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Gleichgültige und wenig einfühlsame Eltern können ihr Kleinkind psychisch schwer schädigen. Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter kann die Folge sein. Mit dem neuen Ansatz der Teiletherapie zeigt der Autor, wie die narzisstische Wunde verstanden und therapeutisch geheilt werden kann. Leben wir im Zeitalter der Narzissten? Arroganz bei gleichzeitiger Entwertung anderer, Sucht nach Bewunderung und Bestätigung der eigenen Person, fehlende Empathie für die Umwelt – jeder kennt sie, die oft außergewöhnlich erfolgreichen Mitmenschen mit dem übergroßen Ego. Jochen Peichl verfolgt in diesem Buch einen neuen Ansatz, um besser zu verstehen, wie Narzissmus entsteht, welche Spielarten mit der Störung einhergehen und wie psychotherapeutische Hilfe aussehen kann: Aus dem Blickwinkel der hypno-analytischen Teiletherapie wird die Dynamik der narzisstischen Persönlichkeitsentwicklung als Lösungsversuch für frühe Verletzungen des Selbstwertgefühls begriffen. Daraus lassen sich Interventionen für die Therapie ableiten, welche gezielt diejenigen Persönlichkeitsteile stärkt, die in der Kindheit eine Selbstwertschwächung erfahren haben. - Autor ist der bekannteste Vertreter der hypno-analytischen Teiletherapie - Zahlreiche Vorträge und Weiterbildungsveranstaltungen - Innovativer Ansatz zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung - Zahlreiche Interventionsbeispiele
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Seitenzahl: 332
Jochen Peichl
Narzisstische Verletzungen der Seele heilen
Das Zusammenspiel der inneren Selbstanteile
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-89217-8
E-Book: ISBN 978-3-608-10843-9
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20281-6
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Einleitung: Eine Lösung wird zu einem Problem
INarzissmus, ein paradoxes Konstrukt
IIDie Choreografie der Innenteile: ein hypnotherapeutischer Ansatz
1Die unendliche Geschichte vom Ich und vom Selbst
2Die Münzrollen-Metapher
3Die innere Mannschaftsaufstellung
4Das Drama-Dreieck
5Die Grundkonstellation der Choreografie: Täter-Opfer-Retter
6Die Beziehung zwischen den Teilen
7Der Systemorganisator und das Zusammenspiel der Teile
8Grundregeln der Choreografie der inneren Selbst-Anteile
IIIDie narzisstische Verletzung der Seele
1Allgemeines
2Zwei narzisstische Typen oder Reaktionsmuster
3Kurzer psychoanalytischer Überblick über das Phänomen des Narzissmus
4Narzissmus als Störung des Selbstwertes und die therapeutischen Möglichkeiten mittels Hypnose und klassischer Ego-State-Therapie
5Narzissmus aus Sicht der Schematherapie
6Narzissmus aus Sicht der Transaktionsanalyse
IVDie Choreografie des Narzissmus – mein hypno-analytisches Teilemodell
1Das Dilemma zwischen Bindung und Individuation
2Die narzisstische Wunde – die Entstehung der verletzten Kindanteile
3Das grandiose Selbst aus Sicht der Teiletherapie
4Die verschiedenen Entwicklungslinien der beiden Subtypen
5Das grandiose Selbst: der Wächter des verletzten inneren Kindes mit zwei Gesichtern
6Das grandiose Selbst als Überlebensstrategie – nach außen und innen
7Musterunterbrechung und Textmarkierung
VVersorgung und Therapie der narzisstischen Verwundung: ein hypno- und teiletherapeutischer Verbandskasten
1Ziele in der Psychotherapie und grundlegende Strategien
2Arbeit mit kritisierenden Ego-States (Innere Kritiker) der Achse 2 und die Macht der Trancephänomene
3Trauma und Narzissmus: der Opfer-Ego-State
4Die Arbeit mit Gefühlen von Scham und Neid
5Arbeit mit aggressiven Ego-States
6Arbeit mit süchtigen Ego-States
7Arbeit mit ängstlichen Ego-States
8Die besorgten Beschützer, die nicht zur Seite treten wollen
9Die Arbeit mit den verletzten Kindanteilen
Schlussgedanken: Es ist nie zu spät für bessere Eltern!
Literaturverzeichnis
Register
»Die Psychoanalyse hat das Graben in der Tiefe übertrieben. Im Fluss des Lebens fließt alles mehr oder weniger weit oben. Die allertiefste Tiefe ist eine Illusion.«
Zitat des indischen Psychoanalytikers Sudhir Kakar, ein Schüler von Erik Erikson
Die meisten der psychoanalytischen Theorien zum Narzissmus sind sehr komplex und häufig nicht leicht zu verstehen; will man die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der klinischen Theorie zur narzisstischen Persönlichkeit des Selbstpsychologen Heinz Kohut (1913–1981) und des Objektbeziehungstheoretikers Otto Kernberg (1928) wirklich verstehen, so braucht man Ausdauer und Opferbereitschaft. Diese Theoriegebäude wirkten auf mich mitunter wie furchteinflößende Bauten, denen man sich nur mit Ehrfurcht nähern konnte und in deren Mauern man sich immer etwas beklommen fühlte, wusste man doch nie, ob man alles richtig verstanden hatte. Diese Unsicherheit hatte Auswirkungen auf meine psychoanalytische Praxis, die ich als zunehmend verkopft, regelorientiert und steril erlebte. Es schien nur eine Richtung zu geben: in der »Tiefe des Unbewussten« zu arbeiten – wo immer dieser Ort auch war, »die Arbeit in der Tiefe« wurde zum Gemeinplatz.
In meiner hypnotherapeutischen Ausbildung lernte ich dann Jahre später etwas ganz anderes kennen, nämlich den Versuch, die Komplexität der Denkannahmen zu reduzieren und dem Patienten und seinen Bedürfnissen anzupassen. Konnte ich zwar Milton Ericksons Satz »Wir müssen für jeden Patienten eine neue Psychotherapie erfinden« nicht so ganz umsetzen, so verstand ich doch die Botschaft: Wir brauchen in der Psychotherapie eine radikale Komplexitätsreduktion und Vereinfachung, um den Patienten lösungsfokussiert zu erreichen.
Auf der Tagung »Reden reicht nicht!?« im Mai 2014 sagte Michael Bohne in einem Symposium: »Es geht nicht nur um Technik, sondern ob die Methode, der Ansatz geeignet ist, mich als Therapeuten in einen optimalen Zustand zu bringen, in dem ich mich wirklich wohlfühle und wo ich Selbstwirksamkeitserlebnisse und Potentiale in mir spüre. Ist die Methode geeignet, auch den Patienten in einen guten Zustand zu bringen, um 1. die Selbstwirksamkeit zu stärken und um 2. die Selbstbeziehung zu verbessern? Viele Methoden sind so kompliziert, dass die Therapeuten komische Insuffizienzgefühle haben, während sie die Technik ausüben. Die Methode muss zum Anwender und Patienten passen.« Er sprach mir aus dem Herzen.
In diesem Buch lege ich Ihnen meine hypno-analytische Interpretation der frühen seelischen Verletzungen von Menschen vor, die nicht genug von den »wichtigen anderen«, von denen sie anhängig waren, geliebt worden sind. Dieses »Loch in der Seele«1, gemeinhin als narzisstische frühe Störung bezeichnet, möchte ich aus Sicht eines Ego-State-Therapeuten betrachten und Möglichkeiten diskutieren, wie man diesen Menschen mit den Narben auf der Seele helfen kann. Ein Grundsatz soll mich dabei leiten: »Narzisst-sein« verstehe ich erst mal nicht als abwertende Pathologisierung, als herabsetzende Beschreibung eines unausstehlichen und gestörten Menschen, sondern als seine kreative und hoch kompetente Lösung eines seelischen Dilemmas. Dass diese Lösung einen Preis kostet, ist im Kontakt mit männlichen wie weiblichen Narzissten oft bitter zu erfahren – aus einer Lösung wird später im Leben ein Problem. Um die Entstehung und die Heilung der narzisstischen Wunde, die wir alle in uns tragen, besser zu verstehen, werde ich nicht in den tiefsten Tiefen des Seelengrundes graben, sondern den obigen Satz beherzigen: »Im Fluss des Lebens fließt alles mehr oder weniger weit oben. Die allertiefste Tiefe ist eine Illusion.« (Sudhir Kakar)
Noch ein paar Worte zur Theorie der Multiplizität unseres Selbst: Lange dachte man, dass reife und integrierte Menschen keine Persönlichkeitsanteile hätten, und zum Beispiel Fricke (1993) vermutete, dass der Stand der Integration mit dem Stand des Selbstbewusstseins, besser der Selbsterkenntnis, parallel ging; für ihn hatten nur Neurotiker ein multiples Selbst. Die Multiplizität ist die vielfältige Natur des Geistes, die entsteht, wenn Theoretiker heute versuchen, die intrapsychischen Prozesse des Geistes zu beschreiben. Freud hatte eine dreiteilige Natur des Geistes vorgeschlagen, bestehend aus dem Es, dem Ich und dem Über-Ich. Innere Objekte und Selbstrepräsentanzen im Geist wurden von den Objektbeziehungstheoretikern beschrieben, Selbstpsychologen konzipierten das »Grandiose Selbst« oder das »Idealisierte Selbst« (Heinz Kohut), die Jungianer sprachen von Archetypen und Komplexen, und kognitive Verhaltenstherapeuten diskutieren eine Vielfalt von Schemata (Young). Jede theoretische Beschreibung hat seine eigene therapeutische Methode hervorgebracht, um die Vielfältigkeit des Geistes anzusprechen – einige Methoden arbeiten direkter mit der Vielfältigkeit, andere weniger. Das Innere-Familiensystem-Modell von Richard Schwarz nutzt das systemische Denken, um besser zu verstehen, wie die einzelnen Teile des Selbst miteinander interagieren.
Ein System wird von Schwarz definiert als »eine Einheit, deren Teile miteinander in Beziehung stehen in einem bestimmten Muster« (Schwarz 1997, S.37). Die Funktionstüchtigkeit des Systems wird durch die Organisation und die Struktur des Systems selbst determiniert. Mein Ansatz betont die Wichtigkeit, das Individuum als ein System von verschiedenen Ego-States oder Selbst-Anteilen oder Parts zu verstehen, die miteinander Muster bilden, Koalitionen eingehen und sich wieder lösen wie in einer modernen Tanz-Choreografie. Ziel ist die Anpassung des Individuums – besser Poly-viduums – an überlebensbezogene Kontextbedingungen, Suche nach Schutz und Sicherheit und Heilung von Verletzungen und Traumatisierungen der Seele.
Ich mag die Metapher eines Orchesters, um zu beschreiben, wie die Teile miteinander agieren, wie die einzelnen Musiker und das Erwachsenen-Selbst als Dirigent handeln, um eine »Corporate Identity« herzustellen, damit Harmonie herrscht. Ein guter Dirigent hat ein Gefühl für den Wert jedes einzelnen Instruments und für die Fähigkeit jedes einzelnen Musikers und ist daneben vertraut mit Notenlesen und der Musiktheorie, um zu wissen, wie jeder Teil sein Bestes geben kann. Wenn aber ein Teil wegen »Verstimmung« ausfällt, müssen andere seinen Part übernehmen, oder die Auswahl der Musikstücke durch den Dirigenten muss dem gerade einsatzfähigen Klangkörper angepasst werden.
Ich werde in diesem Buch immer wieder die Worte »narzisstisch«, »Narzisst«, »Narzisstin« usw. gebrauchen, um ein spezielles Verhalten oder eine Verhaltensausprägung der Persönlichkeit eines Menschen zu bezeichnen. Dabei unterscheide ich mit Schulz von Thun2
einen erfüllten Narzissmus, eine gesunde Selbstliebe mit einem selbstachtenden und sich selbstverwirklichenden Ego als einem Orchestermitglied unter anderen,
einen prekären Narzissmus mit einem noch gutartigen, aber vergrößerten Selbst und
einen gestörten Narzissmus, wie er im DSM-IV beschrieben wird; in der Regel also der sog. offene oder exhibitionistische Narzissmus.
Somit ergibt sich daraus ein »narzisstisches Dilemma«: Der Begriff »narzisstisch« meint zum einen eine Schlüsselkompetenz eines Menschen (er erinnert mich daran, dass ich wichtig bin, dass ich als Individuum wertvoll bin), zum anderen ein charakterliches Defizit von geringerem oder größerem Ausmaß.
Aus einer systemischen Sicht habe ich in diesem Buch versucht, die narzisstischen Denk- und Verhaltensweisen eines Menschen als eine hilfreiche Konstruktion zu beschreiben, um in seinem Inneren eine Verletzung aus früher Zeit zu schützen, die zu erinnern ihn erneut verletzten und hilflos machen würde. Diese nicht defizitorientierte, sondern eher lösungsorientierte Sicht der oft schwer zu ertragenden Verhaltensmuster von Narzissten sind für mich hoch kompetente und anerkennenswerte Kompensationsversuche einer verletzten Seele. Ob wir ihnen in der Therapie helfen können, hängt von vielen Parametern ab. Trotz allem sollten wir den Mut und die Ausdauer haben, es zu probieren.
Lassen Sie mich mit einem Fall aus der Praxis beginnen:
Herr F., ein 28-jähriger, allein lebender junger Mann, wurde mir nach Abschluss einer stationären psychiatrischen Behandlung überwiesen, in die er sich wegen akuter Depression und latenter Suizidalität freiwillig begeben hatte. Er hatte vor Kurzem ein Germanistik- und Französischstudium fürs Lehramt abgeschlossen, wollte als Lehrer arbeiten, hatte aber noch keine Stelle gefunden. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als der Patient sieben Jahre alt war. Sein Vater war Arzt, der eine Krankenschwester geheiratet hatte, die ihm während des Studiums den Lebensunterhalt durch ihre Arbeit finanzierte und ihm so den Abschluss in Medizin ermöglichte. Zur Scheidung kam es, als seine Mutter eine Affäre mit einem anderen Mann hatte und die ehelichen Spannungen zwischen den Eltern immer unerträglicher wurden. Der Patient reagierte mit Hohn auf die Mutter und »ihre Lover« und äußerte sich sehr abschätzig gegenüber dem Vater wegen »seiner Heirat unter seinem Niveau mit einer Krankenschwester«. Den Kontakt zu der zwei Jahre älteren Schwester hatte er vor Jahren abgebrochen, weil er den Partner der Schwester »als unter seinem Niveau« empfand und ihn wegen seiner rechtskonservativen politischen Einstellung nicht ausstehen konnte. Der Patient selbst hatte wenige persönliche Freunde und distanzierte sich von den meisten anderen Menschen seines Umfeldes, er fühlte sich irgendwie dem Großteil der Menschheit gegenüber distanziert und überlegen. Herr F. hatte das Gefühl, dass er mit seinem überlegenen Wissen in neuerer und älterer Literatur eigentlich an der Universität hätte bleiben sollen. Die Entscheidung, in den Schuldienst zu gehen, sei nur pragmatisch auf Druck des Vaters gefallen, der er weiterhin sehr zwiespältig gegenüberstand. So konnte er sich nicht so recht entscheiden und zog sich innerlich von der Welt zurück und »pflegte meine Depression und den Weltschmerz«, wie er sagte. Bei allem, was er über seinen Vater erzählte, wirkte er herablassend und hochnäsig, obwohl er von ihm immer noch finanzielle Zuwendungen bekam. Er erwartete ferner, dass sein Vater die kritischen und verletzenden Bemerkungen, die er über ihn und seine neue Frau machte, großzügig ertrug und, falls der Patient keine Arbeit finden sollte, ihn auch weiter fördern würde. Er war bei verschiedenen Therapeuten gewesen und hatte sich für mich entschieden, weil ich in meinem Therapieraum viele Bücher stehen hatte und er hoffte, in mir einen Gesprächspartner zu finden, der »kein Fachidiot war, sondern sich auch noch für mehr im Leben interessierte als nur für Psychotherapie«.
Klarer Fall, werden Sie sagen, Herr F. leidet unter einer Störung seines Selbstwertsystems, und vieles spricht bei der manifesten Arroganz, Entwertung anderer und seiner Überheblichkeit dafür, dass man bei ihm die Diagnose einer »Narzisstischen Persönlichkeitsstörung« (F60.8 im ICD-10) bedenken sollte. Herr F. scheint über ein hohes Selbstwertgefühl zu verfügen und eine Fähigkeit, soziale Situationen nach seinen Spielregeln zu bestimmen, wenn nicht gar kühl und distanziert zu manipulieren.
Wenn ich aber an meine klinische Zeit zurückdenke, dann hatte ich in den letzten 20 Jahren als Verantwortlicher für zwei Abteilungen in einer Psychosomatischen Klinik die Möglichkeit, mit allen Patienten ein längeres Interview in der Diagnostikphase zu führen. Am Ende meines Interviews fragte ich immer: »Was für ein Ziel haben Sie für den stationären Aufenthalt? Was soll am Ende für Sie anders sein als heute?« Und die Antworten? Ca. 50% der Patienten sagten: »Ich möchte mehr Selbstwertgefühl haben«, und ca. 50% sagten: »Ich möchte mich besser abgrenzen können.« Wenn ich dann noch weiter fragte, kamen noch weitere konkrete Veränderungswünsche zum Vorschein, aber irgendwie war das das Grunderleben: die Frage nach dem eigenen Wert und der Eigenständigkeit. Dabei waren sie nur selten hochnäsig und arrogant wie Herr F., sondern eher depressiv gestimmt, scheu und sozial unsicher. Sie hatten alle das gleiche Problem: Wie kann ich mich besser spüren und in Beziehung zu anderen meinen Selbstwert behalten, ohne mich aufzugeben? Wäre es auch hier berechtigt gewesen, sie alle als narzisstische Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren? Nein – ich hatte da zunehmend meine Zweifel. Dennoch glaubte ich zu verstehen, dass am Ende aller Wege zurück in die Kindheit eine große Frage steht: Wer hat mich so geliebt, wie ich bin?
Ich begann, mich mit den vielfältigen Konzepten des Narzissmus zu beschäftigen, erlebte Höhen, wo Zusammenhänge zwischen Theorie und Praxis mir klar erschienen, und Tiefen, wo ich einsehen musste, dass sich die empirischen Befunde mit den Theorien total widersprachen und viele Theorien auch noch gegenseitig unvereinbar waren. Auch heute müssen wir weiterhin mit diesen inkonsistenten Befunden und deren sich widersprechenden Interpretationen leben. Ein paar dieser Probleme beim Gebrauch der Kategorie »Narzissmus« will ich Ihnen jetzt vorlegen.
Was die Diagnose angeht, so schreiben Vater et al. (2013), dass es auffallend sei, wie stark die Prävalenzrate3 der narzisstischen Störung schwankt. In der Regel gehen wir von einer Prävalenzrate der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung (im weiteren NPS) in der Allgemeinbevölkerung von 1% aus. Möglicherweise, so schreiben sie kritisch, wird die Diagnose in vielen Institutionen häufiger und ohne systematische diagnostische Abklärung vergeben – so aus der ersten Anmutung heraus. »Dies könnte darauf hindeuten, dass NPS als Diagnose an Patienten vergeben wird, die mit einer hohen Selbstwertschätzung (ggf. gekoppelt mit hoher Anspruchshaltung) gegenüber dem Therapeuten auftreten. Häufig scheinen Therapeuten vorschnell zum Label ›narzisstisch‹ zu greifen, ohne anhand klarer Kriterien zu überprüfen, ob die Voraussetzungen zur Vergabe der Diagnose erfüllt sind. Um einer fehlerhaften therapeutischen Einschätzung vorzubeugen, ist es dringend notwendig, verschiedene valide und reliable Messinstrumente zur Diagnosestellung hinzuzuziehen.« (S.604)
Nachdem ich dieses Buch zu schreiben angefangen hatte und ich öfters in meinem Bekannten- und Kollegenkreis erzählte, über welchem Thema ich an meinem Schreibtisch brütete, habe ich einfach mal direkt gefragt: »Kennst du (Sie) eigentlich einen Narzissten oder eine Narzisstin?«
Bevor Sie jetzt weiterlesen, können Sie das auch mal tun und sich überlegen, wer Ihnen da einfällt. In welcher Funktion und Beziehung steht er/sie zu Ihnen? Männlich? Weiblich? Welche Eigenschaften?
Die meisten erzählen dann über einen Freund, ein Elternteil, einen Chef oder eine(n) Liebespartner/in, die völlig »selbst-zentriert« sei, alles kreise ständig nur um sie, und es schien mir, als würde beim Erzählen darüber der Stresslevel erheblich steigen. Sie beschrieben regelmäßig einen Menschen voller Paradoxe: selbstverherrlichend und mit sich selbst beschäftigt, leicht irritierbar und empfindlich in Bezug auf eine Rückmeldung von außen. Der Freund, Chef, Liebhaber sei emotional labil und neige zu extremen Gefühlen wie Euphorie, Verzweiflung und Wutausbrüchen. Dabei seien diese Bekannten oft charmant und sozial geschickt im Umgang mit anderen. Einige sagen, dass sie diese Menschen initial sehr attraktiv und anziehend fanden, aber die ständige Suche nach Bewunderung und Bestätigung ihnen bald auf die Nerven gegangen sei.
Alles, was die von mir Befragten damit beschreiben, findet sich in den formalen Kriterien für die NPS in der DSM-54 als einem durchgehenden Muster von Grandiosität, Selbst-Zentrierung und Selbstwertschätzung. Wenn man das alles aus etwas Distanz hört, könnte man denken, wir hätten hier die erwachsene Form eines kleinen Kindes vor uns, welches Eigenschaften zeigt, die wir alle von uns selbst als Kind kennen – oder wenn schon vergessen, von den eigenen Kindern. Dass diese Beobachtung viel Wahres enthält, werden Sie bald merken.
Der Begriff Narzissmus – und mit dem Terminus »Trauma« ist es auch nicht viel besser – wird heute geradezu inflationär verwendet und taucht in den letzten Jahren immer häufiger in den Medien auf, um Manager in den Führungsetagen, zockende Banker, Immobilien-Haie und »Heuschrecken«, die rücksichtslos, kalt und menschenverachtend vorgehen, zu klassifizieren. Der Psychiater und Psychoanalytiker Joachim Maaz (2014) meint, heute eine »narzisstische Gesellschaft« ausgemacht zu haben, in der Kinder nicht mehr um ihrer selbst willen geliebt, sondern nur noch auf Erfolg getrimmt werden, um sich in dieser Konsum- und Wachstumsgesellschaft rücksichtslos durchsetzen zu können. Das ist sicher richtig – aber auch nicht besonders neu, diese gesellschaftliche, soziologische Narzissmusdiskussion hatten wir schon 1981 zu meinen Studienzeiten mit Thomas Ziehes Buch: »Narziß. Ein neuer Sozialisationstypus?« – und sollte uns dennoch immer wieder zum Nachdenken um unsere Werte und Ziel anregen (siehe dazu Häsing et al. 1981).
Wenn man sich die Definition von Narzissmus im DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) ansieht, dann wird darin ein Mensch beschrieben, der ein großes Bedürfnis nach Bewunderung hat, Fantasien von grenzenlosem Erfolg, grenzenloser Schönheit und idealer Liebe, ein Mensch, der mit hohen Ansprüchen durch die Welt geht und an seine Einzigartigkeit glaubt bei gleichzeitig fehlender Empathie für andere. Dies alles zusammengenommen ist sicher ein schwieriger Charaktermix, aber wer hat nicht den Wunsch, für sein Tun und Handeln bewundert zu werden? Wer träumt heute nicht von Erfolg, Schönheit und idealer Liebe in unserer Gesellschaft? Wo beginnt also die Grenze vom normal Narzisstischen, der Sehnsucht, den eigenen Wert zu spüren, und dem Pathologischen? Zweifellos entsteht aus dem gesunden Narzissmus auch eine positive Eigenschaft wie die Fähigkeit zur Selbstbehauptung: Man weiß, wer man ist und was man kann.
War Steve Jobs ein Narzisst, wenn er auf der großen Bühne im schwarzen Rollkragenpullover seine kleinen »Wundermaschinen« anbot und so ganz nebenher den Satz, auf den alle warteten, fallen ließ: »… just one more thing«. Dann präsentierte der damalige Apple-Chef Produkte wie den iPod, das iPad oder das Mobiltelefon iPhone – Kleinigkeiten, die die Welt verändern sollten …
Sind alle unsere Politiker Narzissten, fragt Sarah King (2014), nur weil sie im Rampenlicht stehen und wie der Dalai-Lama Tausende Menschen anziehen, die jedes Jahr zu ihm kommen, ihn verehren und häufig gar nicht verstehen, was er sagt? Sind es nur die Männer, die die große Bühne brauchen? Spielen die Frauen auf der kleinen Bühne, im Verborgenen, im Stillen ihre Rollen? Was ist mit Mutter Teresa, Florence Nightingale, der Begründerin der Krankenpflege, mit Lady Di und den vielen anderen?
Ich denke mit Sarah King, dass narzisstische Anteile bei einem Menschen durchaus eine attraktive Funktion haben und zu uns und einer gesunden psychischen Ausstattung dazugehören. Aber wo beginnt die Grenze, an der Selbstbewusstsein zu Selbstüberhöhung wird? Der Psychoanalytiker Joachim Maaz sagte am 19.10.2014 in einem Interview mit der »Berliner Zeitung« auf die Frage der
Journalistinnen Reich und Sperber: Ab wann bin ich denn nun eigentlich narzisstisch? Geht es schon los, wenn ich mich schminke, mir die Haare färbe, Probleme mit dem Älterwerden habe?
Maaz: Ein Mensch ist gesund narzisstisch, wenn er sagen kann: Ich bin ich. Ich bin okay. Ich bin liebenswert. Ich habe Möglichkeiten, ich habe Grenzen. Ein solcher Mensch hätte, um mal bei den Frauen zu bleiben, niemals Interesse, sich pausenlos neue Kleidung zu kaufen, sich übermäßig zu schminken. Wenn jemand sagt, wie siehst du denn heute aus, würde ihn das nicht sonderlich kränken. Eine narzisstische Störung liegt vor, wenn der Mensch in der Kindheit nicht ausreichend bestätigt wurde und nun immer von außen bestätigt werden muss.
Wir müssen uns also um die Ursachen des aktuellen Verhaltens bemühen, um zu verstehen, warum verhält sich jemand so und welchem Zweck dient dieses Verhalten. Und noch mal Sarah King: »Um das Pathologische des Narzissmus zu erkennen, bedarf es eines Blicks über die geläufigen, dem breiten Volk bekannten Definitionen hinaus und des Einbezugs einer wesentlichen Komponente, die den Narzissmus zu einer Störung macht: die Verletzlichkeit. Morf und Rhodewalt (2001) definieren den Narzissten als einen Menschen mit einem grandiosen, aber verletzbaren Selbstkonzept. Seine Zerbrechlichkeit führt zur drängenden Suche nach permanenter äußerer Selbstbestätigung.« (S.1–2)
Die Gelassenheit, die es ermöglicht, mit der eigenen Verletzlichkeit souverän umzugehen, hat ihren Ursprung in einer Phase des Lebens, in der selbst-regulatorische Fähigkeiten erlernt werden, um Schwankungen im eigenen Selbstwertgefühl auszugleichen. Das Lernziel des Kleinkindes ist es, nach einer unvermeidbaren Kränkung und Frustration in den eigenen Modus der Selbstwirksamkeit und Selbstkohärenz zurückzukehren. Diese Aufgabe nennen Morf und Rhodewalt (2001) »eine chronische Situation des Selbst-im-Bau-Zustands (self-under-construction)« (S. 178).
»Das Modell unterstellt, dass diese selbst-regulatorischen Prozesse dazu da sind, ein gewünschtes Selbst aufzubauen oder zu erhalten und um Bedürfnisse nach Selbst-Einschätzung zu erfüllen. Wir argumentieren, dass die darunter liegende narzisstische Selbst-Regulation ein grandioses, aber doch verletzliches Selbstkonzept ist.« (S. 178) Das heißt vereinfacht gesagt: Die basale Verletzlichkeit eines Menschen, dessen zentrale Selbst-Bedürfnisse nach empathischer Spiegelung in der Kindheit nicht ausreichend erfüllt wurden, typischerweise durch elterliche Gleichgültigkeit oder Vernachlässigung, wird durch die Entwicklung eines grandiosen Selbst überdeckt und garantiert so ein Weiterleben mit Schrammen auf der Seele.
Grandiosität ist das Pflaster für die Seelenwunde.
Da wir uns mit der Dialektik von frühkindlicher Verletzung und der Konstruktion von Grandiosität in diesem Buch noch häufiger auseinandersetzen müssen, hier schon ein paar Assoziationen dazu:
Die Aspekte der Vulnerabilität: Diese Menschen klagen über geringen Selbstwert, Scheu, Scham, mangelnde Selbstwahrnehmung, chronische Gefühle von Demütigung und Abweisung und reagieren hypersensibel auf Kritik.
Die Aspekte der Grandiosität: Diese Menschen scheinen mit hohem Selbstwert ausgestattet und leugnen Gefühle von Scham. Wir finden Anspruchsdenken, fehlende Empathie, Neid, grandiose Fantasien. Auch sie reagieren in hohem Maße kränkbar.
Interessant ist, dass die Nutzung und Ausgestaltung dieser kompensatorischen Grandiosität im Selbst-System durch einen seelisch verletzten Menschen in empirischen Studien (Russ et al. 2008), aber auch nach Augenschein in der klinischen Praxis, zu drei Prävalenztypen der NPS führte:
grandios-maligne
vulnerabel-fragil und
exhibitionistisch mit hohem Funktionsniveau.
In anderen Untersuchungen verteilen sich die Subtypen der narzisstischen Phänomenologie auf die Bezeichnungen »offener« und »verdeckter« Narzissmus – eine Beschreibung, auf die ich später zurückkommen möchte.
Bei Menschen mit Selbstwertproblemen, die wir normalerweise als »narzisstische Probleme« bezeichnen, gibt es genauso wie bei anderen Persönlichkeitsstörungen einen Übergang von einem leichten Stil bis hin zu schweren Störungen. Wir sollten auf keinen Fall vergessen, dass, wie bei anderen Störungen auch, ein leichter narzisstischer Stil eher eine Ressource darstellt als eine Belastung: »Die Personen sind leistungsfähig, sind ›straight‹, gut organisiert, haben ein gutes Durchhaltevermögen, sind ambitioniert, zufrieden und erfolgreich.« (Sachse et al. 2011, S.10) Je mehr sich aber der »Jeder-mann/-frau-Narzissmus« einer größeren charakterlichen narzisstischen Auffälligkeit annähert (offen oder verdecktes grandioses Selbst), umso größer werden auch die Kosten, sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft, die die Folgen tragen muss. Erinnert sei an den 31-jährigen Schweizer UBS-Investmentbanker, der im September 2011 mit unerlaubten Geschäften zwei Milliarden Dollar in London verspekulierte.
Nach Sachse et al. (2011) weisen Menschen mit NPS immer ein negatives Selbstschema auf, mit heimlichen Selbstbeurteilungen, wie »ich bin inkompetent«, »ich kann nichts«, »ich bin ein Versager« und Ähnlichem – und das auch, wenn sie nach außen extrem erfolgreich sind. Diese Menschen begleitet immer eine Ebene von Selbstzweifeln, von Furcht vor Misserfolg, eine Ebene der Angst, scheitern zu können. Das bedeutet, dass der Erfolg nicht dauerhaft in der Lage ist, das hohe Maß an Selbstzweifeln zu beruhigen. Was immer bleibt, sind Gedanken wie: »Schaffe ich das wirklich?«, »Bin ich wirklich gut genug?«, »An dieser Aufgabe könnte ich scheitern« und anderes.
Diese Selbstzweifel, so schreiben die Autoren, stammen ihrer Erfahrung nach immer aus der Biografie und entstehen über negatives Feedback wesentlicher Bezugspersonen (meist des Vaters), einer Kombination von hohen Erwartungen (»Du musst erfolgreich sein!«) und Zweifeln (»Ich glaube nicht, dass du es schaffst!«). Des Weiteren aus der Angst der Kinder oder Jugendlichen, bei nicht ausreichendem Erfolg (massiv) abgelehnt und mit Liebesentzug bestraft zu werden.
Erfolgreiche Narzissten bemerken irgendwann im Laufe ihres Lebens, dass sie diese Selbstzweifel durch Leistungen und Erfolge kompensieren können, und entscheiden sich dann dazu, sich anzustrengen und aktiv zu beweisen, dass ihre Selbstzweifel nicht stimmen. »Durch die Erfolge, die sich dann, wenn sie gut genug sind, einstellen, entwickeln sie dann ein (zu dem negativen Schema) paralleles positives Schema, das manchmal (auch aus kompensatorischen Gründen) sehr positiv ist und Annahmen enthält wie ›ich bin toll‹, ›ich bin hoch begabt‹, ›ich habe außergewöhnliche Fähigkeiten‹ und Ähnliches.« (Sachse et al. 2001, S.11)
Da sie aber trotz der Erfolge immer ein unzufriedenes Gefühl in sich behalten, dass etwas in ihrem Leben fehle und sie »irgendwie unzufrieden sind«, ohne genau zu wissen warum, verschleißen sie sich im Beruf, entwickeln psychosomatische Beschwerden, vernachlässigen die Beziehungen, machen sich ständig Sorgen um Karriere und Erfolg. Das ist der Grund, warum sie eine Therapie aufsuchen, und nicht die Persönlichkeitsstörung an sich. Sie wissen nicht, was sie ändern könnten, oder denken, dass sie gar nichts ändern können, und hoffen darauf, dass ihnen der Therapeut einen Ausweg zeigt.
Die erfolglosen Narzissten, so schreibt Sachse, wirken eher zögerlich und zeigen keine realen Kompensationsbemühungen gegen die inneren Selbstzweifel und haben deshalb auch keine Erfolge: »Entweder vermeiden sie generell die mit der Kompensation verbundene Anstrengung, oder sie glauben nicht, dass sie über die Kompetenzen verfügen, überhaupt erfolgreich zu sein: deshalb geben sie auf, bevor sie überhaupt angefangen haben.« (Sachse et al. 2011, S.12) Um das weiter bestehende stark negative Selbstschema abzupuffern, entwickeln sie ein illusionäres positives Selbstschemata: »Ja, wenn ich nur gewollt hätte …«, »ich bin eigentlich hochintelligent, ich hätte auch Hirnforscher werden können …« Diese Welt- und Selbstkonstruktion mag für den Moment beruhigen, kann aber die Selbstzweifel langfristig nicht betäuben. Gerade die Narzissten vom vulnerabel-fragilen Typ (verdeckter Narzissmus) haben eine hohe Sensibilität für Misserfolge und Kränkungen, was wiederum die Vermeidung von sozialen Kontakten und ein betont bescheidenes Verhalten fördert.
Nach alldem, was zum Thema Narzissmus geschrieben wurde und das ich Ihnen nur in Auszügen in diesem ersten Kapitel versuchte nahezubringen, sind mir beim Studium der Literatur einige Paradoxa aufgefallen, die ich Ihnen nicht vorenthalten will:
Was am Narzissmus nun normal oder schon pathologisch ist, lässt sich so genau nicht sagen. Der Psychoanalytiker Heinz Kohut betrachtet den Narzissmus als normalen Aspekt der Selbst-Entwicklung. Narzisstische Bedürfnisse brauchen eine altersentsprechende Befriedigung für eine gesunde Entwicklung. Fehlt diese Befriedigung, entsteht der pathologische Narzissmus. Otto Kernberg befasste sich vor allem mit den grandiosen Aspekten des pathologischen Narzissmus. Das grandiose Selbst werde konstruiert, indem alle positiven und idealisierten Merkmale von sich und anderen zu einem unrealistischen Selbstbild kombiniert werden. Er rückt die NPS in die Nähe der Borderlinestörung. Beide Analytiker gehen vom Vorliegen eines primären Narzissmus beim Säugling aus und postulieren einen frühen Spaltungsvorgang. Diese beiden letzten Behauptungen bestreitet die Säuglingsforschung vehement und mit ihr Martin Dornes (2011) und Joseph D. Lichtenberg (1983).
Obwohl alle vom Narzissmus reden und die Diagnose sehr häufig in psychotherapeutischen Praxen und Kliniken vergeben wird, gibt es sie eigentlich gar nicht so richtig. Weder im ICD-10 noch im DSM-5 gibt es eine Ziffer dafür; sie wird unter einer Restkategorie verschlüsselt (im ICD-10: F60.8 andere spezifische Persönlichkeitsstörungen). »… denn seitens des Expertengremiums des ICD-10 wurde die NPS aufgrund der vermuteten geringen Prävalenz außerhalb des westlichen Kulturkreises und der angeblich unzureichenden Reliabilität der Diagnose kritisiert« (Vater et al. 2013, S.600–601).
Stellen Sie sich vor: Herr Superman oder Frau Supergirl kommen auf die Bühne und treffen auf Mutter Teresa.
Superman/Supergirl:
Mutter Teresa, schön, dich hier zu treffen. Ich war wieder total erfolgreich im Weltretten! Ohne mich wäre die Menschheit verloren! Weißt du eigentlich, dass wir beide das gleiche Problem haben?
Mutter Teresa:
Ja, ich weiß … ich rette auch ständig die Welt, nur keiner merkt es. Ihr lebt im Licht, aber wir Gutmenschen sind im Schatten.
Was will ich damit sagen? Wenn Sie die Beschreibungen der Menschen mit offenem und verdecktem, mit dickhäutigem und dünnhäutigem Narzissmus später lesen werden, dann fällt es auf den ersten Blick schwer zu glauben, dass beide die Variation einer Selbstwertstörung sind – beide sind Narzissten – Superman/Supergirl und Mutter Teresa5. Im Umkehrschluss ist mir aber auch wichtig zu sagen, dass nicht jeder, der etwas Besonderes leistet, eine bewundernswerte Begabung zeigt, oder dem es wichtig ist, sich um andere zu kümmern, ein narzisstisches Problem haben muss. Selbstliebe und die Liebe für andere sind keine Gegensätze, sondern bedingen sich gegenseitig.
Seit 1985 hat es große Anstrengungen gegeben, Messinstrumente für die Diagnostik zu entwickeln, um sowohl die Grandiosität als auch die Vulnerabilität zu messen. Zuerst gab es nur den in der empirischen Forschung am häufigsten eingesetzten Fragebogen »Narzisstisches Persönlichkeitsinventar« (NPI). Irgendwann merkte man aber, dass er den klinischen Kontext nicht vollständig abdeckt – er erfasst nämlich nicht die vulnerable Seite des Narzissmus. Dafür wurde dann die Hypersensitive Narcissism Scale (HNS) oder das Pathological Narcissism Inventory (PNI) entwickelt. 2014 publizierte eine Arbeitsgruppe um Sara Konrath aus Indianapolis eine Arbeit mit dem Titel: »Entwicklung und Validierung einer Narzissmusskala (SINS) mit einem Item«. Und diese eine Item heißt: Bis zu welchem Grad stimmen Sie der Behauptung zu:
»Ich bin ein Narzisst.«
Auf einer Skala von 1 (nicht sehr wahr für mich) bis 7 (sehr wahr für mich) kann man ankreuzen. Angeblich sollen die Ergebnisse genauso gut sein wie die aufwendige Diagnostik mit allen existierenden Tests für »Narzissmus«. Erst dachte ich, das ist ein Aprilscherz, aber dann …
Dieses erste Kapitel sollte Ihnen einen kleinen Überblick über ein basales menschliches Thema geben, welches uns in der psychotherapeutischen Praxis täglich begegnet und das doch wissenschaftlich so schwer zu fassen ist: Was ist Narzissmus und was ist normal, was krankhaft?
Ich möchte diese Frage nicht weiter vertiefen, sondern Sie einladen, das Thema »Narzissmus« unter einem etwas anderen, vielleicht zunächst für Sie ungewohnten Blickwinkel zu betrachten: aus der Sicht der hypno-analytischen Teiletherapie. Dazu werde ich Ihnen zuerst ein Modell vorstellen, wie ich mir die Psychodynamik der inneren Anteile im Selbstsystem ganz allgemein vorstelle, und greife dabei auf die Theorieansätze der Ego-State-Therapie von John und Helen Watkins und die Ergänzungen von Richard Schwartz und seines Schülers Jay Earley zurück. Dieses innere Zusammenwirken der Ich-Zustände im Selbst nenne ich im zweiten Kapitel »Die Choreografie der Innenteile« und versuche anschließend, eine Partitur ihres gemeinsamen Tanzes zu entwickeln. Mit dieser Schrittfolge im Kopf werde ich versuchen, die Dynamik des Narzissmus als Lösungsstrategie für eine tiefe Verletzung des Selbstwertes besser zu verstehen. Konsequenzen für die Therapie werden dann daraus abgeleitet und durch Fallbeispiele ergänzt.
Lassen Sie mich diesen innovativen Ansatz für ein teiletherapeutisches Verständnis des Narzissmus unter ein Motto stellen:
Von der Psychoanalyse lernen, hypno-systemisch denken und teiletherapeutisch intervenieren6.
Was ist das Selbst? Eine schnelle Antwort darauf wäre mit Susan Harter (1999): Das Selbst ist ein kognitives und soziales Konstrukt, welches in der Interaktion mit bedeutsamen Bezugspersonen (Eltern und Gleichaltrigen) geschaffen wird. Aber wie ist es aufgebaut und wie entsteht es?
All die psychologischen Ideen, mit denen ich mich in den letzten Jahren beschäftigt habe, unterstützen den Gedanken, dass das Selbst nicht eine einzelne, vereinheitlichte Entität oder Einheit darstellt. Vielmehr lässt es sich als ein Set von miteinander verbundenen, funktional unabhängigen Systemen denken – also keine monolithische Struktur, sondern mehr ein mixtum compositum –, eine Vielzahl von miteinander verlinkten, doch voneinander abgegrenzten Prozessen und Inhalten, die zusammen etwas Ganzes bilden.
Wie für alle apodiktischen Behauptungen gilt auch hier: Das ist keine Wahrheit über etwas, das wir sehen oder anfassen können, es ist eine Konstruktion darüber, wie es sein könnte, und nicht, wie es ist. Diese Erfahrung des Selbst als einer Vielheit im Gegensatz zu einer Einheit lässt sich für unseren menschlichen Verstand besser begreifen, wenn wir versuchen, die Erfahrung in Bilder zu fassen, Metaphern für das Selbst zu finden.
»Meine Seele ist ein verborgenes Orchester; ich weiß nicht, welche Instrumente, Geigen und Harfen, Pauken und Trommeln es in mir spielen und dröhnen läßt. Ich kenne mich nur als Symphonie.« (2006, S. 310)
Das ist ein Zitat des portugiesischen Dichters Fernando Pessoa (1888–1935), der einer der ersten Schriftsteller des 20.Jahrhunderts war, der über die Vielfältigkeit des Selbst geschrieben und das Selbst mit einem Orchester verglichen hat. Ein anderes Bild ist das der inneren Bühne, auf der Teile von uns wie Schauspieler oder Tänzer auftreten und wieder im Hintergrund verschwinden, die Handlung bestimmen oder nur Anteil nehmen, die Rolle des Schurken, des Opfers oder weißen Ritters usw. spielen und ein Stück mit dem Titel »Mein Leben« aufführen. Das sind plastische Bilder aus einem Lebensbereich, der sich mit Kunst, Kreation und gestaltender Vielfalt beschäftigt. Dagegen ist der »Psychische Apparat« – Sigmund Freuds Metapher für unsere Psyche aus dem letzten Jahrhundert – mit seinen Bauteilen »Ich«, »Es« und »Über-Ich« eher etwas für karge Naturwissenschaftler und Ingenieure.
Lassen Sie mich bei der Bühnenmetapher bleiben und stellen wir uns vor, in uns würde getanzt, gespielt und musiziert; dieses sehr einladende Bild hat einige wirkmächtige Implikationen im Schlepptau. Wir könnten uns überlegen:
Wer sind die Mitglieder des Ensembles?
Wer leitet das Ganze?
Was für ein Stück wird gegeben?
Bevor wir dem Geschehen auf der inneren Bühne genauer zuschauen, sollten wir noch ein paar Begriffe klären, die im Folgenden immer wieder auftauchen werden.
War das eine gute Idee, Ihnen oben die Metapher des Orchesters der Seele von Fernando Pessoa anzubieten? Oder besser der Vergleich mit den »Kolonien«?
»Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten. Deshalb ist, wer die Umgebung verachtet, nicht derselbe, der sich an ihr erfreut oder unter ihr leidet. In der weitläufigen Kolonie unseres Seins gibt es Leute von mancherlei Art, die auf unterschiedliche Weise denken und fühlen.«
Hätte dieser Satz von Fernando Pessoa7 für Sie besser gepasst?
Ich schreibe poetische Zeilen auf, und ich beobachte mich und denke über mich nach! Ich und mich – zwei unterscheidbare Begriffe des Selbst wie in dem Satz: »Ich liebe mich!« Klingt irgendwie komisch. Wer ist »ich« und wer ist »mich«?
Diese Unterscheidung zwischen »ich« und »mich« gibt es schon bei dem US-amerikanischen Psychologen und Philosophen William James, einem Professor für Psychologie und Philosophie an der Harvard University von 1876 bis 1907, der als erster amerikanischer Philosoph internationale Bedeutung erlangte.
Dieser William James (1890) machte in seinem Selbstkonzept die sehr hilfreiche Unterscheidung zwischen einem komplexen, reflektierenden Selbst – einem »Mich« (engl. »me«) – und einem einfachen, erfahrenden »Ich« (engl. »I«).
Vereinfacht könnten wir sagen:
In diesem Selbstkonzept ist das ICH derjenige Teil des Selbst, das handelt (Selbst als Subjekt [I]). Das MICH ist die Vorstellung, die wir von uns selbst haben (Selbst als Objekt [ME]). Es gibt also zwei Ebenen: eine Erfahrungsebene und eine Reflexionsebene.
Als Teiletherapeut versuche ich mir in der Tradition von William James diese Erfahrungsebene – also die zeitlich begrenzte Erfahrung des »Ich« – als eine stete Abfolge von Ich-Zuständen vorzustellen, die uns handelnd mit der Welt verbinden. Jo Struthridge, ein Kollege aus der Transaktionsanalyse, beschreibt dieses Erfahrungs-Ich sehr treffend »als eine Vielfalt von unregelmäßig auftretenden Kind/Eltern-Ich-Zustands-Gestaltungen, die in Reaktion auf den Kontext Unterschiedswechsel im Bewusstsein erzeugen« (2006, S.271). Ein Gefühl für »mich« als einer kohärenten und kontinuierlichen Struktur des Selbst über die Zeit hinweg entwickelt sich aber erst mit dem Erwerb der Sprache; diese erwachsenen Ich-Zustand-Fähigkeiten schaffen die Möglichkeit, verschiedene Ich-Zustände mittels einer Geschichte miteinander zu verbinden, und bilden das, was wir ein »Narratives Selbst« nennen.
Wenn ich jetzt versuche, das in die Sprache der Ego-State-Therapie zu übersetzen, dann klingt das so:
Wir haben also eine erste Ebene der Ich-Zustände; dies können wir einfach auch die Ebene des Erfahrungs-Ich nach William James nennen. Dies sind nichts anderes als Kind/Eltern/Umwelt-Interaktionen, die als Beziehungen abgespeichert werden und Veränderungen im Bewusstsein in Reaktion auf den Kontext erzeugen. Dann muss sich aber ein neuer, übergeordneter Zustand bilden, der in der Lage ist, all diese Interaktionsmuster zusammenzubinden und sie auf einer höheren Ebene als Erwachsenen-Ich zu reflektieren: das wäre dann das Narrative Selbst, welches über mich eine Geschichte erzählt.
Lassen Sie mich noch etwas bei der Entstehung des Selbst in der Entwicklung des Kindes bleiben.
Namhafte Autoren der Säuglingsforschung (Lichtenberg 1983, Stern 1985) vermuten, dass das sich entwickelnde Selbst sich aus den wiederholten gegenseitigen Interaktionen zwischen Kind und Bezugspersonen entwickelt. Das Kind lernt die Interaktionen wahrzunehmen, sie zu erinnern und im Voraus schon zu erwarten, und scheint dadurch symbolische Repräsentanzen des Selbst und der anderen zu bilden. Dieser Prozess der Internalisierung besteht aus zwei Repräsentanzen, die des Kindes als auch die der Eltern, also ein dyadisches System, das man nicht nur von einem Partner her beschreiben kann. Diese wiederholten Beziehungen zwischen Kind und Bezugsperson sammeln sich zu Mustern an und werden die Basis der entstehenden Ich-Zustände. Auch Eric Berne meinte schon 1961, dass Ich-Zustände phänomenologische Einheiten darstellen und nicht so sehr abstrakte Repräsentanzen (S.4ff.). Ich stelle mir nach dem eben Gesagten vor, dass die innere Struktur des Selbst aus einer Matrix von Beziehungsmustern entsteht und somit eine soziale Konstruktion darstellt. »Ich gebrauche den Begriff der ›Eltern/Kind-Ich-Zustands-Dyade‹, um zu betonen, dass eine ganzheitliche Beziehung internalisiert wird und nicht nur ein Introjekt – zum Beispiel: ein ängstliches Kind-Ego-State in Antwort auf ein kritisches Eltern-Ego-State.« (Stuthridge 2006, S.271) Auch Little (2005) spricht in einem ähnlichen Konzept von »Ego-State-Beziehungseinheiten« (S.136). So können wir davon ausgehen, dass das Selbst vielfältige Ego-State-Dyaden enthält, die die Erfahrung des Kindes mit seiner Bezugsumwelt reflektieren – also eine Art sozialem Gedächtnissystem von gemachten Beziehungsrelationen. Fonagy (2001) oder Schore (1994) postulieren in ihren Arbeiten multiple Sets von Selbst-andere-Repräsentanzen innerhalb der Erlebniswelt eines sicher gebundenen Kindes. Dass Ego-States dyadisch angelegt sind, findet sich schon in den Überlegungen zur Natur der Ich-Zustände bei John und Helen Watkins. »Nach unserer Definition jedoch enthält ein Ich-Zustand sowohl Elemente mit einer Ich-Besetzung als auch solche mit einer Objektbesetzung, vorausgesetzt, sie sind in einem zusammenhängenden Muster gemeinsam organisiert.« (Watkins 2013, S.45) Soll heißen: Ein Ego-State enthält Selbst- und Objektrepräsentanzen und ist damit eine Art geronnener Beziehungserfahrung.
Aber warum erleben wir uns nicht als eine Abfolge von Ich-Zuständen, sondern als eine Einheit, als eine Kontinuität in Raum und Zeit?
Virginia Woolf schreibt über das Viele-sein in »Orlando«:
»So rief Orlando in der Kurve bei der Scheune ›Orlando?‹, mit einem fragenden Unterton in der Stimme, und wartete. Orlando kam nicht. ›Also gut‹, sagte Orlando mit der wohlgemuten Gelassenheit, die die Menschen bei derartigen Gelegenheiten an den Tag legen; und versuchte es mit einem anderen. Denn sie hatte eine große Vielzahl von Ichs, die sie rufen konnte, weit mehr, als wir haben unterbringen können, da eine Biografie schon als vollständig gilt, wenn sie nur sechs oder sieben Ichs berücksichtigt, wohingegen ein Mensch gut und gerne ebenso viele Tausend haben mag.« (S.224)
Bromberg (2001, S.244) nimmt an, dass wir erst durch die Entwicklungsreifung eine adaptive Illusion des Selbst entwickeln, die die Erfahrung der Diskontinuität überdeckt. Wie ist das zu verstehen? Wie schaffen wir es, ein in sich geschlossenes Gefühl unserer selbst zu entwickeln, ein Gefühl der Identität, eines einfachen »mich« inmitten dieser sich ständig verändernden Umgebung? Eric Berne sprach in dem Modell der Transaktionsanalyse von der integrativen Funktion des Erwachsenen-Ego-States für das Zustandekommen dieser Illusion der Kontinuität, hatte aber noch keine Erklärung für den Mechanismus, der dem zugrunde liegt. Ich vermute, dass die Selbsterzählung durch das Narrative Selbst, das sog. »Selbstnarrativ«, der Schlüssel für die Integration der unterschiedlichen Ich-Zustände ist, um sie in ein einheitliches Gefühl des Selbst zusammenzubinden. Die Fähigkeit, Geschichten über das Selbst zu erzählen, schließt die Fähigkeit zu einem reflexiven Standpunkt außerhalb des direkten Ich-Erlebens ein.