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Warum erzeugt Gewalt wieder Gewalt? Warum geraten manche Menschen immer wieder in destruktive Paarbeziehungen, sei es als Opfer oder als Täter? Wie die Spirale der Gewalt in Gang gesetzt und aufrechterhalten wird, zeigt dieses Buch in differenzierter Weise. Gewalt in Paarbeziehungen ist ein ebenso weit verbreitetes wie tabuisiertes Phänomen in unserer »zivilisierten« Gesellschaft. Einer großen Untersuchung nach hat jede vierte Frau schon einmal tätliche Übergriffe ihres Partners erfahren müssen. Und auch Männer haben offenbar reichlich unter häuslichen Aggressionen zu leiden; verbale und psychische Attacken überwiegen in diesem Fall die rein physische Gewalt. Das Buch beschäftigt sich mit der Entstehung und mit den Auswirkungen destruktiver Beziehungsmuster. Es zeigt, wie aus selbst erlebter Gewalt oder Vernachlässigung mit dem zentralen Gefühl der eigenen Machtlosigkeit Übergriffshandlungen auf spätere nahe Bezugspersonen hervorgehen. PsychotherapeutInnen und psychologische BeraterInnen, die mit einzelnen Klienten oder mit Paaren arbeiten, sollten die Mechanismen intimer Gewalt kennen, um wirksam behandeln oder beraten zu können.
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Seitenzahl: 336
Jochen Peichl
Destruktive Paarbeziehungen
Das Trauma intimer Gewalt
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Klett-Cotta
© 2013 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-89074-7
E-Book: ISBN 978-3-608-10389-2
Dieses E-Book entspricht der aktuellen Ausgabe der Printausgabe.
1. Destruktive Paargewalt: Zwischen ohnmächtiger Wut und wütender Ohnmacht
2. Gewalt in Paarbeziehungen
2.1 Zwei Arten von Gewalt
2.1.1 Situative Paargewalt
2.1.2 Patriarchale Gewalt
2.1.3 Weitere Formen von Gewalt in Paarbeziehungen
2.2 Was bedeuten Gewalt und Kontrolle?
2.3 Ist Gewalt immer »männlich«?
3. Die Spirale der Gewalt
3.1 Lenore Walker: Das Syndrom der geschlagenen Frau
3.2 Kritik am »battered woman syndrome«
3.3 Gewaltdynamik in Paarbeziehungen: auf der Suche nach den pathologischen Mustern auf beiden Seiten
4. Die Erweiterung der Gewaltspirale: geschlechtsspezifische Muster
4.1 Männer in der Gewaltspirale
4.2 Die Beeinflussung des Ablaufs der Gewaltspirale durch die Frau
5. Der Mann als Gewalttäter: verschiedene Täterprofile
5.1 Die Untergruppen: deskriptive Dimensionen nach Holtzworth-Munroe und Stuart
5.2 Entwicklungsmodell der verschiedenen Untergruppen von männlichen Gewalttätern
5.3 Die Anwendung des Entwicklungs-Modells auf die vorgeschlagenen Untergruppen von Schlägern
5.3.1 Die Wechselwirkung von distalen und proximalen Faktoren
5.3.2 Die einzelnen Untergruppen der Schläger: mögliche Ursachen
5.3.3 Zu den Motiven männlicher Täter
6. Die Frau als Gewalttäterin in der Intimbeziehung: Ein unvollständiges Mosaik
6.1 Patricia Pearson
6.2 Erin Pizzey
6.3 Frauengewalt, diesseits des familiären Terrorismus
7. Unterscheiden sich die Aggressionen von Frauen und Männern?
7.1 Wütende Männer, wütende Frauen
7.2 Geschlechtsspezifische Muster der Kommunikation
7.3 Das »Frau-fordert – Mann-zieht-sich-zurück«-Muster
8. Der Kreislauf von Liebe und HassTeil 1: Vom Spannungsaufbau bis zum großen Knall
8.1 Die Spirale der Gewalt: eine psychodynamische Sicht
8.2 Die Spannungsaufbauphase: eine Beschreibung des Kampffeldes
8.3 »Du verstehst mich nicht«: Jeder hat eigene Aktien im Spiel
8.3.1 Das Selbstwertthema aus Sicht des Mannes
8.3.2 Weiblicher Narzissmus
8.3.3 Die Dynamik der Borderline-Struktur
8.4 Wie Gewalttätigkeit ausbricht: Beschreibung einer allgemeinen Dynamik
9. Der Kreislauf von Liebe und HassTeil 2: Von der Explosion über die Scham und Schuldsuche zur Liebe
9.1 Reue und Manipulationsphase
9.2 Die Liebe kehrt zurück: die Honeymoon-Phase
10. Die destruktive Paarbindung: Warum ist sie so stabil?
10.1 Psychoanalytische Erklärungsmodelle
10.1.1 Probleme mit der Befreiung aus der weiblichen Opferrolle
10.1.2 Die Projektion männlicher Minderwertigkeit in die Frau als Opfer
10.2 Traumatische Bindung: Eine neurobiologische Perspektive des Problems
10.2.1 Die Theorie der Spiegelneurone
10.2.2 Psychobiologie des Traumas
10.2.3 Die Bindungstheorie
10.2.4 Die strukturelle Dissoziationstheorie
10.3 Frühe Traumaerfahrung als zäher Kitt in gewalttätigen Bindungen von Erwachsenen
11. Stress und Partnerschaft oder »Romeo und Julia streiten«
11.1 Die Geschichte von Romeo und Julia
11.2 Eine psychodynamische Sicht
11.3 Die Reaktion des autonomen Nervensystems auf Bedrohung: eine neurobiologische Perspektive
11.3.1 Das Frühwarnsystem
11.3.2 Achtung Gefahr: fliehen oder kämpfen?
11.3.3 Gewalttätigkeit und Erstarrung
11.3.4 Bindung – Liebe – Honeymoon
Dank
Verwendete Abkürzungen
Literatur
Edward: »Und was passiert, nachdem der Prinz die Prinzessin aus dem Turm gerettet hat?«Vivian: »Die Prinzessin rettet daraufhin den Prinzen.«
Julia Roberts und Richard Gere in »Pretty Woman«
Unter der Überschrift: »Ein tagelanges Martyrium?, 36-Jähriger angeklagt, weil er seine Freundin gequält haben soll«, schreibt die Gerichtsreporterin Gudrun Bayer in den Nürnberger Nachrichten vom 26. Juni 2007: »Geschlagen, gefesselt, in der Wohnung eingesperrt und vergewaltigt soll ein 36-Jähriger seine zehn Jahre jüngere Freundin haben. Zum gestrigen Auftakt des mindestens zweitägigen Prozesses schwieg er.«
Typisch Mann, hätte ich früher gedacht, und die Beschreibung hätte mich sofort mit dem Opfer mitfühlen lassen; der Täter, der Mann, hätte bei mir nur Abscheu und wenig Lust auf psychologische Einfühlung mobilisiert. Das Ende des Artikels war dann wieder etwas verblüffend: auch vorher habe er sie schon geschlagen, sagt die 26-Jährige dem Richter, der dann fragt, warum sie die Beziehung zu dem Zeitpunkt nicht beendet habe. Antwort: »Ich habe ihn geliebt.«
Dass Gewalt von Männern und Vätern ausgeht, so hatte ich in meiner 68er-Sozialisation in der Auseinandersetzung mit den Kriegsvätern gelernt und in meinen Psychotherapieausbildungen in Veranstaltungen mit einer Überzahl von Frauen unwidersprochen akzeptiert. Männliche Gewalt präge einseitig die Dynamik häuslicher Sozialisation – ich hatte den Prototyp des strengen Vaters, des strafenden Lehrers und auch des gewalttätigen, prügelnden Ehemanns in meinem männlichen Beziehungsrepertoire verinnerlicht. Die Frauen waren mehr oder weniger mütterlich, liebevoll und auch klug, aber niemals gewalttätig. Und wenn es zum Krieg kam, in diesem Nahbereich zwischen Tisch und Bett, dann stand die Diagnose von vornherein eindeutig fest: Die Männer waren die Täter und die Frauen die Opfer.
Je mehr durch die feministische Bewegung in den USA und Deutschland das Thema des sexuellen Missbrauchs von Kindern enttabuisiert wurde, umso genauer wurde zwar unser Blick auf die traumatisierenden Männer innerhalb und außerhalb der Familie, aber im Nebenblick auch auf die Frauen, die entweder das Geschehen zuließen, nicht eingriffen oder aber selbst, in einem erheblichen Maße, an körperlicher Misshandlung von Kindern in Familien beteiligt waren. Ein weiterer wichtiger Punkt war, dass die gewohnte kausal-lineare Sichtweise, wie sie in der humanistischen Psychotherapieausbildung überwiegend als Denkschablone angeboten wurde, Schritt für Schritt durch eine eher zirkuläre, systemische Sicht in den 1980er-Jahren infrage gestellt wurde. Mit dieser Perspektive wurde es immer schwieriger, »den Täter« und »das Opfer« direkt und überzeugungssicher zu markieren, ohne sich den Kontext anzuschauen. Was mich selbst angeht, so nahm mir das Angebot von Hans-Joachim Lenz, in seinem Buch: »Männliche Opfererfahrungen«, einen Beitrag aus der Sicht des Psychoanalytikers zu schreiben und an einem geplanten Symposium 1997 teilzunehmen, einen letzten Rest an Orientierung. Ich war gezwungen, mich mit der Tatsache, dass Männer auch Opfer und Frauen auch Täterinnen waren, auseinanderzusetzen und auch damit, warum ich – wie viele andere um mich herum – dieses so lange einfach verleugnet hatten. Damals schrieb ich: »Die eigene therapeutische Arbeit in den Dienst weiblicher Gewaltopfer zu stellen, war für uns männergruppenerfahrene Männer sicher auch eine Möglichkeit, mit den eigenen gewalttätigen Fantasien fertig zu werden und uns so mit der guten mütterlichen Seite zu identifizieren. Wir waren Anwalt der Schwachen und somit unverdächtig« (2000, S. 309).
Bei intensiver Beschäftigung mit dem Thema fiel mir in den Folgejahren immer deutlicher auf, dass es ein Hellfeld1 der in Polizeistatistiken, Verbrechensstudien und Krankenhaus- und Gerichtsakten gezählten Gewalttaten im Nahraum gab, die die Zahlen eindeutig erscheinen ließen und meine bisherige Annahme der männlichen Täterschaft bestätigte. Hellfelddaten spiegeln aber nur denjenigen Teil häuslicher Gewalt wider, der staatlichen und nicht staatlichen Institutionen (z. B. Beratungsstellen, Frauenhäuser) bekannt wird, Fälle, bei denen das Opfer den Schritt in die Öffentlichkeit gewagt hat oder wo die Folgen der Tat so verheerend waren, das eine Verheimlichung nicht möglich war (schwere Verletzungen, Straftaten).
Daneben fanden sich aber die sogenannten Familienkonfliktstudien, die für die Zahlenerhebungen nicht die aktenkundigen Fälle, sondern repräsentative Statistiken und Populationsbefragungen mittels Fragebogen oder Interview heranzogen, und die ergaben ein abweichendes Bild. Abgesehen von den schweren und brutalen Gewalttaten mit hohem Verletzungsund Mortalitätsrisiko in intimen Paarbeziehungen, die weiterhin männerdominiert blieben, gab es einen weiten Bereich »mittlerer Gewalt«, bei dem die meisten empirischen Untersuchungen insgesamt eine ungefähr gleich große Rate der Gewaltanwendung von Frauen und Männern in Lebensgemeinschaften und auch bei nicht zusammenlebenden Paaren ergaben. Dabei wurde unter anderem vermutet, dass die Dunkelziffer bei männlichen Opfern weiblicher Gewalt höher sein könnte als für den umgekehrten Fall, weil männliche Opfer häuslicher Gewalt weniger ernst genommen würden und deshalb die Hemmschwelle, sich als Opfer gegenüber Polizei und Hilfsdiensten zu »outen«, vergleichsweise hoch sei. Dieses bestätigt auch eine Untersuchung von Ute Gabriel und Kolleginnen, die Geschlechtsunterschiede bei der moralischen Beurteilung von häuslicher Gewalt bei Studierenden untersuchten (2007). Ein Ergebnis war, dass häusliche Gewalt, die von einer Frau ausging, milder beurteilt wurde, als wenn diese von einem Mann ausgeübt wurde. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass sich die Frage nach dem Tätergeschlecht bei häuslicher Gewalt »nicht auf die Frage nach dem ›Wer verhält sich wie häufig und mit welchen Konsequenzen wem gegenüber aggressiv?‹ begrenzen lässt: Die Wahrnehmung und Interpretation sozialen Geschehens wird wesentlich von unseren ggf. stereotypen Erwartungen beeinflusst« (S. 50). Die Wahrnehmung aggressiven Verhaltens von Frauen in intimen Paarbeziehungen unterlag in den letzten Jahrzehnten diesem Blick und wurde entweder bagatellisiert oder aus einer männlichen Perspektive bewertet (siehe dazu Cizek et al. 2001, S. 271 ff.).
Je mehr man bereit ist, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, und die von Frauen und Müttern zu verantwortende Gewalt ins eigene Blickfeld gerät und zu einer Stellungnahme herausfordert, umso mehr bemerkt man die zum Teil erbitterte Auseinandersetzung in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion. Bei dem Streit geht es um die Bewertung von Gewalt in der Mann-Frau-Beziehung und ihre gesellschaftlichen Konsequenzen. Die häufig teils giftige und entwertend aufgeladene Stimmung bis in die jüngste Vergangenheit hinein ließ Unterschiede im wissenschaftlichen Diskurs zu Ideologiefragen verkommen, die dem Gegner, der Gegnerin wie ein nasses Handtuch um die Ohren gehauen wurde. Das Thema »Gewalt, die von Frauen ausgeübt wird« hatte eine erstaunliche Potenz, eine anwesende Gesprächsrunde zu spalten, nicht nur auf Tagungen, sondern auch im Freundeskreis.
Die meisten Kritikerinnen einer Geschlechtssymmetrie situativer Gewalt befürchteten, dass durch diese Diskussion das »eigentliche Problem, die patriarchale Gewalt von Männern gegen Frauen«, in dieser Gesellschaft relativiert werden könnte. Aber können wir nicht über das eine Tabuthema, die Ausübung von Macht durch Frau und Mann in intimen Paarbeziehungen, reden, ohne männliches Dominanzgebaren und Neigung zur grandiosen Selbstüberschätzung, dort, wo sie sichtbar und destruktiv wird, offen zu benennen? Diese beschriebene Galligkeit war noch in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts deutlich zu spüren, in den letzten Jahren scheinen mir die Empfindsamkeit auf beiden Seiten etwas relativiert und die Fronten abgerüstet.
Zuerst einmal ein Blick auf die Fakten zum Thema »Häusliche Gewalt«, die streng genommen bis heute gar keine ganz verlässlichen Fakten sind, denn in ihnen spiegeln sich nach wie vor die expliziten und impliziten Vorannahmen, Glaubensüberzeugungen und Herangehensweisen an das Thema wider.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFFSJ) veröffentlichte 2005 eine Studie zur Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland, die sich neben der allgemeinen Gewaltbelastung von Frauen in der Gesellschaft in einem großer Teil der repräsentativen Studie mit dem Gewalterleben in Paarbeziehungen beschäftigte. Aufgrund der erhobenen Zahlen wurde deutlich, dass die Einschätzung der Gewaltbelastung in Paarbeziehungen in Deutschland in den letzten Jahren als viel zu niedrig angesetzt wurde. Nicht jede fünfte2 bis siebte, sondern jede vierte Frau gab an, mindestens schon einmal von ihrem Partner körperlich angegriffen worden zu sein, ein Wert, der sich mit den vergleichbaren Studien in den USA deckt. Von diesen gewaltbelasteten Frauen gab eine Untergruppe von 30 Prozent an, dass sie diese Gewalt 10bis 40-mal erlitten hatte – das sind ca. 8% aller befragten Frauen. Zusätzlich gaben 7% der Frauen an, Opfer sexueller Übergriffe durch ihren Partner geworden zu sein, 60% sagten aus, durch die Gewalthandlungen ihres Partners verletzt worden zu sein: genannt wurden blaue Flecken und Prellungen (90% der Fälle), offene Wunden (20%), Kopfverletzungen (ca. 18%), vaginale Verletzungen (10%), Fehlgeburten (etwa 4%) und innere Verletzungen (3%). Am häufigsten wurden blaue Flecken und Prellungen in Kombination mit anderen Verletzungen genannt, und das in knapp 59% der Fälle.
Für unser Thema interessant ist der Befund der Studie, dass dort, wo in einem höheren Maß psychische Gewalt, Dominanz und Kontrolle in Paarbeziehungen ausgeübt wird, die Wahrscheinlichkeit von körperlicher und sexueller Gewalt ebenfalls hoch ist, und dass andersherum in durch körperliche und sexuelle Gewalt belasteten Paarbeziehungen auch häufiger psychische Gewalt ausgeübt wird. Tendenziell fand sich eine höhere Gewaltbelastung im Leben von Frauen in der Bevölkerungsgruppe mit niedrigem Bildungsstand; danach hatten 45% der gewalttätigen Partner keinen oder einen niedrigen Schulabschluss. Demgegenüber konnte kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Nettoeinkommen des gewalttätigen Partners und der Ausübung von Gewalt gegen die Partnerin festgestellt werden.
Des Weiteren wird im Begleitheft zur Ausstellung »Gegen Gewalt in Paarbeziehungen« des Landeskriminalamtes Niedersachsen3 eine Evaluationsstudie des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) vom April 2004 vorgestellt, für die die Daten der Polizei zu häuslicher Gewalt aus dem polizeilichen Hellfeld ausgewertet wurden, also hinsichtlich der Fälle von intimer Gewalt, die der Polizei zur Kenntnis gelangt waren. Danach waren 90% aller Opfer weiblich4, über 97% der weiblichen Geschädigten wurden Opfer eines männlichen Täters. Bei den männlichen Opfern waren 50% der TäterInnen Männer und 50% Frauen (ebenda wie Fußnote 3, S. 122).
Nachdem in den letzten Jahren deutlich wurde, wie wenige Aussagen zur Gewaltbelastung von Männern vorlagen, gab das BMFSFJ die Pilotstudie »Gewalt gegen Männer in Deutschland« in Auftrag, die von Ludger Jungnitz, Hans-Joachim Lenz und anderen durchgeführt wurde (2002 – 2004)5.
Einschränkend muss gesagt werden, dass die in der quantitativen Untersuchung befragten Männer zwar repräsentativ ausgewählt wurden, die Ergebnisse aber wegen der geringen Fallzahl keine tragfähige Verallgemeinerung auf die Grundgesamtheit aller Männer in Deutschland zulassen.
Interessant fand ich den Befund, dass im Hellfeld der polizeilichen Kriminalstatistik die Gewaltbelastung von Männern über Jahre hin konstant drei Mal höher liegt als die von Frauen (S. 256); dabei werden 90% aller körperlichen Gewalttaten, die Männer erleben, in der Öffentlichkeit und im Freizeitbereich durch meist männliche Unbekannte, Nachbarn, Bekannte und Freunde verübt.
Zum Bereich »Lebensgemeinschaften« heißt es:
Jedem vierten der befragten rund 200 Männer widerfuhr einmal oder mehrmals mindestens ein Akt körperlicher Gewalt durch die aktuelle oder letzte Partnerin, wobei hier auch leichtere Akte enthalten sind, bei denen nicht eindeutig von Gewalt zu sprechen ist.
Jeder sechste der antwortenden Männer (36 von 196) gab an, einmal oder mehrfach von seiner aktuellen bzw. letzten Partnerin wütend weggeschubst worden zu sein.
Die folgenden Handlungen wurden jeweils von fünf bis zehn Prozent der Männer benannt: Sie wurden von ihrer Partnerin »leicht geohrfeigt« (18 von 196), »gebissen oder gekratzt, sodass es wehtat« (13 von 196), »schmerzhaft getreten, gestoßen oder hart angefasst«(10 von 196) oder die Partnerin hat »etwas nach ihnen geworfen, das verletzen konnte« (10 von 196) (ebenda S. 392).
In diesem Buch möchte ich mich auf die Entstehung und Auswirkung destruktiver Beziehungsmuster in erwachsenen, heterosexuellen Beziehungen begrenzen, obwohl häufig auch Kinder durch die Auseinandersetzungen in Mitleidenschaft gezogen werden. Was die Beobachtung von Gewalt in der Elternbeziehung angeht, ist zu befürchten, dass diese Erfahrungen für das eigene Konfliktverhalten prägend sein werden und die transgenerative Weitergabe von Gewalt fördern. Jungen, so scheint mir, laufen höhere Gefahr, sich am Vater zu orientieren und – als Modell für das Mann-Sein – selbst Gewalt bei der Lösung von Konflikten anzuwenden. Mädchen dagegen identifizieren sich eher mit den Müttern und neigen deshalb dazu, Weiblichkeit mit Unterlegenheit, Ohnmacht und Schwäche gleichzusetzen und in ihr eigenes Verhaltensrepertoire zu übernehmen. So zeigt die oben erwähnte repräsentative Untersuchung zur Gewalt gegen Frauen in Deutschland deutlich, dass Frauen, die als Kind Gewalt in der Herkunftsfamilie erfahren oder beobachtet haben, ein höheres Risiko tragen, im Erwachsenenalter Opfer von sexueller oder körperlicher Gewalt zu werden. Dass in Deutschland wöchentlich zwei Kinder an den Folgen von Gewalt und Misshandlungen sterben, ist eine erschreckende Zahl. Dass diese Zahl noch nicht einmal außergewöhnlich hoch sei, wie Katharina Wagner in »Die Zeit-online« schreibt, ist wenig tröstlich: »In Frankreich sind es drei Kinder, in den – natürlich viel größeren – USA sogar 27 Kinder in der Woche, die die Misshandlungen, die sie erleiden müssen, nicht überleben. Weltweit sterben nach Angaben der Kinderhilfsorganisation UNICEF, in deren Auftrag die Studie durchgeführt wurde, jährlich über 50 000 Kinder an den Folgen von Gewalt und Missbrauch« (2006).
Aus meiner psychologischen Sicht ist es unerheblich, ob es sich bei den heterosexuellen Paaren, die ich beschreiben möchte, juristisch um eine Ehe oder um eine nicht eheliche Zweierbeziehung handelt, ob sie mit oder ohne Kinder zusammenleben.
Wie der Familienpsychologe Voss (1989) betrachte ich die Familie als Sonderform einer sozialen Beziehung zweier Menschen, die sich durch eine spezifische Bindungsqualität von anderen Beziehungen unterscheidet. Der Beziehungsmodus der intimen Bindung wäre dann das, was psychologisch die Familie ausmacht, oder was Schneewind (1987, 1999) meinte, als er die Familie als eine »intime Lebensgemeinschaft« definierte – diese Definition möchte ich ausdrücklich auf die nicht eheliche Zweierbeziehung erweitern. Natürlich haben »die Ehe« und »die Familie« ein Doppelgesicht: Einerseits stellen sie sich als eine kleine, intime Lebensgemeinschaft dar, in der die Beziehungen persönlich geprägt sind, aber andererseits gelten Ehe und Familie als bedeutsame soziale Institutionen, die bestimmte gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen haben, z. B. die Sozialisation von Kindern.
Was meint nun das Adjektiv »intim« in Bezug auf Paarbeziehung? Es verweist auf die Intention, die der Bindung in der Regel zugrunde liegt: Der subjektive Wert von intimer Paarbindung besteht für den Mann und die Frau wesentlich darin, dass sie intime Lebensgemeinschaften sind, in denen affektive und persönliche Beziehungen vorherrschen, d. h. Intimität mehr als sexuelle Intimität meint. In diesem Sinne erfüllt das Zusammensein zentrale menschliche Bedürfnisse persönlicher und emotionaler Art, d. h., der Wunsch nach Gemeinsamkeit, Zusammenhalt, Vertrauen und Verbundenheit usw. steht im Zentrum.
Gewalt zwischen Intimpartnern beinhaltet nicht nur körperliche Gewalt wie Schlagen, Stoßen, Würgen, Werfen mit Gegenständen oder Bedrohen mit Waffen, auch sexuelle Gewalt ist eine Ausdrucksform von Partnergewalt, wobei in der Regel die Frauen von Männern gezwungen werden, sexuelle Handlungen unterschiedlicher Art, die sie nicht möchten, an sich vornehmen zu lassen. Unter sexueller Gewalt verstehe ich aber auch »männliche Verhaltensweisen« wie die Weigerung, ein Kondom zur Verhütung von Geschlechtserkrankungen oder einer Schwangerschaft zu benutzen bzw. seine Partnerin zur Prostitution zu zwingen. Zur psychischen Partnergewalt rechne ich die Einschüchterungen, Drohungen, Beleidigungen und Demütigungen sowie das willkürliche Einschränken von Kontakten, der eigenverantwortlichen Kontrolle und Planung des Tagesablaufs, die soziale Isolation im Haus und die Strategie, eigene Kinder oder Haustiere als Druckmittel zu missbrauchen. Unter ökonomischer Gewalt sind alle Maßnahmen des Täters zu verstehen, mit denen er versucht, seine Partnerin von sich abhängig zu machen. Die Gewaltformen treten selten einzeln auf, Übergänge sind fließend, die Grenzen eher theoretisch. Alle Formen der Gewalt dienen aus familien-soziologischer Sicht letztendlich der Ausübung von Macht und Kontrolle in der Beziehung. Aus psychoanalytischer Sicht sind sie Symptombildungen pathologischer Bindungssysteme, und im systemischen Sinn sind sie missglückte Lösungsversuche eines Beziehungssystems, das aus der Balance geraten ist.
Bevor ich noch zu ein paar generellen Überlegungen komme, kurz noch etwas zum »Geschlecht« der Worte und Bezeichnungen, die in diesem Buch erwartungsgemäß häufig auftreten werden: »Täter« und »Opfer«. Ich habe mich nicht zu der modernistischen androgynen Version »TäterIn« oder »männliches/weibliches Opfer« wegen der Lesbarkeit des Textes entschließen können, nur um von Mal zu Mal neu zu demonstrieren, dass ich mir beide Geschlechter in den Rollen vorstellen kann. Ich würde mir vom Leser dieses Buches eine Neugierde und Offenheit wünschen, die es ermöglicht, erst mal generell und naiv – d. h. im wohlverstandenen Sinn des Wortes – die Rollenbeschreibungen Täter und Opfer in einer intimen Paarbeziehung geschlechtsneutral zu sehen. Für mich hieße das, dass sowohl Frauen als auch Männer diese Rollen potenziell einnehmen können und wir in einem zweiten Schritt klären müssen, wie die konkrete Verteilung sich aufgrund bisheriger Untersuchungen vermutlich darstellt. »Vermutlich« deshalb, weil wir von vielen vorläufigen wissenschaftlich erhobenen Zahlen, Annahmen und Hypothesen ausgehen müssen, da in diesem intimen Bereich zwar Hellfelduntersuchungen vorliegen, diese aber nur bedingt auf das große Dunkelfeld übertragbar sind. Dort, wo die Untersuchungen eindeutig in eine Geschlechtsrichtung zeigen, habe ich sie deutlich mit »männlich« oder »weiblich« markiert.
»Die Familie«, so hatten Murray Strauss et al. 1980 geschrieben, »ist für einen Bürger die gewalttätigste Institution, die man erleben kann« (S. 184), diese Mischung aus abgekapselter, privater Atmosphäre, hoher gegenseitiger Verpflichtung und Anfälligkeit für extreme emotionale Stresszustände. An dieser Aussage hat sich bis heute nichts verändert und sie wird durch Zahlen von UNICEF belegt, die von jährlich 3500 toten Kindern unter 15 Jahren in den Industrieländern ausgehen, die durch Misshandlung und Vernachlässigung sterben6. Zu der Frage, ob das Risiko von Misshandlung mit dem allgemeinen Maß von Gewalt in der Gesellschaft zusammenhängt, schreibt die UNICEF-Studie (2003): »Diese Frage beantwortet die Studie mit Ja. So haben die Länder mit den wenigsten Todesfällen bei Kindern aufgrund von Misshandlungen und Vernachlässigung auch die wenigsten Mordfälle unter Erwachsenen. Umgekehrt weisen die drei Länder mit den meisten Kindestötungen – USA, Mexiko und Portugal – auch die höchsten Mordraten an Erwachsenen auf.«7
Diese Zahlen sollen genügen, um uns für das Problem zu sensibilisieren: die Kontinuität traumatischer Erfahrungen für Jungen und Mädchen von der Kindheit bis ins Erwachsensein als Mann und Frau. Trauma, und das bedeutet für mich vor allem die Erfahrung von Ohnmacht und Hilflosigkeit, ist ein allgegenwärtiges Phänomen in unserer medialen Gesellschaft und eine Grunderfahrung vieler Menschen, die wegen Partnerschaftsproblemen in die ambulante oder stationäre Therapie kommen. Eine Gesellschaft, in der Macht, Zugang zu Informationen und Ressourcen derart ungleich verteilt sind, wie in unserer spätkapitalistischen Ordnung, sind traumatische Erfahrungen von Machtlosigkeit und Verlust der Selbstbestimmung ein weitverbreitetes Phänomen, eingeübt und körperlich erfahren in der Kindheit, verfestigt in der Schule und verzweifelt reinszeniert in der intimen Paarbeziehung.
Ich bin überzeugt, dass die meiste von Männern und Frauen ausgeübte psychische und physische Gewalt aus einem inneren Erleben der Machtlosigkeit heraus geschieht mit dem Ziel, die eigene subjektive Ohnmacht abzuwehren und sich vor einem fantasierten Untergang zu retten – wie ein Ertrinkender, der sich an den herbeigeeilten Retter klammert und ihn droht hinabzuziehen. Ohnmächtig zu sein heißt, keine Macht zu haben, um etwas zu tun, etwas zu erkennen, und auch keine Möglichkeit, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, aus einer Isolation zu den anderen herauszutreten und ohne deren Hilfe etwas zu tun. Was ich das »Trauma intimer Gewalt« in diesem Buchtitel genannt habe, verstehe ich als ein Trauma-Reenactment, als ein erneutes Durchlaufen traumatischer Situationen der Kindheit, im Handeln der Gegenwart der Intimbeziehung, wobei der Bezug zum Kindheitstrauma meist für den Protagonisten unbewusst bleibt.
Was die ursprüngliche Traumaerfahrung angeht, so geht das Erleben von ohnmächtiger Wut weit über die Erfahrung von sexuellem und/oder physischem Missbrauch hinaus. Immer dort, wo ich mit übermächtiger Gewalt in Kontakt komme und nicht mit den natürlichen Schutzreflexen wie Flucht oder Kampf reagieren kann, droht die Erstarrung in Hilflosigkeit, Todesangst und Kontrollverlust oder die Unterwerfung (Freeze-Reaktion). Das Aufwachsen in unserer Gesellschaft bietet viele Gelegenheiten, diese Gefühle ohnmächtiger Wut und wütender Ohnmacht einzuüben: von Vater/Mutter zu hören, in dieser Welt nicht willkommen zu sein, von anderen ausgegrenzt, beschämt und erniedrigt zu werden, Schlägen und seelischen Grausamkeiten ausgesetzt zu sein, als Mädchen sexuell missbraucht, als Junge geschlagen und ausgelacht zu werden usw. Diese gemeinsamen Erfahrungen von Jungen und Mädchen werden dann entlang des Rollenstereotyps in der Entwicklungsperiode an den Haltestellen »Kindheit« und »Jugendalter« unterschiedlich weiterverarbeitet und verfestigen sich in geschlechtstypischen Rollenbildern.
Werden die Traumaerlebnisse später in emotional wichtigen Bindungen zu Liebespartnern reaktiviert, ist mit dem extrem intensiven Erleben von Ohnmacht und Wut zu rechnen. Hierbei kann es zu zwei gegensätzlichen Handlungstendenzen kommen: der ohnmächtigen Wut, die ausbricht und Raum greift, und dem völligen Zurückziehen in wütende Ohnmacht – dem völligen Abschneiden von den eigenen Gefühlen. Die erstere, die aktive Gegenreaktion auf Ohnmacht geht einher mit Wut, (Selbst-)Aggression, aber auch Aufbau einer Scheinwelt (Derealisation), in der Handlungsmacht fantasiert wird (eher männliches Stereotyp), und die zweitere, die passive Gegenreaktion mit Verlust der Handlungsmacht (Einfrieren und Fragmentierung der Wahrnehmung), Verlust der Freiheit, Amnesie, Sprachlosigkeit und Einsamkeit (eher weibliches Stereotyp). Beide Handlungstendenzen signalisieren ein Schutzbedürfnis, und hinter der scheinbaren Zurückgezogenheit stecken die unausgedrückte Wut, der Zorn als treibende Kraft. Gefühle innerer Machtlosigkeit können zu machtvollem, hasserfüllten Handeln führen, einem unkontrollierten Ausbruch von Wut, einem Umsichschlagen des Ertrinkenden, welches andere Menschen seelisch und körperlich verletzt und den Teufelskreis von Machtlosigkeit – Machtdemonstration – Machtlosigkeit in Gang setzt.
Dieses, so scheint mir, ist der Kern destruktiver Paarbeziehungen, sowohl aus der Sicht des Mannes wie der Frau – diesen Kern will ich hier näher untersuchen, ohne dass ich mich in meinem Denken von einer feministischen oder männerbewegten Perspektive vereinnahmen lassen möchte.
Und die Liebe? »Ich habe ihn geliebt«, hat die 26-Jährige schwer misshandelte Frau dem Richter gesagt … ich glaube es ihr.
Das Leben ist voll von Paradoxien.
Michael P. Johnson von der Pennsylvania Universität gilt seit über zwei Dekaden als ein profunder Forscher auf dem Gebiet der Gewalt in Intimbeziehungen (1993, 1995, 1999, 2000; Johnson et al. 2000 a + b, 2002, 2005). In vielen wissenschaftlichen Arbeiten und Vorträgen haben er und sein Team immer wieder darauf hingewiesen, dass wir beim Auftreten von Gewalt in Intimbeziehungen8 zwei beschreibbare Erscheinungsformen unterscheiden müssen. Die meisten Untersuchungen über intime Gewalt, die heute vorliegen, beziehen sich auf männliche Gewalt gegenüber Frauen. Wenige Arbeiten finden sich zur Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, wobei vermutlich vieles aus heterosexuellen Partnerschaften übernommen werden kann. Die beiden Typen von Paargewalt werden von Johnson nicht nach der Art und Weise der Gewalt oder der Häufigkeit ihres Auftretens unterschieden, sondern nur entlang einer paarbezogenen Beziehungsdimension. Die entscheidende Frage ist also nicht, ob sie gefährlich oder ungefährlich, brutal oder leicht ist, sondern: Ist die Gewalt Teil eines generellen Kontrollverhaltens, mit dem der Partner versucht, die Beziehung zu dominieren? Das Ergebnis dieser Unterscheidung lässt sich so auf den Punkt bringen: »Die theoretische Kernidee, die der Typologie von M. P. Johnson zugrunde liegt ist, dass ›Intimitäts-Terrorismus‹ von dem Versuch angetrieben wird, generelle Kontrolle über den Partner zu erreichen, wohingegen ›situative Paargewalt‹ ein viel weniger kohärentes Phänomen darstellt« (Johnson und Leone 2005, S. 325; Hervorhebung J. P.).
Lassen Sie mich nun die verschiedenen unterscheidbaren Arten von Gewalt in intimen Paarbeziehungen näher betrachten.
In der ersten Kategorie finden wir körperliche Gewalt als situatives, spontan auftretendes Konfliktverhalten. Bei Johnson (1995) heißt diese Form im englischen Original:
common couple violence (gewöhnliche Paargewalt)
9
intimate partner violence (intime Partnergewalt)
situational couple violence (situative Paargewalt)
10
.
Diese Art von Gewalt kann von Paar zu Paar variieren, und auch innerhalb einer Paarbeziehung zeigt sie Unterschiede. Wesentlich dabei ist, dass dieses Auftreten von Gewalt nicht an ein generelles Kontrollverhaltensmuster geknüpft ist, mit dem der eine Partner versucht, den anderen zu dominieren. Bestimmte Streitpunkte eines Paares eskalieren in ein plötzliches Überschwappen von verbaler Gewalt in körperliche, selten sexuelle Gewalt. Diese Kategorie entspricht der Beschreibung eines »familienbezogenen« Schlägers (»family-only« batterer) von Holtzworth-Munroe und Stuart (1994), der außerhalb der Familie nicht als gewalttätig auffällt und kaum sexuellen oder emotionalen Missbrauch einsetzt.
Situationsbezogene Paargewalt ist die am häufigsten auftretende Form intimer Gewalt. Johnson und Ferraro (2000 a) geben das Geschlechtsverhältnis für diese Form von Beziehungsgewalt mit 56% für Männer und 44% für Frauen an. Obwohl diese Form von Gewalt von beiden Geschlechtern etwa gleich intensiv ausgeübt wird, begehen Männer schwerere Verletzungen, bringen durch ihr Handeln mehr Angst und Terror in eine Paarbeziehung und verursachen mehr Einsätze von Behörden und Polizei (R. Johnson 2006).
Zum Verständnis dieser Eskalation wird in der Literatur das Theoriegebäude der »Familien-Konflikt-Theorie« angeboten (siehe dazu Bradbury et al. 2001, Straus et al. 1990), die konflikthafte Zuspitzungen in Familienbeziehungen als inhärent beschreibt und damit einhergehend auch gewisse Formen von körperlicher Gewalt. Nach dieser Sichtweise entstammt die Gewalt dem täglichen Stress des Familienlebens, ist eher Einzelfall als chronisches Eskalationsmuster. Diese sogenannte »New Hampshire School« (Murray Strauss u. a. 1999, 2005) verfolgt in ihrer »family-violence«-Forschung einen strukturell-funktionalistischen Ansatz und versteht physische Übergriffe als ein Mittel der Konfliktlösung, an der alle Familienmitglieder gleichermaßen beteiligt sind.
Dieser systemischen, familienbezogenen Betrachtungsweise stand seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA ein unter dem Namen »woman abuse« oder »wife-battering« entwickelter feministischer Ansatz (Martin 1976; Dobash und Dobash 1979, 1998; Stark und Flitcraft 1996) gegenüber. Er interpretierte Gewalt im Geschlechterverhältnis nicht mehr als individuell abweichendes Verhalten – so wie in dem bis dato in den USA vorherrschenden psychopathologisch-psychiatrischen Ansatz (z. B. Gayford 1983) –, sondern sah in der situativen Paargewalt auch einen Ausdruck von Kontrolle über den anderen, die in der patriarchalen Tradition männlicher Dominanz in heterosexuellen Beziehungen wurzelt.
Mit diesem Streit der unterschiedlichen Positionen bis zum heutigen Tag – individuell psychopathologisch, systemisch und feministisch – könnte man ein ganzes Buch füllen, was ich Ihnen ersparen möchte.
Die Quintessenz ist: Anhand unterschiedlicher empirischer Instrumentarien (repräsentative Umfrage, Befragung von Collegestudenten, Datenrecherche in sozialen Beratungsstellen und Frauenhäusern, rechtlichen Institutionen usw.) werden verschiedene Populationen untersucht, und es kommt zu unterschiedlichen Einschätzungen von Gewalt in Intimbeziehungen.
Die Veröffentlichungen der systemisch orientierten »family-violence«-Forschung hat in den letzen Jahren in den USA und Europa eine große Zahl »normaler« Familien untersucht und fand eine relative Gleichverteilung situativer Gewaltausbrüche beider Partner (»common couple violence«), wohingegen die feministische »woman-abuse«-Forschung eindeutig das Vorherrschen männlicher Gewalt bei einer kleineren, aber bedeutenden Gruppe von Frauen, die in sozialer und rechtlicher Betreuung waren, fand. Diese Form partnerschaftlicher Gewalt, mit einem eindeutig geschlechtsspezifischen Vorkommen, nennt Johnson (1995) »patriarchal terrorism« und muss von ersterer unterschieden werden.
Das Merkmal dieser Form von Gewalt, die fast ausschließlich von Männern in heterosexuellen Beziehungen eingesetzt wird, ist, dass sie einen Teil eines wiederholten, systematischen Gewalt- und Kontrollverhaltens darstellt. Beziehungen mit regelmäßiger schwerer Gewalt nennt man auch in der Fachliteratur »Misshandlungsbeziehungen«.
Die Gewalt- und Gewaltdrohung hat den Zweck, den anderen, d. h. in der Regel die Partnerin, in eine schwächere Position zu zwingen, um die eigene Machtposition zu erhalten oder auszubauen. Die dazu genutzten Machtstrategien sind physischer, psychischer, sexueller und ökonomischer Art. Häufig beginnend mit subtilen Formen der Aggression, zeigt sich in der Beziehung eine deutliche Zunahme der Gewalt bei Dauer der Beziehung.
Bei Johnson (1995) heißt diese Form intimer Gewaltausübung durch Männer:
patriarchal terrorism (patriarchaler Terrorismus)
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intimate terrorism (Intimitäts-Terrorismus).
Ziel all dieser Handlungen durch den Mann ist es, eine totale Kontrolle über die Partnerin und damit über die Beziehung zu erlangen. Diese Kategorie entspricht der Beschreibung eines »generell-gewalttätig-antisozialen« Schlägers (»generally-violent-antisocial« batterer) von Holtzworth-Munroe und Stuart (1994) oder dem »Cobra«-Typ des Schägers, wie dieser aufgrund des fehlenden physiologischen arousals in der Traumasituation von Jacobson und Gottman (1998) bezeichnet wurde. Die Autoren beobachteten 10 Jahre lang 63 besonders gewalttätige Paare mit Video und maßen während der Auseinandersetzungen Herzschlag und Hautwiderstand der Männer; so entdeckten sie diese zwei Hauptkategorien von männlichen Tätern: »Pitbulls« und »Kobras«. Bei Letzteren verringert sich der Puls, bevor sie zuschlagen, sie üben Gewalt kalt und systematisch aus und benutzen häufiger Waffen als Pitbulls (siehe unten), manche sind drogensüchtig und kriminell. Opfer von Kobras waren viel eingeschüchterter als die der Pitbulls, die sich oft kräftig wehrten. Den Kobras geht Mitgefühl ganz ab, wenn sie sich entschuldigen, dann nur aus taktischen Gründen. Gewalt und Durchsetzung des eigenen Willen dominieren ihr Verhalten. Ihre Frauen nutzen sie als Trittstein zu mehr Geld, Ruhm, Status, Sex und sind oft von ihnen finanziell abhängig. Auf den Wunsch nach Nähe reagieren sie aggressiv. Sie würden ihre Frauen auch zum Fremdgehen ermutigen, wenn sie Nutzen davon hätten. Auf Frauen scheinen sie einen makabren, finsteren Charme auszuüben. 20 Prozent der Misshandler (der untersuchten Gruppe) waren Kobras; viele davon Psychopathen: Ihnen fehlt die Sensibilität für Gefühle, und so können sie auch die Gefühle ihrer Opfer nicht nachvollziehen. Eine ziemlich deprimierende Auflistung soziopathischer Merkmale dieser Männer, wie ich finde, für die die Autoren auch wenig Chance auf Veränderung oder gar Heilung sehen.
Für die Beschreibung dieses generellen Musters von Kontrollverhalten ist das »Rad von Macht und Kontrolle« hilfreich, wie es von Ellen Pence und Michael Paymar (1993, S. 185) in ihren Veröffentlichungen vorgestellt wurde und welches ich in Abbildung 2-1 auf S. 28 in vereinfachter Form wiedergebe.
In ihren Arbeiten beschreiben die Autoren auf den ersten Blick eher physisch »gewaltlose« Kontrollmechanismen: emotionaler Missbrauch, Isolation, Ausnutzung der Kinder gegen den Partner, das Bestehen auf männlichen Privilegien, ökonomischer Missbrauch, Einschüchterungsverhalten, Drohungen und Beleidigungen. Wesentlich ist aber, dass auch diese wenig gewaltsam erscheinenden Kontrollmechanismen eine Gewaltbedeutung annehmen, wenn sie in einem generellen Kontext von Kontrolle und Unterdrückung eingesetzt werden. So haben die verbale Entgleisung und ein zorniger Blick eines normalerweise nicht gewalttätigen Partners eine völlig andere Bedeutung wie die gleiche Äußerung eines Mannes, von dem die Partnerin weiß, dass diese Vorwürfe schon mehrfach der Beginn gewalttätiger Einschüchterungen waren.
Der Vollständigkeit halber möchte ich noch zwei weitere Formen von Gewalt in Paarbeziehungen kurz erwähnen, die in der Literatur an verschiedenen Stellen erwähnt werden.
Abbildung 2-1: »Rad von Macht und Kontrolle« nach einem Entwurf des Domestic Abuse Intervention Project, Duluth (USA)
Immer wieder werden Fälle von spektakulärer Gewalt in langjährigen Partnerschaften bekannt, in denen der eine Partner, scheinbar wie aus heiterem Himmel, plötzlich gewalttätig wird. Bei genauerer Analyse der Paardynamik und Offenlegung der Fakten vor Gericht zeigt sich das erschütternde Ausmaß der tiefen Zerrüttung der Beziehung. »Violent resistance« (gewalttätiger Widerstand) ist ein in der Literatur immer wieder gebrauchter Ausdruck für Gewaltformen, bei denen zumeist die Frau oft nach jahrelangen Misshandlungen, Einschüchterungen und Kontrollterror des Partners aus »seelischer Notwehr« zurückschlägt und dabei mitunter den Mann schwer verletzt oder gar tötet. Dies ist die Gewalt von Frauen, die versuchen, sich mit körperlichem Widerstand der Unterwerfung und Dominanz durch den missbräuchlichen Partner zu widersetzen. Johnson und Ferraro (2000 a) gebrauchen bei diesem Gewaltmuster nicht den Terminus der »Selbstverteidigung«, da er mit dem von Gerichten benutzten Tatbestand der Selbstverteidigung nur schwerlich zur Deckung zu bringen ist. Dennoch ist der beschreibende Begriff des gewalttätigen Widerstandes sinnvoll, da er eine Gewalthandlung beschreibt, die als Antwort auf eine wahrgenommene Bedrohung erfolgt, auch wenn es sich auf ein einmaliges Ereignis bezieht und nicht Teil eines generellen Musters von Kontrolle und Manipulation in einer Beziehung ist.
In einigen Beziehungen etabliert sich ein Muster komplementärer Kontrolle und Manipulation. Wir sprechen hier von »mutual violent control« (wechselseitige gewaltsame Kontrolle) und meinen eine gegenseitige Kontrolle durch Gewaltanwendung, bei der beide – Partner und Partnerin – wechselseitig gewalttätig sind, auch um Kontrolle/Macht über den/die Partner/in zu erlangen. Diese Beziehungen kann man sich als einen Kriegsschauplatz vorstellen, mit zwei Parteien, die Gewalt einsetzen, um sich in Schach zu halten oder den anderen in die Knie zu zwingen, zwei Menschen, die eine Art intimen Terrorismus miteinander veranstalten. Johnson und Ferraro (2000 a) meinen, dass sich sogar in diesen Fällen ein gewisses Maß an Geschlechtsunterschied zeigt: Sie beschreiben, dass bei 31% dieser Paare der Mann es ist, der mehr Gewalt initiiert, im Gegensatz zu 8%, in denen die Frau die Gewaltspirale in Gang setzt. Sie zitieren aber auch Studien, in denen sie zeigen konnten, dass auch dann, wenn die Initiative zum Gewaltmissbrauch 50 zu 50 bei Männern und Frauen ist, dennoch Frauen erheblich schwerere Verletzungen davontragen.
Eine letzte Gruppe von weiblichen oder männlichen Gewalttätern, die uns noch intensiver beschäftigen wird und die mehr der psychopathologisch-psychiatrischen Nomenklatur entspringt, sei hier schon erwähnt: In der Literatur taucht immer wieder der Begriff der »Dysphoric-Borderline Violence« auf, übersetzbar mit »verstimmt-borderlineartige Gewalt«. Diese Bezeichnung für einen speziellen Typ von Gewalttäter wurde von Holtzworth-Munroe and Stuart (1994) vorgeschlagen und umfasst bedürftige, abhängige und emotional instabile Menschen, die aus Frustration gewalttätig werden. Jacobson und Gottman (1998) nannten den männlichen Part der Gewalttäter den »Pitbull«-Typ und konnten bei dieser Gruppe im Gegensatz zu dem oben beschrieben »Kobra«-Typ ein Übermaß an emotionalem und physischen arousel in partnerschaftlichen Streitsituationen nachweisen. Nach Jacobson and Gottman (1998) verbeißen sie sich in ihr Opfer, sind emotional von ihren Partnern abhängig und besessen von der Angst, sie zu verlieren; mit totaler Kontrolle und psychischer und physischer Gewalt versuchen sie eine Trennung zu verhindern. Außerhalb der Beziehung sind sie nicht gewalttätig. Diese Täter haben ein Gewissen und können Reue empfinden; da sie jedoch über ein großes Repertoire an Ausreden und Schuldzuweisungen verfügen, kommt es selten so weit.
Auch Renzetti (1992) hatte ca. 68% der Missbraucher in ihrer weiblichen Untersuchungspopulation dieser Gruppe zugeordnet und vor allem die Abhängigkeitsproblematik dieser Frauen beschrieben. Missbraucher dieser Gruppe zeigen in einem verstärken Maße deutliche emotionale Anpassungsprobleme und Distress, z. B. Depressionen, Verlassenheitsängste und große emotionale Abhängigkeit vom Opfer.
Auch dann, wenn Frauen von eigenen Gewalttätigkeiten in heterosexuellen erwachsenen Beziehungen berichten, erscheinen sie uns meist weniger brutal und heftig, und wir finden nahezu keine offene sexuelle Aggression. Repräsentative empirische Studien zeigen, dass sich Gewalt im Geschlechterverhältnis im Wesentlichen gegen Frauen richtet und ganz überwiegend im familiären Nahraum stattfindet (für die BRD vergleiche Pfeiffer und Wetzels 1996). Ob diese einseitige Zuschreibung so stimmt, möchte ich an dieser Stelle bewusst offen lassen, sie könnte auch ein Untersuchungsartefakt sein.
Wenn wir von Gewalt in einer erwachsenen Partnerschaftsbeziehung sprechen, dann müssen wir uns darüber klar sein, dass wir es mit einer sehr komplexen Kategorie zu tun haben: Die Grenzen zwischen Gewalt und Nicht-Gewalt im Geschlechterverhältnis sind nicht starr, sondern unterliegen dem historischen Wandel und der kulturellen Festlegung. In den letzten Jahren konnten wir in der Presse die langwierigen Auseinandersetzungen verfolgen um die Frage, ob Vergewaltigung innerhalb der Ehe ein Straftatbestand ist oder nicht – bis sie dann endlich 1997 gegen den Widerstand vieler konservativer Kreise dazu erklärt wurde. Zur Zeit findet sich die gleiche Diskussion um die Frage, wie gewalttätige Männer aus der gemeinsamen Wohnung verwiesen werden können und Opfer von Stalking Schutz vor der zudringlichen Gewalt von Verfolgern erhalten können. »Die jeweilige Definition von Gewalt ist nicht ›objektiv‹ im Sinne eines allgemein gültigen Maßstabes, sondern gebunden an die Vorstellungen sowie das Interesse des Definierenden und abhängig von gesellschaftlichen Gewichtungen und Verantwortungszuschreibungen« (Brückner 2000).
Obwohl es sicher interessant wäre, sich ausführlich mit den strukturellen und gesellschaftsbezogenen Komponenten des Gewaltbegriffs zu beschäftigen und verschiedene der soziologischen Positionen zu Wort kommen zu lassen, möchte ich dieser Versuchung widerstehen und Ihnen eine sehr subjektbezogene Gewaltdefinition anbieten, die die Selbstdefinition der betroffenen Frauen in den Vordergrund rückt. Dies ist ein Ergebnis der Frauenbewegung und der darauf aufbauenden Frauenforschung der letzten Jahrzehnte und eine bewusste Abkehr von der Illusion objektiver Definitionsmacht (dazu Margrit Brückner 1998). Orientiert an den Forderungen der internationalen Frauenbewegung, definiert die UNO 1993 (Europarat 199712) als geschlechtsspezifische Gewalt:
»Jede geschlechtsbezogene gewalttätige Handlung, die einer Frau Schaden oder Leid körperlicher, sexueller oder seelischer Art zufügt oder wahrscheinlich zufügen wird, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsberaubung im öffentlichen oder privaten Leben« (Materialien zur Frauenpolitik des BMFSFJ 45/1995, Seite 3).
In den meisten Studien wird der Gewaltbegriff nicht näher spezifiziert. Häusliche Gewalt, Gewalt in der Ehe, Misshandlung des Partners oder physisch aggressives Paarverhalten wird häufig nicht abgegrenzt von der spezifischen Misshandlung der Frau durch ihren Mann und noch viel weniger der spezifischen Misshandlung des Mannes durch seine Frau. Diese Unterscheidung ist insofern von Bedeutung, als die Misshandlung von Frauen durch ihre Männer ganz andere Formen annimmt als die Misshandlung von Männern durch ihre Frauen oder die alltägliche Gewalt in Beziehungen. So haben Studien in den USA ergeben, dass es in über 40% aller jungen Paarbeziehungen regelmäßig zu körperlicher Gewalt kommt. Dabei handelt es sich jedoch meist um die unter 2.1.1 beschriebene »common couple violence«, eine eher harmlose13 Form der Gewalt, wie z. B. Schubsen, grobes Anfassen, Schütteln oder Wegstoßen. Diese wird von Mann und Frau gleichermaßen ausgeübt, ist relativ selten (sechsmal pro Jahr oder seltener) und verschwindet in der Regel mit zunehmender Dauer der Beziehung. Familien, in denen solche eher harmlosen Gewaltakte auftreten, werden in manchen Studien als gewalttätig eingestuft, in anderen nicht. Davon zu unterscheiden ist, wie bereits betont, der sogenannte patriarchalische Terrorismus (»patriarchal terrorism«) nach Johnson, den ich oben ausführlich beschrieben habe. Er ist gekennzeichnet durch eine häufige und brutale Misshandlung der Frau durch den Mann und hat die Unterwerfung oder Schädigung der Frau zum Ziel. Diese Form der Gewalt nimmt an Schwere und Häufigkeit im Laufe einer Beziehung zu und wird fast nur von Männern ausgeübt.
In vielen Studien wird Gewalt dadurch operationalisiert, dass mittels des »Conflict Tactics Scale« (CTS214) bestimmte gewalttätige Handlungen zuerst definiert wurden, die dann bei den Klienten abgefragt werden. Als Grundlage dienen dabei häufig folgende Handlungen: das Werfen von Gegenständen, Stoßen oder Schubsen, Ohrfeigen, Treten, Beißen, Schläge mit der Faust, Schläge mit einem Gegenstand, Verprügeln, das Bedrohen mit Waffen oder das Benutzen von Waffen. Falls eine dieser Handlungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums (in der Regel ein Jahr) aufgetreten ist, wird die Familie als gewalttätig eingestuft. Manchmal werden mehrere dieser Handlungen oder zusätzliche Kriterien gefordert, wie z. B. der Aufenthalt in einem Frauenhaus.
Manche Wissenschaftler argumentieren, dass Gewalt nicht nur in körperlicher Aggression besteht. So umfasst Gewalt laut der Arbeitsdefinition der American Psychological Association (Task Force on Male Violence Against Women) »physische, visuelle, verbale oder sexuelle Handlungen, die von einer Frau oder einem Mädchen als eine Bedrohung, Übergriff oder Angriff wahrgenommen werden und die den Effekt haben, sie zu verletzen oder sie zu entwerten, und/oder ihr die Fähigkeit nehmen, den Kontakt (intim oder andersartig) mit einem anderen Individuum zu kontrollieren« (Koss et al. 1994, S. 117).
Diese Definition, die im internationalen Schrifttum immer wieder zitiert wird, hat in den letzten Jahren durch diesen sehr breit angelegten Gewaltbegriff die Forschungspraxis dahingehend beeinflusst, dass neben physischen Handlungen auch verbale Misshandlung, sexuelle Gewalt, Stalking oder die Verweigerung von Ressourcen in der Gewaltforschung erfasst werden.