, »die Mutter meines Vaters ist eben Lady Fitzalan, aber sie ist sehr bodenständig und bescheiden, eine typische Engländerin vom Land, sie liebt Pferde und Hunde und ihren Garten.« Gegen meinen Willen lächelte ich. »Zugegeben, meine andere Großmutter von der Talbot-Travers-Seite der Familie war ziemlich eingebildet. Aber ihre Mutter wiederum, meine Urgroßmutter, kam aus einfachen Verhältnissen. Man gab ihr den Namen Maria, denn sie war eine Waise, ein Romakind, das von einer wohlhabenden Familie adoptiert worden war.«
»Echt? Eine richtige Roma? Das ist cool.« Immerhin ein Punkt, in dem Velvet und ich uns einig waren. »Das heißt, du hast Zigeunerblut in dir?« Sie musterte mich eingehend, als ob ich mich als Model beworben hätte. »Natürlich, jetzt sehe ich es, diese schwarzen Locken und diese Ausstrahlung …«
»Mmm … vielleicht hast du Recht«, murmelte ich. Aber die Verbindung zwischen mir und Maria war viel, viel tiefer als die Haarfarbe und die äußerliche Ähnlichkeit.
Ich hatte oft an meine Urgroßmutter Maria gedacht und fühlte, welch entscheidende Rolle sie in meinem Leben spielte. Ich hatte jedes Fitzelchen über sie und ihre Romafamilie ausgegraben, das ich finden konnte. Es mochte merkwürdig klingen, aber ich fühlte eine spirituelle Verbindung zu Maria und ihren familiären Wurzeln. Sie war von ihren Adoptiveltern vor vielen, vielen Jahren nach Wyldcliffe geschickt worden, und manchmal hatte ich den Eindruck, als würde sie noch heute in der Schule über mich wachen, als wüssten wir alles voneinander und würden uns blind verstehen. Das klingt unmöglich, ich weiß. Aber als ich im letzten Semester Cal kennengelernt hatte, einen jungen reisenden Roma, hatte ich Gelegenheit bekommen, diese Welt für mich zu entdecken. Eine kurze Zeit lang hatte ich gedacht, dass ich von der quälenden Einsamkeit, die tief unter meiner ach so friedlichen Fassade verborgen war, befreit werden würde. Es ging mir doch gut, es fehlte mir an nichts. Ich hatte eine fürsorgliche Familie und ein großartiges Zuhause. Ich hatte meine Pferde und meine Freundinnen, ich liebte die Landschaft, in der ich lebte, und die Erde unter meinen Füßen, und ich würde meinen Prinzipien treu bleiben und den Mystischen Weg weitergehen. Aber ganz tief in mir war der Wunsch nach mehr. Ich wollte einen Menschen an meiner Seite, der mich wirklich verstand. Oder war das zu viel verlangt?
Als Velvet mir die Treppenstufen in den dritten Stock hinauf folgte, dachte ich zurück an meinen Traum, an die warmen Augen, die in den meinen versanken. Ich dachte an die Art, wie Cal mit mir gesprochen hatte, so als ob ich wirklich wichtig für ihn wäre. Ich dachte an seinen aufmerksamen Blick und das raue Lachen. Ich dachte an die Verbindung zwischen uns. Aber Cals Familie war weitergezogen, weg von Wyldcliffe, und ich war geblieben. Cal hatte gesagt, er wolle mich wiedersehen, und versprochen zu schreiben, aber ich hatte nie wieder von ihm gehört. Und ich hatte keine Möglichkeit, Kontakt mit ihm aufzunehmen, er hatte nicht einmal ein Handy. Jetzt war er wahrscheinlich schon weit weg.
Plötzlich fühlte ich mich unendlich müde. Ich hatte Cal vertraut, aber er schien mich vergessen zu haben. Und jetzt, zurück in der Schule, flammte die Enttäuschung wieder auf, dass ich für Josh nie mehr als eine gute Freundin sein würde. Ein nettes Mädchen, die gute alte Sarah eben. Ich zwang mich, mit hocherhobenem Haupt den Korridor mit den vielen Türen entlangzugehen, und ärgerte mich über meine Schwäche und mein Selbstmitleid. Ich hatte Freundinnen, echte treue Freundinnen: meine Schwestern Evie, Helen und Agnes. Das allein war wichtig für mich. Liebe brauchte ich nicht. Das sagte ich mir jedenfalls und versuchte, daran zu glauben.
Ich öffnete eine Tür, die in einen schlichten Raum führte. Unser Schlafsaal war kleiner als die meisten in Wyldcliffe, es standen nur drei schmale Betten darin, doch die nüchterne Einrichtung war die gleiche. »Du schläfst unter dem Fenster, genau neben mir. Schau, dein Gepäck ist auch schon da. Im dritten Bett schläft Ruby Rogerson. Sie ist sehr nett, ziemlich ruhig, ein Genie in Mathe. Früher hat Caroline Woodford hier geschlafen, aber sie ist mit ihren Eltern nach Australien gegangen.«
Velvet starrte in das Zimmer mit den kahlen, weiß gestrichenen Wänden und sagte angewidert: »Das ist ja wie im Gefängnis hier, nein, noch schlimmer! Im Gefängnis könnte man wenigstens Bilder an die Wände hängen. In den anderen Internaten durften wir wenigstens unsere Zimmer selbst gestalten. Das hier ist so … so kalt und seltsam. Als ob wir Nonnen wären oder so.«
»Das ist Wyldcliffe. Hier ist es eben anders.«
Velvet ließ sich auf ihr Bett fallen, und einen Moment lang sah es so aus, als ob ihre Verzweiflung echt wäre. Es ging in Wirklichkeit nicht darum, mit anderen ein Zimmer zu teilen oder ein Metallica-Poster aufzuhängen: Sie war verzweifelt, weil ihre Eltern sie im Stich gelassen hatten. Ihre im Rampenlicht stehende Mutter hatte sie nach Wyldcliffe abgeschoben, weil sie zu schön und zu beschäftigt war, um sich um eine Tochter im Teenageralter zu kümmern. Da halfen ihr auch ihre berühmten Freunde nicht. Ich ging zu Velvet hinüber und legte ihr meine Hand auf die Schulter.
»Du hast vorhin gesagt, ich sei gut. Das ist nicht wahr, jedenfalls nicht so, wie du das meinst. Aber ich helfe dir, wann immer ich kann. Vergiss das nicht.«
Velvet schüttelte meine Hand ab. »Lass das, es ist alles okay.«
Sie öffnete den Louis-Vuitton-Koffer und kippte den Inhalt aufs Bett. »Wenn ich schon diese ekelhafte Uniform anziehen muss, dann am besten gleich. Wolltest du dich nicht mit deiner Freundin treffen, die mit den tollen roten Haaren? Ich habe das starke Gefühl, dass sie mich nicht mag.«
»Evie hat harte Zeiten hinter sich«, setzte ich an, um sie zu verteidigen, »sie hat viel durchgemacht. Sie lebte bei ihrer Großmutter, aber die ist gestorben. Deshalb musste sie hierher kommen, ins Internat. Das war nicht einfach, und …«
»Schon gut. Sie will halt nicht, dass ich was mit ihrem knackigen Stallburschen anfange. Er steht auf sie, das sieht ein Blinder, sie hat ja auch was. Sie sieht aus wie eine viktorianische Meerjungfrau. Hey, sie erinnert mich irgendwie an Lady Agatha auf diesem komischen alten Schinken, von der die Direktorin erzählt hat.«
»Lady Agnes. Äh … meinst du wirklich? Oh, wie die Zeit vergeht, es ist schon spät.«
»Okay, dann geh runter«, Velvet kramte in ihren Klamotten, »ich komm schon klar.«
»Weißt du noch, wo der Speisesaal ist?«
»Ich habe mich selbst in Manhattan nicht verlaufen. Und das war an Silvester, und ich war total breit. Ich werd’s schon schaffen.« Sie hielt kurz inne und sah mich durchdringend an. »Hör zu, Sarah, es gibt keinen Grund, warum du nett und freundlich zu mir sein musst oder so tun müsstest, als ob du mich magst. Ich brauche dich nicht und auch sonst niemanden. Ich will nur so schnell wie möglich wieder hier raus. Und normalerweise bekomme ich das, was ich will, egal um welchen Preis. Komm mir also besser nicht in die Quere.«
Ich fühlte mich klein und irgendwie bloßgestellt, wie ich da vor ihr stand. Wusste sie etwa mehr über mich, als sie wissen konnte? War ihre Warnung wirklich ernst gemeint? Velvet schien innerlich so verbittert zu sein, dass jeder, der ihr zu nahe kam, von dieser Bitterkeit vergiftet werden würde. Ich wünschte, sie wäre nie nach Wyldcliffe gekommen. Ich konnte nichts für sie tun. Es gab Wichtigeres, worüber ich mir Sorgen machen sollte.