Hypno-analytische Teilearbeit (Leben Lernen, Bd. 252) - Jochen Peichl - E-Book

Hypno-analytische Teilearbeit (Leben Lernen, Bd. 252) E-Book

Jochen Peichl

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Beschreibung

- Was sind Ego-States? - Wo ist das Selbst im Modell der Persönlichkeitsteile? - Gibt es das »Innere Kind«? - Hat jeder eine multiple Persönlichkeit? - Wie kann man mit einem durchdachten Modell der Persönlichkeitsteile therapeutisch arbeiten? Autor ist den Fachleuten bekannt durch Vorträge und seine erfolgreichen Bücher Thematisiert »Dissoziative Identitätsstörung« Arbeit mit Persönlichkeitsteilen ist im Fokus der Therapeuten.

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Jochen Peichl

Hypno-analytischeTeilearbeit

Ego-State-Therapie mit inneren Selbstanteilen

Mit einem Nachwort von Woltemade Hartman

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett–Cotta

Besuchen Sie uns im Internet: www.klett–cotta.de

© 2012 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Cover: Klett-Cotta Design

Unter Verwendung eines Bildes von © A. Boll

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89128-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10322-9

PDF-Book: ISBN 978-3-608-20043-0

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Meinen Eltern – Lilo und Robert

I’m a bitch I’m a lover

I’m a child I’m a mother

I’m a sinner I’m a saint

I do not feel ashamed

I’m your hell I’m your dream

I’m nothin’ in between You know, you wouldn’t want it any other way

Alanis Morissette

Inhalt

Einleitung: Teile-Therapie als eine innovative Form der Hypnoanalyse

1. Das Modell der Polyphonie des Selbst

1.1 Die Geschichte von Paula

1.2 Das Denken in Teilemustern

1.3 Was ist ein Schema?

1.4 Von der Ich-Funktion zu den »Kopfbewohnern«

1.5 Übersicht über die Teilekonzepte

1.6 Die Grenzen des Modells

2. Das Vermächtnis von John und Helen Watkins: Was sind Ego-States und wie entstehen sie in unserer Psyche?

2.1 Die Geschichte von Paula

2.2 Was sind Ego-States?

2.2.1 Paul Federn – der glücklose Vordenker

2.2.2 Das Verdienst von John und Helen Watkins

3. Neurobiologische Erklärung für Ich-Zustände

3.1 Die Geschichte von Paula

3.2 Neuronale Netzwerke – allgemeiner Teil

3.3 Der Ich-Zustand als Manifestation eines neuronalen Zustandes

3.4 Kontinuität und kontinuierliches Selbst nach Daniel Siegel

3.5 Ich-Zustände als Sinnattraktor

3.6 Sprachverwirrung: Ich-Zustände oder Selbst-Zustände?

4. Die Entwicklung der Ich-Zustände – ein erweitertes Modell

4.1 Die Geschichte von Paula

4.2 Die Ideengeschichte der »relativ stabilen psychischen Zustände«

4.3 Die Normale Differenzierung und die Bruchstellen der Sozialisation

4.4 Die Introjektion der signifikanten Anderen für die Bildung von Ich-Zuständen

4.5 Introjektion: ein verwirrender Begriff – Versuch einer Klärung

4.6 Die Bildung traumatischer Ich-Zustände

4.7 Bindung, Ich-Zustände und Übergangsobjekte

4.8 Gibt es Ego-States in verschiedenen Dimensionen?

4.9 Ich-Zustände: theoretisches Konstrukt oder Fantasie?

5. Was ist Dissoziation und stimmt Watkins Annahme eines Dissoziations-Kontinuums?

5.1 Die Geschichte von Paula

5.2 Das Dissoziations-Kontinuum in der klassischen Ego-State-Therapie

5.3 Dissoziation: allgemeine Überlegungen

5.4 Der Unterschied von Unterdrückung (suppression), Verdrängung (repression) und Dissoziation (dissociation)

5.5 Das Konzept des dissoziativen Kontinuums – pathologische und nicht pathologische Dissoziation

5.6 Die Entwicklung der Ich-Zustände – ein neues Modell

6. Das Verhältnis zwischen dem Selbst und den Teilen

6.1 Die Geschichte von Paula

6.2 Das Selbst in der klassischen Ego-State-Therapie

6.3 Die drei Ebenen des Selbstmodells

6.4 Selbst, Neurobiologie und dynamische Systeme

6.5 Das Selbst-Modul bei Thomas Blakeslee

6.6 Die Beziehung zwischen dem Selbst und den Teilen – ein neues Modell

7. Systemische und hypnotherapeutische Perspektiven in der Teile-Therapie

7.1 Die Geschichte von Paula

7.2 Klassische und systemische Denkansätze in der Teile-Therapie

7.3 Das innere Selbst-System: Entwurf eines systemischen Teilemodells

7.3.1 Das Selbst-System nach Friedrich-Wilhelm Deneke

7.3.2 Das Selbst-System aus der hypno-systemischen Sicht von Gunther Schmidt

7.4 Die Problemtrance oder die dunkle Seite des Inneren Kindes

7.4.1 Die Entstehung des Inneren Kindes nach Wolinsky

7.4.2 Was versteht man unter Problemtrance?

7.5 Das Innere Kind: autobiografische Traumawunde oder Probletrancekonstruktion

7.6 Die Dynamik zwischen den Ich-Zuständen

7.7 Was sind die therapeutischen Schlussfolgerungen aus alledem?

8. Der innere Beobachter

8.1 Die Geschichte von Paula

8.2 Verschiedene Modelle des inneren Beobachters

8.2.1 Innerer Beobachter im systemischen Denken

8.2.2 Der innere Beobachter in der Ego-State-Therapie von Watkins und in der Theorie der »Multiplen Persönlichkeit«

8.2.3 Der innere Beobachter in der Achtsamkeitspsychologie und im Buddhismus

8.3 Der innere Beobachter im Konzept der hypno-analytischen Teile-Therapie

8.4 Das Steuerungsselbst – ein neurobiologisches Modell

9. Die Entstehung traumatischer Ich-Zustände

9.1 Die Geschichte von Paula

9.2 Die Strukturelle Dissoziation, die Entstehung der inneren traumatischen Anteile und die therapeutischen Konsequenzen

9.2.1 Primäre Strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit

9.2.2 Sekundäre Strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit

9.2.3 Tertiäre Strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit

9.3 Traumabedingte Funktionsdefizite des Selbst-Moduls

10. Übertragung und Gegenübertragung

10.1 Die Geschichte von Paula

10.2 Allgemeiner Überblick

10.3 Therapeutenstile – das Spektrum der Übertragungs-Gegenübertragungsstile

10.3.1 Reaktionsstil: Identifizierungsorientiert

10.3.2 Reaktionsstil: Distanzierungsorientiert

10.4 Übertragung und Gegenübertragung in der hypno-analytischen Teile-Therapie

Ausblick

Die wesentlichen Aussagen zur hypno-analytischen Teile-Therapie im Überblick

Nachwort: Woltemade Hartman

Literatur

Einleitung: Teile-Therapie als eine innovative Form der Hypnoanalyse

Haben Sie schon aus der neusten T-Shirt-Auswahl der amerikanischen Firma Zazzle für die Innere-Kind-Anziehtherapie geordert?

In sechs verschiedenen Größen für nur 29,90 $?

Die Werbung verspricht1:

Heal your inner child with humor – inner child clothing therapy! If your inner child needs therapy; what better way that giving the inner child a voice … and a humorous one at that? Check out these ribtickling tees to help express your inner child! Is your inner child hungry? Sleepy? Naughty? Lonely? Start your inner child healing with humor, and let the world know which with these hilarious tee shirts.

Rund um den Begriff »Innere Kindarbeit« hat es nach meiner Überzeugung in den letzten Jahren viele Missverständnisse und Vereinfachungen gegeben, die diese Idee von der Polyphonie unserer Seele wie eine weitere Anleitung zum Glücklichsein erscheinen ließen. Das Schlagwort »Inner Child« führt bei Google zu 7 250 000 Einträgen, und erst die 328 000 Hits bei Google pictures geben in etwa einen Eindruck, in was wir da hingeraten sind: die esoterische Vermarktung einer ehemals ehrenwerten psychotherapeutischen Hypothese über die Seele des Menschen. Da gibt es bei Amazon von Shaina Noll die CD: »Songs for the Inner Child« oder »Lullabies for Your Inner Child« von Wiebke Reinhardt für nur 21,99 €; oder die Einladung zum: »Inner Child All Day Retreat« bei Jane Russo für 40 $ pro Person (»You can bring food and we can order out for Chinese [not included in cost]«) oder auch Wellnessreisen ins 5-Sterne-Hotel auf Ko Samui mit »Entdecke dein Inneres Kind«.

Nein – darum soll es in diesem Buch nicht gehen.

Die drei größten Zumutungen stelle ich gleich an den Anfang des Buches:

Das Innere Kind hat nicht nur eine wertvolle Seite und braucht, wenn traumatisiert, unsere Unterstützung und Empathie, es hat auch eine dysfunktionale Schattenseite.

Das »Innere Kind« gibt es gar nicht, da lebt kein Kind in uns, nur »kindliche Bewusstseinszustände«, die wir besser als Ich-Zustände oder Ego-States bezeichnen.

Der ganze amerikanische Rummel hat nichts mit dem zu tun, was ich Ihnen in diesem Buch vermitteln möchte.

Folgendes liegt mir am Herzen: Ich möchte die Diskussion um die Hypnoanalyse mit diesem Buch neu beleben. Was soll darunter verstanden werden? Der Begriff »Hypnoanalyse« wurde 1940 erstmals von J. A. Hadfield für eine Methodenkombination aus kathartischer Hypnose und Nacherziehung verwendet (zit. nach Kinzel 1993, S. 151). Er benutzte den Begriff Hypnoanalyse, um zu beschreiben, wie er Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg behandelte, die unter traumabedingten Amnesien litten. Robert Lindner (1944) verband in seinem Buch »Rebel Without a Cause: The Hypnoanalysis of a Criminal Psychopath« Psychoanalyse mit Hypnose und beschrieb darin die innovative Methode, die er entwickelt hatte. Auch Lewis R. Wolberg (1945) benutzte Hypnoanalyse als Ergänzung zur Psychoanalyse, um gegenwärtig unbewusste Impulse und Zwänge ins Bewusstsein zu bringen und um Widerstände schneller zu umgehen. Bernhard Gindes (1951) diskutierte in einigen Publikationen über die Wirksamkeit des hypnoanalytischen Ansatzes, um Widerstände in der freien Assoziation, die unter der Psychoanalyse auftraten, zu durchbrechen.

Das Interesse an der Hypnoanalyse scheint bei vielen Kollegen zum einen mit dem Wunsch nach Beschleunigung der unendlichen Psychoanalysen zu tun zu haben, zum anderen der Erfahrung zu entspringen, dass traumatisierte Menschen besser mit einer Kombination aus Hypnose und Redekur zu behandeln wären. Auch John und Helen Watkins argumentieren mit den ungewöhnlich langen Behandlungszeiträumen in der Psychoanalyse und »der ernsten ökonomischen Krise« (Watkins 1997/2003, S. 15), denen sich Therapeuten durch die langen Therapieverläufe ausgesetzt sehen, da im amerikanischen Krankenversicherungssystem die Kosten nur minimal übernommen werden. Sie schreiben: »Die Hypnoanalyse hat gezeigt, dass sie die Zeitdauer einer ›analytischen‹ Behandlung signifikant verkürzen kann. Eine intensive Therapie der Ich-Zustände – wobei es sich um eine Erweiterung der Hypnoanalyse handelt – bietet einen wirksamen Ansatz, der die Therapiedauer noch mehr verringert und der innerhalb von acht bis zwölf Stunden […] häufig dauerhafte strukturelle Persönlichkeitsveränderungen bewirkt und zur Lösung lebenslanger Störungen führt« (ebenda).

Wie dem auch sei – die von John und Helen Watkins in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte Ego-State-Therapie steht, wie Luise Reddemann schreibt, »auf ›drei Beinen‹: der Psychoanalyse, der Hypnose und den Erkenntnissen über dissoziales Verhalten von Janet« (Reddemann 2007, S. 104) und gilt heute als die konsequente Weiterführung hypnoanalytischer Konzepte hin zu einer eigenständigen Therapieform. Ego-State-Therapie hat sich aus einem »Kreuzungsprodukt« zweier Schulen – Psychoanalyse und Hypnose – zu einer kreativen und innovativen Therapieform weiterentwickelt, die heute vor allem im Bereich der Therapie von traumaassoziierten Störungen Anwendung findet.

Aber es ist Zeit, einen Schritt weiterzugehen!

Viele Konzepte der Ego-State-Therapie, wie ich sie noch durch meinen Lehrer Woltemade Hartman, einem persönlichen Schüler von John und Helen Watkins, erfahren habe, bedürfen heute der Revision. So groß Paul Federns Verdienste für die Ego-State-Theorie auch sein mag – er war ein Schüler Sigmund Freuds und Vorsitzender der Mittwochsgesellschaft im Wien der 1920er-Jahre –, eine Ich-/Selbsttheorie, die mit der Triebtheorie und der Energiebesetzung aus der Entstehungszeit der Psychoanalyse argumentiert, ist heute schon lange überholt und wissenschaftlich nicht mehr haltbar. Warum John Watkins, der in den 60er-Jahren als Analytiker in Chicago ausgebildet wurde und bei Eduardo Weiss, einem Schüler von Paul Federn, eine Lehranalyse macht, die Ego-State-Theorie nicht durch modernere Auffassungen, wie die Objektbeziehungstheorie oder die Selbstpsychologie von Heinz Kohut, modifizierte, sondern am dualistischen Triebparadigma festhielt, bleibt mir rätselhaft. Gerade die sogenannte »Britische Objektbeziehungstheorie« um William R. D. Fairbairn (1889–1964), Harry Guntrip (welcher Freuds Theorien als biologistisch und inhuman kritisierte), John D. Sutherland und Donald Winnicott hätten viele Ansatzpunkte gegeben, die »Einpersonen-Psychologie« der klassischen Ego-State-Theorie hin zu einer beziehungsorientierten »Zweipersonen-Psychologie« zu erweitern. Ich werde darauf im 4. Kapitel näher eingehen und über sinnvolle Weiterentwicklungen nachdenken.

Ein weiterer Punkt ist der Gebrauch des Begriffs »Dissoziation« im Ego-State-Modell des Ehepaars Watkins. In ihrem Verständnis der Gliederung von psychischen Prozessen und der Herausbildungen von einzelnen Krankheitsbildern ist in Abgrenzung zu Piere Janet das sogenannte Differenzierungs-Dissoziations-Kontinuum wegweisend. Dieses Kontinuum – auch Neodissoziationsmodell genannt – postuliert eine natürliche innere Aufteilung des Ich einer Persönlichkeit in einzelne Ich-Zustände mit Zunahme der Abgrenzung (Dissoziationsbarriere) vom linken zum rechten Pol (siehe dazu Abbildung 2-3 auf Seite 47). Auf der rechten Seite der Übergangsskala finden wir die normale Differenzierung bei »normalen und gut angepassten« Individuen, dann einen Bereich des Gebrauchs von Dissoziation als Abwehr (neurotisch) und auf der rechten Seite die pathologische Dissoziation mit dem Extremfall der »Multiplen Persönlichkeit«. Dieses kontinuierliche (quantitative) Modell der Dissoziation nach James und Prince (1905) ist für mich durch die bahnbrechenden Arbeiten von van der Hart, Ellert Nijenhuis und Kathy Steele über die Strukturelle Dissoziation zumindest ernsthaft infrage gestellt. Wie wir beide Ideen sinnvoll verbinden können, wird im 5. und 10. Kapitel erläutert werden.

Ein weiterer wichtiger Punkt, der mich in den letzten Jahren in der klinischen Arbeit mit traumaassoziierten Störungen intensiv beschäftigt hat, ist das Verhältnis der inneren Teile zum Selbst oder als Frage formuliert: Gibt es in der Familie der Ego-States einen Chef ? Luise Reddemann schreibt: »Ohne ein stabiles erwachsenes Ich bzw. genauer: ohne einen stabilen erwachsenen State kann aus meiner Sicht ›Innere-Kind‹-Arbeit nicht gelingen.« (Reddemann 2007, S. 111) Das sehe ich auch so.Was heißt das aber für das Ego-State-System und eine mögliche hierarchische Strukturierung? Mehrere andere Teilemodelle arbeiten mit einer klaren Hierarchie zwischen Selbst und inneren Anteilen – ich denke dabei an das Modell von Richard Schwartz (Internal Family Systems Therapy, IFS), das Modell »Arbeit mit der inneren Familie« (Gunther Schmidt) oder »Das Innere Team« von Schulz von Thun. John und Helen Watkins haben in ihrem Teilemodell eine Metastruktur eingeführt, die sie »Kern-Selbst« oder »Kern-Ich« nennen – ein Begriff, der wenig ergiebig ist und mehr Verwirrung schafft als er klärt. Damit werde ich mich im 6. Kapitel beschäftigen und ein Modell vorschlagen, welches auch den aktuellen Stand der neurobiologischen Hirnforschung zum Ich oder Selbst berücksichtigt.

All das eben Gesagte ist spannend, und viele noch unklare konzeptuelle Fragen müssen angegangen und im Licht neuerer Erkenntnisse überdacht werden – und ein paar der berühmten Zöpfe müssen auch abgeschnitten werden. Dennoch bleiben wir dabei immer auf einer bestimmten Ebene des Denkens: Diese klassische Ego-State-Therapie, wie ich sie in dem Buch nennen werde, ist, wie die klassische tiefenpsychologische Psychotherapie, in ihrer Ausrichtung monolinear, monokausal und rückwärtsorientiert – die Ursachen der Symptome heute liegen in der Vergangenheit usw. Nun sind wir Teile-Therapeuten in den letzten Jahren schon einen sehr innovativen Schritt gegangen und haben für die Arbeit mit inneren Kritikern, Nein-Sagern und Täterintrojekten die systemisch orientierten Konzepte der Hypnotherapie nach Milton Erickson in den Fokus gerückt. Wir haben die innere »Täter«-Botschaft »Du bist böse und verdienst Strafe« gnadenlos positiv konnotiert und nach der »guten Absicht« hinter der Aussage für das Gesamtsystem der Ego-States gesucht. Wir versicherten allen Teilen, auch den destruktivsten, dass wir überzeugt seien, alle Teile seien gekommen, um zu helfen und das ganze System zu schützen. Damit rückte die Idee des inneren Systems der Ego-States in den Blickpunkt – die »Innere Familie« war nicht nur eine Ansammlung autobiografisch verankerter Erfahrungsmuster unserer Sozialisationsgeschichte, sondern ein System einzelner Teile, welches nach systemtheoretischen Regeln funktioniert. Damit war neben dem Inhalt eines jeden States (z. B. die traumatische Erfahrung) auch seine Funktion im Gesamtsystem bedeutsam – etwas, worauf Richard Schwartz in seiner Arbeit hingewiesen hat. Der für mich entscheidende Paradigmenwechsel im Ego-State-Konzept ist aber der Versuch, nicht nur die Frage zu beantworten: »WARUM« gibt es diesen Ego-State, sondern »WOZU« es ihn gibt. Die letzte Frage zielt auf seine Funktion im Selbstsystem in der Gegenwart. Im 7. Kapitel dieses Buches werde ich ein systemisches Konzept einer Teile-Theorie vorstellen und auch auf die dysfunktionale Seite des »Inneren Kindes« zu sprechen kommen.

Nach all dem Gesagten stellt sich natürlich die Frage: Ist das noch die Ego-State-Therapie, wie sie von John und Helen Watkins in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt wurde und wie ich sie in dem Buch »Innere Kinder, Helfer, Täter und Co.« (2007 b) dargestellt habe? Meine Antwort wäre: ja und nein; ja – weil ich mich als Grundlage meines Denkens weiterhin gerne auf die Ideen von John und Helen beziehen möchte, nein – weil ich am Theoriekorpus so grundlegende Veränderungen eingeführt habe, dass meine Definitionen häufig mit dem Original nicht mehr kompatibel sind. Aus diesem Grund habe ich für mein Modell, welches ich als Anpassung und Weiterentwicklung des zum Teil veralteten Ego-State-Modells betrachte, im Titel des Buches den Namen »Hypno-analytische Teilearbeit« gewählt, Ego-State-Therapie steht aber weiterhin im Untertitel, um zu signalisieren, wo ich herkomme.

Ich werde in diesem Buch so ausführlich wie nötig das klassische Modell der Ego-State-Therapie von John und Helen Watkins darstellen, um Sie mit den Grundgedanken vertraut zu machen. Wenn Sie sich dann noch tief gehender mit dem Modell beschäftigen wollen, empfehle ich Ihnen das Lehrbuch des Ehepaars Watkins »Ego States. Theorie und Therapie« aus dem Jahre 1997, welches seit 2003 in deutscher Übersetzung vorliegt.

Wenn ich über dieses Modell hinausgehe, werde ich das als meine Vorschläge für eine Revision und Erweiterung des Ego-State-Konzeptes kennzeichnen. Bei der Ego-State-Therapie handelt es sich nach dem Ehepaar Watkins »um ein Instrumentarium therapeutischer Vorgehensweisen und Strategien, die auf Modifikationen der Theorien von Federn und Weiss beruhen« (Watkins 1997/2003, S. 23) und die gut mit anderen therapeutischen Methoden kombinierbar sind. Diese Anpassungsfähigkeit bringt es mit sich, dass es die Ego-State-Therapie so gar nicht geben kann, denn je nach Kombination wird der Mix zu divergenten Therapiemodellen führen und andere Schwerpunkte setzen. Für die Watkins ist die Ego-State-Therapie »eine analytische Behandlung, sie unterscheidet sich jedoch (sowohl konzeptionell als auch hinsichtlich des praktischen Vorgehens) in signifikanter Weise von der klassischen Psychoanalyse« (ebd., S. 23). Dem kann ich nur zustimmen, denn auch ich bin in einem Teil meines Herzens weiter dem psychoanalytischen Denken verpflichtet – auch wenn ich mich schon lange von der institutionellen Psychoanalyse mit ihren verknöcherten Strukturen zurückgezogen habe. Mein Vorschlag für ein hypno-analytisches Teilekonzept respektiert die Pionierleistung von John und Helen Watkins, geht aber einen Schritt weiter in die Richtung, die sie gewiesen haben: psychoanalytisches Theoriewissen, klinische Hypnose und die Theorien von Pierre Janet zur Dissoziation zusammenzubringen.

Sosehr theoretische Konzepte wichtig sind, um in unseren Therapeuten-Köpfen Klarheit zu schaffen und die besonderen Lebensumstände unserer Patienten besser einordnen zu können, so wichtig ist zum Lernen die Umsetzung in die Praxis. Auch wenn dieses Buch von mir als Theorieband konzipiert wurde, so will ich doch jedes Kapitel mit einem Ausschnitt aus einer Therapiesitzung beginnen – so oder anders hätte es sein können mit der Patientin Paula.

Am Ende der Einleitung möchte ich zum besseren Verständnis beim Lesen des Buches ein paar Begriffe klären:

Ich werde den Begriff »Ego-State« immer dann verwenden, wenn er sich auf die Theorie von John und Helen Watkins bezieht. In Zitaten benützt Watkins auch manchmal den Begriff »Ich-Zustand« dafür synonym.

In meinem Konzept werde ich den Begriff »Ich-Zustand« oder »State« durchgehend verwenden.

Für die gemeinsamen Arbeiten und Gedanken des Ehepaares John und Helen Watkins soll der Name »Watkins« stehen; voneinander unabhängige Arbeiten werden durch den jeweiligen Vornamen ergänzt.

Bei Watkins wie bei Sigmund Freud werden »Ich« und »Selbst« häufig synonym verwendet – z. B. »Die Ich-Zustände bilden eine Selbstfamilie« (Watkins 1997/2003, S. 57). Ich werde mich bemühen, die Begriffe strikt zu trennen, weil sie aus meiner Sicht unterscheidbaren Ebenen der psychischen Organisation angehören.

Viel Spaß bei einer Reise in die Welt der Polyphonie und in die weitläufigen Kolonien unseres Seins. Wie sagte schon der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares:

»Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten.

Deshalb ist, wer seine Umgebung verachtet, nicht derselbe, der sich an ihr erfreut oder unter ihr leidet.

In der weitläufigen Kolonie unseres Seins gibt es Leute von verschiedenster Art, die auf unterschiedliche Weise denken und fühlen.«

Fernando Pessoa 1932

1. Das Modell der Polyphonie des Selbst

1.1 Die Geschichte von Paula

Paula, eine 28-jährige Verwaltungsangestellte, die wegen bulimischer Essstörung zu mir in die Therapie kommt, erzählt mir eines Tages folgende Geschichte:

An der neuen Arbeitsstelle, wo sie seit 3 Monaten arbeite, sei es Brauch, sich am letzten Arbeitstag vor Weihnachten zu einem kleinen Umtrunk mit Stollen und Glühwein im Sozialraum der Abteilung zu versammeln; sie habe noch ein Telefongespräch führen müssen und sei deshalb etwas verspätet dazugekommen. Als sie die Tür öffnete, sei es schon sehr fröhlich zugegangen und sie habe sofort gesehen, dass alle Stühle bereits besetzt waren. Es sei ihr wie ein Blitz durch den Kopf geschossen: »Typisch, hier bin ich nicht willkommen, für mich gibt es keinen Platz!« Daraufhin habe sie sich deprimiert in ihr Zimmer zurückgezogen und weitergearbeitet; am Abend habe sie einen schweren bulimischen Rückfall gehabt.

Wenn wir über diese Episode aus dem Leben von Paula nachdenken, dann geht uns vielleicht Folgendes durch den Kopf:

Paula gerät in eine alltägliche Situation und nimmt diese mit all ihren Sinnen wahr – sie sieht: »Ein Stuhl fehlt!«

Paula bewertet diese optische Wahrnehmung und interpretiert sie: »Ein Stuhl fehlt bedeutet: ich bin unerwünscht« und

Paula handelt: »Ein Stuhl fehlt bedeutet: ich bin unerwünscht und deshalb ziehe ich mich zurück« (Flucht).

Interessant scheint mir vor allem der Übergang zwischen der primär neutralen physiologischen Perzeption (die Wahrnehmung des fehlenden Stuhls) und der selbstbezogenen Bedeutungsgebung dieses Sinneseindrucks. Therapeuten unterschiedlicher Therapieschulen würden jetzt zu diversen Verstehensansätzen für die geschilderte Szene gelangen und daraus vermutlich sehr unterschiedliche Therapiestrategien ableiten. Das ist sicher nicht weiter verwunderlich.

Die Psychoanalyse würde versuchen, den Kern des unbewussten Konfliktes herauszuarbeiten – vorausgesetzt, Paula verfügt über eine reifere Ich-Struktur –, oder sie würde Hypothesen über frühe strukturelle Defizite (Impuls- oder Affektregulationsstörungen) infolge einer Bindungsstörung formulieren – dazu würde das Symptom der Bulimie passen. Somit wäre Paulas Erleben und Verhalten die Folge eines Defizits und damit Ausdruck einer klassifizierbaren psychischen Störung. Neben dieser diagnostischen Einordnung käme mir noch ein weiterer Übertragungsaspekt in den Sinn: Was bedeutet die Erzählung in Bezug auf mich, ihren Therapeuten? Hat Paula auch bei mir keinen Stuhl – keinen Platz? Ist die Erzählung auch eine Metapher für Paulas Erleben im Hier und Jetzt? Würde ich mich entschließen zu intervenieren, könnte ich vielleicht zu der 28-jährigen Erwachsenen vor mir im Stuhl sagen: »Diese Erfahrung scheint etwas sehr Tiefliegendes bei Ihnen aufgewühlt zu haben – könnte es sein, dass Sie auch hier bei mir manchmal den Eindruck haben, Sie seien nicht willkommen?« Und so weiter …

So könnte man es machen, und da Therapie immer Mittel zum Zweck ist – dem Zweck der Erweiterung eigener Freiheitsgrade –, könnte man den Erfolg solch einer »Annahme über das Unbewusste« letztlich an der Zunahme an Lebenszufriedenheit der Patientin ablesen.

Was den Fokus dieses Buches angeht, möchte ich Ihnen gerne eine andere Perspektive vorschlagen – quasi einen anderen Blickwinkel auf die geschilderte Episode im Leben meiner Patientin Paula, die uns nun durch das ganze Buch hindurch begleiten wird. Ob diese Sichtweise weiterführt als die geschilderte, müsste sich am langfristigen Therapieerfolg von Paula erweisen.

1.2 Das Denken in Teilemustern

Die Basis meiner veränderten Perspektive wird durch mehrere Vorannahmen gebildet, die dem hypnotherapeutischen und hypnosystemischen Denken folgen (Gunther Schmidt, Milton Erickson usw.):

Nicht die ganze, erwachsene Paula hat in dem Schreckensmoment mit Flucht reagiert, sondern nur ein Teil in ihr, nur eine Seite von ihr ist geflüchtet.

Ein anderer Teil in Paula, die erwachsene Seite, wäre in der Lage gewesen, eine »erwachsene Lösung« zu finden – z. B. in den Raum zu rufen: »Hey, gibt’s irgendwo noch Stühle?«

Die von Paula geschilderte Szene ist nicht Ausdruck ihrer Bindungsdefizite, sondern eine kreative Lösungsstrategie und Teil eines Lern- und Überlebensprogramms, welches irgendwann in Paulas Leben gebildet wurde.

Damit gebe ich der Szene eine völlig andere Bedeutung und stelle sie in einen lösungs- und nicht defizitorientierten Zusammenhang. Ein Mensch, der so reagiert wie Paula, so könnten wir verdichtet sagen, hat ein »Platz-Problem«, vielleicht sogar ein »Heimat-Problem« in seinem Leben – jemand, der kein Platz-Thema mit sich und der Welt hat, denkt vielleicht: »Es fehlt ein Stuhl, ich werde einen holen gehen.«

Etwas vereinfacht könnte man das hinter jedem Teile-Konzept stehende Denkmodell in etwa so beschreiben:

Das Gehirn von Paula interpretiert die Wahrnehmung des fehlenden Stuhles nach einem abgespeicherten Muster, einer Art Interpretationsschablone, die sicher nicht heute, sondern früher geprägt wurde. Da dieses Lösungsmuster und das mit ihr verlinkte Handlungs- und Aktionsprogramm einem Teil unseres unwillkürlichen – d.h. unbewussten  – Gedächtnisses angehört, ist es durch kognitive Prozesse nur bedingt zu steuern: unwillkürliche Programme sind immer schneller und nachhaltiger, da sie der Anpassung und Überlebenssicherung dienen.

Dies alles ist noch eine recht nüchterne Beschreibung davon, was Paula passiert ist; noch spreche ich von Mustern, Referenzdateien, Programmen und meine damit neurobiologische Netzwerke, die als Copingstrategien auf soziale Herausforderungen im Leben in unserem Gehirn gebildet werden – noch nicht von Selbstanteilen, Persönlichkeitsanteilen oder gar »Inneren Kindern«.

In der »Ego-State-Therapie« von John und Helen Watkins (2003/ 1997) heißt so etwas ein »Ich-Zustand« (Ego-State), in der »Kognitiven  Therapie« von Albert Ellis (1969) ein »Schema« und bei Gunther Schmidt (2004, 2005) »eine Seite in mir«. Da in der Verhaltenstherapie die Dinge häufig so präzise und kognitiv geordnet beschrieben werden und die Bezeichnung »Schema« für mich am ehesten den rationalen Charme der Naturwissenschaft hat, bleibe ich noch etwas beim Schemabegriff.

Ich möchte an dieser Stelle deutlich sagen, dass ich von den Theoriekonzepten der Schematherapie in den letzten Jahren, vor allem durch die Publikationen von Eckard Roediger, viel Neues für das Verständnis des Ego-State-Konzeptes lernen konnte. Das hängt für mich damit zusammen, dass die Schematherapie, wie die Ego-State-Therapie, moderne Psychotherapieverfahren zur Behandlung komplexer psychischer Störungen darstellen, die schulübergreifend verschiedene Ansätze vereinen. Die Schematherapie ist eine gelungene Integration verhaltenstherapeutischer und tiefenpsychologischer Konzepte, die Ego-State-Therapie die Verbindung psychoanalytischer, hypnotherapeutischer und neurobiologischer Sichtweisen von dem, was den Menschen im Innersten zusammenhält.

1.3 Was ist ein Schema?

Im Zusammenhang mit der Erforschung und Therapie der Depression versucht Aaron Beck (1992) zu erklären, warum ein depressiver Patient an einer selbstdestruktiven Haltung und Lebenseinstellung festhält, obwohl er, objektiv gesehen, das Leben ganz anders gestalten könnte – und, um bei der Frage der Wahrnehmung zu bleiben, warum er meist das halb leere und nicht das halb volle Glas Wasser wahrnimmt.

Beck schreibt: »Jede Situation besteht aus einer Fülle von Reizen. Der einzelne Mensch widmet sich selektiv bestimmten Reizen, verbindet sie zu einem Muster und ordnet die Situation nach Begriffen. Obwohl verschiedene Menschen dieselbe Situation auf verschiedene Art und Weise konzeptualisieren können, neigt der einzelne dazu, in seiner Reaktion auf bestimmte Dinge oder Ereignisse konsequent zu sein. Relativ stabile kognitive Muster bilden die Basis für die Regelmäßigkeit der Interpretationen einer bestimmten Situationsabfolge. Der Begriff Schema bezeichnet diese stabilen kognitiven Muster.« (Beck, A. et al. 1992, S. 43)

Dies bedeutet, dass wir alle dazu neigen, neue Situationen nach dem alten Muster oder Schema zu bewerten, ein Vorgang, der auch entwicklungsgeschichtlich Sinn macht: Dem Ziel Nummer eins, als Mensch oder als Gattung zu überleben, ist es zuträglicher, eine neue Situation nach einem alten Muster, welches bisher zum Überleben geführt hat, zu bewerten, als ein unkalkulierbares Risiko einzugehen – die Überlebenslogik ist: dass ich hier und jetzt existiere, ist ja Beweis genug, dass das alte Muster funktioniert hat.

Wir können uns also vorstellen, dass durch eine bestimmte Situation bei einem vorbelasteten Menschen genau das Schema aktiviert wird, welches durch eine vergleichbare Situation vorgeprägt wurde. Dieses Schema ist nun die Grundlage, der Sortier- und Bewertungsrahmen, in den die Sinneseindrücke eingeordnet werden – wenn man stark und einseitig vorgeprägt ist, findet man immer nur das, was man finden will, oder wie Paul Watzlawick schreibt: »Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.« (1997)

So werden alle neuen Erfahrungen durch die Matrix, die Brille, die Vor-Urteile des Schemas gesehen, bewertet und abgespeichert.

1.4 Von der Ich-Funktion zu den»Kopfbewohnern«

In unseren bewusstseinsnahen (expliziten) wie bewusstseinsfernen (impliziten) Gedächtnissystemen liegt nach dem eben Gesagten eine große Zahl von erfahrungsabhängigen Schemata, Schablonen und Blaupausen bereit, um unsere Anpassung als Mensch an die Umwelt so schonend wie möglich zu organisieren. Die Frage für mich dabei ist: Haben wir alle diese Schemata in uns als einer Referenzdatei von Lösungsstrategien, unabhängig von einem Ich/Selbst, abgespeichert, oder sind wir die Summe dieser Muster, sind wir der Niederschlag all der sozialen Erfahrungen, die wir gemacht haben? Falls das Letztere zutrifft: Wie hat sich so etwas wie ein Selbst-Anteil oder Persönlichkeits-Anteil aus einem Schema, einem Reaktionsprogramm weiterentwickelt und wird von mir als »eine Seite in mir«, als ein Teil meines Selbst erlebt?

Die Psychoanalyse von Sigmund Freud wurde durch die Arbeiten seiner Tochter Anna Freud (Das Ich und die Abwehrmechanismen, 1936) und insbesondere Heinz Hartmann (Ich-Psychologie und Anpassungsproblem, 1939, 1950) um Aspekte der Ich-Entwicklung, der Abwehrmechanismen sowie der Funktionen des Ichs ergänzt.

»Nach Hartmann kann das Ich auch als System von Funktionen betrachtet werden. Das Ich existiert demnach, da es ja nur eine konstruierte Instanz ist, die der Vereinfachung der Erklärung der Psyche dient, nur wenn es funktioniert. Dabei ist die wichtigste Funktion, sich selbst zu organisieren, d.h. die Funktionen werden differenzierter und genauer durch die Erfahrungen im Laufe der Entwicklung.«2 Diese Funktionen des Ichs, die zum größten Teil bewusst sind und von Beginn des Lebens an auf autonome Weise arbeiten, unabhängig von den Frustrationen der Triebbefriedigung, sind für

Denken, Wahrnehmen, Erinnern, Beurteilen, Überprüfen der Realität,

für Willkürbewegungen,

Vermeidung unerträglicher Affekte (Angst, Scham, Schuld),

Vermitteln zwischen impulsiven Wünschen des Es und des Über-Ichs und der

Suche nach rationalen Lösungen zuständig.

Davon getrennt gibt es bei Hartmann das Selbst als einer Teilfunktion des Ichs und die gesunden Ich-Funktionen – das sind angeborene Potenziale des Ichs, die sich in einer »konfliktfreien Ich-Sphäre« entwickeln können. »Das Selbst (…) läßt sich definieren als strukturierter Niederschlag von Wahrnehmungen, die die eigene Person betreffen, im Gedächtnis und somit als Resultat von Ich-Funktionen.« (Roßkamp et al. 1974, S. 7)

Diese Zeit der psychoanalytischen Ich-Psychologie, die ich selbst in meiner Ausbildung in Tiefenbrunn bei Göttingen durch den Leiter der Klinik, Franz Heigl, und seine Frau, Anneliese Heigl-Evers, in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts miterlebt habe, hatte etwas sehr Funktionales, Strenges und Quasiwissenschaftliches. Vorbild war die experimentelle Psychologie, die Patientenbehandlung ähnelte einem Versuchsaufbau, und der Therapeut war Wissenschaftler im weißen Kittel.

Der andere Pol eines gedachten Kontinuums zwischen funktionalen Programmen und Teil-Selbsten sind all die Teile-Konzepte, die den Menschen als ein »multiples« Wesen beschreiben, als eine Polyphonie der inneren Stimmen und Persönlichkeitsanteile. Hier sind die Schemata, Programme, wie ich sie oben beschrieben habe, personifiziert, zu eigenen Entitäten differenziert, tragen Namen, und man kann sie visualisieren. Mary Goulding nennt sie in ihrem Buch »Kopfbewohner oder: Wer bestimmt mein Denken?« (2000) Monster, Bösewichter, Schurken, Widersacher, aber auch Alleswisser, armes Jammerschwein oder »deine Privatelfe«, um nur ein paar zu nennen. Ein märchenhaftes Land, bevölkert mit den unterschiedlichsten freundlichen bis unausstehlichen Schöpfungen der Vorstellungskraft. Alles sehr nett und deutlich weniger rational und quasiwissenschaftlich, aber auch verwirrend und gelegentlich etwas naiv.

1.5 Übersicht über die Teilekonzepte

In Abbildung 1-1 finden Sie eine Zusammenstellung der wichtigsten Therapierichtungen, die das Teile-Modell der Psyche in ihren Konzepten nutzen. Mich interessiert vor allem das Konzept der Ego-State-Therapie, welches die Grundlage meiner hypno-analytischen Teile-Therapie bildet.

Allen gemeinsam ist der innovative Gedanke, dass das Ich oder das Selbst eines Menschen nicht nur aus einem identitätsstiftenden Zustand besteht, sondern aus verschiedenen Seiten, Parts, Teilen, Rollen, Ich-Zuständen, Ego-States zusammengesetzt ist. Ich glaube aufgrund meiner klinischen Arbeit, dass das Konzept des multidimensionalen Selbst mehr der inneren Wirklichkeit von uns Menschen entspricht als einfachere Theoreme, die von einem konsistenten Ich ausgehen, wie wir dieses in der Strukturtheorie (Es – Ich – Über-Ich) von Freud kennen. Die Ego-State-Theorie der Watkins lässt sich als ein Energie- oder Teilemodell der Persönlichkeit beschreiben, eine Selbst-Familie, die aus umgrenzten und beschreibbaren Sub-Selbsten zusammengesetzt ist. Diese Auffassung vom Ich/Selbst taucht in den letzten 100 Jahren in der Literatur der Psychoanalyse immer wieder auf, konnte sich aber bis heute gegen Freuds klassisches Instanzenmodell nicht durchsetzen. Der Teile-Ansatz findet sich nicht nur bei den Watkins, sondern auch in der Transaktionsanalyse von Eric Berne (2005, 2006). Ich halte diesen Ansatz deshalb für so bemerkenswert, weil er psychoanalytische Konzepte mit hypnotherapeutischen Techniken kombiniert und durch sein innovatives Denken einen vollkommen neuen Zugang zum Patienten und somit eine veränderte Praxiologie therapeutischer Techniken schafft. Viele dieser Therapietechniken des Ego-State-Ansatzes werden heute erfolgreich in der Behandlung von Patienten mit Dissoziativer Identitätsstörung (vormals als Multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet) eingesetzt, lassen sich aber nach meiner Erfahrung ebenso effektiv für die Phase der Stabilisierung von Patienten mit PTBS und für die Borderline-Therapie (siehe dazu Reddemann 2004, Sachsse 2004) oder bei Menschen mit konfliktinduzierten Störungen (die sog. klassischen Neurosen) nutzen. Es wäre sicher zu kurz gesprungen, in der Ego-State-Therapie der Watkins nur eine Methode der Behandlung traumaassoziierter Störungen zu sehen – ein Missverständnis, das auch erfahrenen Teiltherapeuten immer wieder unterläuft.

Abbildung 1-1: Verschiedene Theorien zum multidimensionalen Selbst

Auch bei C. G. Jung finden sich Konzepte zu einer inneren Multiplizität. Er unterscheidet in der Persönlichkeit des Menschen die negativ gefärbten Anteile, die er Komplexe nennt, von den positiven, die er als Archetypen bezeichnet. Diese von ihm postulierten Komplexe innerhalb der Persönlichkeit beschrieb er als eine Gruppe aneinander gelagerter, unbewusster Gedankenvorstellungen. 1935 schrieb er über den »Komplex«, dass dieser »die Tendenz [habe], eine kleine Persönlichkeit zu bilden. Er hat eine Art Körper, einen gewissen Grad an eigener Physiologie. […] kurz, er benimmt sich wie eine Teilpersönlichkeit. […]. Ich bin der Ansicht, daß unser persönliches Unbewußtes ebenso wie das kollektive Unbewußte aus einer unbestimmten, da unbekannten Anzahl von Komplexen oder fragmentarischen Persönlichkeiten besteht.« (Jung, zitiert in Schwartz 1997, S. 29) Dieses Konzept zeigt viel Ähnlichkeit mit Federns Ich-Zuständen, mit denen ich mich in den nächsten Kapiteln noch ausführlich beschäftigen werde; vor allem C. G. Jungs Idee, eine Person habe nicht Komplexe, sondern der Komplex habe sie, die Person, entspricht der Idee der führenden Ich-Zustände, der Gastgeber(host)-Persönlichkeit, wie man bei den Patienten mit DIS/MPS3 sagen würde.

Zu weiteren Multiplizitätskonzepten, wie der Theorie der Ego-States bei Assaglioli und Ferrucci (Psychosynthese), zur Gestalttheorie, zur Transaktionsanalyse und zur systemischen Theorie (»Das innere Team«, F. Schulz von Thun, und »Innere Familie«, »Inneres Parlament«, Gunther Schmidt) siehe die kurzen Zusammenfassungen bei Peter Uwe Hesse (2003).

1.6 Die Grenzen des Modells

So wie keine Therapieschule für sich die Wahrheit in Bezug auf das Verstehen der menschlichen Seele reklamieren sollte, so gibt es bei den therapeutischen Handlungsstrategien kein »Universalwerkzeug« für alle auftauchenden Probleme. Jede Annahme über das Auf und Ab im Seelengrund des anderen sind erst mal Sinnkonstruktionen und subjektive Wirklichkeitsbeschreibungen über den Interaktionsraum zwischen uns Therapeuten und dem Patienten und sagen oft mehr über uns als über den anderen aus. So weit der allgemeine Teil und der Aufruf zur Bescheidenheit.

Bei dem hier vorgestellten Teilemodell muss ich aber noch einen Schritt weiter gehen: Der auch von mir (Peichl 2007) so locker vorgetragene Spruch »Sind wir nicht alle etwas multipel?« ist in seiner Schlichtheit einfach falsch und muss für Menschen mit »multipler Persönlichkeit« diskriminierend wirken. Multipel zu sein ist ein schmerzlicher Zustand, ein Ausdruck innerer Zerrissenheit zwischen oft unkalkulierbar auftauchenden Teilidentitäten und entsteht als Folge schwerer Traumatisierung. Auch wenn das sich innerliche Auftrennen an den bisherigen Nahtstellen der Persönlichkeitsoberfläche ein hochwirksamer Überlebensmechanismus unter Hochstress ist, geht damit das Gefühl der Kohärenz, das »Mit-sich-identisch-Sein«, das Erleben der »Meinigkeit« (Metzinger 2010) verloren. Wir sollten bei nicht hoch dissoziativen Menschen eher von Vielfalt, von Pluralität, von kreativer Vielseitigkeit als von Multiplizität sprechen und diesen Fachterminus für die »Multiple Persönlichkeit« reservieren. Unser Normalo-Selbst ist ein System unterscheidbarer Teil-Aspekte, Elemente oder Zustände (States), welche zusammen in ein sinnstiftendes Identitätsgefühl gefasst sind – auch wenn ich viele meiner Ich-Zustände durch die Selbsterfahrung zu kennen glaube, bleibe ich immer Jochen Peichl, relativ identitäts-konstant in Zeit und Raum.

Und hier zeigt sich eine mögliche Schattenseite des Teile-Modells: Eine zu intensive Beschäftigung mit den inneren »Kopfbewohnern«, den Inneren Kindern usw. kann die Tatsache vergessen machen, dass es sich beim Konzept des Inneren Kindes nur um theoretische, therapeutische Konstrukte handelt. Wir haben kein Inneres Kind in uns und deshalb ist der Begriff auch unglücklich gewählt und suggeriert ein naives Denken und befördert esoterische Vereinfachungen. Es geht bei diesen Modellvorstellungen immer nur um Innere-Kind-Zustände als eine momentane Erlebnisform. Auf dieses häufig weitreichende Missverständnis hat Ulrich Sachsse immer wieder hingewiesen (in: W. Herbold, U. Sachsse 2007).

Für Menschen mit einem brüchigen Identitätsgefühl kann es verführerisch sein, sich in eine innere Märchenwelt zurückzuziehen und die Seelenlandschaft unbewusst mit immer mehr freundlichen, aber auch bösartigen Wesen zu bevölkern, die eine Art Gegenrealität zur mühsamen Alltagswirklichkeit bilden. Therapeuten können diesen wenig hilfreichen Prozess fördern, wenn sie nicht verantwortungsvoll mit den Möglichkeiten und Gefahren der Teile-Arbeit bei Patienten aus dem nicht hoch dissoziativen Spektrum umgehen: bei Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), Komplexer PTBS (DESNOS), »ego-state-disorder« (DDNOS) und Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und ihren Kombinationen. Bei diesen traumaassoziierten Störungen sollte immer der Unterschied zwischen der Imagination von Persönlichkeitsseiten (mehr im Sinne von personifizierten Rollenbildern, die nicht autark voneinander existieren und leben) im Gegensatz zu real existierenden »kleinen Persönlichkeiten« im Selbst, mit und ohne Amnesie wie bei der »Multiplen Persönlichkeit«, für den Patienten spürbar und kognitiv verstehbar bleiben.

Aus diesem Grund stehen viele Selbsthilfegruppen für Menschen mit DIS dem Konzept der Teiletherapie, namentlich der Ego-State-Therapie, auch sehr misstrauisch gegenüber. »Das Sternenmeer« ist ein Web-Projekt von mehreren Frauen mit dissoziativer Identität, aus dem ich zitieren möchte:

»Das Konzept des inneren Kindes ist ein theoretisches, therapeutisches Hilfskonstrukt. Und das wird leider oft vergessen. Diese sogenannten ›inneren Kinder‹/Anteile existieren NICHT real. Sie handeln, denken und fühlen NICHT eigenständig. Sie waren nicht selbstständig in der Schule, und der dazugehörige Mensch hatte dafür auch keine Amnesie. Du kannst dir stundenlang aufs Wildeste eine Putzfee imaginieren, deine Bude ist trotzdem nicht aufgeräumt … Dieses Konzept sehen wir also sehr kritisch. Es wird eine Spaltung und (reale) Existenz proklamiert, die es so schlicht nicht gibt. Ein Therapeut, der nicht immer wieder darauf sorgfältig hinweist, handelt in unseren Augen fahrlässig. […] Multiple Systeme sind hoch individuell und entsprechen mit Sicherheit nicht den klassischen Archetypen. Unsere Existenz gründet sich auf unter grausamsten Umständen erzwungene Aufspaltung, und das hat mit Sicherheit nix mit ner Blümchenwiese voller Plüsch-Imagination zu tun und auch nicht mit dem leider von vielen Therapeuten händeringend gesuchten klassischen Schema F. Wir empfinden es als hochkritisch und auch gefährlich, das miteinander gleichsetzen zu wollen.«4

Inwieweit Teile-Arbeit bei Menschen mit DIS sinnvoll ist, wo die Chancen und die Grenzen des Modells liegen, müssen wir später noch einmal diskutieren, aber den Einspruch der Frauen von »Das Sternenmeer« gegen »Multiplizität für jedermann« als neuer Therapiemodewelle sollten wir ernst nehmen.

2. Das Vermächtnis von John und Helen Watkins: Was sind Ego-States und wie entstehen sie in unserer Psyche?

2.1 Die Geschichte von Paula

Nachdem Paula zu Beginn der Therapie zugestimmt hatte, dass sie bereit wäre, in der Sitzung mit dem Teilemodell zu arbeiten, wiederhole ich kurz die Grundprinzipien und führe Paula in einen leichte Trance. Sie sitzt entspannt in ihrem Stuhl, und es beginnt folgender Dialog:

Therapeut: »Ich würde gerne mit dem Teil in der erwachsenen Paula sprechen, der mir aus seiner Sicht erzählen kann, was gestern passiert ist, als kein Stuhl für Paula im Sozialraum übrig war und Paula wegrannte. Wenn du/Sie da bist/sind, bitte sprich durch den Mund der erwachsenen Paula zu mir«. Nach kurzer Zeit eine sehr ängstliche, kindliche Stimme

Patientin: »Ja … ich bin da.«

Therapeut: »Hallo … danke, dass du gekommen bist, ich freue mich, dich kennenzulernen … soll ich du oder Sie sagen…wie heißt du denn, wie soll ich dich nennen?«

Patientin: »Sag einfach du … ich bin ›die Kleine‹, bin schon ein Schulkind.«

Therapeut: »Oh’ ein Schulkind … Schön, dich kennenzulernen … was war denn da los gestern?«

Patientin: »Das war ganz schrecklich … (weint) … ich dachte, keiner mag mich … für mich ist nie Platz … ich bin überflüssig …«

Therapeut: »Das muss ja schrecklich gewesen sein … wann bist du denn entstanden im Leben der Paula? Was war denn da los … dass es dich gibt?«

Patientin: »Ich musste wieder zurück aus der Pflegefamilie ins Heim, und meinen Bruder haben sie gemocht und behalten.«

Aus der Anamnese ist mir bekannt, dass Paula mit ihrem Zwillingsbruder im Alter von zweieinhalb Jahren ins Heim kam und dass beide mit 5 Jahren in eine Adoptivfamilie geschickt wurden, wo sie ein Jahr Probezeit hatten. Paula war zu dieser Zeit trotzig, verschlossen und wurde von der Familie nach der Einschulung wieder ins Heim zurückgeschickt – der Bruder durfte bleiben. Paula erinnert noch heute ihre Verzweiflung und den letzten Satz der Adoptivmutter: »Du bist uns zu schwierig, hier ist kein Platz für dich.« Von da an vertraute sie niemandem mehr, zog sich schnell in ihre innere Welt zurück und galt als schwieriges, verschlossenes und bockiges Kind.

Wir können also vermuten, dass in dem Moment, als das beobachtende Ich von Paula registrierte, dass kein Stuhl für sie im Sozialraum übrig gelassen war, das alte Schema des »Keinen-Platz-haben-in-der-Welt« reaktiviert wurde und der dazugehörige Ego-State, Ich-/Selbstzustand, der sich um dieses Thema in vielen Durchläufen und Variationen gebildet hatte, die Selbst-Steuerung übernahm. Alle alten Bilder von Verlassenheit, Gefühle von Einsamkeit, Gedanken, »nichts wert zu sein«, und unaushaltbare Körpererinnerungen brachen über Paula augenblicklich herein – bisher gut verwahrt in den Tiefen der Erinnerungen in dem Ego-State »die Kleine«.

Diese 6-jährige kleine Paula kannte nur einen Weg, sich zu retten: die Flucht an einen sicheren Ort. Somit hatte nicht die Erwachsene auf den fehlenden Stuhl reagieren und mit all ihren erwachsenen kognitiven Fähigkeiten und Stärken eine Lösung finden können, sondern »die Kleine« hatte die innere Bühne betreten und das »Notfallprogramm« wurde gestartet – aus der Sicht eines 6-jährigen Schulkindes auch sehr verständlich und eine kreative Leistung.

2.2 Was sind Ego-States?

2.2.1 Paul Federn – der glücklose Vordenker

John und Helen Watkins berufen sich in ihrem Lehrbuch »Ego-States Theorie und Therapie« (2003/1997) auf die energiepsychologische Theorie der »Ich-Zustände« des Wiener Freud-Schülers Paul Federn (* 13. 10. 1871 Wien, † 4. 5. 1950 in New York durch Selbstmord).

Paul Federn, ein langjähriger und eifriger Schüler Sigmund Freuds, postulierte aufgrund seiner Arbeit mit Patienten mit Depersonalisation und Psychosen, abweichend von der Auffassung seines Lehrers und Mentors Freud, die Theorie der »Ich-Zustände«. Er beschrieb das Ich als einen realen, erfahrbaren Gefühlszustand (Ich-Gefühl) und nicht als ein einfaches theoretisches Konstrukt, wie dies Freud in seiner Arbeit »Das Ich und das Es« im Jahre 1923 getan hatte. Für Federn stellte das Ich keine Entität dar, sondern bestand aus »Sub-Persönlichkeiten«, segmentierte Persönlichkeitsstrukturen, zusammengehalten durch ein Identitätsgefühl. Jeder dieser Ich-Zustände, die in der frühen Kindheit entstehen, habe einen eigenen Ursprung, eine eigene Geschichte sowie eigene Gedanken und Gefühle. So weit der Überblick, aber lassen Sie mich das eben Gesagte noch etwas vertiefen.

In seinen psychoanalytischen Behandlungen spezialisierte sich Federn auf Patienten mit Psychose, De-Realisation und De-Personalisation und nahm erstmals 1905 eine Patientin mit Psychosestörung in Analyse. Seine Forschungsneugier galt der Stärke und Qualität des von ihm so bezeichneten Ichgefühls, den wechselnden Ichgrenzen der Patienten mit dissoziativen Störungen und der affektiven Besetzungen des Ich. Bei der Beschäftigung mit diesen Kranken, die sich in unterschiedlichen Erlebenszuständen bewegten, sich innerlich fremd, gefühllos und dann wieder von Angst überflutet erlebten, war das Modell der Ichzustände zur Erklärung hilfreicher, als von einem monolithischen, einheitlichen Ich auszugehen. Wie die Patienten den Sichthorizont von Paul Federn prägten, zeigt folgendes Zitat: »Immer wieder mit Menschen beschäftigt, die unter Entfremdung und Depersonalisation litten und die wiederholt zu Aussagen kamen wie ›das arme kleine Ich‹ [wird] noch immer nicht erkannt (aus: Paul Federn 1949 a, S. 170), ›Ich bin nicht mehr ich‹ und ›Ich bin meiner Selbst verlustig gegangen‹ (aus: Paul Federn 1949 b, S. 228), sah sich Paul Federn genötigt, eine Psychologie des Ich zu entwickeln, die diese Gefühlsmomente, ja Zustände von ›Übermaß an Schrecken und Angst‹ (Paul Federn 1949 a, S. 183) berücksichtigen sollte.« (Elrot 1990, S. 139)

Die Vermutung dürfte nicht zu weit hergeholt sein, dass viele der Symptome der Patienten von Paul Federn heute als traumaassoziiert angesehen würden und sich eine Reihe von Menschen mit dissoziativen  Störungen oder Borderline-Persönlichkeitsstörung darunter befand – so prägte der Kontext das Verstehen, würden die Systemiker sagen.

Als Ichgefühl bezeichnete Paul Federn eine Qualität des Erlebens, durch die ein Ergebnisinhalt als zum Ich und nicht zur Umwelt gehörig empfunden wird, wobei die Umwelt auch eine psychische Innenwelt sein kann. Im Icherleben sind Federn zufolge lebensbejahende und destruktive Komponenten wirksam; die Libidotheorie und den Todestrieb Freuds versuchte der loyale Schüler, der er bis zu seinem Lebensende war, mit seiner Theorie von Ich-Energie und Objekt-Energie zu verbinden. Paul Federns Theorie könnte man eine triebpsychologische Ich-Psychologie nennen oder auch einen Versuch, den Triebdualismus Freuds zu retten.

Rosita Ernst schreibt in ihrer Doktorarbeit: »Es sei gleich vorweggeschickt, dass es eklatante Differenzen zwischen eher vom psychoanalytischen mainstream vertretenen Ichpsychologie und der Federn’schen Ichpsychologie gibt. Während Erstere in der US-amerikanischen Psychoanalyse eine große Blüte erlebte und den Anschluss an die positivistisch orientierte akademische Psychologie suchte und großen Wert auf Operationalisierbarkeit legte, war die Ichpsychologie Paul Federn mehr phänomenologisch inspiriert und bediente sich eines Ich-Begriffs, der von der heutigen Psychoanalyse wohl eher als ›Selbst‹ übersetzt werden würde. Innerhalb der Psychoanalyse war Paul Federn aus diesem Grund lange Zeit ein Außenseiter.« (2002, S. 18)

Als dieser Außenseiter arbeitet er sich zeitlebens an seinem großen  Über-Vater Freud ab, verschwieg seine theoretischen Differenzen zu ihm, um nicht, wie viele vorher, in Ungnade zu fallen, immer bemüht, die veraltete Energie- und Triebtheorie in eine neue Zeit hinüberzuretten, als in England schon das Morgenlicht der Objektbeziehungstheorie dämmert. Manchmal war er in seiner Diktion in dem Buch »Ichpsychologie und die Psychosen« weit triebtheoretischer als Freud selbst!

Freuds letzte Definition des Ich-Begriffs erschien 1938 in »Abriss der Psychoanalyse«, wo er das Ich als eine Organisation definiert, die ständig libidinös besetzt ist und der er Funktionen wie Abwehr, Realitätsprüfung, Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Urteilsvermögen zuschrieb – »Für Freud war das Ich nicht weiter zerlegbar, sondern ein unteilbares Ganzes«. (Ernst Federn 1993, S. 16)

Ernst Federn schreibt mit Blick auf seinen Vater: »Was ist das Ich? Für Freud ist es die seelische Instanz, die das Es von der Außenwelt abgrenzt, für Hartmann und seine Anhänger die Instanz, die sich mit der Außen- und Innenwelt beschäftigt, um beide zu vereinigen, einander zu adaptieren. Paul Federn beschrieb das Ich phänomenologisch als das Gefühl: Ich bin Ich. Dieses Gefühl hat unendlich viele Grenzen, aber es ist normalerweise so selbstverständlich, daß man darüber weder redet noch nachdenkt.« (Ebd., S. 17)

Zum Ichgefühl

Federns Theorie gründet sich auf die ausschließliche Erfahrung mit schwerstgestörten, vermutlich auch traumatisierten Patienten. Norman Elrod (1990) meint, dass Federn versuchte, eine Ichpsychologie zu schaffen, die dieses Erleben seiner Patienten spiegeln sollte, und in diesem erlebenden Kontakt mit den Krankheiten entwarf er das Konzept des Ichgefühls.

»Mit Ichgefühl, ob als Körper ›Ichgefühl oder als seelisches Ichgefühl, wollte er, die Sensation, die man jederzeit von seiner eigenen Person hat‹, ausdrücken, ›daß Eigengefühl des Ichs von sich selbst‹ (Paul Federn 1932, S. 59), vielleicht das Erleben, das Daniel Stern später mit ›Selbstgefühl‹ (sense of self ) bezeichnet, wie Werner Bohleber (1989, S. 565) schreibt.« (Elrod 1990, S. 139)

Dieses Ich, so meinte Federn im Gegensatz zu Freud, sei bereits ab der Geburt des Säuglings mit im Spiel: »So sprach Paul Federn von einem Ur-Ich, das Welt und ich narzißtisch umfasst.« (Elrod 1990, S. 140)

Eduardo Weiss, Schüler von Paul Federn, schreibt im Vorwort des Buches »Ichpsychologie und die Psychosen«: »Das Ichgefühl ist das Gefühl der Einheit der Erlebnisse des Individuums in Bezug auf Zeit, Raum und Kausalität.« (Federn 1956, 1978, S. 13) Solange das Ich normal funktioniert, werden wir seiner Funktionen nicht gewahr, so wie wir uns normalerweise nicht gewahr sind, dass wir atmen. Das Ich ist ein psychisches Erlebnis und nicht eine gedankliche Abstraktion, es ist nicht die Summe aller bewussten, aufeinander bezogenen Erscheinungen, es ist auch nicht eine integrierende Funktion der Psyche.

Und weil das Ich eine Erfahrung, ein inneres Erleben – eine »Erlebniswirklichkeit« (ebd., S. 14) – ist, setzt es Paul Federn nicht wie Freud mit dem Bewusstsein, sondern mit dem Gefühl des eigenen Ichs, dem Ichgefühl gleich oder dem Selbsterleben, wie wir heute sagen würden.

»Wenn man von einer Besetzung sich fortwährend ändernder Inhalte mit dem vereinheitlichenden zusammenhängenden Ichgefühl spricht, hat man eine genaue Beschreibung des tatsächlichen Icherlebens im Sinne und nicht bloß eine Theorie. Obwohl das Icherlebnis aus einem Zustand in den anderen übergeht, wird es doch als fortdauernd gefühlt …« (Ebd., S. 14)

Um nun das Ichgefühl zu erfahren und die verschiedenen Funktionen des Ichs zu aktivieren, braucht es eine Energie, eine Menge von Besetzungsenergie – eine aus meiner Sicht sehr mechanistische Vorstellung: Damit der Motor läuft, braucht er Strom oder Brennstoff ! Wie und was diese Besetzungsenergie ist, weiß niemand und bleibt bei Paul Federn und später auch bei John und Helen Watkins für mich unklar – bei Freud zumindest war diese Ichbesetzung nicht libidinöser Natur. Durch diese Besetzung mit Energie wird eine Unterscheidung erzeugt – für Paul Federn ist das Ich gleichzeitig Subjekt und Objekt: Ist dieses Ich ein Subjekt, dann sage ich: ich mache, ich tue; wenn es Objekt ist, dann ist es das Selbst (die reflexive Besetzung).

Zu den Begriffen »Ichgrenze« und »Ichzustand«

Federn erklärt die Halluzination, die Depersonalisation und die Wahnbildung mit dem wichtigen Begriff der Ichgrenze.