Der zauberhafte Märchen-Adventskalender. 24 weihnachtliche Geschichten aus aller Welt -  - E-Book

Der zauberhafte Märchen-Adventskalender. 24 weihnachtliche Geschichten aus aller Welt E-Book

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Beschreibung

Schenken Sie Ihren Lieben oder sich selbst eine märchenhaft-weihnachtliche Entdeckungsreise durch die Weltliteratur! Statt Schokolade oder unnützem Schnickschnack enthält dieser Adventskalender 24 zauberhafte Märchen für Jung und Alt, etwa von den Brüdern Grimm, H. C. Andersen oder Selma Lagerlöf. Machen Sie es sich gemütlich und tauchen Sie – alleine oder gemeinsam – ein in eine zauberhafte Welt, weit ab vom konsumorientierten Weihnachtsrummel. Und nach den Feiertagen landet dieser Kalender ganz sicher nicht im Müll, sondern sorgt jedes Jahr aufs Neue für magische Weihnachtsstimmung.

  • Ein Märchen hinter jedem »Türchen«
  • Nachhaltig, zeitlos und gemütlich: ein immerwährender Adventskalender für Jung und Alt
  • Weihnachtlich-märchenhafte Entdeckungsreise durch die Weltliteratur
  • Vielfältig: Märchen von den Brüdern Grimm, H.C. Andersen, Selma Lagerlöf, Paula Dehmel und 20 weiteren Autor*innen

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Seitenzahl: 301

Veröffentlichungsjahr: 2024

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DER ZAUBERHAFTE

MÄRCHEN-ADVENTS-KALENDER

24

weihnachtliche Geschichten aus aller Welt

Ausgewählt von

Michael Büsgen

Anaconda

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2024 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: shutterstock.com / Mascha Tace (Hintergrund);

Adobe Stock / a7880ss (Illustrationen Figuren);

Adobe Stock / girafchik (Illustrationen Tiere)

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-32421-6V001

www.anacondaverlag.de

Inhalt

1. Dezember

Weihnachten in der Speisekammer

2. Dezember

Hänsel und Gretel

3. Dezember

Weihnachtsmärchen vom Tannenbäumchen Waldgrüne

4. Dezember

Der glückliche Prinz

5. Dezember

Die Hexe La Befana

6. Dezember

Nikolaus, der Wundertäter

7. Dezember

Die Weihnachtsgans Auguste

8. Dezember

Frau Holle

9. Dezember

Der Schneemann

10. Dezember

In Hülle und Fülle

11. Dezember

Das Weihnachtsland

12. Dezember

Die Mär vom Geiger, der drei Herzen hatte

13. Dezember

Das Ulta-Mädchen

14. Dezember

Wie es zwei frechen Teufelchen zu Weihnachten erging

15. Dezember

Die Alfkönigin

16. Dezember

Die Legende von der Christrose

17. Dezember

Der allererste Weihnachtsbaum

18. Dezember

Der Schnee

19. Dezember

Das Kätzchen von Dovre

20. Dezember

Lüttenweihnachten

21. Dezember

Die Schneekönigin

Ein Märchen in sieben Geschichten

22. Dezember

Die Geschichte vom Weihnachtsmarkt

23. Dezember

Nussknacker und Mausekönig

24. Dezember

Die Weihnachtsgeschichte nach Lukas

Quellenverzeichnis

1.

Dezember

Weihnachten in der Speisekammer

Paula Dehmel

Unter der Türschwelle war ein kleines Loch. Dahinter saß die Maus Kiek und wartete.

Sie wartete, bis der Hausherr die Stiefel aus- und die Uhr aufgezogen hatte; sie wartete, bis die Mutter ihr Schlüsselkörbchen auf den Nachttisch gestellt und die schlafenden Kinder noch einmal zugedeckt hatte; sie wartete auch noch, als alles dunkel war und tiefe Stille im Hause herrschte. Dann ging sie.

Bald wurde es in der Speisekammer lebendig. Kiek hatte die ganze Mäusefamilie benachrichtigt. Da kam Miek die Mäusemutter mit den fünf Kleinen, und Onkel Grisegrau und Tante Fellchen stellten sich auch ein.

»Frauchen, hier ist etwas Weiches, Süßes«, sagte Kiek leise vom obersten Brett herunter zu Miek, »das ist etwas für die Kinder«, und er teilte von den Mohnpielen aus. »Komm hierher, Grisegrau«, piepste Fellchen, und guckte hinter der Mehltonne vor, »hier gibt’s Gänsebraten, vorzüglich, sag ich dir, die reine Hafermast; wie Nuss knuspert sich’s.« Grisegrau aber saß in der neuen Kiste in der Ecke, knabberte am Pfefferkuchen und ließ sich nicht stören. Die Mäusekinder balgten sich im Sandkasten und kriegten Mohnpielen. »Papa«, sagte das Größte, »meine Zähne sind schon scharf genug, ich möchte lieber knabbern, knabbern hört sich so hübsch an.« »Ja, ja, wir wollen auch lieber knabbern«, sagten alle Mäusekinder, »Mohnpielen sind uns zu matschig«, und bald hörte man sie am Gänsebraten und am Pfefferkuchen. »Verderbt euch nicht den Magen«, rief Fellchen, die Angst hatte, selber nicht genug zu kriegen, »an einem verdorbenen Magen kann man sterben.« Die kleinen Mäuse sahen ihre Tante erschrocken an; sterben wollten sie ganz und gar nicht, das musste schrecklich sein. Vater Kiek beruhigte sie und erzählte ihnen von Gottlieb und Lenchen, die drinnen in ihren Betten lägen und ein hölzernes Pferdchen und eine Puppe im Arm hätten; und dass in der großen Stube ein mächtiger Baum stände mit Lichtern und buntem Flimmerstaat, und dass es in der ganzen Wohnung herrlich nach frischem Kuchen röche, der aber im Glasschrank stände, und an den man nicht herankönnte. »Ach«, sagte Fellchen, »erzähle nicht so viel, lass die Kinder lieber essen.« Die aber lachten die Tante mit dem dicken Bauch aus und wollten noch viel mehr wissen, mehr als der gute Kiek selbst wusste. Zuletzt bestanden sie darauf, auch einen Weihnachtsbaum zu haben, und die zärtlichen Mäuseeltern liefen wirklich in die Küche und zerrten einen Ast herbei, der von dem großen Tannenbaum abgeschnitten war. Das gab einen Hauptspaß. Die Mäusekinder quiekten vor Entzücken und fingen an, an dem grünen Tannenholz zu knabbern; das schmeckte aber abscheulich nach Terpentin, und sie ließen es sein und kletterten lieber in dem Ast umher. Schließlich machten sie die ganze Speisekammer zu ihrem Spielplatz. Sie huschten hierhin und dorthin, machten Männchen, lugten neugierig über die Bretter in alle Winkel hinein und spielten Versteck hinter den Gemüsebüchsen und Einmachetöpfen; was sollten sie auch mit dem dummen Weihnachtsbaum, an dem es nichts zu essen gab! Als aber das Kleinste ins Pflaumenmus gefallen war und von Mama Miek und Onkel Grisegrau abgeleckt werden musste, wurde ihnen das Umhertollen untersagt, und sie mussten wieder artig am Pfefferkuchen knabbern.

Am andern Morgen fand die alte Köchin kopfschüttelnd den Tannenast in der Speisekammer und viele Krümel und noch etwas, was nicht gerade in die Speisekammer gehört, ihr werdet euch schon denken können, was! Als Gottlieb und Lenchen in die Küche kamen, um der alten Marie Guten Morgen zu wünschen, zeigte sie ihnen die Bescherung und meinte: »Die haben auch tüchtig Weihnachten gefeiert.« Die Kinder aber tuschelten und lachten und holten einen Blumentopf. Sie pflanzten den Ast hinein und bekränzten ihn mit Zuckerwerk, aufgeknackten Nüssen, Honigkuchen und Speckstückchen. Die alte Marie brummte; da aber die Mutter lachend zuguckte, musste sie schon klein beigeben. Sie stellte alles andre sicher und ließ den kleinen Naschtieren nur ihren Weihnachtsbaum.

Die Kinder aber jubelten, als sie am zweiten Feiertag den Mäusebaum geplündert vorfanden, und hätten gar zu gern auch ein Dankeschön von dem kleinen Volke gehört.

Das aber lag unter der Diele und verdaute. »Den guten Speck vergess ich mein Leblang nicht«, sagte Fellchen, und Grisegrau biss eine mitgebrachte Haselnuss entzwei; Kiek und Miek aber waren besorgt um ihre Kleinen, die hatten zu viel Pfefferkuchen gegessen, und ihr wisst, liebe Kinder, das tut nicht gut!

2.

Dezember

Hänsel und Gretel

Ludwig Bechstein

Es war einmal ein armer Holzhauer, der lebte mit seiner Frau und zwei Kindern in einer dürftigen Waldhütte. Die Kinder hießen Hänsel und Gretel, und wie sie so heranwuchsen, gebrach es immer mehr den armen Leuten an Brot. Auch wurde die Zeit immer schwerer und alle Nahrung teurer, das machte den beiden Eltern große Sorge. Eines Abends, als sie ihr hartes Lager gesucht hatten, seufzte der Mann: »Ach Frau, wie wollen wir nur die Kinder durchbringen, da der Winter herankommt und wir für uns selbst nichts haben!« Und da erwiderte die Mutter: »Keinen andern Rat weiß ich, als dass du sie in den Wald führst je eher je lieber, gibst jedem noch ein Stücklein Brot, machst ihnen ein Feuer an, befiehlst sie dem lieben Gott, und gehst hinweg.«

»Oh, lieber Gott! Wie soll ich das vollbringen an meinen eigenen Kindern, Frau?«, fragte der Holzhauer bekümmert. »Nun wohl, so lass es bleiben!«, fuhr die Frau böse heraus. »So kannst du eine Totenlade für uns alle viere zimmern, und die Kinder hungers sterben sehen!« Die zwei Kinder, welche der Hunger in ihrem Moosbettchen noch wach erhielt, hörten mit an, was die Mutter und der Vater miteinander sprachen, und das Schwesterlein begann zu weinen, Hänsel aber tröstete es und sprach: »Weine nicht, Gretel, ich helfe uns schon«; wartete, bis die Alten schliefen, wischte aus der Hütte, suchte im Mondschein weiße Steinchen, verbarg sie wohl und schlich wieder herein, worauf er und das Schwesterlein bald entschlummerten.

Am Morgen geschah nun, was die Eltern vorher besprochen. Die Mutter reichte jedem Kind ein Stück Brot und sagte: »Das ist für heute alles; haltet’s zu Rate.« Gretel trug das Brot, Hänsel trug heimlich seine Steinchen, der Vater hatte seine Holzaxt im Arm, die Mutter schloss das Haus zu und folgte mit einem Wasserkruge nach. Hänsel machte sich hinter die Mutter, sodass er der Letzte war auf dem Wege, guckte oft zurück nach dem Häuschen, und wie er es nicht sah, ließ er gleich ein weißes Steinchen fallen, und nach ein paar Schritten wieder eins, und so immer fort.

Nun waren alle mitten in dem tiefen Walde, und da machte der Vater ein Feuer an, wozu die Kinder des Reisigs viel herbeitrugen, und die Mutter sagte zu den Kindern: »Ihr seid wohl müde, jetzt legt euch an das Feuer und schlaft, indes wir Holz fällen, nachher kommen wir wieder und holen euch ab.«

Die Kinder schlummerten ein wenig, und als sie erwachten, stand die Sonne hoch im Mittag, das Feuer war abgebrannt, und da Hänsel und Gretel Hunger hatten, verzehrten sie ihr Stücklein Brot. Wer nicht kam, das waren die Eltern. Und nachher sind die Kinder wieder eingeschlafen, bis es dunkel wurde, da waren sie noch immer allein, und Gretel fing an zu weinen und sich zu fürchten. Hänsel tröstete sie aber und sagte: »Fürchte dich nicht, Schwester, der liebe Gott ist ja bei uns, und bald geht der Mond auf, da gehen wir heim.«

Und wirklich ging bald darauf der Mond in voller Pracht auf und leuchtete den Kindern auf den Heimweg und beglänzte die silberweißen Kieselsteine. Hänsel fasste Gretel bei der Hand und so gingen die Kinder miteinander fort ohne Furcht und ohne Unfall, und wie der frühe Morgen graute, da sahen sie des Vaters Dach durch die Büsche schimmern, kamen an das Waldhäuslein und klopften an. Wie die Mutter die Tür öffnete, erschrak sie ordentlich, als sie die Kinder sah, wusste nicht, ob sie schelten oder sich freuen sollte, der Vater aber freute sich, und so wurden die beiden Kinder wieder mit Gottwillkommen in das Häuslein eingelassen.

Es währte aber gar nicht lang, so wurde die Sorge aufs Neue laut und jenes Gespräch und der Beschluss, die Kinder in den Wald zu führen und sie dort allein und in des Himmels Fürsorge zu lassen, wiederholten sich. Wieder hörten die Kinder das traurige Gespräch mit an, bekümmerten Herzens, und der kluge Hänsel machte sich vom Lager auf, wollte wieder blanke Steine suchen, aber da war die Türe des Waldhäusleins fest verschlossen, denn die Mutter hatte es gemerkt und darum die Türe zugemacht. Doch tröstete Hänsel abermals das weinende Schwesterlein und sagte: »Weine nicht, lieb Gretel, der liebe Gott weiß alle Wege, wird uns schon den rechten führen.«

Am andern Morgen in der Frühe mussten alle aufstehen, wieder in den Wald zu wandern, und da empfingen die Kinder wieder Brot, noch kleinere Stücklein wie zuvor, und der Weg ging noch tiefer in den Wald hinein; Hänslein aber zerbröckelte heimlich sein Brot in der Tasche, und streute, statt jener Steine, Krümlein auf den Weg, meinte, danach sich mit dem Schwesterchen wohl zurückzufinden. Und nun geschah alles wie zuvor auch; ein großes Feuer wurde entzündet, und die Kinder mussten wieder schlafen, und wie sie aufwachten, waren sie allein, und die Eltern kamen nimmer wieder. Und der Mittag kam, und Gretel teilte ihr Stückchen Brot mit Hänsel, weil der seines verstreut in lauter Bröselein auf dem Weg, und dann schliefen sie wieder ein und erwachten abends verlassen und einsam. Gretel weinte, Hänsel aber war gottgetrost, meinte den Weg durch die Brotbröselein wohl zu finden, wartete, bis der Mond aufgegangen war, nahm dann die Gretel bei der Hand und sprach zu ihr: »Komm, Schwester, nun gehen wir heim.« Aber wie Hänsel die Krümlein suchte, war ihrer keines mehr da, denn die Waldvögelein hatten alle, alle aufgepickt und sie sich wohl schmecken lassen. Und da wanderten die Kinder die ganze Nacht durch den Wald, kamen bald vom Wege ab, verirrten sich und waren sehr traurig. Endlich schliefen sie ein auf weichem Moos, und erwachten hungrig, wie der Morgen graute, denn sie hatten keinen Bissen Brot mehr, und mussten ihren Durst und Hunger nur mit den schönen Waldbeeren stillen, die da und dort standen. Und wie sie so im Walde herumirrten, ohne Weg und Steg zu finden, siehe, da kam ein schneeweißes Vöglein geflogen, das flog immer vor ihnen her, als wenn es den Kindern den Weg zeigen wollte, und sie gingen dem Vöglein fröhlich nach. Mit einem Male sahen sie ein kleines Häuschen, auf dessen Dach das Vöglein flog; es pickte darauf, und wie die Kinder ganz nahe daran waren, konnten sie sich nicht genug freuen und wundern, denn das Häuschen bestand aus Brot, davon waren die Wände, das Dach war mit Eierkuchen gedeckt, und die Fenster waren von durchsichtigen Kandiszuckertafeln. Das war den Kindern recht, sie aßen vom Häusleindach und von einer zerbrochenen Fensterscheibe. Da ließ sich plötzlich drinnen eine Stimme vernehmen, die rief:

»Knusper, knusper, kneischen!

Wer knuspert mir am Häuschen?«

Darauf antworteten die Kinder:

»Der Wind, der Wind,

Das himmlische Kind!«,

und aßen weiter, denn sie waren sehr hungrig gewesen, und schmeckte ihnen ganz vortrefflich.

Da ging die Tür des Häusleins auf und trat ein steinaltes, krummgebücktes, triefäugiges Mütterlein heraus von nicht geringer Hässlichkeit, Gesicht und Stirne voll Runzeln und inmitten eine große, große Nase. Hatte auch grasgrüne Augen. Die Kinder erschraken nicht wenig, die Alte aber tat ganz freundlich und sagte: »Ei, traute Kindlein, kommt doch herein ins Häuschen, kommt doch herein! Da gibt’s noch viel bessern Kuchen!« Die Kinder folgten der Alten gerne, und drinnen trug die Alte auch auf, dass es eine Lust war. Da gab es Herz was magst du? Biskuit und Marzipan, Zucker und Milch, Äpfel und Nüsse, und köstlichen Kuchen. Und während die Kinder immerfort aßen und fröhlich waren, richtete die Alte zwei Bettchen zu von feinen Dunenkissen und lilienweißen Linnen, da hinein brachte sie die Kinder zur Ruhe, die meinten im Himmel zu sein, beteten einen frommen Abendsegen und entschliefen alsbald.

Es hatte aber mit der Alten ein gar schlimmes Bewenden. Sie war eine böse und garstige Hexe, welche die Kinder fraß, die sie durch ihr Brot und Kuchenhäuslein anlockte, nachdem sie sie erst recht fett gefüttert. Dies hatte sie auch mit Hänsel und Gretel im Sinne. In aller Frühe stand die Alte schon vor dem Bette der noch süß schlafenden Kinder, freute sich über ihren Fang, riss Hänsel aus dem Bette und trug ihn nach dem eng vergitterten Gänsestall, verstopfte ihm auch, damit er nicht schreie, den Mund. Dann weckte sie die arme Gretel mit Heftigkeit und schrie sie mit rauer Stimme an: »Steh auf, faule Dirne! Dein Bruder steckt im Stall, wir müssen ihm ein gutes Essen kochen, auf dass er fett wird und für mich einen guten Braten gibt!«

Da erschrak die Gretel zum Tode, weinte und schrie, half aber nichts, sie musste gehorchen und aufstehn, Essen kochen helfen, und durfte es selbst nach dem Stalle tragen, und mit ihrem eingesperrten Bruder weinen. Sie selbst ward von der Hexe gar gering gehalten. Das dauerte so eine Zeit, während welcher die Alte öfters nach dem Stalle schlich und Hänsel befahl, einen Finger durch das Gitter zu stecken, damit sie fühle, ob er fett werde. Hänsel aber steckte immer ein dürres Knöchelchen heraus, und sie verwunderte sich, dass der Junge trotz des guten Essens so mager blieb. Endlich war sie das müde und sprach zur Gretel: »Kurz und gut, heute wird er gebraten«, und machte ein mächtiges Feuer in den Backofen, der neben dem Häuschen stand, da schob sie hernach Brot hinein, damit sie Frischbackenes zum Braten habe. Das Gretel wusste seines Herzens keinen Rat, und endlich hieß ihm die alte Hexe sich auf die Schiebeschaufel zu setzen und in den Backofen zu lugen, die Alte wollte sie nur ein bissel in den Ofen schieben, damit die Gretel sehe, ob das Brot braun sei, eigentlich aber wollte sie das arme Mägdlein gleich zuerst darin braten.

Da kam aber das schneeweiße Vögelein geflogen und sang: »Hüt dich, hüt dich, sieh dich für!« Und da gingen der Gretel die Augen auf, dass sie der Alten böse List durchschaute und sagte: »Zeiget mir’s zuvor, wie ich’s machen muss, dann will ich’s tun.« Gleich setzte sich die Alte auf das Ofenbrett, und die Gretel schob am Stiel, und schob sie so weit in den Backofen, als der Stiel lang war, und dann klapp, schlug sie das eiserne Türlein vor dem Ofen zu, schob den Riegel vor, und da der Ofen noch erstaunlich heiß war, musste die alte Hexe drinnen brickeln und braten und elendiglich umkommen zum Lohn ihrer Übeltaten. Gretel aber lief zum Hänsel, ließ den aus dem Gänsestall, und der kam heraus und fiel vor Freude dem treuen Schwesterchen um den Hals, küssten sich und weinten vor Freude und dankten Gott.

Und da war das weiße Vöglein wieder da, und auch viele, viele andre Waldvöglein, die flogen auf das Kuchendach des Häusleins, darauf war ein Nest, und daraus nahm jedes Vöglein ein buntes Steinchen oder eine Perle, und trugen sie hin zu den Kindern, und Gretel hielt sein Schürzchen auf, dass es alle die vielen Steinchen fasse. Das schneeweiße Vöglein sang:

»Perlen und Edelstein,

Für die Brotbröselein.«

Da merkten die Kinder, dass die Vöglein dankbar dafür waren, dass Hänsel Brotkrumen auf den Weg gestreut hatte, und nun flog das weiße Vöglein wieder vor ihnen her, dass es ihnen den Weg aus dem Walde zeige. Bald kamen sie an ein mächtiges Wasser, da standen sie ratlos und konnten nicht weiter und nicht darüber. Plötzlich aber kam ein großer schöner Schwan geschwommen, dem riefen die Kinder zu: »Oh, schöner Schwan, sei unser Kahn!« Und der Schwan neigte seinen Kopf und ruderte zum Ufer, und trug die Kinder, eines nach dem andern, hinüber ans andre Ufer. Das weiße Vöglein aber war schon hinübergeflattert, und flog immer vor den Kindern her, bis sie endlich aus dem Walde kamen, wieder an der Eltern kleines Haus.

Der alte Holzhauer und seine Frau saßen traurig und still in dem engen Stüblein und hatten großen Kummer um die Kinder, bereuten auch viele tausendmal, dass sie dieselben fortgelassen, und seufzten: »Ach, wenn doch der Hänsel und die Gretel nur noch ein allereinziges Mal wiederkämen, ach, da wollten wir sie nimmermehr wieder allein im Walde lassen« – da ging gerade die Türe auf, ohne dass erst angeklopft worden wäre, und Hänsel und Gretel traten leibhaftig herein! Das war eine Freude! Und als nun vollends erst die kostbaren Perlen und Edelsteine zum Vorschein kamen, welche die Kinder mitbrachten, da war Freude in allen Ecken, und alle Not und Sorge hatte fortan ein Ende.

3.

Dezember

Weihnachtsmärchen vom Tannenbäumchen Waldgrüne

Heinrich Pröhle

Das Weihnachtsfest war nahe herangekommen, und aus dem Walde gingen viele Tannen in die Hauptstadt des Landes, bei dem schlechten Wege immer durch dick und dünn. Wenn jemand sie fragte: »Wo wollt ihr Tannen denn hin?«, so antworteten sie: »Wir wollen in die Stadt und den Herrn Christ loben.«

Ein ganz kleines Tannenbäumchen, das im Walde neben seiner Mutter stand, lief immer hinter seiner Mutter her, als diese sich auch zur Hauptstadt aufmachte, und folgte ihr immer nach wie ein Füllen der Stute oder ein junges Rehkalb der Hindin.

Als die Tannen des Abends im Dunkeln in der Hauptstadt angekommen waren, lagerten sie sich alle unter die Fenster des alten steinernen Schlosses, das sie von einer Seite her vor Wind und Wetter schützen sollte, und es war schön anzusehen, wie die vielen grünen Tannen da beieinanderlagen. Das kleine Tannenbäumchen aber, das sich neben seine Mutter gelegt hatte, fror gar sehr. Da kam der Wind und legte den Saum seines schneeweißen Mantels erst zu den Füßen der Tannen hin und breitete ihn dann ganz über sie aus.

Am andern Morgen aber kam ein Sonnenblick und deckte den schneeweißen Mantel wieder ab. Da rieb sich das kleine Tannenbäumchen vergnügt die Augen und sah verwundert die große, schöne Stadt. Aber bald wurde seine Freude getrübt, denn es kam ein Herr, der hieß sein Mütterlein mitgehen in sein Haus, das kleine Tannenbäumchen aber musste zurückbleiben, denn es war zum Weihnachtsbaume noch viel zu jung und zu klein.

Als nun der Weihnachtsmorgen kam, da ging das kleine Tannenbäumchen ganz einsam in den nassen Straßen der Hauptstadt umher und weinte. Da sah es aber sein Mütterlein in einem großen, schönen Saale stehen. Es hatte viele Lichter in der Hand, die glänzten gar herrlich, und das Mütterlein war anzusehen wie ein schöner Engel. Da freute sich das kleine Tannenbäumchen sehr und ging getrost weiter. Es stand aber in einem Hause eine kleine Puppe am Fenster, wie es eben Tag wurde. Die winkte dem kleinen Tannenbäumchen, dass es zu ihr heraufkäme, und fragte: »Wie heißt du, kleine Tanne?«

»Ich heiße Waldgrüne«, antwortete das Tannenbäumchen. »Und wie heißt du?«

»Ich heiße Kindchen-küss-mich«, antwortete die Puppe.

Da wurden die Puppe und das Tannenbäumchen gute Freunde und blieben lange, lange Zeit beisammen.

Die kleine Tanne aber wuchs sehr schnell heran, da sagte Kindchen-küss-mich endlich zu ihr: »Du bist so ein lang aufgeschossenes Ding geworden, dass ich mich schäme, noch mit dir über die Straße zu gehen; auch ist dir dein Röckchen aus grünen Zweigen viel zu kurz, es reicht dir ja noch lange nicht einmal bis ans Knie, so sehr hast du es verwachsen! Mir wäre das zwar einerlei, aber den Menschen fällt es doch sehr auf. Deswegen wäre das Beste, du gingest wieder zurück in den Wald.«

Da ging die Tanne wieder in den Wald. Dort aber war ihr Röcklein nicht zu kurz, sondern es war große Freude bei den andern Tannen, dass Waldgrüne wieder zugegen war.

4.

Dezember

Der glückliche Prinz

Oscar Wilde

Hoch über der Stadt stand auf einer hohen Säule die Statue des glücklichen Prinzen. Sie war über und über mit dünnen Blättchen von feinem Gold vergoldet, zwei glänzende Saphire hatte sie als Augen, und ein großer, roter Rubin glühte am Schwertknauf.

Er wurde wirklich viel bewundert.

»Er ist so schön wie ein Wetterhahn«, bemerkte einer der Stadträte, dem viel daran lag, als Kenner in Kunstdingen zu gelten. »Wenn auch nicht ganz so nützlich«, fügte er hinzu, aus Furcht, man könnte ihn für unpraktisch halten, was er wirklich und wahrhaftig nicht war.

»Warum nimmst du dir kein Beispiel an dem glücklichen Prinzen?«, fragte eine verständige Mutter ihren kleinen Buben, der weinte, weil er den Mond nicht haben konnte. »Dem glücklichen Prinzen fällt es nicht ein, zu weinen, wenn er etwas nicht kriegen kann.«

»Ich bin froh, dass es jemanden in der Welt gibt, der ganz glücklich ist«, murmelte ein enttäuschter Mann, der die wundervolle Bildsäule betrachtete.

»Er sieht just aus wie ein Engel«, sagten die Waisenkinder, die in ihren hellroten Mänteln und den reinlichen weißen Schürzen aus der Kathedrale kamen.

»Woher wisst ihr das«, sagte der Mathematikprofessor. »Da ihr nie einen Engel gesehen habt?«

»O doch, in unseren Träumen«, antworteten die Kinder; und der Mathematikprofessor runzelte die Stirn und blickte sehr finster drein, denn er hatte es nicht gern, wenn Kinder träumten.

Eines Nachts flog ein kleiner Schwälberich über die Stadt. Seine Freunde waren schon vor sechs Wochen nach Ägypten gezogen, aber er blieb zurück, denn er liebte das wunderschönste Rohr im Schilfe. Zeitig im Frühjahr hatte er es erblickt, als er den Fluss hinunterflog, hinter einer dicken, gelben Motte her, und die schlanke Taille des Rohrs hatte ihm so gefallen, dass er stehen blieb, um mit ihm zu plaudern.

»Soll ich dich lieben?«, sagte der Schwälberich, der gerne geradeswegs auf sein Ziel losging, und das Rohr machte ihm eine tiefe Verbeugung. So flog er rund um das Rohr herum und berührte das Wasser mit seinen Flügeln und zeichnete silberne Kreise hinein. So machte er ihm den Hof, und das dauerte den ganzen Sommer hindurch.

»Es ist ein lächerliches Verhältnis!«, zwitscherten die anderen Schwalben. »Das Rohr hat kein Geld und viel zu viel Verwandtschaft.«

Und in der Tat war der ganze Fluss voll Schilf. Und als dann der Herbst kam, flogen alle Schwalben davon.

Als sie fortgeflogen waren, fühlte sich das Schwälbchen sehr einsam und begann seinen Minnedienst etwas langweilig zu finden. »Es plaudert sich schlecht mit ihm, und ich fürchte sehr, dass es kokett ist, denn es flirtet immer mit dem Wind.« Tatsache war, dass das Rohr, sooft der Wind blies, die graziösesten Verbeugungen machte. »Ich gebe zu, dass es häuslich ist«, fuhr das Schwälbchen fort. »Aber ich liebe das Reisen, und mein Weib muss also auch das Reisen ebenfalls gern haben.«

»Willst du mit mir kommen?«, sagte das Schwälbchen endlich zu ihm; aber das Rohr schüttelte den Kopf, denn es hing zu sehr an seiner Heimat.

»Du hast deinen Scherz mit mir getrieben«, schrie das Schwälbchen. »Ich reise zu den Pyramiden. Leb wohl!« Und das Schwälbchen flog fort.

Den ganzen Tag flog es, und als die Nacht hereinbrach, kam es zur Stadt. »Wo soll ich absteigen?«, sagte es. »Ich hoffe, die Stadt hat Empfangsvorbereitungen getroffen!«

Dann sah das Schwälbchen die Statue auf der hohen Säule.

»Hier will ich absteigen!«, rief es aus. »Das ist ein schönes Plätzchen, und frische Luft gibt es hier genug.« Und es ließ sich nieder, gerade zwischen den Füßen des glücklichen Prinzen.

»Ich habe ein goldenes Schlafzimmer«, sagte das Schwälbchen leise zu sich selbst, wie es sich umsah, und es bereitete sich zum Schlafen vor. Aber gerade als es seinen Kopf unter die Flügel stecken wollte, fiel ein schwerer Wassertropfen nieder. »Wie seltsam!«, rief das Schwälbchen aus. »Am Himmel steht keine einzige Wolke, die Sterne sind ganz hell und klar, und doch regnet es. Das Klima im nördlichen Europa ist wirklich schrecklich. Das Rohr liebte ja den Regen, aber das war nichts als Egoismus.«

Ein zweiter Tropfen fiel.

»Zu was ist die Bildsäule denn nütze, wenn sie nicht den Regen abhalten kann«, sagte es. »Ich schaue mich lieber nach einem guten Schornstein um!« Und das Schwälbchen beschloss, fortzufliegen.

Aber bevor es seine Flügel geöffnet hatte, fiel ein dritter Tropfen, und es blickte empor und sah – ach, was sah es?

Die Augen des glücklichen Prinzen waren voller Tränen, und die Tränen rollten nieder an den goldenen Wangen. Und sein Gesicht war so schön im Mondlicht, dass das Schwälbchen tiefes Mitleid empfand.

»Wer bist du?«, fragte es.

»Ich bin der glückliche Prinz.«

»Warum weinst du dann?«, fragte das Schwälbchen. »Ich bin schon ganz durchnässt.«

»Als ich noch lebte und ein menschliches Herz besaß«, antwortete die Statue, »wusste ich nicht, was Tränen sind, denn ich lebte im Palast Sanssouci, dessen Schwelle die Sorge nicht betreten darf. Tagsüber spielte ich mit meinen Gefährten im Garten, und am Abend führte ich den Tanz an in der großen Halle. Rings um den Garten lief eine sehr hohe Mauer, aber ich kümmerte mich nicht darum, was hinter der Mauer lag, denn alles um mich her war eitel Schönheit. Meine Hofleute nannten mich den glücklichen Prinzen, und ich war wirklich glücklich, wenn Vergnügen Glück bedeutet. So lebte ich, und so starb ich. Und nun, da ich gestorben bin, haben sie mich hier so hoch hinaufgestellt, dass ich alle Hässlichkeit und all das Elend meiner Stadt sehen kann, und obzwar mein Herz aus Blei ist, kann ich nichts anderes tun als weinen.«

»Schau, er ist nicht durch und durch aus Gold«, sprach das Schwälbchen zu sich selbst. Aber es war doch zu höflich, um laut irgendeine persönliche Bemerkung zu machen.

»Weit von hier«, fuhr die Bildsäule mit einer tiefen, klangvollen Stimme fort, »weit von hier steht ein armes Häuschen in einer kleinen Straße. Eines der Fenster ist offen, und ich kann eine Frau sehen, die an einem Tisch sitzt. Ihr Gesicht ist schmal und verhärmt, und sie hat raue, rote Hände, ganz zerstochen von der Nadel, denn sie ist eine Näherin. Sie stickt für die lieblichste von den Ehrendamen der Königin Passionsblumen auf ein Seidengewand, das sie auf dem nächsten Hofball tragen soll. In einem Bett in einer Ecke des Zimmers liegt ihr kleiner Bub krank. Ihn schüttelt das Fieber, und er möchte Apfelsinen haben. Seine Mutter aber kann ihm nichts geben als Wasser aus dem Fluss, und so weint er. Schwälbchen, Schwälbchen, kleines Schwälbchen, willst du ihr den Rubin aus meinem Schwertgriff bringen? Meine Füße sind auf dem Piedestal festgemacht, und ich kann mich nicht bewegen.«

»Man erwartet mich in Ägypten«, sagte das Schwälbchen. »Meine Freunde fliegen den Nil auf und ab und sprechen mit den großen Lotosblumen. Bald werden sie schlafen gehen im Grab des großen Königs. Der König liegt selbst dort in einer gemalten Truhe. Er ist in gelbes Linnen gehüllt und einbalsamiert mit Spezereien. Um seinen Hals liegt eine Kette von blassem, grünem Nephrit, und seine Hände gleichen welken Blättern.«

»Schwälbchen, Schwälbchen, kleines Schwälbchen«, sagte der Prinz. »Willst du nicht eine Nacht für mich verweilen und mein Bote sein? Der Knabe hat so großen Durst, und die Mutter ist so traurig.«

»Weißt du, ich liebe Buben nicht«, antwortete das Schwälbchen. »Als ich im letzten Sommer am Fluss wohnte, waren zwei rohe Buben dort, die Söhne des Müllers, und die warfen immer Steine nach mir. Natürlich trafen sie mich nicht. Wir Schwalben fliegen viel zu schnell, und überdies stamme ich aus einer Familie, die wegen ihrer Flinkheit berühmt ist. Trotzdem war es ein Zeichen mangelnden Respekts.«

Aber der glückliche Prinz blickte so traurig drein, dass das Schwälbchen betrübt wurde. »Es ist zwar kalt hier«, sagte es. »Aber ich will eine Nacht für dich verweilen und dein Bote sein.«

»Ich danke dir, kleine Schwalbe«, sagte der Prinz.

Und die Schwalbe pickte den großen Rubin aus dem Schwert des Prinzen und nahm den Stein in ihren Schnabel und flog damit über die Dächer der Stadt.

Sie flog am Turm der Kathedrale vorbei, wo die weißen Marmorengel stehen, sie flog vorbei am Palast und hörte Tanz und Musik. Ein schönes Mädchen kam mit dem Geliebten auf den Balkon heraus. »Wie wundervoll die Sterne sind«, sagte er zu ihr. »Und wie wundervoll die Macht der Liebe ist!«

»Ich hoffe, mein Kleid wird für den Hofball rechtzeitig fertig sein«, antwortete sie. »Ich habe Passionsblumen hineinsticken lassen, aber die Schneiderinnen sind so faul.«

Sie flog über den Fluss und sah die Laternen an den Masten der Schiffe hängen. Sie flog über das Getto und sah die alten Juden miteinander handeln und sah, wie sie Geld in kupfernen Schalen wogen. Dann kam sie zu dem armen Häuschen und schaute hinein. Der Knabe hustete fieberisch in seinem Bett, und die Mutter war vor Müdigkeit eingeschlafen. Sie hüpfte ins Zimmer und legte den großen Rubin auf den Tisch just neben den Fingerhut der Frau. Dann flog sie mit leichtem Flügelschlag um das Bett herum, und ihre Flügel fächelten die Stirne des Knaben. »Ach, die Kühle«, sagte das Kind. »Jetzt wird mir gewiss besser.« Und der Knabe sank in einen erquickenden Schlaf.

Dann flog das Schwälbchen zurück zum glücklichen Prinzen und erzählte ihm, was es getan hatte. »Es ist seltsam«, fügte es hinzu. »Aber nun ist mir ganz warm, obwohl es so kalt ist.«

»Das kommt daher, weil du eine gute Tat getan hast«, sagte der Prinz. Und das kleine Schwälbchen begann nachzudenken, und dann schlief es ein. Denken machte es immer schläfrig.

Als der Tag anbrach, flog es zum Fluss und nahm ein Bad. »Welch ein seltsames Phänomen«, sagte der Professor der Ornithologie, der gerade über die Brücke ging. »Eine Schwalbe im Winter!« Und er schrieb darüber einen langen Bericht an das Lokalblatt. Jedermann sprach davon, aber der Bericht war so voll Gelehrsamkeit, dass niemand ihn recht verstand.

»Heute Nacht gehe ich nach Ägypten«, sagte das Schwälbchen, und es war höchst vergnügt bei dieser Aussicht. Es besuchte alle öffentlichen Monumente und saß lange Zeit auf der Spitze des Kirchturms. Wohin es kam, zwitscherten die Sperlinge und sagten zueinander: »Welch ein vornehmer Fremdling!« Das freute das Schwälbchen sehr.

Als der Mond aufging, flog es zurück zum glücklichen Prinzen. »Hast du was zu bestellen in Ägypten?«, rief es ihm zu. »Ich reise jetzt!«

»Schwälbchen, Schwälbchen, kleines Schwälbchen«, sagte der Prinz. »Willst du nicht noch eine Nacht bei mir bleiben?«

»Man erwartet mich in Ägypten«, antwortete das Schwälbchen. »Morgen werden meine Freunde bis zum zweiten Katarakt fliegen. Dort liegt das Nilpferd im hohen Ried, und auf einem großen granitnen Thron sitzt der Gott Memnon. Die ganze Nacht blickt er zu den Sternen, und wenn der Morgenstern erscheint, stößt er einen Freudenschrei aus, und dann ist er stumm. Und zu Mittag kommen die gelben Löwen ans Wasser. Sie haben Augen wie grüne Berylle, und ihr Brüllen ist lauter als das Brüllen des Katarakts.«

»Schwälbchen, Schwälbchen, kleines Schwälbchen«, sagte der Prinz. »Weit, weit am andern Ende der Stadt sehe ich einen jungen Mann in einer Dachstube. Er sitzt an einem Schreibtisch, der über und über mit Papieren bedeckt ist, und in einem Glas neben ihm steckt ein Strauß verwelkter Veilchen. Sein Haar ist braun und lockig, und seine Lippen sind rot wie ein Granatapfel, und er hat große, verträumte Augen. Er versucht, an einem Stück für den Theaterdirektor zu arbeiten, aber er kann vor Kälte nicht mehr schreiben. Im Kamin ist kein Feuer, und der Hunger hat ihn schwach gemacht.«

»Ich will noch eine Nacht für dich verweilen«, sagte das Schwälbchen, das wirklich ein gutes Herz hatte. »Soll ich ihm auch einen Rubin bringen?«

»Ach, ich habe keinen Rubin mehr«, sagte der Prinz, »meine Augen sind alles, was ich noch habe. Sie sind aus kostbaren Saphiren gemacht, die man vor vielen Tausend Jahren aus Indien gebracht hat. Picke eines meiner Augen aus und bringe es ihm. Er wird es zu einem Juwelier tragen und sich Nahrung und Holz dafür kaufen und sein Stück vollenden.«

»Teurer Prinz«, sagte das Schwälbchen. »Das kann ich nicht tun!« Und es begann zu weinen.

»Schwälbchen, Schwälbchen, kleines Schwälbchen«, sagte der Prinz. »Tu, wie ich dir befehle.«

Da pickte das Schwälbchen dem Prinzen das Auge aus und flog damit zur Dachkammer des Studenten. Es war leicht, hineinzukommen, denn im Dache war ein Loch. Durch dieses Loch schoss es herein und kam so ins Zimmer. Der junge Mann hatte seinen Kopf in den Händen vergraben, und so hörte er nicht das Flattern der Flügel, und als er aufsah, fand er den schönen Saphir auf den verwelkten Veilchen.

»Man beginnt mich zu schätzen«, rief er aus. »Dieser Stein kommt von irgendeinem meiner Bewunderer. Nun kann ich mein Stück vollenden!« Und er blickte ganz glücklich drein.

Am nächsten Tage flog das Schwälbchen zum Hafen hinunter, setzte sich auf den Mast eines großen Schiffes und sah zu, wie die Matrosen große Kisten an Seilen aus dem Schiffsraum hervorholten. »Ahoi!«, schrien sie, sooft eine Kiste hervorkam. »Ich reise nach Ägypten«, rief das Schwälbchen, aber niemand kümmerte sich darum, und als der Mond aufging, flog es zurück zu dem glücklichen Prinzen.

»Ich komme, um dir Lebewohl zu sagen«, rief es ihm zu.

»Schwälbchen, Schwälbchen, kleines Schwälbchen, willst du nicht noch eine Nacht bei mir bleiben?«

»Es ist Winter«, antwortete das Schwälbchen. »Und der kalte Schnee wird bald da sein. In Ägypten ist die Sonne warm, und die Palmbäume sind grün, und die Krokodile liegen im Schlamm und blicken faul um sich. Meine Genossen bauen sich ein Nest im Tempel von Baalbek, und rote und weiße Tauben schauen zu und gurren. Mein teurer Prinz, ich muss dich verlassen, aber ich werde dich nie vergessen, und im nächsten Frühjahr bringe ich dir zwei schöne Juwelen mit anstelle derer, die du weggegeben hast. Der Rubin wird röter sein als eine rote Rose, und der Saphir wird so blau sein wie das weite Meer.«

»Unten auf dem Platz«, sagte der glückliche Prinz, »steht ein kleines Zündholzmädchen. Sie hat ihre Zündhölzchen in die Gosse fallen lassen, und nun sind sie alle hin. Ihr Vater wird sie schlagen, wenn sie kein Geld nach Hause bringt, und sie weint. Sie hat nicht Schuhe noch Strümpfe, und ihr kleiner Kopf ist bloß. Picke mein anderes Auge aus, und gib es ihr, und ihr Vater wird sie nicht schlagen.«

»Ich will für dich noch eine Nacht verweilen«, sagte das Schwälbchen. »Aber ich kann dein anderes Auge nicht auspicken. Dann wärest du ja ganz blind.«

»Schwälbchen, Schwälbchen, liebes Schwälbchen«, sagte der Prinz. »Tu, was ich dir befehle.«

Da pickte das Schwälbchen dem Prinzen das andere Auge aus und flog damit nieder. Es schoss an dem Zündholzmädchen vorbei und ließ das Juwel in ihre Hand fallen. »Welch ein entzückendes Stückchen Glas!«, rief das kleine Mädchen und lief lachend nach Hause.

Dann kam das Schwälbchen zurück zum Prinzen. »Nun bist du blind«, sagte es. »Und darum werde ich immer bei dir bleiben.«

»Nein, kleines Schwälbchen«, sagte der Prinz. »Du musst fort nach Ägypten.«

»Ich will immer bei dir bleiben«, sagte das Schwälbchen, und schlief zu des Prinzen Füßen.