Integration in der Traumatherapie (Leben Lernen, Bd. 300) - Jochen Peichl - E-Book

Integration in der Traumatherapie (Leben Lernen, Bd. 300) E-Book

Jochen Peichl

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Beschreibung

»Muss ich mich mit dem Täter versöhnen?« Diese Frage bleibt für viele Menschen, die ein man made disaster erleben mussten, auch nach einer Trauma-Konfrontation virulent. Das Buch zeigt, wie Wut und Hass transformiert werden können und wie die Integration des Traumas gelingt. Jochen Peichl setzt sich in seinem neuen Buch mit einem Teilbereich der Traumatherapie auseinander, der bisher nicht im Fokus der Fachliteratur stand. Der Integration des Traumas, als dritter Säule der allgemein anerkannten Drei-Phasen-Behandlung, wurde, anders als »Stabilisierung « und »Konfrontation«, relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Doch gerade nach der Trauma-Konfrontation treten bei vielen Betroffenen nochmals äußerst heftige Emotionen auf: Hass auf den Täter, Racheimpulse, tief gehende Scham. Der Autor zeigt, auch an zahlreichen Beispielen aus der Praxis, wie mit dem Ansatz der Teile-Therapie eine allmähliche Transformation der destruktiven Gefühle hin zu einer lebensbejahenden und zukunftsorientierten Haltung gelingen kann. Die Übernahme von Selbstverantwortung für das weitere Leben markiert den Übergang vom Opfer zur/zum Trauma-Überlebenden. Diese Buch richtet sich an: - TraumatherapeutInnen - PsychotherapeutInnen aller Schulen und Richtungen - Betroffene

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Seitenzahl: 325

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Jochen Peichl

Integration in der Traumatherapie

Vom Opfer zum Überlebenden

Zu diesem Buch

Der Integration des Traumas, als dritter Säule der allgemein anerkannten Drei-Phasen-Behandlung, wurde, anders als »Stabilisierung« und »Konfrontation«, relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Doch gerade nach der Trauma-Konfrontation treten bei vielen Betroffenen nochmals äußerst heftige Emotionen auf: Hass auf den Täter, Racheimpulse, tief gehende Scham. Der Autor zeigt, auch an zahlreichen Beispielen aus der Praxis, wie mit dem Ansatz der Teile-Therapie eine allmähliche Transformation der destruktiven Gefühle hin zu einer lebensbejahenden und zukunftsorientierten Haltung gelingen kann. Die Übernahme von Selbstverantwortung für das weitere Leben markiert den Übergang vom Opfer zum Trauma-Überlebenden.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter:

www.klett-cotta.de/lebenlernen

Impressum

Leben Lernen 300

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © Imaginando/Fotolia.com

Gesetzt aus der Documenta von Kösel Media GmbH, Krugzell

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89199-7

E-Book: ISBN 978-3-608-11033-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20368-4

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Ein ganz persönlicher Anfang …

Einleitung

Teil IBewährte Konzepte der Integration des Traumas

Kapitel 1Was passiert in einer Traumatherapie? – das 3-Phasen-Modell nach Judith Herman

1.1 Was sind die wichtigsten Elemente der Traumatherapie?

1.2 Warum gibt es einen großen Unterschied zwischen: über das Trauma reden und das Trauma zu »prozessieren«?

1.3 Die Konstruktion von Sinn

Kapitel 2Das SARI-Modell in der Hypnotherapie zur Behandlung von Traumafolgestörungen

2.1 Meine Grundhaltung: Wie ich Patienten begegne

2.2 Das SARI-Modell

2.3 Warum die Arbeit in Hypnose?

Kapitel 3Mein hypnotherapeutischer Werkzeugkasten: SARI-Phase 1

3.1 Die Phase der Sicherheit und Stabilisierung

3.2 Hypnosetechniken in der Phase 1

3.3 Ressourcenübungen

3.4 Wichtige Methoden aus der Vielfalt der Ego‑State-Therapie für Phase 1

3.5 Weitere Stabilisierungstechniken in Phase 1

Kapitel 4 Mein hypnotherapeutischer Werkzeugkasten: SARI-Phase 2

4.1 Hypnotische Methoden

4.2 Methoden aus dem Werkzeugkasten der Ego-State-Therapie

4.3 Die Arbeit mit Introjekten – die »Boss-comes-first!-Strategie«

4.4 Zwei Ego-States, Double Bind und Dissoziationsbarriere

Kapitel 5 Mein hypnotherapeutischer Werkzeugkasten: SARI-Phase 3

5.1 Das Vorgehen von Robin Shapiro bei der Traumakonfrontation der SARI-Phase 3

5.2 Hypnose und emotionale Neuerfahrung

5.3 Von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück in die Zukunft: Ein Timelinemodell der Hypnotherapie

5.4 Therapiemanual für Teilearbeit mit verletzten und traumatisierten Teilen

5.5 Das Innere Kind in die Gegenwart bringen

Kapitel 6Mein hypnotherapeutischer Werkzeugkasten: SARI-Phase 4 – Integration

6.1 Integration – die klassischen Modellvorstellungen in der Hypno- und Teiletherapie

6.2 Die Entwicklung einer neuen Identität

Teil IIKritische Anmerkungen und weiterführende Ideen

Kapitel 7Kritische Anmerkungen zum Thema »Integration« im vorgestellten Hypnomodell

7.1 Der Ego-State-Begriff

7.2 Die hypnosystemische Sicht und neuronale Netzwerke

Kapitel 8Verdinglichung: Können kindliche Ego-States wirklich lernen, erwachsen zu werden?

8.1 Verdinglichung

8.2 Können Ego-States reifen?

8.3 Sind alle Ego-States gleich?

8.4 Sind Ego-States löschbar?

8.5 Wer ist für die Integration zuständig: der Patient oder der Therapeut?

8.6 Die inneren Bühnen – ein basisdemokratisches Modell, oder wer ist der Chef im Ring?

8.7 Sind Ego-States Konstruktionen?

8.8 Der präfrontale Cortex (PFC)

Kapitel 9Drei Formen von Integration: State-, System- und Kontext-Integration

Teil IIIEin neues Verständnis von Integration des Traumas

Kapitel 10Integration und »Interpersonale Neurobiologie« John Watkins meets Dan Siegel

10.1 Von Daniel Siegel lernen: Was ist »Interpersonale Neurobiologie«?

10.2 Das Integrationsmodell von Daniel Siegel

Kapitel 11Die Erweiterung des Behandlungsplanes: Die neue Phase 5 – »Reconnecting with the world«

11.1 Die Ego-State-Therapie lebt von der Personifikation!

11.2 Worauf soll man in Phase 5 des neuen SARIR-Modells achten?

Kapitel 12Integration bei PTBS, K-PTBS und DIS

12.1 Einfache PTBS

12.2 Komplexe PTBS

12.3 Die Integration bei der DIS

Kapitel 13 Der Wunsch nach Konfrontation des Täters

13.1 Trauma-Konfrontation und Trauma-Integration

13.2 Was kann man tun, wenn der Patient in einer frühen Phase der Therapie konfrontieren will?

Kapitel 14 Der Wunsch nach Vergeben und Verzeihen

14.1 Was Vergebung nicht bedeuten darf

14.2 Für die Praxis

Kapitel 15Der Wunsch nach Rache

15.1 Rache als Bewältigungsstrategie

15.2 Wie umgehen mit Rachewünschen in der Therapie?

Kapitel 16Toxische Scham

Kapitel 17 Die 5 Schritte zur Selbstverantwortung

Schlussgedanke

Literatur

»Letztendlich zielt die Ego-State-Therapie auf Integration, doch beginnt die Vorbereitung auf die Integration bereits am Anfang der Behandlung.«

(Phillips & Frederick 2003, S. 109)

Ein ganz persönlicher Anfang …

Es ist schon ein paar Jahre her, da eröffnete mir stolz eine damals 37-jährige Patientin, nennen wir sie Paula, in der 132. Stunde, dass sie sich nun entschlossen habe, sich an ihrem Stiefvater zu rächen und ihn womöglich auch zu töten. Wenn ich jetzt sage, »I was not amused«, dann ist das sicher eine heftige Untertreibung – irgendwie war ich etwas geschockt und überlegte, ob ich in der Integrationsphase bis dato alles richtig gemacht und nicht einen wütenden Kind-Ego-State übersehen hatte. Für einen Moment war ich auch sehr ambivalent, konnte ich Paula doch auch verstehen, nachdem wir die vielen sadistischen Quälereien und Demütigungen durchgearbeitet hatten, die Paula seit früher Kindheit von ihrem Stiefvater ertragen musste, bis hin zu sexuellen Übergriffen durch den fünf Jahre älteren Bruder und die wenige Hilfe und Unterstützung, die ihre leibliche, täterloyale Mutter ihr geben konnte. Aber gleich aus Rache töten – das hatte was von einem Tatortkrimi. Es würde Paula ins Gefängnis bringen und die von mir geschätzte Lebensweisheit von Ulrich Sachsse »Die größte Rache an einem Täter ist, wenn ich es mir im Leben gut gehen lasse« wäre nur noch ein Papiertiger.

Es kam damals Gott sei Dank nicht dazu. Aber rückblickend habe ich aus meiner Verwirrung und Hilflosigkeit viel gelernt und kann heute anders und besser mit Rachewünschen, mit dem Wunsch nach Versöhnung und Vergebung, mit Wiedergutmachung oder auch der Frage nach der eigenen Verantwortung bei meinen Patienten umgehen. Das alles sind Themen, die in den diversen Weiterbildungen, die ich gemacht habe, nur ganz am Rande, wenn überhaupt, gestreift wurden.

Deshalb habe ich mich auch aus ganz persönlichen Gründen entschlossen, dieses Buch über »Integration des Traumas« zu schreiben, und möchte mich noch einmal hier an dieser Stelle bei Paula dafür bedanken, dass sie mit mir diesen Prozess durchgestanden hat …

Dieses Buch habe ich primär nicht für Menschen in Not, nicht für Betroffene und traumatisierte Opfer geschrieben, sondern für Psychotherapeuten, die in Klinik oder Praxis tätig sind, für meine Kolleginnen und Kollegen in Beratungsstellen usw., die etwas mit der Idee der Vielfalt in uns, mit dem Konzept der Ego-State-Therapie von John und Helen Watkins oder einem anderen Teilekonzept anfangen können. Es ist eine Art Handbuch der hypnotherapeutischen Teiletherapie geworden, für die praktische Arbeit mit traumatisierten Menschen, in dem ich mein bisher gesammeltes Wissen über Trauma, Hypnotherapie und Teilearbeit zusammengefügt habe. Die Quellen, aus denen ich schöpfe, sind meine diversen Teilnahmen an Workshops, Kongressbesuche und meine Weiterbildungen in den Neunzigern des letzten Jahrhunderts: eine Weiterbildung in EMDR bei Arne Hoffmann, eine Ego-State-Weiterbildung bei Woltemade Hartman und eine hypnosystemische Weiterbildung bei Gunther Schmidt und Berhard Trenkle. All diesen Lehrern möchte ich für das, was ich lernen durfte, an dieser Stelle ganz herzlich danken.

Alle in dem Buch präsentierten Therapiemodelle, »To-do-Listen«, Formate für die Praxis, »Kochanleitungen« und Verfahrensvorschläge habe ich selbst gesammelt und gebe sie hier in diesem Buch wieder, so wie ich sie erinnere. Wo immer ich es noch rekonstruieren konnte, nenne ich Quelle und Namen des Fundortes. All den geschätzten Kollegen den besten Dank dafür.

Einleitung

Zu einem ersten Kongress mit dem Titel »Reden reicht nicht!? – Bifokal-multisensorische Interventionstechniken« hatten sich im Mai 2014 über 1500 Menschen in Heidelberg zusammengefunden. Alle diesen Kolleginnen und Kollegen, aus unterschiedlichsten therapeutisch-beraterischen Konzeptwelten, schienen das Interesse an der Erweiterung ihres therapeutischen Horizontes und die Neugierde, was jenseits der »Sprechtherapie« noch als wirkungsvoll gelte, angelockt zu haben. Mit dem Titel des Fachkongresses schien sich das bei vielen vorherrschende Unbehagen, welches bei der rapiden Zunahme von Menschen mit traumaassoziierten Störungen in den letzten Jahren in der Psychogemeinde sich zusammengebraut hatte, zu kanalisieren: Was können wir tun außer reden? Wenn die PTBS eine psycho-physiologische Störung des Gehirns ist, welche speziellen Methoden brauchen Traumapatienten? Was ist bei Trauma wirklich wirksam?

Auch ich war lange Zeit in der Klinik als Oberarzt einer Traumaabteilung am Klinikum Nürnberg (und in meiner Praxis) an Grenzen geraten, wenn die aktuellen Probleme von Patienten sehr eng mit traumatischen Phasen ihrer Lebensgeschichte verknüpft waren. Dann spürten wir alle im Team der Klinik meist sehr schnell die Grenze rein verbaler oder psychodynamischer, aber auch verhaltenstherapeutischer Interventionen. Wenn Worte nicht mehr reichen, müssen andere Veränderungsmöglichkeiten genutzt werden – das wurde uns zunehmend klar. Das hieß für uns alle, Gewohntes infrage zu stellen, für Neues offen zu sein und dazulernen zu wollen.

In diesem Buch werde ich ausschließlich solche Strategien und Techniken zur Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen darstellen, welche zum einen über innere Bilder und hypnotische Zustände zu Veränderungen im psychischen und körperlichen Erleben des Patienten führen. Diese Methoden sind abgeleitet aus der Hypnotherapie, aus der klassischen Ego-State-Therapie von John und Helen Watkins und der von mir weiterentwickelten hypno-analytischen Teiletherapie; ich arbeite mit Altersregression, Affektbrücken, hypno-projektiven Techniken, innerer Bühne, gesteuerter Dissoziation, Reparenting, Transskripting und verschiedenen Ich-Zuständen, Zeitlinien, Zeitprogression und Submodalitäten u. a. m. Zum anderen schlage ich ihnen immer wieder bifokal-multisensorische Interventionstechniken zur Ergänzung vor. Ich werde mich dazu überwiegend auf die PEP-Methode von Michael Bohne und die Bildschirm-Technik von Lutz Besser beziehen.

Warum ein so großer Aufwand an Theoriehintergrund? Weil ich gut gerüstet sein will, um mich mit einer Vielfalt an Methoden individuell auf meinen Patienten einzustellen und mein Angebot zu variieren. Der Paul Watzlawick zugeschriebene Satz »Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel« darf hier als Aphorismus nicht fehlen. Das Ziel, das es zu erreichen gilt, ist ein wahrlich großes: die Integration des Traumas in die Persönlichkeit des Hilfe suchenden Menschen – aus dem Traumaopfer soll eine Überlebende werden. Wenn der Satz »Letztendlich zielt die Ego-State-Therapie auf Integration, doch beginnt die Vorbereitung auf die Integration bereits am Anfang der Behandlung« (2003, S. 109) von Maggie Phillips und Claire Frederick stimmt – und ich habe keinen Zweifel daran, sonst hätte ich ihn meinem Buch nicht vorangestellt –, dann ist Traumaarbeit gleich Integrationsarbeit. Oftmals musste ich erkennen, dass, wenn es gelang, durch Traumakonfrontation einige Symptome zu verbessern und den Patienten wieder handlungsfähiger zu machen, die Frage noch lange nicht gelöst war: Was mache ich jetzt mit meinem Leben? Was packe ich jetzt neu an, was ist meine neue Lebensqualität? Wie kann die Geschichte meiner Vergangenheit neu erzählt werden?

Einem Opfer mit traumatischer Lebenserfahrung zu helfen ist etwas, das nicht nur Traumakonfrontation umfasst, sondern vor allen Dingen diese Ziele haben sollte: missbrauchtes Vertrauen wieder neu zulassen können und soziale Teilhabe neu entwickeln, Neueinstellungen erproben und die Veränderung von Selbst- und Weltbildern initiieren. Silke Gauleiter1 hat das in einem Vortrag einmal »die Trauma-Zuordnungs-Arbeit« genannt. Sie meint damit, einfach verstehen, warum ich so geworden bin, und dazu muss ich nicht jedes einzelne Ereignis ausgraben und umdrehen, einfach global verstehen: es geht mir heute so, weil damals etwas war – überhaupt Biographiearbeit leisten, Traumalandkarten herstellen, Stressreduktion –, das alles ist keine Frage. Aber auch Sinnfindung im Hier-und-Jetzt: Wie soll ich weiterleben, wenn ich keine Symptome mehr habe? Wenn ich mein Sinnkonstrukt völlig verloren habe und das durch die Traumaexposition auch nicht zurückkommt und das Leben beginnt, wieder bunter und komplexer zu werden? Und dann auch noch der Umgang mit dem Körper, der bisher so gelitten hat!

Ein durch Gewalt und negative Ereignisse geprägtes neurophysiologisches Gefüge wieder zu verwandeln, beginnt mit dem ersten Schritt: eine Vertrauensbeziehung aufbauen, eine schützende Inselerfahrung als erste Bindungserfahrung mit dem Therapeuten, der Therapeutin. Helfende Institutionen sind im Sinn der Bindungstheorie für das Reparieren und Anknüpfen an unterbrochene Kommunikation zuständig, sagt Silke Gauleiter. Da hat sie sicher recht.

Teil I

Bewährte Konzepte der Integration des Traumas

Kapitel 1

Was passiert in einer Traumatherapie? – das 3-Phasen-Modell nach Judith Herman

Es hat sich mittlerweile unter Therapeuten und Patienten herumgesprochen, dass »Traumatherapie« mehr ist als die klassische Form der Gesprächstherapie: einer oder eine hört zu, was der/die andere erzählt, und sagt irgendwann etwas dazu. Diese Art des wechselseitigen Hörens und Redens ist eine Art professionalisierter Dienstleistung, die in unserer Gesellschaft in der sogenannten »Richtlinientherapie« der Krankenkassen bis ins Detail geregelt ist. »Traumatherapie«, nach der seit Jahren immer mehr Patienten mit zum Teil massiven Traumafolgestörungen in unseren Therapiepraxen nachfragen, ist eigentlich so, wie wir alle sie heute praktizieren, keine Kassenleistung nach den strengen Richtlinien und muss in Therapieanträgen geschickt umschrieben werden, wenn man sich keine Ablehnung durch den Gutachter einhandeln will.

Und dennoch machen viele von uns »Traumatherapie« in einer Art Parallelwelt zur reglementierten Kassentherapie und verlassen sich auf verbindliche Standards, die in den letzten Jahren auf Tagungen, Workshops und in der Literatur in den USA und bei uns entwickelt wurden. Vorreiterin ist die amerikanische Psychiaterin und Professorin für Klinische Psychologie an der Harvard Medical School Judith Lewis Herman (geboren 1942), die neben der Lehrtätigkeit ein Programm für Opfer von Gewalttaten am Cambridge Hospital leitet. Sie beschrieb in dem 1993 bei uns erschienenen Buch »Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden« die sogenannte »Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung« (K-PTBS), einen Meilenstein der Weiterentwicklung traumatherapeutischer Konzepte in der Welt.

1.1 Was sind die wichtigsten Elemente der Traumatherapie?

Traumatherapie ist eine prozess- und phasenorientierte Therapie, und ihre Struktur besteht aus drei Phasen. Diese Phasen werden nicht unbedingt strikt nacheinander durchgearbeitet, denn es kann vorkommen, dass nach einer Sequenz der Traumabearbeitung in Phase zwei erst wieder eine erneute Phase der Stabilisierung/Ressourcenarbeit erfolgen muss, um mit der Bearbeitung des Traumamaterials weitermachen zu können. Ein Grundsatz ist ganz wichtig: Es ist zwingend nötig, sich dem traumatischen Material erst dann zuzuwenden, wenn der Patient genügend Methoden kennt, um sich von den aufkommenden Erinnerungen (Intrusionen) anschließend wieder zu distanzieren, um Retraumatisierung zu vermeiden.

Damit das gelingen kann, muss ein stabiles Arbeitsbündnis zwischen Patient und Therapeut2 in der ersten Phase der Therapie erarbeitet werden. Folgendes ist dafür wichtig: Ein Mensch, der Opfer extremer Gewalt geworden ist, verliert durch die Traumatisierung das Gefühl innerer und äußerer Sicherheit, und das gilt ganz besonders für die sogenannten Bindungstraumata in der frühen Phase der Kindheit. So ein Bindungstrauma kann durch eine frühe Trennung von den Eltern, beispielsweise durch einen längeren Krankenhausaufenthalt, verbunden mit einem (früher üblichen) Besuchsverbot, entstehen. Ein Bindungstrauma kann auch verursacht werden durch Erziehungspersonen, die in ihrem Verhalten vom Kind als unberechenbar erlebt wurden, und auch durch Vernachlässigung und emotionale Kälte. Wichtigstes Ziel in der ersten Zeit der Traumatherapie ist es, innere Sicherheit und Stabilität wieder aufzubauen. Bevor das für den Patienten spürbar werden kann, sitzt er aber erst einmal einem unbekannten Therapeuten gegenüber, dem er für eine gemeinsame erfolgreiche Arbeit vertrauen »muss«. Dies ist oft ein schwieriges Kunststück, denn das Gefühl von Vertrauen in sich und andere wurde ebenfalls durch das Trauma schwer erschüttert. Damit das gelingt, muss der Therapeut immer wieder als achtsames und verlässliches Gegenüber erlebt werden. Gerade bei Opfern sexualisierter Gewalt besteht oft die Überzeugung, schmutzig und für andere eine Zumutung zu sein, und die Angst, niemand könne die Schilderungen grausamster Gewalt ertragen. Es ist ganz sicher so: Der Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut und Patient nimmt zusammen mit der ersten Phase der Stabilisierung und Gewinnung von Sicherheit den zeitlich größten Anteil einer Traumatherapie ein.

Nun die Phasen der Traumatherapie im Einzelnen:

Phase 1: Stabilisierung/Ressourcenarbeit

Phase 2: Traumabearbeitung

Phase 3: Integration und Neuorientierung

1. Phase – Stabilisierung/Ressourcenarbeit

Die Stabilisierungsphase ist die wichtigste Phase in der Traumatherapie, so heißt es – sie dauert zwischen zwei Wochen und zwei Jahren … (oder auch für immer). In dieser Phase geht es, salopp gesprochen, für den Patienten darum zu lernen, gut für sich im Hier-und-Jetzt zu sorgen und sich von Traumaerinnerungen nicht mehr so leicht überfluten zu lassen.

Zielsetzung dabei ist, dass das selbstschädigende, parasuizidale Verhalten zur Spannungsregulation eingeschränkt und im späteren Verlauf am besten überflüssig wird; d. h., der Patient lernt, aus dissoziativen Zuständen auszusteigen und sich selbst zu beruhigen. Innere und äußere Sicherheit spielen in dieser Phase eine zentrale Rolle, deshalb ist die Frage nach eventuell noch bestehendem Täterkontakt wichtig.

Ein besonderes Augenmerk wird auf die individuellen Fähigkeiten und Ressourcen gelegt, die in der Therapie maßgeschneidert ausgebaut und erweitert werden müssen. Für ein stabileres Hier-und-Jetzt gehört unbedingt eine finanziell abgesicherte Situation dazu, die Schaffung eines sicheren Zuhauses in einem sicheren Umfeld und die Fähigkeit, die eigenen Grenzen zu erkennen und anderen Grenzen zu setzen. Mit hilfreichen Techniken, wie z. B. der Imagination eines sicheren Ortes, der inneren Helfer oder des Tresors, können Krisen häufig besser bewältigt werden. Auch über den stabilisierenden Einsatz von Psychopharmaka und das Abschließen von Verträgen (Anti-Suizid-Pakt, Pakt gegen Selbstverletzung usw.) sollte nachgedacht werden.

2. Phase – Traumabearbeitung

Sobald eine ausreichende Stabilität erreicht wurde und eine vertrauensvolle Bindung zwischen Patient und Therapeut sich entwickeln konnte, sollte der nächste Schritt vorbereitet werden. Das beinhaltet für mich als Erstes die Frage: Ist jetzt eine Konfrontation mit dem Traumamaterial nötig, hilfreich, sinnvoll und vom Patienten erwünscht? Das Für und Wider sollte auf Augenhöhe mit dem Patienten erörtert und die möglichen Wirkungen und Nebenwirkungen der Konfrontationstechniken klar benannt werden. Gibt der Patient sein O. K., kann mit der Traumabearbeitung begonnen werden – vielleicht wäre es jetzt gut, die Möglichkeit für Doppelstunden zu schaffen.

In der Traumabearbeitung – neudeutsch »das Prozessieren« genannt – geht es darum, die erlebten Situationen zu verarbeiten und in die eigene Lebensgeschichte bzw. Vergangenheit zu integrieren, sodass die traumatischen Erinnerungen als vergangene Erlebnisse, geschehen an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit, abgespeichert und dann »verträumt«3 werden können. Kurz gesagt: Ziel ist eine Veränderung der kognitiven und emotionalen Bewertung des Traumageschehens. Der innere Heilungssatz könnte lauten: »Ja, es ist MIR passiert! Es gehört zu MIR, es war schlimm – und nun ist es vorbei!«

Bei wiederholten bzw. über lange Zeit andauernden Traumatisierungen muss im EMDR nicht jedes einzelne Traumaereignis bearbeitet werden. Wird das erste, das letzte und das schlimmste Traumaereignis bearbeitet, reicht dies meist aus. Auch andere Konfrontationsmethoden kommen zum Einsatz, wie zum Beispiel Methoden der Körpertherapie, der Screentechnik nach Lutz Besser oder Techniken aus der hypnotherapeutischen Teiletherapie, die ich weiter unten ausführlicher besprechen werde.

Absolute Kontraindikationen für eine Trauma-Exposition sind nach allgemeinem Konsens Psychosen, akute Suizidalität und anhaltender Täterkontakt.

3. Phase – Integration und Neuorientierung

Zielsetzung dieser Phase ist, das Geschehene mit all seinen Folgen – manchmal auch körperlichen Folgen – als Teil seiner eigenen Vergangenheit zu akzeptieren und zu versuchen, das Beste daraus zu machen. Vielfach setzt jetzt ein Trauerprozess ein; der Patient erlebt eine große Trauer, das Gefühl, um sich selbst weinen zu müssen für all die verpassten Chancen und Möglichkeiten im Leben. Oft wird diese Trauer auch von großer Wut auf den/die Täter abgelöst, auf die, die einem DAS angetan haben. Auf der Suche nach einem Sinn hinter dem Unfassbaren taucht die Frage auf: warum gerade ich? Wenn dieses Suchen nach Sinn abgeschlossen werden kann – was nicht einfach ist, viele bleiben hier stecken –, dann weitet sich der Horizont und es ist der Zeitpunkt gekommen, sich zu fragen: »Was möchte ich mit meinem Leben zukünftig anfangen, was muss ich tun, um ein selbstbestimmtes Leben zu genießen?«

1.2 Warum gibt es einen großen Unterschied zwischen: über das Trauma reden und das Trauma zu »prozessieren«?

Vorweg meine Thesen:

Traumatherapie heißt BEDEUTUNG schaffen!

Es ist ein großer Unterschied: über die Geschichte des Traumas zu reden oder das Trauma durchzuarbeiten (prozessieren) – das Erste führt zu noch mehr Schmerz und Verletzung, das Zweite zur Erleichterung.

In meiner psychotherapeutischen Praxis habe ich dazu folgende Erfahrungen gemacht:

Es kommen Menschen zu mir in die Therapie, die sprachlos unfähig sind, das, was sie erlebt haben, in eine Erzählgeschichte zu kleiden – und andere können ihre traumatischen Erlebnisse erinnern, wirken aber bei der Schilderung ganz weit von sich selbst entfernt und von sich abgekoppelt, so als redeten sie von einer anderen Person (bei Patienten mit DIS ist das auch genau das, wie es ein Innenteil erlebt, wenn es über einen anderen Teil spricht). Hier sind die erinnerten autobiographischen Fakten von der emotionalen Begleitmusik getrennt und aus dem Kontext, in dem das Ganze sich ereignete, genommen. Diese Form des Darüber-Redens trägt wenig dazu bei zu lernen, die hohe emotionale Aufladung, die mit der Erinnerung verbunden ist, zu reduzieren und das Ereignis sinnstiftend einzuordnen.

Für mich besteht Traumatherapie nicht nur darin, sich auf traumatische Erfahrungen der Vergangenheit zu fokussieren – so wichtig das auch ist –, sondern mithilfe einer vertrauensvollen Beziehung zum Therapeuten, an einem Ort, der Sicherheit bieten kann, in der Gegenwart die Fähigkeit zu entwickeln, mit einem Fuß in der Vergangenheit zu stehen und sich die Schrecken zu vergegenwärtigen und gleichzeitig mit dem anderen Fuß in der sicheren Gegenwart zu sein und zwischen beiden unbeschadet wechseln zu können. Dazu sind Fähigkeiten notwendig, die in dem oben vorgestellten dreischrittigen Vorgehen von Judith Herman meines Erachtens zu kurz kommen: Das Erlernen von Selbstfürsorge, vorsichtige Konfrontation mit Traumainhalten des Dort-und-Damals und Reorientierung im Hier-und-Jetzt, das Erlernen von Distanzierungstechniken mittels Bildschirmtechnik oder Narrativ usw. Diese Techniken werde ich im nächsten Kapitel unter dem Begriff »Zugang zum Traumamaterial schaffen« des SARI-Modells der Hypnotherapie genauer vorstellen.

Drei Dinge machen für mich das Wesen der sog. »Prozessierung des Traumas« für den Patienten aus:

Auf der Grundlage einer tragfähigen therapeutischen Beziehung, dem Gefühl, miteinander vertrauensvoll verbunden zu sein, kann der Patient eine korrigierende Neuerfahrung machen: Der Patient bemerkt die empathischen Reaktionen des Therapeuten auf seinen Leidensbericht und darf erkennen: Ja, es war schlimm und es ist vorbei. Wichtig ist hier das »und« und nicht ein »aber«.

Prozessieren meint, die Fähigkeit zu entwickeln, im Gegenwartsmoment zu sein und auch zu bleiben. »In einer EMDR-Sitzung wird die belastende Erinnerung in der Bewertungsphase schonend aktiviert. In der Phase der Reprozessierung dienen die bilateralen Stimuli und der Wechsel zwischen traumatischer Erinnerung und Gegenwart – die duale Aufmerksamkeitsfokussierung – einer Modulation der Stressantwort, sodass Verarbeitung stattfinden kann. Hier spielen auch die technische Sicherheit und Erfahrung des Therapeuten sowie die therapeutische Beziehung eine wichtige Rolle. Patienten bringen in unterschiedlichem Ausmaß Affekttoleranz, das heißt die Fähigkeiten der Selbstberuhigung und eine basale Ich-Stabilität, mit ein. Ebenso sind die Vorerfahrungen und Erwartungen von Patienten zu berücksichtigen. Die gemeinsame Modulation der Stressantwort ist sehr wichtig, denn so kann es auch in der Phase der Traumakonfrontation zu einer guten Verarbeitung und Vermeidung einer Überflutung und Retraumatisierung kommen.« (Hase et al. 2013, S. 512) Patienten mit dissoziativen Störungen haben dadurch überlebt, dass sie lernten, das traumatische Wissen, die Emotionen und die körperlichen Empfindungen separiert, dissoziiert zu halten. Viele glauben, die traumatischen Ereignisse seien nicht ihnen, sondern jemand anderem zugestoßen. Das eigene Trauma zu prozessieren bedeutet, es als zu sich gehörig zu erleben – ja, es ist mir passiert und ich habe überlebt.

Es geht also darum, alle diese Aspekte der Traumaerfahrung, das Denken, das Fühlen, die Körperempfindungen, die Bilder usw., in eine autobiographische Erfahrung zusammenzubringen.

Drittens beinhaltet die Prozessierung eine Integration von Erfahrungen, die ein wichtiger Schritt zur Schaffung von Bedeutung ist (ein wesentliches Integrationsziel der dritten Phase der Traumabehandlung). Zum Beispiel geschieht das in der EMDR-Verarbeitung dadurch, dass wir das schlimmste Bild, den schlimmsten Moment eines traumatischen Erlebnisses, die damit verbundenen Gefühle und körperlichen Empfindungen zusammen mit der negativen Glaubensüberzeugung über sich selbst im Arbeitsgedächtnis unseres Gehirn zusammenbringen – Teile, die bisher aus Überlebensgründen dissoziiert gehalten wurden. Durch die jetzt einsetzende bilaterale Stimulation (z. B. Augenbewegungen) wird das Trauma prozessiert, und das Gehirn kann etwas Neues lernen.

1.3 Die Konstruktion von Sinn

Können sinnlose Gewalt und das Erleiden höllischer Qualen einen Sinn haben? War Auschwitz eine Schule fürs Leben? Nein, ganz sicher nicht, es würde das Leid der Opfer nur verharmlosen. Aber ein bisschen anders gedacht: Trauma-Opfer mussten zum Überleben ganz besondere Fähigkeiten ausbilden. Wenn diese Eigenschaften und Fähigkeiten von den Betroffenen in dem »Leben danach« als einzigartige persönliche Stärken anerkannt und geschätzt werden könnten, könnte es auch gelingen, diese »Überlebens«-Fähigkeiten »sinn«-voll für sich und andere einzusetzen.

Ein Traumaereignis in der Kindheit durch körperliche und/oder sexuelle Gewalt, eine Bedrohungssituation in der Pubertät oder eine Gewalterfahrung als Erwachsener sind Restriktionen, nicht mehr veränderbare Tatsachen der Vergangenheit. Da wir die Vergangenheit rückwirkend nicht mehr ändern können, da die Kindheit bei den meisten von uns unwiederbringlich vorbei ist, bleibt uns nur eines: die Einstellung zu dieser – unserer! – Vergangenheit ändern, sodass sie ihren destruktiven Impact verliert. Leichter gesagt als getan, denn ein Trauma zerstört so viele Dinge: das sich entwickelnde Selbstverständnis eines Kindes, die Fähigkeit, Sicherheit und Geborgenheit in einer Beziehung zu finden und den Glauben an eine sichere und gerechte Welt. Die Konstruktion von Sinn in der Gegenwart heißt, dem, was vergangen ist, eine neue Bedeutung geben, eine Bedeutung, die über die traumabasierten Überzeugungen »Ich bin schlecht« und »Ich habe es verdient« hinausgeht. Der Therapeut ist als allererstes ein Zeuge für das »Unfassbare«; mit ihm teilen die Patienten ihre traumatischen Erfahrungen, und das ist ein Schritt in Richtung der Schaffung einer anderen Erfahrung von nicht ausbeuterischer Beziehung.

Judith Herman schreibt dazu: »Daher muss jede vergewaltigte Frau, die ihr Trauma bewältigen will, selbst einen Weg finden, wie sie wieder ein Gefühl der Verbundenheit mit der Gemeinschaft insgesamt herzustellen vermag. Wir wissen nicht, wie vielen Frauen das gelingt. Doch wir wissen, dass sich die Frauen am ehesten erholen, die ihrer Erfahrung eine Bedeutung verleihen können, die über die Grenzen der privaten Tragödie hinausgeht. Meist finden diese Frauen die Bedeutung, indem sie sich mit anderen in gesellschaftlichem Handeln zusammentun. In ihrer Langzeitstudie über Vergewaltigungsopfer kamen Burgess und Holmstrom zu dem Ergebnis, dass die Frauen, die sich Kampagnen gegen Vergewaltigung angeschlossen hatten, am besten mit dem Trauma fertiggeworden waren. Sie arbeiteten ehrenamtlich als Beraterinnen in Notrufzentren für vergewaltigte Frauen, setzten sich vor Gericht für die Opfer ein und kämpften für Gesetzesreformen. Eine Frau reiste ins Ausland, um Vorträge über Vergewaltigung zu halten und organisierte ein Notrufzentrum für vergewaltigte Frauen. Wenn vergewaltigte Frauen es ablehnen, sich zu verstecken, wenn sie sich nicht zum Schweigen bringen lassen, wenn sie darauf bestehen, dass Vergewaltigung die Öffentlichkeit angeht, und wenn sie gesellschaftliche Veränderungen fordern, schaffen sie sich damit selbst ein lebendiges Mahnmal.« (Herman 1993, S. 106)

So wie Herman das beschreibt, ist es natürlich die ideale Form der Utilisation: aus einem belastenden Lebensereignis eine Lebensaufgabe machen. Dazu liegt uns in der Literatur eine Fülle von Erfahrungen auf diesem Gebiet vor – sicher werden Sie auch unwillkürlich an Viktor Frankls Leben und Werk denken. »Sinnfindung nach traumatischen Erfahrungen ist wohltuend, entlastend und heilsam. Schließlich werden durch das Trauma gleichsam falsifizierte kognitive Modelle der Wirklichkeit auf neuem Niveau wieder konstruiert.« (Butollo et al. 2002, S. 323)

Das Lebensbejahende daran, so schreiben die Autoren weiter, ist, dass die Entwicklung von Modellen der Wirklichkeit wieder gewagt wird: Zusammen mit dem Therapeuten werden Entwürfe für eine bessere und vor allem sichere Gegenwart imaginiert, die Frage der Schuld am und die Verantwortung für das Geschehen erörtert und die unentdeckte Vielfältigkeit der Zukunft als eine mögliche Alternative zur ewigen Chancenlosigkeit der Vergangenheit in den Blick genommen. Dies alles muss nicht gelingen, aber es kann – und vielleicht liegt für manche der letzte sinnstiftende Ausweg darin, eben keinen Sinn in dem Geschehen zu finden, sondern alles, was passiert ist, »radikal zu akzeptieren«, so wie es Marsha Linehan (2016) für Patienten mit Borderline-Persönlichkeit beschrieben hat.

Kapitel 2

Das SARI-Modell in der Hypnotherapie zur Behandlung von Traumafolgestörungen

Bevor ich das Akronym SARI aufkläre, hier ein paar allgemeine Bemerkungen. In Kapitel 1 hatte ich die basale Struktur einer Traumatherapie beschrieben, wie sie für uns Traumatherapeuten mittlerweile der Goldstandard ist und sich in den letzten Dekaden im deutschsprachigen Raum gut bewährt hat. Je nach therapeutischer Grundausrichtung werden die drei Schritte Stabilisierung – Konfrontation – Integration mit speziellen Methodenansätzen kombiniert, die für einen tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutischen oder systemischen Ansatz unterschiedlich ausfallen können.

In diesem Kapitel möchte ich die Struktur der Traumatherapie aus meiner Perspektive darstellen, das ist die Sicht der Teiletherapie nach John und Helen Watkins, ergänzt durch eine hypnotherapeutische und auch hypnosystemische Grundhaltung – das Tiefenpsychologische steht bei mir eher in der zweiten Reihe. Wenn ich dann im Weiteren über INTEGRATION schreiben will, so ist es für Sie als Leser sicher wichtig zu wissen, mit welcher Haltung, mit welchen Zielen und Methoden ich die beiden vorausgehenden Schritte »Stabilisierung – Konfrontation« absolviert habe.

2.1 Meine Grundhaltung: Wie ich Patienten begegne

Die Prämissen, welche meine therapeutische Grundhaltung betreffen, lassen sich wie folgt beschreiben:

1. Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch einen unzerstörbaren inneren Kern besitzt, den man als SELBST oder in der Nomenklatur der Watkins als das »Core-Self«, das Kernselbst, bezeichnen könnte. Es ist so etwas wie »die Mitte« oder »das Herzstück« eines Menschen. Es Kern-Ich zu nennen, was leider immer wieder passiert, ist nach meiner Ansicht falsch, da die Ich-Ebene und die Ich-Zustände davon zu unterscheiden sind.

Karin Peterson sagte in einem Vortrag in Bezug auf die Teiletherapie von Richard Schwartz dazu: »In der Anwendung der Behandlungsmethode gehe ich davon aus, dass jeder Mensch zum einen ein Selbst hat, das mithilfe der Reflexion des bewussten Geistes passiv beobachtend zu einer vorurteilsfreien Sicht fähig ist und im inneren System des Menschen mit Qualitäten wie Neugier, Mitgefühl, Liebe oder Güte aktiv gestaltend die Führung übernimmt. Ich gehe zum anderen davon aus, dass der unbewusste Geist eine Quelle der Weisheit und Kraft ist, wovon Milton Erickson als einer der Ersten überzeugt war.« (Peterson 2005)

2. Weiter gehe ich davon aus, dass es eine Multiplizität der Psyche gibt.

Die innere Wirklichkeit lässt sich für mich besser als ein multidimensionales/multimodales System beschreiben im Gegensatz zur Vorstellung eines konsistenten, monolithischen ICH, wie durch Sigmund Freud nahegelegt. Es gibt viele Therapieschulen, die von einer inneren Vielfalt ausgehen – cave: Auch die Ego-State-Theorie ist nur ein Konzept, eine Landkarte und nicht die Landschaft und vor allem: keine Wahrheit.

Die Hypnotherapeuten John und Helen Watkins haben die Konzepte des Wiener Psychoanalytikers Paul Federn weiterentwickelt und 1982 die »Ego-State Therapy« begründet, in der sie diese Multiplizität der Persönlichkeit vertreten und damit therapeutisch arbeiten. »Nach ihren Ansichten verfügen Menschen, die ein Trauma erleiden, über nur wenig Handlungsalternativen: eine ist, psychotisch zu werden, eine weitere, sich umzubringen und eine dritte, zu dissoziieren. Demnach wird die Dissoziation als kreative Reaktion des Menschen auf traumatische Erlebnisse verstanden.« (Ebenda)

3. Die dritte Prämisse ist der Systemtheorie entlehnt: Nach Maturana sind lebende Systeme stets autopoietisch – Autopoiesis oder Autopoiese (altgriechisch αὐτός autos »selbst« und ποιεῖν poiein »schaffen, bauen«) ist der Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems. Somit können Systeme nicht aufhören, sich zu erschaffen und auf sich selbst zu reagieren, für sie gibt es nur Weiterleben oder Sterben. Wenn eine Person sich als »traumatisiert« beschreibt, folgt aus der Theorie der Autopoiese und der operationalen Geschlossenheit unseres Gehirns, dass die Traumasymptome von der Psyche dieser Person selbst erzeugt und nicht von außen hineingetragen werden. »Die Frage ist dann, wie und mit welchen Operationen die Psyche das in Interaktion mit ihrer Umwelt tut. Dabei schließen die Operationen eines Systems immer nur an eigene Operationen und nicht an die anderer Systeme an. Insofern reagiert ein System nicht auf die Umwelt, sondern auf das, was es sich als Umwelt konstruiert.« (Lieb 2014, S. 32) Der Mensch wird von mir also nicht als ein Wesen verstanden, das nach einer Wenn-dann-Logik funktioniert (monolinear), sondern als ein komplexes, zirkuläres und sich selbst regulierendes System (Maturana & Varela 2009). In einem solchen System kann nicht vorhergesagt werden, welcher Input für den Output, z. B. Intrusionen, eindeutig verantwortlich ist.

4. Die Erickson’sche Hypnotherapie geht von der Grundannahme aus, dass in praktisch allen Fällen die Grundkompetenzmuster, die für eine gesunde Lösung von psychischen Problemen verwendet werden, im Erfahrungsspektrum des Menschen gespeichert sind. Das heißt, jeder von uns besitzt a priori all die Ressourcen, die man braucht, um den Herausforderungen des Lebens angemessen entgegentreten zu können (das ist die sogenannte Potentialhypothese).

Jedem Menschen steht eine Vielzahl von Erlebnismustern – gespeichert in seinem unbewussten Erlebnisrepertoire – zur Verfügung. Jeder Erlebnisprozess fokussiert selektiv auf bestimmte Wahrnehmungsmöglichkeiten; mit diesen erlebt man sich als assoziiert, andere werden ausgeblendet oder treten in der Wahrnehmung zurück, sie werden dissoziiert. Dabei bleiben sie aber, selbst wenn sie »vergessen« werden, als Potenzial verfügbar. Für die Therapie heißt das: Die Bereiche, in denen die Kompetenzen abgespeichert sind, müssen fokussiert und aktiviert werden. Daraus lässt sich die Grundaufgabe der hypnosystemischen Traumatherapie ableiten: Sie soll den Patienten unterstützen, seine Aufmerksamkeit auf seine unbewussten Potentiale zu richten, und ihm helfen, sie zu nutzen (Schmidt 2015).

5. Ein letzter Punkt: Meine Arbeit mit dem Trauma setzt bei einer systemischen Sicht der Symptombildung an. Die grundsätzliche Herangehensweise, die ich dort gelernt habe, ist für mich trefflich in dem Satz von Gunther Schmidt zusammengefasst:

Das Symptom ist nicht das Problem, sondern die Lösung für ein Problem.

In dieser Sichtweise sind das selbstverletzende Verhalten, die dissoziativen Zustände, das sog. Täterintrojekt usw. nichts anderes als Symptome wie viele andere auch (z. B. Angstzustände, Durchfall, Kopfschmerzen usw.), sie sind hoch kompetente, kreative Lösungen und dienen der Stabilisierung des Systems. Statt monokausal wird die Verursachung der Symptombildung systemisch, das heißt in einem interagierenden, sozialen Ganzen gesehen. Es gilt das Sinnhafte des Symptoms zu verstehen, denn das Symptom gilt als Vorbote des Wandels, da es zur Veränderung des Lebenszusammenhanges beiträgt. Symptome sind aus Sicht der systemischen Therapie Ausdruck der aktuellen Kommunikations- und Beziehungsbedingungen in einem System, und das gilt auch für das innere System der Selbstanteile.

Diese Punkte führen mich zu folgenden, etwas vereinfachten Kernaussagen:

Jeder Mensch ist viele Teile, und diese bilden ein inneres System.

Meine Patienten haben die Stärken und Ressourcen in ihrem kreativen Unbewussten, um alle Herausforderungen des Lebens zu meistern.

Symptome sind mögliche Lösungen eines Systems – meist um einen hohen Preis.

Als Therapeut kann ich meinen Patienten in seiner Psyche nicht direkt beeinflussen, ich kann ihm nur helfen, seine Umweltbedingungen, seinen Kontext zu verändern, damit Veränderung wahrscheinlich wird.

2.2 Das SARI-Modell

Wir nutzen das vierschrittige SARI-Modell der Hypnotherapie (Phillips & Frederick 2003), um eine schonende Traumatherapie in der Praxis zu gestalten: Stabilisierung (S), Zugang (access) zum Traumamaterial schaffen (A), Traumakonfrontation/Auflösung (resolving) (R) und Integration (I) sind die einzelnen Schritte – daher der Name SARI. Wie Sie sehen, orientiert sich auch dieses Modell weitgehend am allgemein akzeptierten Phasenmodell der Psychotraumatologie von Judith Herman (siehe Kapitel 1). Die Phasen werden als nicht streng getrennt voneinander angesehen, zwischen einzelnen Schritten kann hin und her gewechselt werden.

Die Phasen im Einzelnen:

Phase 1: Ressourcenaktivierung, Stabilisierung, Aufbau von innerer und äußerer Sicherheit und Symptomreduktion im Alltag des Patienten (Safety and Stabilisation)

Phase 2: Schaffung eines Zugangs zum Traumamaterial, erinnern, ohne überflutet zu werden (Accessing)

Phase 3: Das Durcharbeiten der Belastungserfahrung (Resolving and Restabilization)

Phase 4: Integration der Therapieerfahrung in den Lebensalltag und die eigene Entwicklung (Integration and Identity).

Dazu etwas Grundlegendes:

Für Traumatherapeuten, die das Übertragungsparadigma der Psychoanalyse hinter sich lassen wollen, ist es mittlerweile selbstverständlich geworden, mit ihrem Patienten, der wegen traumainduzierten Symptomen in die Therapie kommt, eine Beziehung auf Augenhöhe herzustellen. Natürlich ist Übertragung und Gegenübertragung ein in Beziehungen zwischen Menschen alltägliches Phänomen, was mein Analytiker-Ego-State niemals ableugnen würde, aber ich arbeite nicht damit, d. h., Übertragung ist für mich nicht der Hebel zur Heilung von Patienten mit traumabasierten Persönlichkeitsstörungen. Ich möchte sogar noch weiter gehen: Ich finde Traumatherapie, die auf die Reinszenierung des Traumas in der Übertragung zum Therapeuten setzt, nicht nur wenig effektiv, sondern schlicht und einfach falsch und wegen der Regressionsgefahr gefährlich. Die Behandlung einer traumabasierten Störung erschöpft sich nicht in der Therapie der eher sekundären Psychisierung des Missbrauchs im Sinne einer sekundären neurotischen oder charakterpathologischen Überarbeitung des Themas (natürlich haben Traumapatienten auch neurotische Konflikte), sondern Traumatherapie ist auch Reprozessualisierung einer primär neurophysiologischen Gedächtnis- und Stressstörung. Deshalb bin ich immer noch baff erstaunt, wenn mir eine genehmigungspflichtige Psychotherapie mit massivem Traumahintergrund von einem Gutachter der alten psychoanalytischen Schule mit der Begründung abgelehnt wird, die »Bedeutung der Symptomatik für die Patientin sei aus der dargestellten Psychodynamik nicht ausreichend nachvollziehbar«. So eine »analytische Psychodynamik« hatte ich auch nicht beschrieben, hatte doch diese Patientin einen Frontalzusammenstoß mit einer »Geisterfahrerin« überlebt … da schienen mir die ödipalen Konflikte der Kindheit eher nebensächlich, und das entgegenkommende Auto der Geisterfahrerin wollte ich auch nicht als böses Mutterintrojekt deuten.

Indem ich mich an das Erwachsenen-Selbst des Patienten wende, beschreibe ich die psychotherapeutische Beziehung zu mir auch als eine Dienstleistungsbeziehung. Damit stehen die Transparenz meines therapeutischen Tuns und die Psychoedukation an erster Stelle. Ich finde es wichtig, dem Patienten so verständlich wie möglich und so ausführlich wie nötig die physiologischen Zusammenhänge von Trauma, Gedächtnis, Stressreaktion des Körpers und Symptombildung zu erklären. Diese verständnis- und vertrauensbildenden Maßnahmen führen zum nächsten wichtigen Schritt, dem Aufbau einer positiven Beziehung. Diese ist Grundlage jeglicher psychotherapeutischer Behandlung und nicht das eigentliche Ziel der Therapie – wie uns Behandlungstechnik-Puristen immer wieder glauben machen wollen, die ganz auf die heilende Kraft der Beziehung setzen.

Die eigene therapeutische Haltung wird in der Literatur immer wieder als »parteiliche Abstinenz« beschrieben, als Haltung, die sich von der Neutralität und Abstinenz der Psychoanalyse bei diesem Klientel störungsspezifisch abhebt muss – diesem Thema ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen.

2.3 Warum die Arbeit in Hypnose?

Ein Alleinstellungsmerkmal der Ego-State-Therapie, wie ich sie hier vertrete, ist der Gebrauch von Hypnose und Trance-Übungen in der Therapie traumatisierter Menschen. Hypnose muss natürlich gelernt und geübt werden und ist somit fester Bestandteil unseres deutschsprachigen Ausbildungscurriculums in Ego-State-Therapie. Der Einsatz von Hypnose muss natürlich dem Patienten angepasst werden. Es gilt für mich die Regel: Je dissoziierter ein Patient ist, desto zurückhaltender bin ich mit dem Gebrauch von Hypnose. Diese Menschen sind ja schon in einer ständigen »Symptomtrance«, wie Gunther Schmidt es sagen würde, und unser Ziel ist da nicht die weitere Verstärkung des Gefühls »alles passiert ganz unwillkürlich und ich bin hilflos dem ausgeliefert«, sondern mehr Rückgewinnung von Affekt- und Impulskontrolle.

Nina Lindemann fasst die Diskussionslinie zu dem immer wieder strittigen Punkt »Hypnose und Traumatherapie« zusammen: »Die theoretische Verbindung zwischen Hypnose in der Ego-State-Therapie und ihrem Wert zur Behandlung der DIS schafft unter anderem das Konzept des zustandsabhängigen Lernens (Overton 1978), welches besagt, dass Informationen, die ein Mensch in einem bestimmten Zustand wie z. B. unter Drogeneinfluss aufnimmt, mitunter nur bei erneutem Drogenkonsum abermals abrufbar und modifizierbar seien können. Geht man – wie Riegel – davon aus, dass die erreichte Trance während einer Hypnose analog zu den dissoziativen Zuständen des posttraumatischen Erlebens gesehen werden kann (Riegel 2010), liegt der Gedanke nahe, dass die Hypnotherapie bei der Behandlung des gesamten Spektrums Dissoziativer Störungen eine wichtige Rolle spielen könnte. Hypnotisierte haben Zugang zu Körperempfindungen, Emotionen, Erinnerungen und Phantasien, wie es im Zustand des Wachbewusstseins normalerweise nicht der Fall ist. Außerdem tendieren sie während der Hypnose dazu, diese Erfahrungen nochmals zu überdenken. Solche Faktoren tragen zur besonderen Eignung der Hypnose als exploratorische und integrative Methode erheblich bei.« (Brown & Fromm 1986; Lindemann 2011, S. 4)