Ego-States, Seiten, Parts & Co - Jochen Peichl - E-Book

Ego-States, Seiten, Parts & Co E-Book

Jochen Peichl

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Beschreibung

Ordnung für die Vielfalt der Teiletherapien Ein innovativer Ansatz aus der Hypnotherapie Praxisrelevant insbesondere für die Traumatherapie Sigmund Freud konzipierte das »Ich« noch als geschlossene Gestalt, als monolithische Einheit. Doch die intensive Beschäftigung mit den psychischen Folgen einer Traumatisierung brachte zahlreiche Ansätze hervor, welche diesen zentralen Gegenstand der Psychotherapie völlig neu verstanden: Wir alle verfügen über Ego-States, Anteile, Seiten, Parts und können mit dieser Vielheit gut umgehen. Doch nach einer Traumatisierung kann es zur Abspaltung von Teilen kommen, ein Part weiß dann oft vom anderen nichts. Aus den diversen Ideen, wie dieses multiple Ich zu verstehen und – im Falle eines Traumas – zu behandeln ist, gingen die zahlreichen Konzepte der Teiletherapien hervor, die der Autor hier sichtet, vergleicht und hinsichtlich eines möglichen gemeinsamen Grundkonzeptes zur Behandlung von Trauma-bezogenen Störungen befragt.

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Cover for EPUB

Jochen Peichl

Ego-States, Seiten, Parts & Co

Modelle der Teiletherapien

Mit einem E-Mail-Dialog mit Susanne Leutner

Klett-Cotta

Leben Lernen

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter:

www.klett-cotta.de/lebenlernen

Sigmund Freud konzipierte das »Ich« noch als geschlossene Gestalt, als monolithische Einheit. Doch die intensive Beschäftigung mit den psychischen Folgen einer Traumatisierung brachte zahlreiche Ansätze hervor, welche diesen zentralen Gegenstand der Psychotherapie völlig neu verstanden: Wir alle verfügen über Ego-States, Anteile, Seiten, Parts und können mit dieser Vielheit gut umgehen. Doch nach einer Traumatisierung kann es zur Abspaltung von Teilen kommen, ein Part weiß dann oft vom anderen nichts. Aus den diversen Ideen, wie dieses multiple Ich zu verstehen und – im Falle eines Traumas – zu behandeln ist, gingen die zahlreichen Konzepte der Teiletherapien hervor, die der Autor hier sichtet, vergleicht und hinsichtlich eines möglichen gemeinsamen Grundkonzeptes zur Behandlung von Trauma-bezogenen Störungen befragt.

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta www.klett-cotta.de

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von sutlafk/Adobe Stock

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-89311-3

E-Book ISBN 978-3-608-11998-5

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20606-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Einleitung: die Außenwelt der Innenwelt

Zur besseren Orientierung im Feld

Teil 1

Erkundung der Landschaft

Kapitel 1

Frank Putnam und Richard Kluft oder die Frage nach der »ursprünglichen Persönlichkeit«

1.1 Von Kuchenstücken und Kopien

1.2 Die ursprüngliche Persönlichkeit

1.3 Was bleibt aus heutiger Sicht?

Kapitel 2

Die therapeutische Arbeit mit Alter-Persönlichkeiten bei Frank Putnam und was wir davon lernen können

2.1 Die Aufgaben des Therapeuten in der Therapie

2.2 Die acht Phasen der Therapie nach Frank Putnam

1. Phase: Diagnosestellung

2. Phase: Einleitende Interventionen

3. Phase: Einleitende Stabilisierungsmaßnahmen

4. Phase: Akzeptieren der Diagnose

5. Phase: Entwicklung von Kommunikation und Kooperation

6. Phase: Verarbeitung des Traumas

7. Phase: Abschluss und Integration

8. Phase: Entwicklung neuer Bewältigungsfähigkeiten für die Zeit nach Abschluss der Fusion

2.3 Bewertung des Therapiekonzeptes aus heutiger Sicht

Kapitel 3

Was soll mit traumatischer Dissoziation gemeint sein?

3.1 Beschreibungsebenen

3.2 Drei Modellvorstellungen der Dissoziation

3.3 Dissoziation: Dimension oder Kategorie, Trait oder Taxon?

Kapitel 4

Die Ego-State-Theorie von John und Helen Watkins

4.1 Ego-State-Theorie: Was ist ein Ich-Zustand?

4.2 Wie lassen sich Ich-Zustände unterscheiden?

a) Energiebesetzung: Ich-Besetzung und Objekt-Besetzung

b) Kategorisierung: Einteilung aufgrund der Entwicklung

c) Unterscheidung nach Typen von Ego-States in der neueren Literatur

d) Unterscheidung entlang des Differenzierungs-Dissoziations-Kontinuums

4.3 Zur Idee des Kontinuums

4.4 Dissoziation: Getrenntheit vs. Nähe

4.5 Warum knirscht es so in der Watkin’schen Ego‑State‑Theorie?

Kapitel 5

Die Zwickmühlen des John Watkins

5.1 Hypnose und Psychoanalyse: eine Zwickmühle?

5.2 Wie kam Jack Watkins nun zur Ego‑State‑Therapie?

5.3 Die Zwickmühlen der Theoriefindung

1. Multiple Persönlichkeiten

2. Psychoanalyse in den 70er- und 80er-Jahren: Tradition vs. Innovation

3. Watkins-Weiss-Federn-Freud und die Loyalität

4. Der »innere Beobachter« in der Hypnosetheorie des Ernest Hilgard

5.4 Eine Alternative

5.5 Welchen Erklärungswert hatte der »hidden observer« für Watkins?

5.6 Resümee

Kapitel 6

Nijenhuis und Watkins: Zwei ganz unterschiedliche Teilekonzepte? Mein heutiger Blick auf die Ego-State-Therapie

6.1 Kurze Synopsis der Theorieposition der Ego‑State‑Theorie

6.2 Die Trinität von Trauma – Konstellation dissoziativer Substrukturen

6.3 Die Sichtweise von Ellert Nijenhuis zum Begriff »Dissoziation« und die Grundidee der TSDP

6.4 Warum sind dissoziative Ego-States und EPs nicht das Gleiche?

6.5 Die Definition von »Dissoziation« im TSDP-Modell

6.6 Was die Ego-State-Theorie für mich eigentlich beschreibt

6.7 Meine Schlussfolgerung

Kapitel 7

Aktions– und Handlungssysteme

7.1 Die strukturelle Integration der Persönlichkeit

7.2 Die Rolle der Handlungssysteme

7.3 Das triune Gehirn nach MacLean

Das sogenannte Reptiliengehirn

Das limbische System

Der Neocortex

7.4 Die Störung der Integration

7.5 Handlungssysteme und Dissoziation

Kapitel 8

Jaak Panksepp und die sieben basalen Emotionen

8.1 Panksepps basale Emotionen – ein Überblick

8.2 Die drei Ebenen der Emotionsverarbeitung

Die primäre Ebene

Die sekundäre Ebene

Die dritte Verarbeitungsebene

8.3 Die drei Ebenen des ineinander geschachtelten Gehirns – die Beziehung von Panksepp zu Nijenhuis

Kapitel 9

Die zentrale Rolle der peritraumatischen Dissoziation bei der Entstehung dissoziativer Symptome und ihre Biochemie

9.1 Funktionale Mechanismen im Zuge von Dissoziation

9.2 Die sensorische Integration und ihr Zusammenbruch

1) Die Thalamusebene:

2) Die Ebenen der unteren Vierhügelplatte:

Kapitel 10

Endogene Opiate und funktionale Mechanismen der traumatischen Dissoziation

10.1 Tonische Immobilisierung

Zusammenfassend können wir sagen:

10.2 Tonische Immobilisierung bei Vergewaltigungsopfern

Kapitel 11

Die Defensiv-Kaskade nach Schauer und Elbert

»Freeze« (Stadium 1)

Flucht und Kampf (Stadium 2 und 3)

Tonische Immobilisierung (Stadium 4)

Zusammenfassung

Wichtige Parameter der tonischen Immobilisierung:

Flag (Erschlaffen) (Stadium 5)

Zusammenfassung

Faint (Ohnmacht) (Stadium 6)

Die Verbindung von Lanius und Schauer & Elbert

Kapitel 12

Die Polyvagal-Theorie und intrauterine Reflexe

12.1 Zur Erinnerung: Überblick über die polyvagale Theorie:

12.2 Traumatischer Stress: Die Verbindung von Polyvagal-Theorie und Defensiv-Kaskade

Der Zustand von Sicherheit und Wohlbefinden

Beunruhigung und Beruhigung

Beunruhigung und Bedrohung

Unentrinnbare Bedrohung

Die Unterwerfung und Vorbereitung auf den Tod

12.3 Der blockierte Mensch: Verschiedene Formen der Immobilisierung

Kapitel 13

Das Teileselbstmodell (Parts) als Anpassungs- und Überlebensstrategie – die Arbeiten von Janina Fisher

13.1 Habituiertes Defensivmuster und Herausbildung von Persönlichkeitszügen

13.2 Grundsätzliche Überlegungen von Janina Fisher

13.3 Das Seitenmodell als Überlebensstrategie

13.4 Die Choreographie der Selbstanteile

Kapitel 14

Die drei Bruchlinien der Seele oder: Wie kommt es zur inneren Fragmentierung aus Sicht von Janina Fisher?

14.1 Bruchlinie 1: Aufteilung in linke und rechte Gehirnhälfte

14.2 Bruchlinie 2: Desorganisierte Bindung

14.3 Bruchlinie 3: Dissoziative Aufteilung der Handlungssysteme

14.4 Was genau sind »Parts« im Verständnis von Janina Fisher?

Parts sind Überlebensreaktionen und keine »Erinnerungsdepots«

Kapitel 15

Ziele und Therapiestrategien des Modells von Janina Fisher

15.1 Die Auswirkungen dieser Ereignisse behandeln

15.2 Janina Fishers Grundsätze für die Therapie

Kapitel 16

Sandra Paulsen: Das Manual zur Arbeit mit frühen Störungen – »Early Trauma Protocol« (ET)

16.1 Das vierschrittige Manual zur Arbeit mit frühen Störungen

16.2 Für wen ist »Resetting the affective circuits« hilfreich?

16.3 »Early trauma protocol« (ET) von Sandra Paulsen

Schritt 1 – Container

Schritt 2 – safe state

Schritt 3: Der Reset der Affektkreisläufe

Schritt 4: Frühes Trauma durch »Time Frame« prozessieren

16.4 Die affektiven Kreisläufe und das Informationsverarbeitungssystem

16.5 Störungen in der Entwicklung auf der zweiten Prozessebene

16.6 Die Rolle der Imagination

16.7 Affektive Mentalisierung

16.8 »Das Zurückstellen der affektiven Kreisläufe«

Kapitel 17

Hypnosystemische Teiletherapie: same, same but different?

17.1 Das Teilkonzept aus einer hypnosystemischen Perspektive

17.2 Was ist Erleben?

Zusammenfassung

17.3 Neuronale Netzwerke

17.4 Interventionen im therapeutischen Prozess sind Maßnahmen der Fokussierung von Aufmerksamkeit

17.5 Problemverständnis im hypnosystemischen Therapieansatz

17.6 Wie können wir den Patienten erreichen?

17.7 Einblick in die Therapie am Beispiel der Depression nach Gunther Schmidt

17.8 Was ist an diesem Ansatz so anders?

17.9 Zum Abschluss von Teil 1: ein Blick zurück

Teil 2

Mein Modell einer hypnotherapeutischen Teiletherapie

Einleitung

Kapitel 18

Ich-Zustände und die neuronale Netzwerktheorie der Hypnosystemik

18.1 Ich-Zustände als physiologisches Korrelat

18.2 Das Seitenmodell

18.3 Verdinglichung und mein innerer Konflikt

Kapitel 19

Die therapeutische Konstruktion von inneren Anteilen aus den neuronalen Ich-Zuständen: Versuch einer Klärung

19.1 Meine Grundüberzeugungen

19.2 Mein Teilemodell und seine vier Ebenen

Ebene 1: Ich-Zustände als neurophysiologische Erlebnis‑Netzwerke – States

Ebene 2: Die Bildung von prototypischen Ich-Zuständen – Traits

Ebene 3: Übernahme ins Selbstkonzept

Ebene 4: Personifikation und Verdinglichung in der Teiletherapie

19.3 Der sinnvolle Ansatz der klassischen Ego‑State‑Therapie

Kapitel 20

Stress, Trauma und Überleben: Grundlagen meiner Teiletherapie

20.1 Mehr Details zu dem Thema: Wie entsteht Veränderung?

20.2 Teiletherapie: Die Idee der Multiplizität

20.3 Die Ordnung der Anteile in Gruppen

20.4 Was ich unter Dissoziation verstehe

20.5 Das Innere System

Kapitel 21

Die Verletzung zentraler Grundbedürfnisse oder: Wie verletzte innere Kind-Anteile entstehen

21.1 Problembereiche der Kindheitsentwicklung

21.2 Die Auswirkungen von frühen Bindungstörungen

21.3 Die neurotisierten inneren Kind-Anteile

21.4 Traumatisierte innere Kind-Anteile

Kapitel 22

Praxis der Teiletherapie: Das Top-down- und das Bottom-up-Modell

22.1 Allgemeines Therapieverständnis

22.2 Das triune Gehirnmodell und die Richtung der Intervention

22.3 Was sind traumatische innere Anteile: Erinnerungscontainer oder habituierte Verteidigungsstrategien?

Kapitel 23

Die einzelnen Therapieschritte des Top-down-Modells

23.1 Die Zielrichtung meiner Interventionen im Top‑down‑Ansatz

23.2 Ziel 1: Erhöhung der Aktivität im präfrontalen Cortex

Strategie # 1: Neugier wecken

Strategie # 2: Selbsttrance lernen

Strategie # 3: Die eigenen Stärken anerkennen

Strategie # 4: Lernen, wie man ein Erwachsenen-Selbst von traumatisierten Anteilen unterscheidet

Strategie # 5: Die Reizunterscheidungsfunktion im PFC stärken

23.3 Ziel 2: Die Sprache der inneren Anteile lernen, um zu verstehen und zu sprechen

Strategie # 6: Den Teilen eine Sprache geben

Strategie # 7: blending und unblending

Strategie # 8: Eine neue therapeutische Haltung einüben

23.4 Ziel 3: Lernen, wie man »therapeutische Dissoziation« einsetzt

Strategie # 9: Distanzierung und Visualisierung fördern

Strategie # 10: Lernen, Mitgefühl zu zeigen

23.5 Ziel 4: Lernen, wie man innere Kommunikation und Kooperation fördert

Strategie # 11: Förderung innerer Kommunikation

Strategie # 12:

23.6 Jenseits des Top-down-Modells

Zum guten Schluss

Wie alles anfing

»Mit dieser Verwirrung sollten wir aufhören«

Dank

Literatur

Einleitung: die Außenwelt der Innenwelt

Mit meinem ersten Buch »Die Inneren Trauma-Landschaften« versuchte ich 2006 zu beschreiben, wie ich mir die Todeslandschaften der Seele nach Missbrauch und Gewalt vorstelle. Jetzt, 17 Jahre später, möchte ich mit Ihnen in die Außenwelt der Innenwelt eines traumatisierten Menschen während eines Therapieprozesses reisen, in die Landschaften der unterschiedlichsten Therapiemodelle und ihrer Versuche, das oft schwer verwüstete innere Szenario des Opfers im therapeutischen Verstehen und Handeln im Hier-und-Jetzt in einem Modell abzubilden. Auf meinem Weg durch dieses weite Feld habe ich vieles intellektuell verstanden und in ein Konzept gebracht, habe mich in Theorie-Dschungel verlaufen, bin falsch abgebogen, habe dann aber wieder die Richtung gefunden, habe die Last der Gefühle meiner Patienten mitgetragen und war auch öfters verzagt. Heute schaue ich mit diesem Buch zurück auf die zentralen Ideen im Traumafeld, die mich viele Jahre gedanklich herausgefordert und mir geholfen haben, mir ein inneres Bild vom dem zu machen, was man Trauma und Traumafolgen nennt.

Beginnen möchte ich meine Reise durch die faszinierende Theorielandschaft der Modelle, die zum Verständnis der Auswirkungen von Trauma auf einen Menschen in den letzten Jahren entstanden sind, bei den Pionierarbeiten zum Thema »multiple Persönlichkeit« – wie es damals noch hieß –, bei dem US-amerikanischen Psychiater Frank W. Putnam, in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Aus dem gleichen Jahrzehnt stammt das Ego-State-Modell von John und Helen Watkins, ein weiterer wichtiger Versuch, die Vorherrschaft psychoanalytischen Denkens in den USA in Frage zu stellen und die sich rasant entwickelnde Hypnotherapie und Hypnose in die Traumatherapie zu integrieren. Hier in Deutschland bestimmte in den 70er- und 80er-Jahren die psychoanalytische Diskussion über die Ursache der sogenannten »Borderline-Störung« das Feld und das unbeirrte Festhalten an der Psychogenese-Theorie der Störung und der Verleugnung ihrer traumatischen Ursachen.

Was mich betrifft, begann ich mit der Lektüre des Buches von Judith Herman »Die Narben der Gewalt: Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden« (1992) aus dem psychoanalytischen Dornröschenschlaf zu erwachen und stand vor der Aufgabe, ab Sommer 1991 am Klinikum in Nürnberg als leitender Oberarzt eine Traumaabteilung aufzubauen und zu leiten. Auf der Suche nach lebbaren und lehrbaren Modellen zur Behandlung von Menschen mit Traumafolgestörungen fand ich irgendwann – mehr durch Zufall – zu Erklärungsmodellen aus dem Bereich der Hypnotherapie und des EMDR. Durch meinen Lehrer Woltemade Hartman kam ich 2003 das erste Mal in Kontakt mit der Idee der Multiplizität und der auf den ersten Blick »verstörenden Idee«, dass das Ich aus vielen Teilen bestehen sollte. Das war deshalb für mich fremd, hatte doch der »Analytiker-Selbstanteil« in mir damals noch die volle Deutungshoheit über so spannende Fragen wie: Was ist ein Ich und was ist ein Selbst? Bei Sigmund Freud war es sonnenklar: Das Ich ist eine monolitische, geschlossene Gestalt, sie ist nicht teilbar und der Janet sche Begriff der »Dissoziation« ist gleichbedeutend mit »Verdrängung«. Solche Festlegungen sollten sich für mich bald ändern, ist der Kopf doch rund, damit die Gedanken die Richtung ändern können.

In den nächsten Jahren gab es viel für mich zu lernen, und ich möchte Ihnen nun verschiedene Autoren mit innovativen Ideen in diesem Buch vorstellen, Theorien und Praxisanleitungen, die mich in meinem Denken und Tun geprägt haben. Sie zu verstehen erachte ich für einen Traumatherapeuten von heute für wichtig und unverzichtbar. Am Ende fügen sich die losen Enden zusammen, werden die Theoriebruchstücke zu einem inneren Geländer, zu einer verlässlichen Struktur, die therapeutisch ein Stück Sicherheit und Verankerung in stürmischen Zeiten bieten können.

»Die Ego-State-Therapie besteht in der Nutzung von Techniken aus der Einzeltherapie sowie der Familien- und Gruppentherapie, um Konflikte zwischen den verschiedenen Ich-Zuständen, die eine ›Selbst-Familie‹ innerhalb eines einzigen Individuums darstellen, zu lösen«, schrieben John und Helen Watkins 2003 (S. 57). Diesen Gedanken finde ich hilfreich, aber er hat auch seine Grenzen: Die Konzepte müssen kompatibel sein, die Menschenbilder dahinter und die Grundannahmen psychischen Funktionierens müssen sich ergänzen und dürfen sich nicht widersprechen. So werde ich Ihnen nun spannende Gedanken und Theorien vorstellen, aber immer auch herausarbeiten, was zusammenpasst und was nicht – häufig ist das Gleiche wirklich nicht dasselbe, obwohl es so ähnlich klingt. Am Ende des Buches werde ich den Versuch machen, herauszudestillieren, ob es etwas Verbindendes unter all den Theorien und Ansätzen gibt, ein Grundkonzept für den Umgang mit traumabezogenen Störungen unter der Annahme einer normalen und pathologischen Multiplizität.

Zur besseren Orientierung im Feld

Reiseberichte – das kennen Sie sicher auch von Ihrer letzten Urlaubsreise – enthalten immer eine subjektive Auswahl aus einer Vielzahl von Erlebnissen, Erfahrungen und Perspektiven einer Reise – es ist Ihre persönliche Sicht der Dinge und zeigt anderen, was Sie besonders sehenswert und erzählenswert fanden. Aber genau das will man ja auch als neugierig Interessierter hören und nicht einen allumfassenden Vortrag über die soziopolitisch-geographische Lage mit sämtlichen geschichtlichen Bezügen und Jahreszahlen.

Mit diesem Buch ist es nicht anders: Ich berichte, was ich in diesem weiten Feld der Teilemodelle spannend finde, wie entfernte Ideen und Konzepte für mich zusammengehören, ähnlich klingende Dinge ganz unterschiedlich sind und alles zusammen in mir ein Bild ergibt, was Teiletherapie im Traumafeld sein könnte. Das alles gibt mir und vielleicht auch Ihnen so etwas wie eine innere Orientierung, ist eine Art Kompass, um im unübersichtlichen Feld meinen Standpunkt zu bestimmen. Jeder von uns hat seine eigene »Innere Gleichung« (Thomä und Kächele 1985), mit der er herausfinden muss, welche Form der Psychotherapie zu ihm passt und mit welchem Vokabular er am besten sein inneres Chaos ordnet.

Wegen der besseren Lesbarkeit habe ich mich in diesem Buch für die Verwendung des generischen Maskulinums entschieden, weibliche und andere Geschlechtsidentitäten sind damit ausdrücklich mitgemeint, wenn nicht anders vermerkt.

Teil 1

Erkundung der Landschaft

Kapitel 1

Frank Putnam und Richard Kluft oder die Frage nach der »ursprünglichen Persönlichkeit«

Wie können wir uns aber die Entstehung der dissoziativen Selbstanteile oder Ego-States vorstellen? Bei der Beschäftigung damit über mehr als zwanzig Jahre, erst als Leiter der Traumaabteilung einer Klinik und heute als Traumatherapeut in eigener Praxis, habe ich mich verschiedener Metaphern bedient, um mir das Phänomen der Selbstanteile vorstellen zu können: Wird durch ein Trauma unser Identitätsgefühl in Stücke geschnitten – wie beim Bäcker der Kuchen? Oder wird wie im Copyshop von einem Original eine Kopie gezogen? Oder sind die Ego-States aus »imaginären Gefährten« der Kinderphantasie entstanden und führen jetzt ihr Eigenleben?

1.1 Von Kuchenstücken und Kopien

Diese traumainduzierte Abspaltung von Teilen hatte ich mir früher immer so vorgestellt, als würde man die Identität in immer kleinere Stücke zerteilen, je mehr innere Kinder oder Selbst-Anteile entstehen. Dieses etwas naive Konzept hat wenig Überzeugungskraft im Zusammenhang mit der Komplexität der multiplen Persönlichkeit, schreibt der bekannte Dissoziationsforscher Richard P. Kluft (1991, 1999, 2013): Die vielfache Aufspaltung leitet sich ab von der Vorstellung, einen Kuchen in Stücke zu schneiden, mit dem daraus folgenden Effekt, dass man immer weniger und weniger Anteile für jede Identität übrigbehält. Diese Annahme unterstellt, dass das Original-Selbst, von verschiedenen Autoren als die »Gastgeber«-Persönlichkeit (Host) bezeichnet, verkleinert wird und das, was erst eine Einheit dargestellt hat, immer weiter zerstückelt. Dass dem nicht so ist, diese Erkenntnis kam mir spätestens, als ich die erste Patientin mit einer dissoziativen Störung Ende der 80er-Jahre behandelte.

Vielleicht muss ich an dieser Stelle etwas über den Diskussionsstand in dieser Zeit sagen. Ich war als Psychiater und ausgebildeter Psychoanalytiker an der Universität, erst in Göttingen und dann in München. Mein Denken – und das der meisten in meiner Umgebung – war stark von Otto Kernberg geprägt: Die Ich-Struktur eines Patienten wurde in drei Ebenen eingeteilt: (1) Low Level: Psychotische Störungen, (2) Medium Level: Somatisierungsstörungen, Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus und (3) High Level: Neurotische Störungen, Konversionsneurosen. Der Terminus »Dissoziation« wurde gemieden und meist mit Spaltung (Kernberg) übersetzt, Pierre Janet war komplett in Vergessenheit geraten, seine Schriften waren nicht vom Französischen ins Deutsche übersetzt, Traumaerfahrungen als Ursache von Borderline-Störungen wurden meist angezweifelt und diese Störungen wurden – vor allem in den USA – eher als Schizophrenie oder als affektive Psychose diagnostiziert. Patienten mit »multipler Persönlichkeit« gab es irgendwie, aber meist wurden sie in der Psychiatrie als »iatrogen« bezeichnet, d. h., man vermutete, dass das Störungsbild artifiziell durch Hypnose oder übereifrige Therapeuten erzeugt war. Bis heute ist es oft noch schwer, manche »Hardcore«-Psychiater davon zu überzeugen, dass die inneren Stimmen die Botschaft eines kindlichen, traumatisierten Selbstanteils sind und nicht Symptome ersten Ranges der Schizophrenie nach Kurt Schneider.

Dieser psychiatrische Blick auf die dissoziativen Störungen, insbesondere auf die DIS, findet sich auch bei den US-amerikanischen Psychiatern Frank Putnam und Richard Kluft. Da beide Hypnose in der Behandlung dieser Patientengruppe anwendeten und die Lektüre ihrer Arbeiten für mich erste neue Ideen und Erkenntnisse brachte, will ich hier bei unserer Reise durch die Theoriemodelle einen ersten Zwischenstopp einlegen und einige ihrer Überlegungen aus der heutigen Sicht bewerten. Damals vertiefte ich mich mit Hilfe der Uni-Bibliotheken in die Original-Publikationen von Putnam und Kluft in US-amerikanischen Fachzeitschriften, da es noch keine deutschen Übersetzungen ihrer Bücher gab.

Ein besseres Modell der Problemlösung – neben dem Kuchenstücke-Modell – wäre es, eine multiple Bewusstheit anzunehmen, in der das Individuum ein isomorphes, das heißt gleichgestaltiges Selbst (Kluft 1984) kreiert. Kluft stellt fest, dass »die Seele eher, als sich selbst zu teilen, sich multipliziert, sich selbst selektiv vervielfältigt (recopy) oder eine begrenzte Zahl von Elementen in Mustern von größtmöglicher Vielfalt rearrangiert« (S. 14). Nach Kluft versucht das traumatisierte Kind eine andere Version von sich selbst zu kreieren, um die Erinnerung dort abzuspeichern. Das traumatisierte Innere Kind wäre somit eine Kopie, ein Replikant der traumatischen Szene, eingefroren im Moment der Entstehung, ein Erlebens-Zustand, eine Verdichtung des persönlichen Gedächtnisses. Das hatte mir damals geholfen, von der Vorstellung der Persönlichkeit eines Menschen als einer Art von Kuchen, der durch Trauma in Teile zerstückelt wird, Abstand zu nehmen.

Dieses Konzept wird heute unterstützt durch ein neurologisches Modell der Multiplizität, wie es zurzeit von bekannten deutschen Hirnforschern wie Gerhard Roth (2003) oder Wolf Singer (2005) vertreten wird. Substrukturen im Gehirn können unterschiedlich operieren, wenn sie im Kontext von unterschiedlichen Modulen oder Schaltkreisen funktionieren. Die Neurologie ist nicht begrenzt oder endlich, denn die Basis für die Veränderung von Identität kommt aus sich verändernden existierenden Mustern und nicht aus der Entwicklung neuer Komponenten. Dies bedeutet für uns: Bestehende Netzwerke können immer wieder zu neuen vernetzten Strukturen kombiniert werden. Es bedeutet aber auch, dass aus Identitätsmustern Teile durch Dissoziation abgespalten werden, die als stabile Ich-Zustände weiterexistieren und zum Beispiel den Ego-State eines seelisch und körperlich verletzten vierjährigen inneren Kindes markieren.

1.2 Die ursprüngliche Persönlichkeit

Bei Putnam stieß ich dann jedoch auf die Idee von der »ursprünglichen Persönlichkeit«, die für mich heute erklärt, warum er so und nicht anders seine einzelnen Schritte in der Therapie von DIS-Patienten organisierte und warum es logisch ist, dass am Ende der Behandlung für ihn – und noch mehr für Kluft – eine Fusion der Alter-Persönlichkeiten zu einer Einheit stehen sollte.

Putnam schreibt: »Viele Multiple haben eine Persönlichkeit, die von den übrigen Persönlichkeiten des Systems als die ›ursprüngliche‹ Persönlichkeit bezeichnet wird, von der alle übrigen abstammen. Kluft hat die ursprüngliche Persönlichkeit definiert als ›die Identität, die unmittelbar nach der Geburt entstanden ist und die die erste neue Persönlichkeit abgespalten hat, um dem Körper zu helfen, mit einer starken Belastung fertigzuwerden (Kluft 1984)‹.« (Putnam 2003, S. 143) Diese »ursprüngliche Persönlichkeit« ist bei DIS-Patienten nicht aktiv, in einem »sehr frühen Zeitpunkt ›in Schlaf versetzt‹ oder auf andere Weise handlungsunfähig gemacht« (ebd.). Daraus folgt: Sie muss aufgeweckt und handlungsfähig werden. Wie geht das?

Lassen Sie mich Putnams Gedankengang rekonstruieren, so wie ich es beim Lesen des Buches »Diagnose und Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung« (Original 1989, dt. 2003) verstanden habe:

Ein Mädchen entwickelt seine Identität schon sehr früh »unmittelbar nach der Geburt« (Zitat von Kluft) und erlebt ein Trauma, was zu einer ersten Abspaltung vom Original und bei andauernder Traumatisierung zu vielen Kopien führt. »Mit Hilfe ihrer (gemeint sind die Kinder, J. P.) regen Fantasie vermögen Kinder dissoziative Zustände schnell mit psychischen und körperlichen Attributen auszustatten, die sich mit den durch das Trauma evozierten Gefühlen und Körperbildern verbinden.« (ebd. S. 77) Insbesondere jüngere Kinder scheinen »imaginäre Gefährten-Systeme« in die Alter-Persönlichkeiten zu integrieren. Diese von der ursprünglichen Persönlichkeit abgespaltenen Alter-Persönlichkeiten haben eine wichtige Funktion im System. Sie sollen helfen, die schrecklichen Gewalterfahrungen, denen das Kind ausgesetzt war, zu überleben. Der Preis dieser außerordentlich adaptiven Reaktion auf ein überwältigendes Trauma sind dysfunktionale Verhaltensweisen und ein inneres Chaos. So entstehen eine Vielzahl von Alter-Persönlichkeiten mit unterschiedlichem Alter, Geschlecht, Funktion, darunter auch Dämonen, Verfolger, suizidale Anteile, promiskuitive, autistische, behinderte usw. – aber auch eine Gastgeberpersönlichkeit (Host), die nicht mit der ursprünglichen Persönlichkeit identisch ist.

In der Therapie sollen nun diese Alter-Personen sehr schnell durch Hypnose oder auch durch psychotrope Substanzen1 aktiviert und die Kommunikation und Kooperation zwischen ihnen gefördert werden. Ist dies gelungen, beginnt die Traumabearbeitung mit hypnotherapeutischen und chemischen Methoden. Ziel ist es, »die Entdeckung und Enthüllung von Geheimnissen der Vergangenheit energisch voranzutreiben« (ebd. S. 171) und Abreaktion zu fördern. Am Ende sollte die »ursprüngliche Persönlichkeit« wieder nach vorne treten.

Wie dramatisch – und vielleicht auch traumatisch – diese Abreaktionsarbeit von Putnam mit den Kind-Anteilen sein konnte, zeigt Folgendes: Er schreibt (S. 137 ff.), dass Kleinkind- und Kind-Persönlichkeiten einen wichtigen Bereich in fast allen Persönlichkeitssystemen von multiplen Persönlichkeiten darstellen. Kind-Persönlichkeiten seien meist sehr starr und beständig und repräsentieren einen bestimmten Zeitabschnitt aus der Kindheit, in welchem sie wie festgefroren erscheinen. Sie bewahren in sich die Erinnerungen und Affekte aus den frühen traumatischen Lebenserfahrungen. Treten diese Persönlichkeiten in den Vordergrund, reagieren sie das traumatische Erlebnis oft wiederholt auf sehr eindrucksvolle Weise ab. Da sie in einem Lebensalter entstanden seien, in dem das Kind sich noch nicht oder nur ansatzweise sprachlich ausdrücken konnte, sei ihr Ausdrucksverhalten zumeist physischer Natur. »Sie winden sich bei Abreaktionen oft auf dem Boden, durchleben die traumatischen Situationen erneut, werfen sich gegen Wände oder tun ähnlich beunruhigende und tendenziell gefährliche Dinge. Manchmal krümmen sie sich zur Fötusposition zusammen und lassen keine Reaktion mehr erkennen. Außerdem nehmen sie den Therapeuten nicht selten als den Täter wahr.« (Putnam, 2003, S. 137) Im therapeutischen Prozess bleiben Kind-Persönlichkeiten meist sehr lange auf ihr Lebensalter und die dazugehörigen traumatischen Erfahrungen fixiert. Erst in sehr fortgeschrittenen Arbeitsprozessen kann es gelingen, sie in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren und sie in gewissem Ausmaß »erwachsen werden« (Putnam, 2003, S. 137) zu lassen.

1.3 Was bleibt aus heutiger Sicht?

»Eines meiner Ziele ist es, die DIS zu entmystifizieren und dieser Störung die ihr im historischen Kontext zukommende zentrale Stellung einzuräumen, die entscheidend zur Entwicklung einer dynamischen Psychiatrie und der psychologischen Wissenschaft beigetragen hat«, schreibt Putnam auf der Rückseite seines 2003 in Deutschland erschienen Buches. Dieses Ziel hatten er und auch sein Kollege Richard Kluft beim Erscheinen der amerikanischen Ausgabe 1989 sicher erreicht – es war Pionierarbeit auf dem Felde der DIS, mit allen Irrungen und Wirrungen. In diesem Buch wurde damals erstmals die Behandlung dieser komplexen Störung auf umfassende Weise dargestellt. Es musste sich zwischen zwei mächtigen Puffern behaupten: einem von einer diagnostisch unflexiblen Psychiatrie beherrschten Feld auf der einen Seite und einem von der Übermacht Kernberg’scher Pathologisierung beeinflussten Feld der Psychoanalyse auf der anderen Seite. Es war der Versuch, die sogenannte multiple Persönlichkeit vom Ruch einer schizotypischen Psychose zu befreien und sie als traumabedingte Persönlichkeitsstörung zu verstehen. Für diese Arbeit gebührt beiden auch heute noch Anerkennung und Respekt.

Was das Verständnis der Entstehung von dissoziierten Selbstanteilen angeht, sind wir aktuell an einem anderen Punkt. Auch die Therapie planen wir heute anders: so wenig Retraumatisierung und unkontrollierbare Abreaktion wie möglich, so viel Arbeit auf Augenhöhe und Wertschätzung für den Patienten wie möglich. Natürlich können während der Behandlungssitzungen Patienten intensive Emotionen und körperliche Empfindungen wahrnehmen, die im Zusammenhang mit dem zu bearbeitenden Erlebnis stehen. Diese als »Abreaktionen« bezeichneten Reaktionen sind weder durch den Patienten noch durch den Therapeuten vorhersehbar. Sie sind auch ein immer wieder zu beobachtender Vorgang bei EMDR-Sitzungen, denn hier kann es während der Augenserien zu Abreaktionen alter, eingefrorener oder eingebrannter Gefühle und Empfindungen kommen. Der Patient befindet sich dann bei der Beobachtung aus der Zuschauerrolle quasi in einem »anderen Film«. Diese Abreaktionen sind in der Regel kurz und heftig, da aber vorab ein Stoppsignal (Hand heben, Gesicht wegdrehen) vereinbart wurde, kann der Patient den Vorgang jederzeit stoppen, wenn es zu viel wird. Er sollte aber versuchen, durch die Abreaktion hindurchzugehen und die alten Gefühle abzureagieren und damit zu verarbeiten.

Abreaktion ist heute kein Ziel per se von schonender Traumatherapie, sondern eine Begleiterscheinung, die man lernen kann zu handhaben. Wöller schreibt dazu: »Nach neuerer Auffassung kann eine effektive Traumabearbeitung durchaus schonend und ohne schwere emotionale Abreaktionen durchgeführt werden (Reddemann 2004)« (Wöller 2006, S. 405) und bezieht sich da auf das PITT-Modell von Luise Reddemann. Die Autorin schreibt an einer anderen Stelle: »Im Gegensatz zu den Empfehlungen von Horowitz werden nicht Abreaktion und Katharsis angestrebt, vielmehr wird die detaillierte Wahrnehmung traumaassoziierter Inhalte empfohlen, um damit eine Integration dieser Inhalte zu erzielen.« (Reddemann et al. 2010, S. 272) Dem möchte ich mich vollumfänglich anschließen.

Da wirkt es für mich geradezu lächerlich und antiquiert, wenn der Co-Autor Arreed Barabasz zusammen mit John Watkins (von ihm als »Vater« der Ego-State-Therapie gleich mehr) noch 2013 einen Artikel mit dem Titel »Abreactive Ego State Therapy Manual für Combat Stress Injury, PTSD und ASD« publiziert und die Erfolge einer Abreaktionstherapie (eine Sitzung über fünf bis sechs Stunden) bei kriegstraumatisierten US-Soldaten preist. Auf Kissen einzuschlagen und zu schreien, ist so ziemlich das Gegenteil von schonender Traumatherapie mit inneren Anteilen und dem, was ich gerne mit dem Markenzeichen Ego-State-Therapie in Verbindung gebracht sehe. Wir könnten das locker unter »historisch« verbuchen, würde Kollege Barabasz nicht immer wieder Kurse in seiner Methode im deutschsprachigen Raum anbieten.

Dann werfen wir lieber einen Blick auf die therapeutische Arbeit mit traumatisierten Menschen von Frank Putnam und sehen, was wir daraus für unser heutiges Thema lernen und übernehmen können.

Kapitel 2

Die therapeutische Arbeit mit Alter-Persönlichkeiten bei Frank Putnam und was wir davon lernen können

Als ich 1991 als leitender Oberarzt der Psychosomatischen Klinik am Klinikum Nürnberg die Aufgabe übernahm, eine neue Abteilung für Traumatherapie aufzubauen, merkte ich sehr schnell, dass meine bisherigen psychoanalytischen Therapiekonzepte für Menschen mit traumaassoziierten Störungen wenig hilfreich und sogar schädlich waren. Auf der Suche nach innovativen Ideen und Behandlungsstrategien stieß ich auf ein Buch von Frank W. Putnam mit dem Titel: »Diagnosis and Treatment of Multiple Personality Disorder«, das 1989 in den USA erschienen war. Diese seine Vorstellungen über die einzelnen Therapieschritte bei DIS-Patientinnen hatten mich und mein Team dann in den ersten Jahren geprägt, und wir erfuhren interessante Dinge über Alter-Persönlichkeiten, den Host, innere Selbst-Helfer, den Umgang mit inneren Verfolgern und den Einsatz von Hypnotherapie sowie die Rolle von Hypnose.

Da an diesem Punkt meine persönliche intensive Auseinandersetzung mit dem Thema »dissoziative innere Anteile und ihre Handhabung in der Therapie« begann, will ich noch einmal ein paar Gedanken von damals dazu vortragen. Dabei geht es mir in dem Blick zurück nach über dreißig Jahren nicht darum, was aus heutiger Sicht »richtig« oder »falsch« ist, sondern um die Atmosphäre, die dieses Denken über »Viele-sein« vermittelt, und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen für die Therapie.

2.1 Die Aufgaben des Therapeuten in der Therapie

»Die Aufgaben einer DIS-Therapie und ihre Phasen ähneln denjenigen jeder intensiven auf Veränderung zielenden Therapie (Kluft 1984). Sie schließen den Aufbau einer therapeutischen Beziehung und die Identifikation und Ersetzung dysfunktionaler Bewältigungsstrategien durch konstruktivere Verhaltensweisen ein. Außerdem geht es speziell bei DIS darum, die innere Teilung durch eine Form von Einheit zu ersetzen.« (Putnam 2003; S. 166) Schon diese Sätze lassen einen zögern – ich denke, so würde ich und wohl auch meine Kollegen – die innere Haltung zur Therapie nicht mehr beschreiben. Aber sehen wir weiter.

Zu den Aufgaben des Therapeuten gehören, wie wir gerade gelesen haben, nach Putnam und Kluft:

Aufbau einer therapeutischen Beziehung: Vertrauen schaffen zu allen Alter-Persönlichkeiten in gleichem Maße, Vermeidung von Deutungen und Interpretationen, weil die Innenteile »nicht in der Lage sind, eine Trennung zwischen dem beobachtenden und erfahrenden Ich aufrechtzuerhalten« (Putnam 2003, S. 166), den Alter-Persönlichkeiten echtes Interesse und Respekt zeigen und die Schilderungen traumatischer Gewalt anhören und aushalten.

Die Förderung von Veränderung im Leben des Patienten: »Zu Veränderung im therapeutischen Sinne kommt es durch die Identifikation dysfunktionaler Verhaltensweisen und deren Ablösung durch geeignetere Bewältigungsmethoden.« (ebd. S. 167) Auch wenn Dissoziation eine außerordentlich adaptive Reaktion auf ein überwältigendes Trauma war, so soll sie doch in der Therapie überwunden werden. »Ob die Ablösung der dissoziativen Pathologie durch adäquatere Bewältigungsfähigkeiten gelingt, hängt großenteils von der Wiedergewinnung der Erinnerung an die erlebten dramatischen Situationen und von deren Durcharbeitung ab. (…) Dies ist die wichtigste Aufgabe der DIS-Therapie und macht den Hauptteil der therapeutischen Arbeit aus.« (ebd. S. 168)

Ersetzung der Teilung durch Einheit: Es geht Putnam um eine »funktionelle Einheit«, um ein »stabiles Gefühl der Einigkeit hinsichtlich der eigenen Ziele und der eigenen Motivationen« (ebd.). Auch wenn sich einige Patienten dafür entscheiden, »Multiple« zu bleiben, so unterstellt Putnam, dass vermutlich in diesen Fällen das gesamte traumatische Material in der Therapie nicht durchgearbeitet wurde. »Viele Patienten möchten jedoch bis zur völligen Integration weiterarbeiten.« (ebd.)

Um uns den Ablauf der Therapie und die einzelnen Schritte besser vorstellen zu können, möchte ich Ihnen nun die acht Phasen genauer vorstellen. Er ist von Putnam zwar sehr stark auf die Behandlung von DIS-Patientinnen ausgelegt, aber das erzählt uns viel über die in den Phasen verborgenen Glaubensüberzeugungen, was angeblich richtige Therapie ist und was nicht.

2.2 Die acht Phasen der Therapie nach Frank Putnam

1. Phase: Diagnosestellung

Sobald sich eine Alter-Identität in der Psychotherapie zeigt, sollte mit der Patientin2 über die Diagnose gesprochen werden, schreibt Putnam 1989. Er meint weiter, dass Ende der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts viele Patientinnen noch in längeren Diskussionen überzeugt werden mussten. Das hing mit folgenden Aspekten zusammen: Die Beschäftigung mit dem Thema Persönlichkeitsspaltung (Dissoziation) ist nicht etwas, was aus der »Jetzt-Zeit« stammt. Der Erste, der sich mit Dissoziation bei Menschen befasste, war – wie schon mehrfach erwähnt – Pierre Janet (1859–1947). Aus verschiedenen Gründen – deren Ausführung den Rahmen dieses Buches sprengen würden – wurde das für die Gesellschaft unangenehme Thema für Jahrzehnte aus der öffentlichen Diskussion verbannt (siehe Putnam 2003, S. 48 ff.; Overkamp et al. 1997, S. 74). Der Frauenbewegung ist es zu verdanken, dass das Thema »Sexueller Missbrauch von Kindern« in den 80er-Jahren – als sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Jungen erkannt und benannt – auch von der Fachöffentlichkeit wieder ernsthaft aufgegriffen wurde.

Aber bei Patientinnen heute ist das Thema schon viel mehr bekannt, sodass es oft die Patienten sind, die uns darauf hinweisen und die aus Büchern, Internet-Chats, Fernsehen und Gesprächen schon Informationen mitbringen. Das Benennen der Diagnose – nach dem schrittweisen Erarbeiten – empfinden viele auch heute schließlich als große Erleichterung. Endlich haben sie eine Erklärung für die vielen Phänomene, die ihnen den Alltag erschweren, die für sie zum Teil unheimlich waren: Stundenlange Amnesien und keine Ahnung, wo ihr Körper in der Zeit gewesen war; wieso sie immer wieder verschiedene Kleidungsstücke in ihrem Kleiderschrank finden, die sie nicht gekauft haben und die sie niemals tragen würden. Wieso es Lebensmittel in ihrem Kühlschrank gibt, die ihnen eigentlich nicht schmecken und vieles mehr. Das hatte die Patientinnen damals wie heute oft mit Panik erfüllt, aber sie hatten lange nicht den Mut, mit ihrem Therapeuten darüber zu sprechen.

2. Phase: Einleitende Interventionen

Die Beschreibung dieses Schrittes durch Putnam liest sich sehr spannend, weil sie uns zu verstehen hilft, welches Konzept Putnam von der Zielsetzung der Therapie des Traumas hat: »Sie (gemeint sind »einleitende Interventionen« J. P.) dienen dazu, die Arbeit mit einer Patientin als einer Multiplen zu initiieren und die Betreffende so zu stabilisieren, daß es möglich wird, sich der Offenlegung des zentralen Themas zuzuwenden und es durch therapeutische Abreaktion aufzulösen«. (Putnam 2003, S. 169) Hier taucht der Begriff der »Abreaktion« auf, den ich im letzten Kapitel genannt habe.

3. Phase: Einleitende Stabilisierungsmaßnahmen

Es geht Putnam darum, die Patientin »… zu stabilisieren und das bei ihr offenkundig bestehende Chaos zumindest teilweise unter Kontrolle zu bringen«. (ebd., S. 170) Dafür schlägt er den Abschluss von Verträgen (Ess-, Selbstverletzungs-, Anti-Suizidverträge usw.) mit den einzelnen Alter-Persönlichkeiten und dem Persönlichkeitssystem insgesamt vor, um »unkontrollierbare Verhaltensweisen zu zügeln« (ebd.).

4. Phase: Akzeptieren der Diagnose

Putnam berichtet davon, dass sich Alter-Persönlichkeiten »weigern« zu glauben, dass neben ihnen noch andere Anteile existieren, dass der Host die Diagnose einer multiplen Persönlichkeit »abstreitet« und damit viel »Widerstand« gegen die Therapie gerichtet ist – dem versucht er entgegenzuarbeiten.

5. Phase: Entwicklung von Kommunikation und Kooperation

Dies ist ein fortlaufender Prozess, der sich nach Putnam bis zur abschließenden Integration hinzieht. Er hat vier Aspekte: (1) die Entwicklung innerer Kommunikation, (2) die Entwicklung von Kooperation hin auf gemeinsame Ziele, (3) die Entwicklung eines inneren Prozesses der Entscheidungsfindung und (4) die Förderung des Switching.

Durch diese innere Kommunikation können nun amnestische Lücken gefüllt werden, was der Patientin ein Gefühl der Kontinuität vermittelt und ihr hilft, die »Abspaltungen durch eine Form der Einheit« (ebd.) und der Kohäsion zu ersetzen. »Außerdem wird auf diese Weise die Kommunikation gefördert, da die verschiedenen Identitäten üben, einander in der Kontrolle über das Verhalten abzuwechseln.« (ebd. S. 171)

6. Phase: Verarbeitung des Traumas

Mit dieser Arbeit sollte der Therapeut erst beginnen, wenn die Patientin die vorgestellten Phasen schon erfolgreich durchlaufen hat. Da das Ziel von Putnam die Wiederzugänglichmachung und Abreaktion des Traumas ist, die oft sehr schmerzhaft und belastend erlebt wird, schreibt er warnend: »Ist nicht bereits eine gewisse Stabilisierung eingetreten, so reagiert die Patientin auf diesen Stress wahrscheinlich mit schweren dissoziativen Symptomen (…). Die verfrühte Arbeit an einem Trauma kann jede weitere effektive Therapie unmöglich machen. Nachdem die Grundlagen geschaffen sind, muss der Therapeut die Entdeckung und Enthüllung von Geheimnissen der Vergangenheit energisch vorantreiben.« (ebd. S. 171)

7. Phase: Abschluss und Integration

Manche Multiple, so schreibt Putnam, entscheiden sich nach der Phase 6, die Therapie zu beenden, was auch so für ihn stimmig sein kann. Dennoch hält er es für besser, die Therapie fortzusetzen und »auf eine umfassende Vereinigung hinzuarbeiten«. (ebd.)

8. Phase: Entwicklung neuer Bewältigungsfähigkeiten für die Zeit nach Abschluss der Fusion

»Ehemalige Multiple sind nach der Integration ihrer primären psychischen Abwehr, der Dissoziation, beraubt, und sie verfügen kaum über andere Möglichkeiten, die sie statt der Dissoziation als Schutz gegen die Belastungen des Alltags einsetzen können. Insofern sollte es nicht überraschen, daß der anfänglichen Euphorie über die erreichte ›Einheit‹ oft auf dem Fuße eine reaktive Depression folgt.« (ebd. S. 172) So folgt nun eine schmerzhafte und belastende Zeit, in der die Patientin lernt, neue Fähigkeit der Alltagskompetenz zu lernen und die volle Verantwortung für sich zu übernehmen.

Soweit das schematische Vorgehen in acht Schritten, wie es von Frank Putnam aus dem Spirit der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts für Patientinnen mit »multipler Persönlichkeit« beschrieben wurde. Auch wenn Sie beim Lesen innerlich sicher bei vielem heftig schlucken mussten und widersprechen werden, ist es für uns Therapeuten im Traumafeld lehrreich zu verstehen, wie damals gedacht wurde und wo wir heute stehen.

2.3 Bewertung des Therapiekonzeptes aus heutiger Sicht

Ich erinnere mich noch gut, dass es uns im Team nicht leichtfiel, das Denken von Putnam und seine konkreten Therapieempfehlungen im stationären und ambulanten Kontext umzusetzen. Der Tonfall seiner Beschreibungen hatte etwas Belehrendes und war getragen von der Idee, die Widerstände des Patienten bezüglich der Diagnose zu überwinden (vielleicht auch zu brechen) und das innere und äußere Chaos mit Therapieverträgen zu kontrollieren.

Die in Phase 2 unter »Einleitende Interventionen« beschriebenen Fragetechniken zur Erstellung von Listen und Eigenschaften der Alter-Persönlichkeiten erscheinen mir heute wie Fragetechniken beim Verhör auf der Polizeistation, um zu klären, wer alles an einem Unfallereignis beteiligt war. »Wie heißen Sie?«, lautet die erste Frage. Diese massive Intervention ins innere System und die Erstellung einer Landkarte der Alter-Persönlichkeiten sollte noch vor der Stabilisierung des Patienten vollzogen werden. Ich will das nicht im Einzelnen vor Ihnen ausbreiten, nur noch ein Satz, der für uns damals gar nicht in Frage kam: »Falls es einem Therapeuten in einem bestimmten Fall nicht gelingt, eine Alter-Persönlichkeit zum offenen Erscheinen zu bewegen, er aber aufgrund von Hinweisen auf signifikante dissoziative Phänomene (…) trotzdem weiterhin den Verdacht hat, einen DIS-Fall vor sich zu haben, muss er unter Umständen die in Kapitel 9 beschriebenen hypnotischen oder den Einfluss chemischer Stoffe nutzende Techniken anwenden.« (Putnam 2003, S. 172) Bei Letzterem ist die »Narkoanalyse« gemeint, bei der dem Patienten Natriumamytal verabreicht wird. Das hat alles etwas sehr Mechanistisches und auch Gewaltvolles und spiegelt die Idee der 1980er-Jahre wider: Die Persönlichkeit ist durch Trauma aufgespalten, die Teile bringen Chaos, auch wenn sie der Abwehr dienen, die Teilepersönlichkeiten müssen in Listen erfasst werden und das Trauma muss durch Abreaktion beseitigt werden – am Ende steht dann eine erneut fusionierte Persönlichkeit.

Abreaktion ist auch heute noch ein Thema in der Therapie dissoziativer Patienten nach einem Trauma. Damals war es aber ein viel bedeutsameres therapeutisches Mittel, um Traumaerinnerungen zu aktivieren und die damit verbundene Affektspannung zu entladen. In der 2013 auf deutsch erschienenen Monographie3 des bedeutenden US-amerikanischen Traumatherapeuten und DIS-Spezialisten Richard Kluft lernte ich seine ab 1978 entwickelte »schonende Form der Abreaktion traumatischer Erinnerungen« kennen. Beide, Putnam und Kluft, waren damals die führenden Experten für DIS-Therapie in den USA. Das erwähnte Buch ist Klufts umfassende Darstellung der von ihm entwickelten Technik und geht weit über das hinaus, was ich von Putnam gelesen habe und ist somit ein Stück Korrektur der rüden Abreaktionstechnik von Putnam. FAT (Technik der fraktionierten Abreaktion) soll in erster Linie die Gefahr einer Retraumatisierung von Patienten durch die Traumabehandlung verringern. Traumatisches Material wird scheibchenweise (»fraktioniert«), oft in mehreren Durchläufen und unterschiedlichen Varianten bearbeitet, angepasst an die situativen Ressourcen der Patientin (Pacing). Es gibt aber einen Unterschied zu Putnam: Richard Kluft vertritt als übergeordnetes Therapieziel bei DIS vehement die vollständige Integration der Teilpersönlichkeiten, die er offenbar vorrangig mit Hilfe von hypnotischer Suggestion erreichen will. Vorstellbar ist, dass die nuancierten Abreaktionen (sowohl hinsichtlich der traumatischen Situation als auch der inneren Akteure/betroffenen Persönlichkeitsanteile) die Integration von Teilpersönlichkeiten wesentlich erleichterten. Der regelmäßige Hinweis bei den meisten vorgestellten Fallvignetten auf die »vollständige Integration« hinterlässt bei mir jedoch Zweifel (und Ablehnung). Ich möchte es dabei bewenden lassen mit diesem kritischen Blick in die Vergangenheit.

Durch die Entwicklung unseres zunehmenden Verständnisses von Traumatisierung und ihren verheerenden Folgen in der Seele der Opfer in den Dekaden seit 1989, seit den Zeiten von Putnam und Kluft, möchte ich Sie nun einladen, einen weiteren Aspekt des Traumathemas zu betrachten, der unsere ganze Aufmerksamkeit verdient: das rätselhafte Phänomen der Dissoziation unter traumatischem Stress.

Kapitel 3

Was soll mit traumatischer Dissoziation gemeint sein?

Da das Konzept der Dissoziation nach van der Hart, Nijenhuis und Steele entscheidend für das Verständnis des Phänomens der Traumatisierung ist (van der Hart et al. 2008, S. 17), will ich mich bemühen, den sehr unübersichtlichen Dschungel der Begriffe etwas zu ordnen.

Beginnen wir mit einer etwas ausführlichen Definition der Dissoziation durch die ISSTD (International Society for the Study of Trauma and Dissociation), die sich seit Jahren darum bemüht, konzeptionelle Klarheit hinsichtlich dissoziativer Phänomene zu erlangen.

Die grundlegende Manifestation pathologischer Dissoziation ist eine teilweise oder vollständige Unterbrechung der normalen Integration der psychischen Funktionsweise eines Menschen. Dissoziative Unterbrechungen verändern unerwartet die normale Funktionsweise eines Menschen, die dieser nicht leicht erklären kann. Jeder Aspekt des Bewusstseins und der psychischen Funktionen eines Menschen kann durch die Dissoziation unterbrochen werden. Genauer gesagt kann Dissoziation unerwartet das Bewusstsein und die Erfahrungen der Betroffenen verändern bezüglich:

des Körpers, der Welt, dem Selbst,der Seele, der Intentionalität, der Wirkung, dem Denken, dem Glauben, dem Wissen, dem Wiedererkennen, dem Erinnern, dem Empfinden,der Wünsche, dem Sprechen, dem Handeln,dem Sehen, dem Hören, dem Riechen, dem Schmecken, dem Berühren usw. (Wöller 2013, S. 117)