Innere Kinder, Täter, Helfer & Co (Leben Lernen, Bd. 202) - Jochen Peichl - E-Book

Innere Kinder, Täter, Helfer & Co (Leben Lernen, Bd. 202) E-Book

Jochen Peichl

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Beschreibung

Traumatisierte Menschen fühlen sich in viel stärkerem Maße als andere als »multiple« Persönlichkeiten. Ihr Selbst zerfällt - bewusst oder unbewusst - in die unterschiedlichsten Teile. Wie mit den Selbstanteilen psychotherapeutisch wirksam gearbeitet werden kann, zeigt dieser praxiserprobte und innovative Ansatz. Wer oder was ist das »Ich«? Diese Frage beschäftigt nicht nur Philosophen, sondern auch die Seelenärzte und Psychotherapeuten seit Sigmund Freud. Eine therapeutisch fruchtbare Antwort haben die amerikanischen Psychologen Helen und John Watkins gefunden: Das »Ich« ist keine Einheit, es besteht vielmehr aus Teilen. Komplex traumatisierte Patienten machen diese Erfahrung des geteilten Selbst in radikaler Weise. Ihr Ich zerfällt häufig geradezu in die unterschiedlichsten Teilpersönlichkeiten. Täterintrojekte stehen neben dem verletzten kleinen Kind, Helferpersönlichkeiten koexistieren mit Opferanteilen. Der Autor zeigt an konkreten Beispielen aus der psychotherapeutischen Praxis, wie mit den unterschiedlichen Anteilen traumatisierter Patienten gearbeitet werden kann. Am Ende einer gelungenen Behandlung wird ein besser integriertes und damit gestärktes Selbst stehen, das schlimme Erfahrungen aus der Vergangenheit lebensgeschichtlich einordnen kann.

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Seitenzahl: 340

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Jochen Peichl

Innere Kinder, Täter, Helfer & Co

Ego-State-Therapie des traumatisierten Selbst

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2007 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Roland Sazinger

Unter Verwendung eines Fotos von © Stephan von Mikusch / fotolia.com

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89223-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10385-4

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20285-4

Dieses E-book basiert auf der aktuellen Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung: Wohin geht die Reise?

1.Was Menschen Menschen antun können

2.Das ödipale Dilemma

2.1 Ein eindrucksvolles Beispiel: Kernberg spricht mit einer Patientin

2.2 Unklare Begriffe

3.Die Selbst-Familie oder der Ego-State-Ansatz nach Watkins

3.1 Das multidimensionale Selbst

3.2 Spurensuche

3.3 Über Freud hinaus: Paul Federn und Edoardo Weiss

3.4 Ego-State-Theorie: John and Helen Watkins

3.5 Wie entstehen Ego-States?

3.6 Die Vorteile der Ego-State-Therapie

4.Die Innenwelt der Ego-States

4.1 Der sogenannte Normalfall

4.2 Ego-States – der Versuch einer funktionalen Beschreibung

4.3 Unterschiedliche Kategorien von Ego-States

4.3.1 Ego-States, die der Anpassung dienen

4.3.2 Introjekte

4.3.3 Traumabezogene Ego-States

5.Dissoziation und Multiple Persönlichkeit

5.1 Dissoziation

5.2 Die Kaskade der Stressbewältigung

5.3 Dissoziation, Traumaerfahrung und die Folgen

5.4 Dissoziative Identitätsstörung: ein kurzer Abriss

5.4.1 Ist die Dissoziation eine Krankheit?

5.4.2 Zum Verständnis der einzelnen Teile des Selbst

6.Die traumatisierte Selbstfamilie der Borderline-Patienten

6.1 Borderline-Störung: was man davon wissen sollte

6.2 Jeffrey Young: Kategorien der Ego-States bei den Borderline-Patienten

6.3 Elizabeth Howell: eine spezielle psychische Organisation der Ego-States bei Borderline-Patienten

6.4 Hypoarousal/Hyperarousal und die Opfer/masochistisch- und Täter/hasserfüllt-States bei Borderline-Patienten

7.Die Bildung und Funktion traumabasierter Ego-States

7.1 Die Identifikation mit dem Täter oder die Entstehung traumabezogener Ego-States

7.2 Über Täter- und Opferintrojekte

7.3 Die desorganisierte Bindung

7.4 Die Strukturelle Dissoziation nach Ellert Nijenhuis

7.4.1 Der emotionale Persönlichkeitsanteil: EP

7.4.2 Der »anscheinend normale« Teil der Persönlichkeit

7.4.3 Die Dimensionen der Strukturellen Dissoziation

7.4.4 Das Handlungssystem, die masochistische und sadistische Abwehr

7.5 Die inneren Verfolger: Fremdkörper im Selbst oder innere Helfer?

7.5.1 Der innere Verfolger, Typ 1: der radikale Helfer-Ego-State

7.5.2 Der innere Verfolger, Typ 2: das Täterintrojekt (täteridentifiziert)

7.5.3 Der innere Verfolger, Typ 3: aggressive Ego-States

7.5.4 Der innere Verfolger, Typ 4: Mittäterintrojekte (täterloyal)

7.6 Die Schutzfunktion der Täterintrojekte nutzen

8.Der sadistische und der nicht sadistische Täter

8.1 Die Verhaltensstrategie nicht sadistischer Täter

8.2 Die Verhaltensstrategie sadistischer Täter

8.3 Die Entstehung unterschiedlicher Opfer- und Täterintrojekte

8.3.1 Ego-State-Bildung bei nicht sadistischem Missbrauch

8.3.2 Ego-State-Bildung bei sadistischem Missbrauch

9.Die Praxis der Ego-State-Therapie: die Grundprinzipien von Brücke, Verschiebung und innerem Dialog

10.Die Behandlungstechnik der Ego-State-Therapie bei traumabasierten Störungen

10.1 Grundlegende Techniken der Ego-State-Therapie

10.1.1 Nicht hypnotische Techniken

10.1.2 Hypnotische Methoden des Zugangs

10.2 Kontaktaufnahme mit Ego-States

10.2.1 Ins System hineinsprechen

10.2.2 Einen Ego-State herausrufen

10.3 Die Planung der Behandlung traumabasierter Störungen nach dem SARI-Modell

10.3.1 Die Phase der Sicherheit und Stabilisierung

10.3.2 Schaffung eines Zugangs zum Traumamaterial und den damit verbundenen Ressourcen

10.3.3 Die Auflösung der traumatischen Erfahrungen

10.4 Integration der Traumaerfahrung in den Selbst- und Weltentwurf

11.Spezielle Techniken der Ego-State-Therapie: Umgang mit Quälgeistern, inneren Verfolgern und Täterintrojekten

11.1 Schurkenschrumpfen

11.2 Innere Stimmen und die Bearbeitung ich-syntoner Über-Ich-Botschaften

11.3 Traumatische Introjekte: täteridentifizierte oder täterloyale Ego-States

11.3.1 Umgang mit täteridentifizierten Ego-States

11.3.2 Arbeit mit täterloyalen Introjekten

11.3.3 Umgang mit aggressiven Reaktionen auf das Trauma

12.Ausblick: meine Ego-State-Philosophie

Anhang 1–4

Literatur

»Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten.

Deshalb ist, wer seine Umgebung verachtet,

nicht derselbe, der sich an ihr erfreut oder unter ihr leidet.

In der weitläufigen Kolonie unseres Seins

gibt es Leute von verschiedenster Art,

die auf unterschiedliche Weise denken und fühlen.«

Fernando Pessoa, 1932

aus: Das Buch der Unruhe. Fischer Taschenbuch Verlag 2006

Einleitung

Wohin geht die Reise?

In einem nagelneuen Reiseführer über Deutschland, einer Art Überlebenshandbuch für unser Land in Zeiten der Fußballweltmeisterschaft, welches in New York bei Barnes & Nobels stapelweise herumlag, konnte man lesen: »Seien Sie nicht überrascht, dass der Deutsche sich nicht so kleidet, wie Sie es vielleicht erwarten, Lederhosen und Hüte mit Gamsbart werden Sie im Alltag kaum finden – Deutsche ziehen sich einfach nicht oft wie Deutsche an.« Dieses Leseerlebnis über den Deutschen, der sich weigert, deutsch zu sein, fiel mir assoziativ ein, als ich darüber nachdachte, was eigentlich das Trauma, der Traumapatient und die Traumafolgestörung sind, von denen hier in diesem Buch die Rede sein soll. Das Mindeste, was man für einen komplexen Sachverhalt tun kann, ist, ihn differenziert zu betrachten – und zu sagen, was und wen man genau meint, wenn man etwas meint.

Dieses Buch entstand im Erfahrungsfeld klinischer Arbeit, und sein Inhalt verdankt sich denen, die mir von ihrem Leid, von frischen und vernarbten Verwundungen berichteten und mich teilhaben ließen an den Anstrengungen, weiter zu leben oder überhaupt zu überleben. Somit war der Einfall mit dem Überlebenshandbuch gar nicht so falsch.

Besonderes Augenmerk habe ich in diesem Buch auf die Therapie von Patienten mit komplexer Posttraumatischer Belastungsstörung gelegt, aber auch auf den therapeutischen Umgang mit Patienten, die bisher provisorisch unter die Kategorie »Nicht Näher Bezeichnete Dissoziative Störungen« subsumiert wurden. Damit Sie als Leser genauer einschätzen können, für welche Gruppe von Patienten ich die Anwendung der Ego-State-Methode als hilfreich empfinde, möchte ich diese Patienten und ihre Kartierung in der Diagnosenlandschaft näher beschreiben. Viele Ideen und Techniken der Behandlung, die ich vorstelle, werden seit Jahren erfolgreich bei der Therapie der dissoziativen Identitätsstörung (DIS) – vormals Multiple Persönlichkeit – eingesetzt. Obwohl dieses Buch nicht als Anleitung zur Therapie von DIS-Patienten geschrieben wurde, soll diese Patientengruppe als extreme Ausformung eines diagnostischen Spektrums gesehen werden, dessen anderer Pol die »Alltagsneurose« von uns Normalos darstellt. Das Organisationsprinzip dieses Spektrums ist die Dissoziation, und angelehnt an Ross (1989) stelle ich mir das Kontinuum mehr oder weniger klar gegliedert so vor:

Abbildung 1: Dissoziationskontinuum und diagnostische Zuordnung

Die Idee des multidimensionalen Selbst, wie es die Ego-State-Theorie nach John und Helen Watkins uns anbietet, soll über das gesamte Spektrum gelten, und deshalb halte ich diesen Therapieansatz auch für geeignet, unser Denken und Tun im gesamten Bereich der Psychotherapie nachhaltig zu beeinflussen.

Für welche Patienten ist dieser Ansatz besonders geeignet?

Im klinischen und ambulanten Bereich treffen wir auf Menschen, die unter den Symptomen der klassischen Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden (plötzlich einschießende, quälende Erinnerungen an das Trauma, Symptome der Übererregung und Gefühle des Betäubtseins), daneben auf Patienten, die nach chronischer Traumatisierung, zumeist in der frühen und/oder späten Kindheit, unter einer komplexen Form der PTBS leiden, die im amerikanischen Sprachgebrauch als »DESNOS« – »Disorder of Extrem Stress Not Otherwise Specified« bezeichnet wird1. Es ist mittlerweile sehr wahrscheinlich, dass für Patienten dieser Gruppe, in der nächsten Fassung DSM-IV, eine eigene Diagnose-Kategorie geschaffen wird, nämlich die »komplexe Posttraumatische Belastungsstörung«.

Welche Patienten sind in dieser diagnostischen Schnittmenge zu erwarten?

Als komplexe PTBS bezeichnen wir ein psychisches Krankheitsbild, das sich infolge schwerer, oft anhaltender Traumatisierung (z.B. Misshandlungen oder sexueller Missbrauch, physischer und/oder emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit, existenzbedrohende Lebensereignisse) entwickeln kann. Es entsteht entweder in zeitlicher Nähe zur erfolgten Traumatisierung oder aber in zeitlicher Verzögerung nach Monaten und Jahrzehnten. Im Unterschied zur PTBS ist es durch ein breites Spektrum kognitiver, affektiver und psychosozialer Symptombildungen gekennzeichnet, die über einen längeren Zeitraum persistieren. Der Begriff komplexe PTBS wurde erstmals von Judy Herman (1994) in der anglo-amerikanischen Literatur beschrieben und wird zunehmend in deutschsprachigen Publikationen benutzt, um traumaassoziierte Borderline-Störungen zu beschreiben. Der dieser Krankheitsentität verwandte Begriff im ICD-10 ist die »Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung« F62.0, eine Kategorie, die wegen der ICD-Definition der Art des erlittenen Traumas (KZ-Aufenthalt, Folter usw.) nur für wenige Patienten geeignet erscheint. Zur Symptomatik der komplexen PTBS siehe Tabelle 0-1 auf S.12.

Störungen der Affekt- und Impulsregulation: Umgang mit Wut und ÄrgerSuizidalitätAutodestruktives VerhaltenStörung der SexualitätExzessives RisikoverhaltenVeränderung des Bewusstseins AmnesienDissoziative EpisodenDepersonalisationVeränderung der Selbstwahrnehmung IneffektivitätSchuldgefühleSchamIsolationBeziehungsregulation Problem zu vertrauenReviktimisierungViktimisierung anderer PersonenSomatisierung Chronische SchmerzstörungKonversionsproblemeSomatisierungsstörungenVeränderung der Weltsicht Verzweiflung und HoffnungslosigkeitVerlust von »basic beliefs«

Tabelle 1: Die Symptomatik der komplexen PTBS

Wie wir sehen, zeigen die Symptome der DESNOS vielfältige Überschneidungen zur Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und zu dissoziativen Störungen, ohne mit ihnen identisch zu sein. Da ich die Traumagenese nur für einen Teil der BPS für relevant halte – ein anderer Teil der Varianz wird durch konstitutionelle Faktoren bestimmt –, verwende ich DESNOS nur synonym für die Kategorie der BPS, deren Ätiopathologie auf traumatische Erfahrungen der frühen und späteren Kindheit oder Adoleszenz basiert.

Eine weitere bedeutende Diagnosegruppe, der ich im klinischen Alltag begegnet bin und mit der ich erfolgreich mit dem Ego-State-Modell gearbeitet habe, sind Menschen mit der Diagnose »Nicht Näher Bezeichnete Dissoziative Störung«, im DSM-IV als DDNOS bezeichnet (Dissocitive Disorder Not Otherwise Specified).

Diese Kategorie ist für Störungen konzipiert, deren Hauptsymptomatologie aus dem Bereich chronischer dissoziativer Störungen stammt (d.h. eine Unterbrechung an integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität oder der Wahrnehmung der Umwelt), die aber die vollständigen Kriterien irgendeiner der dissoziativen Störungen nicht erfüllen. Typische Beispiele laut DSM-IV für diese »Sammelgruppe« sind Fälle, die der dissoziativen Identitätsstörungen sehr ähnlich sind, aber keine eindeutig abgrenzbaren Identitätszustände zeigen (Typ 1a) oder eine Amnesie für wichtige persönliche Informationen fehlt (Typ 1b). Der Vollständigkeit halber nenne ich noch Fälle von Derealisation ohne gleichzeitige Depersonalisation (Typ 2), Zustände nach massiven Zwangsmaßnahmen wie Gehirnwäsche, Indoktrination usw. (Typ 3) und dissoziative Trancezustände (Typ 4). Für uns relevant sind Patienten aus dem dissoziativen Symptomspektrum Typ 1a und 1b.

Die klinische Erfahrung zeigt, dass es sinnvoll ist, in dieser DDNOS-Gruppe zwei phänomenologisch beschreib- und unterscheidbare Lebensbiografien und innerpsychische Funktionsmechanismen von Patienten zu unterscheiden.

Die erste Gruppe hat Michaela Huber mit ihrem »Korken-auf-der-Flasche«-Modell beschrieben (2003a, S.124ff.). Es sind überwiegend Patientinnen, die bislang im Alltag (Beruf, Familie, Freizeit) gut »funktionierten«, die uns berichten, dass sie kaum Erinnerungen an die Kindheit hätten, und wenn, dann wäre »eigentlich alles o.k.«. Der Zusammenbruch einer Patientin vor ein paar Wochen nach dem Tod der Mutter sei »eigentlich völlig unerklärlich«, aber es sei schon komisch, dass die Kindheit ihr wie ein »leerer Raum« erscheine und sie innerlich keinen Bezug zu sich und den Menschen damals bekomme. Häufig finden sich in diesen Biografien sehr dramatische und traumatische Erfahrungen in der Frühzeit der Entwicklung (Verlusterlebnisse, frühe Heim- und/oder Krankenhausaufenthalte, Gewalterfahrungen usw.), für die Amnesie besteht. Die Erinnerung beginnt ab dem Moment, wo die traumatische Entwicklung endet und ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Klassisch ist z.B. der Fall jener Patientin, deren Mutter im elften Lebensjahr der Patientin es endlich schafft, sich von dem alkoholkranken gewalttätigen Ehemann zu trennen und ein liebevoller Stiefvater eine zweite Entwicklungschance bietet. Die sich jetzt ausbildende kompetente Alltagspersönlichkeit sitzt symbolisch wie der Korken auf der Flasche, und die bösen Geister von früher bleiben darin gefangen – bis zu dem Moment, wo die Patientin durch den Tod der Mutter erschüttert wird und der Korken aus der Flasche fliegt, schreibt Michaela Huber. Dieses Vergessen der traumatischen Erfahrungen ist nicht durch Verdrängung im psychoanalytischen Sinne entstanden, sondern durch Dissoziation, und deshalb ist die Annahme einer chronischen Dissoziation auch gerechtfertigt. Diagnostiziert werden bei diesen Patienten aber fälschlicherweise neurotische Störungen, Anpassungsstörungen, pathologische Trauerreaktion, da man als Erstuntersucher von den konfliktpathologischen Elementen einer reiferen Ich-Struktur ohne »Frühstörungsanteil« und der Alltagskompetenz der Patientin überzeugt ist.

Eine zweite, klinisch relevante Gruppe unter dem Dach der DDNOS-Kategorie beschreibt Menschen, für die sich die anglo-amerikanische Diagnose »Ego State Disorder« (ESD) zunehmend einbürgert. Auch diese Gruppe ist ebenso wie die oben beschriebene noch nicht wissenschaftlich exakt definiert, es gibt aber erste Anhaltspunkte. Hilfreich dabei sind die Vorschläge von Paul Dell (2001), zur Vereinfachung das dissoziative Spektrum in einfache und komplexe dissoziative Störungen einzuteilen, das Erstere wäre durch teilabgespaltene Selbstzustände (DDNOS Typ 1) charakterisiert, das Zweite durch vollabgespaltene Selbstzustände (DIS) (Zusammenfassung bei Ursula Gast 2004a, S.34ff.).

Wenn Sie in der Praxis auf eine ausführliche Diagnostik, z.B. mit den SKID-D (Strukturiertes Klinisches Interview für Dissoziative Störungen), verzichten wollen, dann möchte ich Ihnen dennoch einen Kurztest von Alan Marshall empfehlen, den ich im Internet gefunden und ins Deutsche übersetzt habe. Dieser Fragebogen ist nicht standardisiert und befindet sich im Anhang dieses Buches (Anhang 12).

Eine Patientin mit der Diagnose ESD zeigt zwar unterscheidbare Ego-States, mit mehr oder weniger filigraner Ausgestaltung der einzelnen Selbst-Anteile (Alter, Name, Entwicklungsgeschichte und Funktionen), aber die Person ist insoweit integriert, dass die States zueinander nicht amnestisch sind, sie als nicht getrennt von der eigenen Person erlebt werden und ein Switchen zwischen den States sich nicht markant inszeniert – ganz im Gegensatz zur dissoziativen Identitätsstörung.

Bei diesem Krankheitsbild sind ganze Abschnitte der Persönlichkeit in Ego-States aufgespalten, und es kommt in einigen Bereichen zu Teilabspaltungen, die durch die Alltagsperson kaum noch steuerbar ist. Michaela Huber hat dafür ein schönen Bild gefunden, eine Margerite mit dem Blütenstempel in der Mitte (das Alltags-Ich), umgeben von größeren oder kleineren Blütenblättern (Ego-States), und Blütenblätter, die den Kontakt zum Stempel verloren haben (teilabgespaltener Ego-State) – diese Menschen wechseln zwischen verschiedenen Ego-States, sind aber nicht multipel. Wie sich diese zum Teil abgespaltenen Ego-States manifestieren, zeigt Tabelle 0-2.

Subjektiv erlebte Manifestation zum Teil abgespaltener Selbstzustände

Hören von Kinderstimmen im KopfInnere Dialoge oder StreitereienDie Person quälende innere StimmenTeilweise dissoziierte (zeitweise als nicht zu sich gehörig erlebte) SpracheTeil-dissoziierte GedankenTeil-dissoziierte GefühleTeilweise dissoziiertes VerhaltenZeitweise nicht zu sich gehörig erlebte Fertigkeiten und FähigkeitenIrritierende Erfahrungen von verändertem Ich-ErlebenVerunsicherung über das eigene IchNicht zu sich gehörig erlebte, aber erinnerbare teil-abgespaltene Selbstzustände, mit denen der Therapeut in Kontakt tritt

Tabelle 2: Subjektiv erlebte Manifestation zum Teil abgespaltener Selbstzustände

Zusammenfassend können wir sagen, die Ego-State-Disorder ist eine leichtere Form der dissoziativen Identitätsstörung, wir finden nicht genau einsortierbare Zwischenstufen von Ego-States bis hin zu Innenpersonen (alters), zwischen denen jedoch keine amnestischen Grenzen bestehen. Jeder kann sich in der Regel jederzeit an alles erinnern, was anderen States widerfahren ist, als sie draußen waren3. Aus diesem Grund gibt es bei ESD-Patienten keine Zeitverlusterlebnisse oder Amnesien. Das »Wir-Gefühl« und damit die Kooperation zwischen den Selbst-Teilen bleibt besser als bei der DIS erhalten, deshalb ist ein Host (Gastgeber-Ego-State) auch schwerer auszumachen, meist gar nicht vorhanden.

Dieses waren nun einige diagnostischen Überlegungen zu den Patientinnen und Patienten4, deren Verständnis und Möglichkeiten der Behandlung mir seit jetzt über 30 Jahren klinischer und ambulanter Tätigkeit besonders am Herzen liegen. Nicht um »das Trauma« und »den Traumapatienten« schlechthin soll es in diesem Buch gehen, sondern um eine diagnostisch relativ genau beschreibbare Gruppe von Menschen, auf deren Lebensweg traumatische Verwerfungen der inneren Landschaft, ein uns allen vertrautes »naives« Gefühl für Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen in diese Welt, nachhaltig negativ beeinflusst wurde.

1. Was Menschen Menschen antun können

Irgendwo in Deutschland, Sonntag, 20 Uhr 15, ARD: »Der Tatort« – heute mit dem Titel: »Erstickte Schreie«, der uralte Vorspann in Schwarz-Weiß läuft, die Musik ein Ohrwurm – die Familie sitzt um den Fernseher, die Kartoffelchips sind bereit, der Rotwein geöffnet…

Sexueller Missbrauch, Gewalt im Nahraum von Familie und Partnerschaft haben Konjunktur bei den Drehbuchschreibern von Fernsehkrimis und Kinofilmen.

Von der sicheren Position des Kinosessels, sozusagen außerhalb der Täter-Opfer-Beziehung, erscheint uns das Ganze sehr faszinierend und fesselt uns nachhaltig: Anders wären die Erfolge von Filmen wie »Das Schweigen der Lämmer« oder »Neuneinhalb Wochen« nicht zu erklären. Abstrakt gesehen ist der mitunter gewaltsame Ehekrieg der »Kramers« (Kramer gegen Kramer, 1979, in den Hauptrollen Meryl Streep und Dustin Hoffman) oder die Folgen erlittener Folter in einem lateinamerikanischen Staat immer noch ein guter Stoff für das Kino.

Auf der persönlichen Ebene des Betroffenen stellt sich der Einbruch von Gewalt in das »banale« tägliche Leben aber als Bedrohung und Schrecken dar: Es ist, als rücke die Welt von uns weg, wir finden uns plötzlich sprachlos in einer Art Niemandsland wieder, häufig sozial isoliert und stigmatisiert.

Das eigentliche Wesen von Trauma und Folter, von erlittener Gewalt durch andere Menschen, ist der Vorgang der Ausgrenzung auf allen Ebenen.

Diane Poole Heller schreibt: »Missbrauch und Folter sind Realitäten, die Menschen an den Wurzeln ihrer Menschlichkeit treffen und die bewirken, dass diese Menschen sozial isoliert, psychologisch fragmentiert und physiologisch dissoziiert werden« (2000, S.5).

Warum die meisten von uns das Betrachten von Gewalt und Leid anderer aus einem sicheren Abstand als aufregend, faszinierend oder »cool« empfinden, das gibt zu vielen möglichen Erklärungen Anlass. Ist es eine anthropologische Konstante, die wir schon in den Erzählungen der letzten Jahrtausende und in den mitunter grausamen Märchen der Gebrüder Grimm wiederfinden, oder drückt sich darin die Instinktnatur des Menschen aus, seine Faszination für Jagdverhalten, Beute und der Nervenkitzel der Bezwingung des Feindes?

Ich möchte diesen Fragen hier nicht weiter nachgehen, aber das erwähnte Medium Film auf eine andere Weise für unser Thema über das traumatisierte Selbst eines Menschen nutzen: als moderne Psychogramme und Darstellung von »Beziehungstraumata«, aus denen wir lernen können, ähnlich wie aus Fallbeschreibungen von Kollegen über deren Patienten.

Auch in der Weiterbildung lässt sich so mancher Hollywood-Film gut einsetzen, um Reaktionsweisen von Menschen auf Traumatisierung anschaulich zu machen. Empfehlenswert für das Thema »Schocktrauma« (Typ-1-Trauma) und die Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist der Film »Fearless« des Star-Regisseurs Peter Weir aus dem Jahr 1993. Er zeigt die psychischen Veränderungen bei einem Überlebenden eines Flugzeugabsturzes (gespielt von Jeff Bridges), seine Entfremdung von sich selbst und seiner Familie, die Symptome der Dissoziation, Flashback und Re-Inszenierung des Traumas. Am eindrucksvollsten sind aber die Bereiche in »Jenseits der Angst« (so der deutsche Verleihtitel) ausgeleuchtet, die die narzisstische Illusion der Unverwundbarkeit nach überstandenem Crash und die Obsession mit dem Thema Tod und Überleben zeigen.

Täter- und Opferpsychogramme made in Hollywood

Es gibt eine Reihe von Filmen, die sich mit dem Thema Trauma, Täter und Opfer in einer sehr eindringlichen und schockierenden Offenheit beschäftigen. Ich habe aus ihrer Art der Darstellung und der Möglichkeit, mich mit dem einen oder dem anderen zu identifizieren, eine ganze Menge für meine Arbeit mit Patienten gelernt. Eigentlich sind es verfilmte Fallgeschichten von menschlichen Einzelschicksalen, aber aus einer Metaposition betrachtet auch Zustandsaufnahmen der Gesellschaft, der Welt, in der wir leben.

Aus diesem Grunde werde ich Ihnen einige bekannte, aber auch unbekanntere Filme vorstellen, denen das Thema dieses Buches zugrunde liegt und uns dies buchstäblich vor Augen führt. Diese Liste ist meine subjektive Auswahl von Filmen, die mir in den letzten Jahren wichtig waren, und sie kann sicher noch um viele Beispiele ergänzt werden.

Der Tod und das Mädchen

Dieser Film ist Roman Polanskis Filmadaption des Theaterstücks von Ariel Dorfman über das Vermächtnis der Folter. Paulina (gespielt von Sigourney Weaver), eine ehemalige politische Gefangene in einem ungenannten südamerikanischen Staat, ist mit einem Angestellten der jetzt demokratischen Regierung verheiratet. Er leitet eine staatliche Behörde, die für die Aufklärung von Folter zuständig ist. Eines Abends bringt ihr Mann Gerardo (Stuart Wilson) nach einer Autopanne einen Fremden zum Abendessen mit, der sich als Dr. Roberto Miranda vorstellt. In ihm glaubt Pauline nach 15 Jahren den Arzt wiederzuerkennen, der sie als politische Aktivistin während des faschistischen Regimes mit Elektroschocks gefoltert und mehrfach vergewaltigt hatte. Da ihr damals stets die Augen verbunden waren, meint sie ihn an seiner Stimme, Redeweise und an seinem Geruch identifizieren zu können. Sie nimmt ihn gewaltsam als Geisel, und was dann folgt, ist ein Wirbelsturm von Raserei und Verwirrung, ein fesselndes Psycho-Duell mit vertauschten Rollen. Dieser Film ist eine ausgezeichnete psychologische Darstellung der Verwandlung des »Opfers in den Täter« und seine Lust an der Rache.

Als Zuschauer fühlen wir uns lange Zeit in der Rolle von Paulinas Ehemann, der just an diesem Tage zum Vorsitzenden der Menschenrechtskommission ernannt wurde. Bis zum Ende des Films können wir uns nicht entscheiden, auf wessen Seite wir stehen, aufseiten des Folteropfers Paulina und ihrem verständlichen Wunsch nach Rache oder aufseiten von Dr. Miranda, der sich als Opfer eines Irrtums wähnt. Hin- und hergerissen zwischen Zweifeln an Paulinas Geisteszustand und Dr. Mirandas Unschuldsbeteuerungen, bemerken wir in uns als Zuschauer eine beunruhigende Faszination: Wir spüren in uns die Tendenz zum sensationslüsternen Voyeur, der plötzlich mehr von den Details der abnormen Abscheulichkeiten vor 15 Jahren erfahren möchte. Spätestens da verwischen sich die Grenzen zwischen Opfer, Täter und Zeuge. Aber leicht hat es uns Polanski mit seinen Filmen nie gemacht, und das Klischee, dass die Guten immer gewinnen, hatte er stets vermieden.

Misery

Dieser Film aus dem Jahre 1990, basierend auf dem Bestseller von Stephen King, gilt als einer der effektvollsten Thriller der 90er-Jahre. Der Schriftsteller Paul Sheldon (James Caan), der Seriengeschichten für die Schundheftchenreihe »Misery« (zu Deutsch »Elend«!) schreibt, macht sich nach Fertigstellung seines neuesten Werkes auf den Weg zu seinem Verleger nach New York. Er verunglückt mit seinem Wagen im Schneechaos, wird zu seinem »Glück« von seinem »größten Fan«, der Krankenschwester Annie Wilkes (brillant Kathy Bates, die für ihre Leistung den Oskar bekam), gefunden und zur Pflege zu ihr nach Hause geholt. Wegen seiner zwei gebrochenen Beine ist er seiner »Retterin« hilflos ausgeliefert, die sich zuerst liebevoll um ihn kümmert. Als Annie sich in das neueste Werk aus der »Misery«-Reihe von Paul vertieft, in der dieser die Heldin sterben lässt, ist es mit Annies Freundlichkeit vorbei, und sie verwandelt sich in einen paranoiden Racheengel. Sie macht ihrem Lieblingsschriftsteller das Leben zur Hölle, indem sie ihn zwingt, das neue Buch umzuschreiben und die Hauptfigur »Misery« wieder zum Leben zu erwecken. Dieser Film zeigt durch die Schauspielkunst von Kathy Bates in erdrückender Weise den Charakterwandel einer Frau von fürsorglicher Güte über mitfühlende innere Einsamkeit bis hin zu entsetzlicher Bösartigkeit einerseits und die Todesangst eines Mannes, der buchstäblich um sein nacktes Leben schreibt. In szenischen Rückblenden hilft uns ein Blick in die Abgründe der Seele von Annie zu verstehen, warum die Liebesromane von Paul in ihrem erbärmlichen Leben einen Ort der Zuflucht darstellen und wie sich das Ganze mit ihrer geheimen und gewalterfüllten Vergangenheit verbindet. Dieser »Zwei-Rollen-Film« zeigt uns eine hochkomplexe Opfer-Täter-Dynamik und lehrt uns vieles über obsessive paranoide Bedrohung und den Einsatz von Gewalt, um den anderen gefügig zu machen und zu kontrollieren.

Der Feind in meinem Bett

Der Inhalt dieses 1991 entstandenen Thrillers (Originaltitel: Sleeping with the enemy) von Joseph Ruben ist schnell erzählt: Laura und Martin sind seit vier Jahren verheiratet, für ihre Nachbarn und Freunde sind sie das perfekte, glückliche und beruflich erfolgreiche Paar. In Wahrheit lebt Laura in ständiger Angst vor ihrem missbrauchenden und brutalen Ehemann Martin (gespielt von Patrick Bergin), und sie plant, durch die Inszenierung ihres eigenen Todes dem Partner zu entfliehen. Julia Roberts spielt diese missbrauchte Ehefrau, die in eine kleine Stadt nach Iowa zieht, ihren Namen ändert, ihr Aussehen, ihr Leben, nur um vor dem gefährlichsten Menschen ihres Lebens zu fliehen: ihrem Ehemann. Als dieser herausfindet, dass Laura gar nicht tot ist, sondern mit einem anderen Mann zusammenlebt, beschließt er, sie zu finden und zu töten.

Der Film ist für das Thema Opfer-Täter-Beziehung interessant, auch wenn Patrick Bergin als paranoid-gewalttätiger Ehemann die Rolle des Psycho-Ehemannes total überzieht und Julia Roberts das »Berufs-Opfer« mimt, wie einige amerikanische Kritiken in den 90er-Jahren schrieben.

Closet Land

Dieser Film von Radha Bharadwaj aus dem Jahre 1991 handelt von Folter, physischem Missbrauch und Schmerz, er ist ein totaler Angriff auf unsere Gefühle und unseren Verstand. Gedreht in einem einzigen Raum, spärlich ausgestattet, führt er uns in die Abgründe zweier Menschen ohne Namen, an einem namenlosen Ort in dieser Welt. Eine junge, unschuldige Autorin von Kinderbüchern wird nachts aus ihrem Bett gezerrt und mit verbundenen Augen an einen geheimen Ort gebracht, an dem ein gnadenloser Regierungsbeamter sie verhört, weil sie angeblich mit dem Buch »Die Katze mit den grünen Flügeln« subversive Literatur verbreitet habe. Die schlimmsten Handlungen körperlicher Gewalt ereignen sich außerhalb der Sicht des Beobachters, aber die Schläge und Schreie aus dem Off gehen dennoch unter die Haut. »Closet Land« ist nicht nur ein Film über die Folter, sondern ein Film über Unterdrückung überall in der Welt, Unterdrückung vor allem von Frauen. Er zeigt die Dynamik der Manipulation, die Macht des Unberechenbaren und des Schmerzes und den perfiden Wechsel zwischen Momenten der Nähe und kaltem Hass und Betrug zwischen diesen zwei Menschen. Alles Elemente der Opfer-Täter-Beziehung, die in vielen langjährigen destruktiven Paarbeziehungen eine Rolle spielen.

Down came a Blackbird

In diesem unter der Regie von Jonathan Sander 1995 entstandenen Thriller (dt. DVD mit dem Titel: Black Bird) geht es um die US-amerikanische Journalistin Helen McNulty, die als Kriegsberichterstatterin zusammen mit ihrem Fotografen und Liebhaber Jan in ein namenloses südamerikanisches Land reist, um einen Rebellenführer zu interviewen. Plötzlich wird aus ihrem normalen Job blutiger Ernst, als sie und Jan während einer Protestdemonstration von Militärs verschleppt, isoliert und gefoltert werden. Sie überlebt die ihr angetanen Qualen, kommt allein zurück nach Portland, Oregon und trauert lange um den Verlust ihres Freundes. Jahre später begibt sich Helen in eine Spezialklinik für Folteropfer, um die quälenden Spuren der Verschleppung behandeln zu lassen. Hier trifft sie Anna Lenke (wunderbar Vanessa Redgrave in dieser Rolle), Holocaust-Überlebende und Leiterin der Klinik, die sie behandelt. Helen gerät in zunehmende Verwirrung, als eines Tages der mysteriöse lateinamerikanische Professor Tomas Ramirez eintrifft, mit dem sie etwas Unaussprechliches zu verbinden scheint. Hat er das gleiche Schicksal erlitten wie sie, oder aber ist er ein Täter, der sich als Opfer tarnt? War er ihr Folterer und sie sein Opfer? Wem ist noch zu trauen?

Dieser Film kreist in einer Eindringlichkeit, die unter die Haut geht, um die Frage, wem man noch vertrauen kann, wenn wir Vertrauen in andere Menschen durch Folter in so extremer Weise zerstören. Er zeigt verschiedene Menschen in der Klinik als Opfer von Folter und Gewalt und macht sehr deutlich, wie differenziert und unterschiedlich diese psychischen Reaktionen sich ausprägen können: paranoides Misstrauen, extreme Trauer, Scham, Drogenabhängigkeit und die Sehnsucht nach einem sicheren Ort, Wunsch nach Vergessen.

Alle diese Filme – eine kleine, sehr persönliche Auswahl von mir – sind ziemlich verstörend und beunruhigend, wenn wir uns einem vertieften Einlassen auf existenzielle Fragen nicht verschließen. Es geht weniger um oberflächliches »Mitleid«, sondern mehr um ein Verständnis von unheilvoller Beziehungsverstrickung, und damit geben uns diese Filme einen guten Einblick in die Dynamik von Täter- und Opferbeziehung. Sie zeigen uns den Menschen in seiner Fähigkeit zu unvorstellbaren subtilen und brutalen Grausamkeiten, aber auch seine Verletzlichkeit und Verzweiflung, bei dem Verlust einer unverzichtbaren menschlichen Bezugsgröße: der Fähigkeit, vertrauen zu können.

Es ist sicher kein Zufall, dass fast alle Täter männlich (außer Misery) und alle Opfer weiblich sind. Dies entspricht einer gesellschaftlichen Realität, in der Frauen ihre Wut und ihren Hass in selbstverletzendem Verhalten gegen sich richten und Männer fremd aggressiv sich gegenseitig bedrohen oder nach Straftaten im Gefängnis sitzen.

Auch wenn ein zweistündiger Actionfilm uns nur vorübergehend aus dem Lot bringt, so gibt er uns doch ein Verständnis dafür, was in Menschen passiert, die persönlich geschädigt sind und für die der Film nicht einfach mit einem Knopfdruck der Fernbedienung zu stoppen ist oder die nicht einfach zum nächsten Programm zappen können.

Trauma, so wissen wir, ist ein toxischer Zustand, eine Mischung aus Todesangst, absoluter Hilflosigkeit und Kontrollverlust. Opfer von Schicksalsschlägen und Gewalttaten drängen sich unserer Identifikation deshalb so gnadenlos auf, weil sie uns in Kontakt mit unserer eigenen Hilflosigkeit bringen, ein Zustand, der für uns Menschen anscheinend kaum zu ertragen ist. In dieser Hilflosigkeit konfrontierten wir uns mit einem Stück unverleugbarer menschlicher Verletzlichkeit. Und diese Hilflosigkeit ist es, die uns manchmal im Angesicht eines Opfers völlig unerwartet und paradox reagieren lässt: Wir beschuldigen das Opfer – blaming the victim – und verweigern ihm unsere Empathie.

Hierzu fand ich bei Diane Heller eine eindrucksvolle Geschichte von einem Jungen, der zu einem Laden geschickt wurde, um Brot zu kaufen. »Auf seinem Weg zurück wird er geschlagen und ausgeraubt und ihm das restliche Geld und das Brot genommen. Als er zu Hause ankommt und die Eltern ihren kleinen Sohn geschlagen und voller Blut sehen, stellen sie ihm Fragen wie: ›Warum bist du nicht auf diesem Weg nach Hause gegangen?‹, ›Warum bist du nicht gelaufen?‹ – womit sie ihm unterstellen, dass er nur die falschen Entscheidungen getroffen hat und dass er verantwortlich für das ganze Problem ist. Diese Reaktion wird nicht verursacht durch einen Mangel an Liebe oder Sorge aufseiten der Eltern, sondern reflektiert vielmehr deren Reaktion auf unerträgliche Gefühle von totaler Hilflosigkeit, dem Verlust von Kontrolle und den extremen Schuldgefühlen, nicht in der Lage gewesen zu sein, ihren Sohn zu schützen« (2000, S.12).

Traumata machen Opfer hilflos, aber nicht nur die Menschen, die es hautnah erleben, sondern häufig auch diejenigen, die davon hören und innerlich daran teilhaben – als Traumatherapeut ist man dem tagtäglich ausgesetzt.

Was dagegen hilft, ist die Fähigkeit zum Wechsel zwischen Einfühlung in und Abgrenzung gegenüber dem Patienten, aber auch eine erklärende Theorie, die Ordnung in unserem Kopf schafft, und eine Praxiologie, die Verhärtungen auflöst und die Wunden heilt. Eine mögliche Toolbox mit Theorieschlüsseln und Praxiswerkzeugen möchte ich in diesem Buch beschreiben – das Ego-State-Modell.

2. Das ödipale Dilemma

Es heißt, der Kopf sei deshalb rund, damit die Gedanken die Richtung ändern können. Dass dies häufig nicht so leicht ist, zeigt die Diskussion um äußerlich verursachtes Trauma versus innere psychische Realität in der psychoanalytischen Gemeinschaft der letzten zwei Dekaden. Genau dieser Punkt unterscheidet viele neurobiologisch orientierte Traumatherapeuten von psychodynamisch denkenden KollegInnen: Erstere erwarten von der Therapie traumabasierter Störungen eine Vermittlung von Fähigkeiten zur Selbstberuhigung, Selbststeuerung und Erinnerungsverarbeitung, Letztere bieten Bearbeitung der »hinter« dem Trauma vermuteten Konfliktpathologie und Bindungsdilemmata in der Übertragung. Jeder von uns Therapeuten wird sich der Frage einmal stellen müssen: »Was ist das wirklich Traumatische am Trauma?« und weiter: »Können meine Theoriehypothesen die Beobachtungsdaten wirklich erklären?« Ich beginne mit einer Neuorientierung liebgewordener Denkschablonen und fange bei mir selbst an, an dem Punkt, als meine Gedanken über Traumapathologie plötzlich begannen, die Richtung zu ändern.

2.1 Ein eindrucksvolles Beispiel: Kernberg spricht mit einer Patientin

In einem Einführungsseminar für die »Übertragungsfokussierte Psychotherapie« der Borderline-Störung nach Otto Kernberg in München im Jahre 2000 zeigten die Organisatoren der Weiterbildung ein Videoband5 eines strukturellen diagnostischen Erstinterviews, welches Otto Kernberg mit einer Patientin geführt hatte.

Die Patientin, die man aus Datenschutzgründen im Film nicht sieht, nur hört, berichtet Kernberg, dass sie seit ca. vierzehn Jahren krank sei und vor allem an selbstverletzendem Verhalten, Angstzuständen, chronischer Suizidalität und Impulskontrollverlust leide. In letzter Zeit habe die Selbstverletzung bedrohliche Züge angenommen, neben tiefen Schnittverletzungen, Sehnendurchtrennungen habe sie begonnen, sich ganze Hautstücke herauszureißen. Sie führt ihre Störungen auf einen Missbrauch durch den Vater im dreizehnten Lebensjahr zurück, als dieser sie in betrunkenem Zustand vergewaltigte. Nach der Vergewaltigung, von der sie der Mutter nichts erzählte, sei er bis heute »spurlos verschwunden«. Sie liebte ihren Vater sehr, und auch nach der Tat dachte sie: »Ich liebe ihn weiter so wie vorher … ich denke, das ist Liebe.«

Kernberg fragt die Patientin an dieser Stelle:

»Meinen Sie, dass der Sexualverkehr die Liebe zu ihm noch verstärkt hat?«

Patientin: »Ich weiß nicht.«

Kernberg: »…und ich frage mich, könnte es sein, dass eben dieser Sexualverkehr Ihnen eine vollkommen neue Art von Liebe gezeigt hat, die sie natürlich überraschte und schockierte, aber die vielleicht andererseits sehr erregend war … oder nicht?«

Patientin: »Ich glaube nicht.«

Später fragt Kernberg: »Haben Sie versucht zu verstehen, warum Sie sich schneiden?«

Patientin: »Weil ich mich hasse … meinen Körper hasse.«

Daraufhin erfolgt eine zusammenfassende Deutung von Kernberg, auf die es mir hier in diesem Zusammenhang ankommt.

Kernberg: »Könnte es sein, dass Sie Ihren Körper hassen, weil Ihr Körper anders reagiert hatte, als Sie denken … dass Ihr Körper sich vielleicht erregt fühlte von dem Geschlechtsverkehr […]. Glauben Sie, dass es möglich wäre, dass Ihr Körper positiv mit Erregung und Lust, vielleicht auch mit Angst und Schrecken, aber vielleicht auch mit Erregung und Lust auf den Sex mit Ihrem Vater, den Sie so liebten, reagiert hatte, und dass sie das nicht tolerieren konnten, weil es gegen alle Gesetze der Welt schien?«

Patientin: »Das weiß ich nicht.«

Kernberg: »Das könnte den Hass erklären.«

Diese Stelle des Videos, die ich früher wiederholt in Seminaren über traumabasierte Borderline-Störungen zeigte, löste in der Regel heftige Emotionen bei den KollegenInnen aus; der eine Teil war von der intellektuellen Brillanz der Intervention begeistert – auch wenn sie durch das dreimalige »Ich weiß nicht« der Patientin verunsichert waren, der andere Teil war offen brüskiert, geschockt und verärgert über die als wenig empathisch erlebte Erklärung.

Heute, 2014, möchte ich mich sehr vehement von dem in Kernbergs Fragen implizit verborgenem psychoanalytischen Denken und Menschenbild distanzieren – auch wenn ich Otto Kernbergs Verdienste um die Ausarbeitung der psychoanalytischen Ojektbeziehungstheorie in weiten Bereichen sehr schätze. In ihr leuchtet die fragliche frühkindliche Verführungstheorie Freuds auf, nach der das ödipale Kind den gegengeschlechtlichen Elternteil sexuel begehre – eine aus meiner Sicht heute nicht mehr haltbare Theoriekonstruktion. Diese Theorie hatte lange Zeit auch mein wirkliches Verstehen und Nachfühlen des Leides der Menschen blockiert, die als Kinder Opfer sexueller Gewalt wurden. Um die Argumentationsfiguren psychoanalytischer Interpretation von Inzest und Verfühung in Nahbeziehungen besser zu verstehen – und um sich davon besser abgrenzen zu können – beschäftige ich mich nun weiter mit den dahinter verborgenen Vorannahmen der Theorie.

Diese Interpretation eines Kausalzusammenhangs zwischen Selbsthass und Selbstverletzung und sexueller Gewalterfahrungen durch den Vater nutzt unausgesprochen einige psychodynamische Hypothesen:

Alles, was wir Menschen erleben und empfinden, ist ein Bestandteil unseres Selbst, wir sind der Ursprung unserer Konflikte.

Die massive Selbstverletzung ist Ausdruck einer Selbstbestrafung.

Durch die Vergewaltigung kam es zu einer triebhaften ödipalen Wunscherfüllung einer Tochter, die ihren Vater liebte und bis heute liebt.

Der Triebwunsch kann nur teilweise verdrängt werden und ein Weiterleben gelingt nur durch die Ausbildung der Symptomatik der Borderline-Störung als Kompromissbildung.

Wegen der sich erfüllenden ödipalen Sehnsucht und der dabei empfunden Lust ist das strafende Über-Ich gezwungen, besonders grausam zu sein.

Die entscheidende Frage umfasst die Teile (1), (3) und (4). Diese erste Annahme, die in Kernbergs Theorie immer wieder zu finden ist, geht davon aus, dass alles, was wir erleben und empfinden, unserem Selbst, unserer Selbsterfahrung zugehörig ist. Da wir alle unsere Lebenserfahrungen im Kontext von Beziehungen machen, bildet sich diese Interaktionserfahrung als Selbst-Affekt-Objekt-Einheit in unserem Gedächtnis ab (Kernberg 1981). Diese Einheiten bestehen aus einer Selbstrepräsentanz in Beziehung zu einer Objektrepräsentanz und einem dominierenden Affekt, der die Szene einfärbt. Ein Beispiel: Ich verschütte aus Unachtsamkeit den Kakao, Mutter wird zornig und schimpft, und ich schäme mich. Erlebe ich viele dieser prototypischen Szenen – häufig habe ich gar keine Erinnerung daran –, dann kann es sein, dass ich später als Erwachsener aus mir unverständlichen Gründen Depressionen und massive Scham in nahen Beziehungen entwickle. Fühlt die Patientin in unserem Interview-Beispiel den unabwendbaren Drang, sich wie »fremdgesteuert« selbst zu verletzten oder umzubringen, dann ist dies Ausdruck eines inneren Konfliktes zwischen (Trieb-)Wunsch und Abwehr. Ziel der Therapie wäre dann, diese abgespaltene Seite ins Selbst zu integrieren.

Sachsse (2006) weist aber mit Recht darauf hin, dass Selbst- und Objektrepräsentanzen auch verwischen können, eine klare Unterscheidung und Trennung somit nicht mehr möglich sind. Dann kann das depressive Gefühl in mir auch durch »Affektansteckung« von außen, z.B. durch eine schwer depressive Mutter, entstanden sein, oder es ist Ausdruck eines traumatisierenden Introjektes. Der Drang zur Selbstverletzung wäre somit nicht Ausdruck eines innerseelischen Konfliktes, sondern die entwertende, hasserfüllte Botschaft einer Objektrepräsentanz, eines Täterintrojektes.

Bei den Punkten (3) und (4) frage ich mich: Geht es dabei wirklich um die Befriedigung eines verpönten Triebwunsches, also um eine Wunscherfüllung, die wegen ihrer Anstößigkeit aus Sicht des Über-Ichs verdrängt werden muss? Können wir eigentlich in einer solchen traumatischen Überwältigungssituation von Verdrängung sprechen oder wäre »Dissoziation« angemessener? Ich will dem letzteren ein Stück nachgehen.

2.2 Unklare Begriffe

Die Diskussion um das Verlorengehen und spätere Wiederfinden traumatischer Erinnerung gestaltete sich in den letzten Jahren zum Teil sehr emotional aufgeladen und vorwurfsvoll. Diese Dissonanzen sind auch Folge eines inkonsequenten Gebrauchs von zum Teil unklaren Begriffen wie (Ab-)Spaltung, Verdrängung und Dissoziation im Zusammenhang mit Trauma. John Rathbun nennt Kritiker des Konzeptes »Plötzlich auftauchende Erinnerungen an das Trauma nach einer Phase der Amnesie« »ignorant, korrupt und absurd« und fährt fort:

»Sie sind ignorant, indem Sie ständig die Begriffe Dissoziation und Verdrängung durcheinanderwerfen, durch Äußerungen wie: ›Es gibt keinen Hinweis auf verdrängte Erinnerungen.‹ DISSOZIATION ist eine Theorie, die von Pierre Janet entwickelt wurde, der beobachtete, dass Patienten mit verschiedenen hysterischen Erkrankungen geheilt werden konnten, wenn sie traumatische Ereignisse erinnerten, die symbolisch mit ihren Symptomen verbunden waren. Janets Arbeit entstand vor der von Sigmund Freud, der zuerst Janets Ideen guthieß, dann aber seine eigene Theorie der VERDRÄNGUNG vorlegte. Was in Freuds Theorie verdrängt wird, ist der unakzeptable Wunsch eines Mädchens: die Mutter als das Liebesobjekt des Vaters zu ersetzen. Dieser Wunsch wird sowohl verleugnet und erfüllt in einer DECKERINNERUNG: Der Vater initiiert eine sexuelle Aktivität mit dem Kind. In anderen Worten, die VERDRÄNGUNG führt zur Erinnerung eines Traumas, welche sich nie ereignete, während die DISSOZIATION der Versuch ist, ein Trauma zu vergessen, welches sich ereignet hatte. Jeder sogenannte Experte, der diese zwei antithetischen Theorien verwechselt, verdient keine ernst gemeinte Aufmerksamkeit« (2003, Hervorhebung im Original).

Was ist »Borderline«?

Im obigen Fallbeispiel war von einer Patientin mit Borderline-Persönlichkeitsstörung die Rede. Mit dieser Diagnose »Borderline« beschreiben wir im Prinzip eine bestimmte Art von Beziehungsstörung: Ein Mensch mit dieser Problematik schwankt zwischen zwei Extremen hin und her: Zum einen wünscht er sich intensive, meist symbiotisch anmutende Nähe in der Verschmelzung, zum anderen zeigt er panische Angst vor Nähe. Daraus folgt, dass die Wahrnehmung anderer Menschen häufig schwankt zwischen den Polen: Der andere ist extrem gut, weil er meine Verschmelzungswünsche befriedigt, oder er wird als extrem ablehnend, grausam erlebt, weil er dies nicht tut. Für das Selbstbild gilt das Gleiche: Einmal hält der Patient sich für den Schönsten, Klügsten, Tollsten und Verständnisvollsten, und dann denkt er von sich als »Looser«, behindert und liebesunfähig. Dies alles passiert aber bei Patienten mit PBS innerhalb eines Bewusstseinskontinuums. Im Gegensatz dazu sind bei Patienten mit »multipler Persönlichkeitsstörung«, die auch diese oder andere Gegensätze in sich tragen, diese Gegensätze nicht in einem Bewusstseinszustand untergebracht, sondern auf verschiedene Persönlichkeitsanteile aufgeteilt und individuell ausgestaltet.

Zwischen beiden Ausprägungen gibt es Übergänge. Nicht nur in extremen Stimmungsschwankungen und bei regressiven Zuständen in Krisensituationen lassen sich Patienten mit BPS dann von außen in nichts von den Kinderpersönlichkeiten eines multiplen Systems bei DIS unterscheiden. Traumatische Erfahrungen generell scheinen zu abgespaltenen Selbstanteilen zu führen, die zeitüberdauernd im Therapieprozess auftauchen und bei der Bewältigung des Traumas für die Patientin von unschätzbarer Hilfe sind; diese Selbst- oder Ich-Zustände werden wir später als Ego-States oder traumatische Introjekte bezeichnen.

Verwirrung der Begriffe

Die Unterschiede zwischen Ab-Spaltung, Dissoziation und Verdrängung sind theoretischer Art, nehmen aber Einfluss auf die Therapiestrategien, die zur Behandlung von Traumapatienten von den prominenten Vertretern der einzelnen Therapieschulen empfohlen werden – deshalb sollten wir uns kurz mit den dahintersteckenden Theorien beschäftigen.

Befasst man sich mit der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema, dann fällt auf:

die Disputanten scheinen zwei unterschiedlichen Lagern anzugehören,

die freudianischen Analytiker scheinen eine Gruppe gegen alle anderen zu bilden,

die Grundfrage scheint zu sein: Ist das Ganze ein aktiver oder passiver Mechanismus?,

und am Ende läuft es auf die Frage hinaus: Sind die traumabedingten Symptome eines Menschen, der z.B. einen Missbrauch erlebt hat, die Folgen einer aktiven Verdrängung oder gehen sie auf passive Abspaltung und/oder Dissoziation zurück? Jetzt zu den einzelnen Begriffen:

Wie können wir nun die Spaltung (oder Abspaltung) begrifflich von der Dissoziation unterscheiden, obwohl beides fälschlicherweise häufig synonym verwendet wird? Vereinfacht gesagt ist die Spaltung ein kognitiver Prozess der Verleugnung, sie ist eine Anpassungsleistung an eine verwirrende Umgebung voller Widersprüche, die derart prominent sind, dass man, um in diesem pathogenen System nicht verrückt zu werden, einfach einen Teil der Wirklichkeit komplett ausblenden/verleugnen muss. Erlebt eine Frau in einer Partnerschaft Fürsorge, Nähe, Geborgenheit, aber dann im betrunkenen Zustand auch körperliche und sexuelle Gewalt, so sind diese Widersprüchlichkeiten von ihr auf dem Boden ähnlicher Erfahrungen in der Kindheit kognitiv nicht zu verarbeiten. Sie muss dann entweder die eine Seite oder die andere völlig ausblenden, dadurch kommt es zur Aufteilung der Welt in gut oder böse. Da dieses Gut/Böse-Beziehungsschema aus Sicht der bedrängten Psyche sehr angstentlastend funktioniert, wird es aktiv eingesetzt, und ein zwanghaft manipulierendes Verhalten gegenüber anderen Menschen entsteht: Die Umgebung soll dahingehend beeinflusst werden, sich komplett und absolut »gut«, d.h. absolut verständnisvoll, bedürfnisbefriedigend usw., oder absolut »böse«, d.h. ablehnend, abwertend, bedrohlich, zu verhalten. Wo dieses nicht gelingt, entsteht ein Gefühl »katastrophaler Leere« und/oder die Angst, sich aufzulösen oder zu zerbrechen. Dieser Gefühlszustand ist der »Super-GAU« des Borderline-Patienten und muss unter allen Umständen vermieden werden. Zusammenfassend zum Begriff Spaltung schreibt Bettina Overkamp:

»Das psychoanalytische Konzept der Spaltung besagt, dass es einem Kind in der Wiederannäherungsphase nicht gelingt, eine realistische