DIAGNOSE F -  - E-Book

DIAGNOSE F E-Book

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Beschreibung

Psychische Störungen eröffnen uns einen meist unbekannten, fremden und manchmal bizarren Kosmos. "Diagnose F" entführt mithilfe von 35 Erzählungen und ebenso vielen Illustrationen in die Welt der seelischen Erkrankungen, deren Symptomen und möglicher Therapien. Die Grafiken stammen von zwei Künstlern, die die Geschichten auf ihre Art grafisch interpretieren. Ein Psychotherapeut diagnostiziert, analysiert und kommentiert jede Erzählung fachlich, sodass eine Verbindung zwischen Science und Fiction hergestellt wird. Die Kurzgeschichten spielen in naher wie in ferner Zukunft und handeln von einem depressiven Alien, einer paranoiden KI, einem spielsüchtigen Menschen mit Gehirnchip, einem narzisstischen Psychiatrieprofessor, überaus konsequenten Robotern, einem schizophrenen Retter der Welt und vielem mehr.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 621

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Michael Tinnefeld & Uli Bendick (Hrsg.)

DIAGNOSE|F

Science-Fiction trifft Psyche

AndroSF 138

Michael Tinnefeld & Uli Bendick (Hrsg.)

DIAGNOSE F

Science-Fiction trifft Psyche

AndroSF 138

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Februar 2021

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Uli Bendick & Mario Franke

Illustrationen: Uli Bendick, Mario Franke

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda Michael Haitel

Lektorat: Michael Tinnefeld

Korrektorat: Michael Tinnefeld, Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda Michael Haitel

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN des Paperbacks: 978 3 95765 230 0

ISBN des Hardcovers: 978 3 95765 231 7

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 864 7

Vorwort

Wie kam es zu dem Titel? Wie kam es überhaupt zu der Idee zu dieser Anthologie?

Fairerweise muss man sagen, dass nicht ich, der beteiligte Psychologe und approbierte Psychotherapeut, die Idee zu diesem Buch hatte, sondern der Grafiker Uli Bendick.

Als dieser das Titelbild zu einem Roman, den ich zusammen mit Gerhard Huber verfasst habe (»Die Heilerin von Hangay«, Perry-Rhodan-FanEdition 20), kreiert und in meiner Kurzvita meinen Beruf erblickt hat, sah er die Stunde für seine lange in ihm gereifte Idee gekommen und fragte mich im Oktober 2018 kurzerhand, ob ich Lust hätte, zusammen mit ihm das Projekt zu stemmen. Natürlich hatte ich – und sagte zu.

Die Arbeitsteilung stand entsprechend seiner Idee von Anfang an fest: Uli würde die Illustrationen zu den Storys beisteuern, ich würde die Storys lektorieren. Zudem sollte ich zu jeder Story einen diagnostischen Kommentar verfassen. Später bot sich Mario Franke als zweiter Illustrator an. Die beiden Künstler haben sich die Arbeit geteilt und zu jeder der in diesem Buch veröffentlichten Geschichte eine Illustration erstellt. Der findige Leser wird aufgrund des unterschiedlichen Stils schnell die Grafiken dem jeweiligen Künstler zuordnen können.

Eine Besonderheit stellt unsere Coverillustration dar, die als einzige im Teamwork und im permanenten Austausch entstand. Uli und Mario fügten Elemente hinzu, nahmen andere wieder heraus oder bearbeiteten bereits vorhandene, solange, bis beide Künstler zufrieden waren.

Quasi als Nebenprodukt entstanden im Teamwork noch zwei weitere Illustrationen sowie einige Einzelarbeiten, die Sie im Anhang als Dreingabe finden.

Der ursprüngliche Arbeitstitel hat sich nur wenig verändert. Aus »F-Diagnosen« wurde das griffigere »Diagnose F«.

Was hat es nun mit dem Titel auf sich? Es gibt weltweit zwei große Klassifikationssysteme, die versuchen, die diagnostischen (Unterscheidungs-) Kriterien psychischer Störungen mit jeder Auflage immer genauer abzubilden: Kapitel F der ICD-10 und das DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Edition V; auf gut Deutsch: »Diagnostisch-statistischer Leitfaden psychischer Störungen, Ausgabe 5«) der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft.

Die ICD steht für »International Classification of Diseases«, also die internationale Klassifikation sämtlicher Erkrankungen, und wird herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation, der World Health Organization (WHO). Subkapitel F umfasst besagte psychische Störungen.

Die nächste Ausgabe der ICD, die ICD-11, wurde im Mai 2019 von der WHO verabschiedet. Sie soll frühestens mit Beginn des Jahres 2022 in Kraft treten, sowohl in Deutschland als auch der übrigen Welt. Während der fünfjährigen Übergangsfrist bis Ende 2026 dürfen beide Systeme parallel verwendet werden. Die englischsprachige Version liegt bereits vor. Es wird neue Diagnosen geben (z. B. Gaming disorder – Computerspielsucht), bestehende werden zum Teil anders und genauer beschrieben.

Für uns bzw. unseren Titel gilt zum Glück noch die ICD-10, denn in der ICD-11 wird es eine komplett neue Aufteilungsstruktur und Diagnosencodierung geben. Psychische Störungen werden nicht mehr mit einem Großbuchstaben am Anfang codiert, sondern größtenteils im Kapitel 06 zusammengefasst. Dementsprechend müsste der Titel dieser Anthologie »Diagnose 06« lauten.

Im Gegensatz zur derzeit gültigen ICD-10 sind die diagnostischen Kriterien in der aktuellen fünften Ausgabe des DSM wesentlich stärker operationalisiert, was unter anderem bedeutet, dass sie detaillierter und umfassender beschrieben und somit auch genauer und konkreter gemessen bzw. beobachtet werden können. Die Diagnosefindung ist deshalb mit diesem System oft besser und verlässlicher möglich.

Während im Austausch mit anderen Beteiligten des Gesundheitssystems, also Krankenkassen, Psychiatern, Neurologen, Hausärzten, Kliniken etc. ausschließlich nach ICD-10 diagnostiziert und verschlüsselt werden muss, ziehe ich innerhalb der Therapien deshalb oft zusätzlich das DSM-V zurate, eben weil hier mehr und genauere Krankheitsaspekte und -beschreibungen zu finden sind.

Ein knappes Jahr lang, bis Ende November 2019, lief die Ausschreibung zu unserem Projekt »F-Diagnosen«. Das Thema interessierte nicht nur uns, sondern glücklicherweise viele Autoren. Wir erhielten zahlreiche Zuschriften, genau gesagt vierundsiebzig Storys, darunter auch einige aus dem europäischen Ausland.

Das freute uns, bedeutete aber auch viel Arbeit. Bevor überhaupt ans Lektorieren zu denken war, mussten erst einmal alles Storys gelesen und bewertet werden. Es gab zwei harte Kriterien, die auf jeden Fall erfüllt werden mussten, um Eingang in unsere Anthologie zu finden.

Erstens: Die Story musste mindestens eine psychische Störung thematisieren.

Zweitens: Es musste eine Science-Fiction-Story sein.

Nicht alle Kurzgeschichten erfüllten diese Hauptkriterien. Schweren Herzens mussten wir also deren Autoren eine Absage erteilen, auch wenn die Geschichte noch so gut erzählt war. Bei den verbliebenen Storys ging es hinsichtlich der Auswahl um die üblichen Verdächtigen wie Plot, Spannung, Lesefluss, Figuren und Stil.

Die verbliebenen fünfunddreißig Storys können Sie, lieber Leser, nun in der vorliegenden Anthologie lesen.

An diese Stelle sei angemerkt, dass wir dem Begriff Science-Fiction im wahrsten Sinn des Wortes gerecht werden wollten, indem wir bewusst eine Mischung zwischen Wissenschaft, Fakten und Fiktion präsentieren. Zum einen, weil dies als Psychotherapeut mein Fachgebiet ist, zum anderen, weil gerade das große Feld der psychischen Störungen einen sehr weiten Raum eröffnet, in dem sich die hier vertretenen Autoren kreativ austoben konnten.

Außerdem wollten wir jeder Story einen fachlich fundierten und selbst für den psychologisch ungeschulten Leser verständlichen Hintergrund – den diagnostischen Kommentar – mitgeben. (Siehe hierzu auch die Hinweise zu den diagnostischen Kommentaren im Anschluss an dieses Vorwort.)

Die Erzählungen, die uns die Autoren zugeschickt haben, bilden leider nicht alle Diagnosen zu allen Störungsbildern ab. Bestimmte Störungen waren beliebter als andere. Während das Thema »Protagonist verliert Kontakt zur Realität« (Psychose) sehr beliebt war und wir sehr viele Zuschriften hierzu erhalten haben, vermissen wir Geschichten zu anderen Problembereichen wie beispielsweise Essstörungen, Phobien oder soziale Ängste.

Um beim linear vorgehenden Leser keine Langeweile aufkommen zu lassen, haben wir uns gegen das Bündeln von Storys mit ähnlichen Diagnosen entschieden. Die Reihenfolge der hier vorgestellten Storys orientiert sich also nicht an Diagnosen. Für Uli und mich war Abwechslung das wesentliche Sortierkriterium.

Je nachdem, wie die Anthologie von der Leserschaft aufgenommen wird, planen wir einen Folgeband, in den eventuell hier nicht berücksichtigte Störungsbilder Eingang finden.

Im Register am Ende des Buches finden Sie bei den betreffenden Geschichten den Diagnoseschlüssel in der in der ICD-10 üblichen F-Codierung (z. B. F42.2). Wo eine diagnostische Zuordnung nicht eindeutig möglich war, finden Sie statt des F-Schlüssels ein das Hauptsymptom beschreibende Wort (z. B. Dermatozoenwahn).

Michael Tinnefeld

Essen, im Sommer 2020

Hinweise zu dendiagnostischen Kommentaren

Hier folgen einige Anmerkungen zum Gebrauch bzw. zur richtigen Lesart der diagnostischen Kommentare.

Es werden zwar differenzialdiagnostische Überlegungen angestellt, die Kommentare sollen jedoch lediglich, in kursorischer Form, einen Überblick bzw. eine diagnostische Einordnung erlauben. Für Uli, Mario und mich standen und stehen die Storys im Vordergrund, nicht die Diagnostik.

Deshalb fallen die Kommentare mal kürzer, mal ausführlicher aus. Sie erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und ersetzen keinesfalls ein Lehrbuch! Für diejenigen, die sich intensiver mit dem Thema auseinandersetzen möchten, sei auf entsprechende Fachliteratur verwiesen (siehe weiterführende Literatur zur ICD und zum DSM im Anhang). Eine saubere Diagnostik ist wichtig für die anschließende Therapie. Im ungünstigsten Fall führt eine falsche Diagnose zu einer falschen Behandlung. Diagnostik in der Psychotherapie kann als hypothesengeleitetes Vorgehen verstanden werden, d. h. die Diagnose macht den Therapeuten handlungsfähig, sodass er eine gezielte Behandlung einleiten kann, und gilt so lange, bis in der Therapie etwas eintritt, was zu einer Diagnosenanpassung (und damit auch zu einer Behandlungsanpassung) führt.

Da es sich ausdrücklich nicht um ein Fach- bzw. Lehrbuch handelt, verzichten wir auf die in Fachbüchern und -journalen üblichen Quellenangaben. Die aus meiner Feder geflossenen diagnostischen Kommentare entstammen jahrelanger praktischer Tätigkeit und Erfahrung als Diplompsychologe und Psychologischer Psychotherapeut.

Die Kommentare habe ich nach bestem Wissen und Gewissen, mit größtmöglicher Sorgfalt, verfasst. An den wenigen Stellen, an denen ich gezielt in Fachbüchern nachgeschlagen und zitiert habe, habe ich die Quelle direkt im Text benannt.

Manchmal war das Finden einer oder mehrerer Diagnosen in einer Geschichte einfach, erst recht, wenn der Autor die Diagnosen gleich mitlieferte oder sie in der Story benannt wurden. In anderen Kurzgeschichten war es nicht möglich, eine eindeutige Diagnose zu finden. Hier hätte es eines diagnostischen Interviews des Patienten, also des Protagonisten bedurft, um Informationen über die in der Story gelieferten hinaus zu erhalten. Es liegt in der Natur der Sache, dass dies schlechterdings unmöglich war.

Manchmal gaben die Autoren im Austausch mit mir diagnostische Hinweise, quasi stellvertretend für ihre Protagonisten, sodass eine diagnostische Zuordnung erleichtert wurde.

Wie es in einer Science-Fiction-Anthologie nicht anders zu erwarten ist, erzählen einige Geschichten von psychischen Problemen, für die es (noch) keine Diagnose gibt. In diesen Storys muss also die literarische von der psychologisch-psychiatrischen, gegenwärtigen Realität unterschieden werden.

Das mit Abstand beliebteste Thema bei den an der Ausschreibung teilnehmenden Autoren war die Psychose, bei der die Protagonisten den Bezug zur Realität verlieren. Unter den vorstellbaren psychotischen Symptomen interessierte Autoren besonders der Wahn, vor allem der Verfolgungs- oder Verschwörungswahn – die Paranoia im engeren Sinne.

Vom Wortursprung her ist Paranoia mit Wahn gleichzusetzen, gleich, welchen Inhalt der Wahn hat. Paranoia stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie »wider den Verstand«, also verrückt oder wahnsinnig. Häufig wird es jedoch, was fachlich nicht korrekt ist, nur bei bestimmten Wahninhalten angewendet, eben bei Verfolgungs- oder Verschwörungswahn (Christian Scharfetter: »Allgemeine Psychopathologie«, Thieme, 2017). Dabei gibt es noch eine Reihe anderer Wahnideen, wie den Beziehungswahn, den Größenwahn, den religiösen Wahn, den Liebes- oder Eifersuchtswahn oder körperbezogene Wahnideen, um nur einige zu nennen.

Uli und ich haben allein zehn Storys veröffentlicht, die Paranoia in eben dieser auf Verfolgungs- oder Verschwörungswahn reduzierten Bedeutung als Haupt- oder Nebenthema behandeln. Wie bereits im Vorwort erwähnt, haben wir die Reihenfolge der Storys nicht nach Diagnoseschlüsseln ausgewählt. Da in den diagnostischen Kommentaren zu den betreffenden Storys jeweils sich ergänzende Aspekte zu Verfolgungswahn genannt werden, sind im Folgenden diese Erzählungen aufgelistet:

»Kiss« (Lea Baumgart), »Ghostwriter« (Markus Korb), »Ausgefallen« (Markus Regler), »Bürger 39« (Nora Hein), »Basteleien« (Gerry Rau), »Morgellons Krankheit und Ekboms Irrtum« (Rainer Schorm), »Doktor T.« (Andreas Müller), »Weisheiten« (Maike Braun), »Büchel« (Johann Seidl) und »Paranoia« (Monika Niehaus).

Insgesamt präsentieren wir sogar vierzehn Kurzgeschichten, die sich mit dem übergeordneten Symptomkomplex Psychose, Wahn, Halluzinationen und Realitätsverlust beschäftigen. Neben den zehn genannten sind das: »Der Fall Häwelmann« und »Folie à deux« (beide von Monika Niehaus), »Ton in Ton« (Ellen Norten) und »Ero(bo)tomanie« (Janika Rehak).

Uli Bendick: Virtul

Anzeige in der »E-Sport Times« – Ausgabe 3/2037

Zarko erwachte im Morgengrauen. Das kleine Feuer war über Nacht heruntergebrannt, und es fröstelte ihn. Aber er fühlte sich erholt und wieder bei Kräften. Die dreitägige Überquerung des Tourong-Gebirges lag hinter ihm. Er musste noch die Schlucht der lebenden Steine durchqueren, dann war er am Ziel: die rostigen Höhlen von Skrill.

Zarko aß etwas Trockenfleisch, trank einige herzhafte Schlucke aus einem ledernen Wasserbeutel und legte seinen Waffengurt an. Die Blutgier-Klinge links, den Knochenspalter, seine Kampfaxt, rechts. Auf den Rücken schnallte er sich, über den Proviantsack, sein magisch aufgeladenes Runenschild, an dem alle metallischen Waffen zerbrachen.

»Na dann! Auf geht’s!«

Beherzt schritt er aus. Er wollte so schnell wie möglich die Schlucht hinter sich bringen. Zarko hatte Gerüchte über lebende Steine gehört, die sich angeblich nicht von ihrer Umgebung unterschieden. Sie seien quasi unsichtbar, und die Mineralien menschlicher Knochen sollten eine Delikatesse für sie sein.

Zu Beginn war der Weg durch die Schlucht breit, doch er wurde immer schmaler. Rotbraune, steile Felswände säumten den Weg, oft musste er über mannsgroße Felsbrocken steigen. Manchmal glaubte er, aus den Augenwinkeln heraus Bewegungen wahrzunehmen, sicher war er sich allerdings nicht.

Der Weg bog scharf rechts ab. Zarko verspürte ein Kribbeln im Nacken. Gefahr? Vorsichtig schaute er um die Ecke, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. In zwei- bis dreihundert Metern Entfernung sah er das Ende der Schlucht.

»Das sollte zu schaffen sein«, freute er sich und legte eine schnellere Gangart ein. Urplötzlich versperrten ihm große Felsen den Weg. Zarko war sich sicher, dass sie eben noch nicht dagewesen waren.

»Wo kommt ihr denn her?«, rief er verdutzt, aber die Steine reagierten nicht. Er drehte sich um, um ein Stück zurückzugehen, aber auch dort standen diese Steine. Sie kamen im Zeitlupentempo näher.

»Scheiße!« Zarko war umzingelt. Fieberhaft dachte er nach, suchte einen Ausweg. Die Steine bewegten sich nicht mehr. Sie schienen zu warten. »Wollt ihr etwa so lang hier rumstehen, bis ich verrottet bin und ihr meine Knochen lutschen könnt?«

Auf einmal wusste er, was zu tun war. »Raban, dem Weisen, sei Dank!«, rief er aus.

Das Jahr mühsamen Studiums der Fauna und Flora sowie aller realen und mythischen Lebensformen Virtuls in Rabans Bibliothek war, wie sich oft gezeigt hatte, nicht umsonst gewesen.

Nachdem er einige Aufträge für Raban erledigt hatte, hatte dieser Zarko persönlich in die Kunst der Gestaltwandlung eingeweiht. Immerhin war er inzwischen ein Stufe-Drei-Polymorph. Außer in unbelebte Materie und Pflanzen gelangen ihm alle Verwandlungen in Lebewesen, deren geistiges Niveau nicht höher als sein eigenes war.

Allerdings bestand bei jeder Verwandlung die Gefahr, dauerhaft in dieser Gestalt verbleiben zu müssen, wenn er nicht innerhalb von sieben Stunden wieder in seinen eigenen Körper schlüpfte. Hinzu kam, dass dieser Prozess ein sehr kräfteraubender Vorgang war.

Zarko hatte zwar auch eine solide Grundausbildung im Schwert- und Axtkampf absolviert – aber was sollte er mit diesen Waffen gegen Steine ausrichten? Einen anderen Weg gab es also nicht.

Er konzentrierte sich und schloss die Augen. Nach einigen Sekunden versteifte sich Zarko, seine Knochen knackten. Sein Körper wurde größer, härter und überragte schließlich die Felsen. Er wurde zu einem grauen Steinriesen.

Zarko brüllte guttural, packte mit seinen Pranken einen der lebenden Steine und schleuderte ihn mit Wucht gegen die Wand der Schlucht, sodass er zerbrach. Bevor Zarko es sich versah, waren die Felsen so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren.

Zarko-Steinriese brüllte triumphierend. Der Weg war frei. Unbehelligt verließ er die Schlucht. Nach einer weiteren Wegbiegung stand er endlich vor dem halb zerfallenen Tor der rostigen Höhlen.

Zarko verwandelte sich zurück. Er musste ausruhen. Die Verwandlung hatte ihm viel Kraft abverlangt. Er gönnte sich einen Schluck Wasser. Shit, mein Vorrat geht zur Neige, dachte er. Ich muss sparsamer sein. Wer weiß, was mich noch erwartet.

Carlo May hatte die Schnauze gestrichen voll. Vor sechs Monaten hatte er das letzte freie Einzimmerappartement seines Mietshauses, am Rande Frankfurts gelegen, an Marko Zarkowitzky vermietet. Die ersten drei Monate hatte dieser im Voraus bezahlt, plus der Kaution, aber seitdem hatte er, trotz mehrerer Mahnungen, nichts mehr von ihm erhalten. Keinen Cent. Carlo May wollte für klare Verhältnisse sorgen: entweder Geld oder raus!

Da Zarkowitzky weder auf sein Klingeln noch auf sein Rufen reagierte, öffnete Carlo mit seinem illegalen, aber durchaus nützlichen Generalschlüssel die Wohnungstür. Carlo handelte dabei entsprechend seinen Erfahrungen mit Mietern. Heutzutage weiß man nie, wen man sich ins Haus holt, dachte er. Und Vorsicht ist besser, als hinterher den Schaden zu haben.

Im Appartement war es beinahe dunkel. Er stolperte über leere Flaschen und Türme aus alten Pizzaschachteln. Es roch übel. Carlo May kämpfte sich zum Fenster durch und ließ das Rollo nach oben schnellen. Er riss das Fenster auf. Frische Luft vertrieb den Mief.

Zarkowitzky lag verkrümmt am Boden. Carlo May schüttelte ihn, rief seinen Namen und gab ihm ein paar Ohrfeigen, doch Zarkowitzky rührte sich nicht. Schließlich fühlte er seinen Puls, der kaum tastbar war. Daraufhin verständigte er den Notarzt. Bis der eintrifft, kann ich mich ja schon mal nach meiner Kohle umsehen, dachte er.

Die Dunkelheit in den Höhlen war undurchdringlich, ein leicht säuerlicher Geruch lag in der Luft. Zarko tastete sich bereits seit einer gefühlten Ewigkeit durch tunnelartige Gänge, die sich hinter dem Tor durch den Untergrund schlängelten. So kam er nicht weiter.

Ihm war bewusst, dass er mit seinen Kräften haushalten musste. Um voranzukommen, verwandelte er sich jedoch erneut, und zwar in einen Gruftalb. Gruftalben waren kleinwüchsige, aber sehr flinke, wehrhafte, menschenähnliche Wesen mit riesigen gelben Augen, die eines perfekt konnten: im Dunkeln sehen.

Jetzt erkannte er, woher die rostigen Höhlen ihren Namen hatten: Die Wände bedeckte ein rotbrauner, teilweise schwarzer Belag aus Rost, der metallisch schimmerte. Schöner Effekt, dachte Zarko.

Er kam jetzt deutlich schneller voran. Irgendwann verbreiterte sich der Gang und weitete sich zu einer Halle, in der bequem ein ganzes Fußballstadion Platz gefunden hätte. Die hohen Wände vereinigten sich zu einer Art Kuppel.

Am anderen Ende der Halle erkannte Zarko zwei Sockel. Auf jedem von ihnen ragte die Statue einer bronzenen Riesenameise, aufgerichtet auf ihren hinteren Beinpaaren, in die Höhe. Die vorderen Gliedmaßen der Ameisen hielten jeweils eine exotisch aussehende Klinge.

Mit seinen Gruftalbaugen konnte Zarko etwa fünfzig Meter hinter den Statuen ein über und über mit seltsamen Zeichen verziertes, kreisrundes Tor erkennen, das den weiteren Weg versperrte.

Sind das Schriftzeichen der alten Höhlenbewohner? Wer waren sie? Jene Riesenameisen? Das fragte sich Zarko-Gruftalb, während er zwischen den Statuen hindurch langsam auf das Tor zuschritt. Der Hallenboden war übersät von Skeletten, menschlichen wie nichtmenschlichen. Einige hielten sogar noch ihre Waffen in den Knochenfingern. Eine dicke, rostrote Staubschicht bedeckte sie.

Zarkos Schritte wirbelten den Staub auf, der ihm unangenehm in der Nase kratzte. Er fragte sich, wer oder was diese armen Kreaturen ins Jenseits befördert hatte.

Er hing diesen Gedanken nach, als ihn knarrende Geräusche aufschreckten. Er fuhr herum. Hinter ihm verschloss sich der Gang, der ihn in die Halle geführt hatte. Gleichzeitig öffneten sich Dutzende kleinerer Tunnel, die versteckt in den Wänden geschlummert hatten, als hätten sie nur auf diesen Moment gewartet.

Der Notarzt legte Marko Zarkowitzky, dessen Zustand kritisch war, eine Infusion mit Kochsalzlösung und sprach gleichzeitig über sein Headset mit dem diensthabenden Arzt der Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses: »Simon, alter Metzger, ich schicke dir jetzt Patient Zarkowitzky, Marko, dreiundzwanzig.

Er ist nicht ansprechbar, Blutdruck neunzig zu sechzig, Puls einhundertzwölf, arrhythmisch. Erhöhte Atemfrequenz. Ich habe ihm das Übliche zur Kreislaufstabilisierung injiziert und NaCl angehängt. Keine sichtbaren Verletzungen, außer einer frisch vernarbten, anderthalb Zentimeter großen Stelle an der rechten Schläfe, circa ein halbes Jahr alt.

Patient ist völlig dehydriert, geschätzte letzte Flüssigkeitszufuhr vor zwei Tagen. Deutliche Anzeichen von Verwahrlosung und Mangelernährung.

In den Augen hat der Gute diese neuen, verspiegelten Gamer-Kontaktlinsen, voll aktiviert natürlich. Da ich sie nicht abschalten kann, müsst ihr das übernehmen. Übrigens, dazu passt auch die frische Narbe am Kopf – ist typisch für die Cerebrum-Bio-Chip-Träger.

Vorläufige Verdachtsdiagnose: hochgradige Spielsucht, kombiniert mit massiver körperlicher Vernachlässigung. Zusammenbruch nach mehreren Tagen Nonstop-Gaming. Mein Rat: Zieh einen Neurologen und einen Elektronikspezialisten hinzu. Alles klar? Na dann – frohes Schaffen!

Sehen wir uns nach Feierabend auf ein Bier bei Lissy? O Gott, da kommt schon der nächste Notruf rein! Bis dann, Alter!«

Hunderte von handtellergroßen Ameisen ergossen sich aus den Öffnungen, krabbelten emsig über die blank abgenagten Knochen, wirbelten den rötlichen Staub auf und drohten Zarko-Gruftalb einfach zu überrennen.

Angesichts der Skelette, mit denen der Hallenboden übersät war, war sich Zarko sicher, dass sie auch ihn innerhalb kürzester Zeit in ein solches verwandeln würden. Er wusste nun, woher der leicht säuerliche Geruch in diesem unterirdischen Reich herrührte: Die heranstürmenden Ameisen verströmten ihn.

Mehr als beunruhigt schaute er sich um, griff mit der Rechten nach seiner Blutgier-Klinge, während er in die Linke den Knochenspalter nahm. Zarko wirbelte im Kreis herum, beide Waffen nach unten gerichtet, und drosch auf die Ameisen ein. Körperflüssigkeiten spritzten aus zerfetzten Leibern, aber so sehr er sich auch erwehrte – gegen diese Massen konnte keine Waffe, kein Gruftalb, kein Mensch, nicht einmal ein ausgehungerter Riesenameisenbär etwas ausrichten.

Sein Blick fiel auf die Statuen. Okay, entweder ist das die Lösung oder mein Untergang, dachte er. Game Over oder Next Level, das ist hier die Frage!

Mit letzter Kraft nahm er die Gestalt einer Riesenameise an.

Seine kleineren Artgenossen hielten abrupt inne, schienen sich ehrfürchtig vor ihm zu ducken und zogen sich ebenso rasch, wie sie gekommen waren, wieder in ihre Tunnel zurück.

Mit derartigem Erfolg hatte Zarko-Riesenameise nicht gerechnet, wenngleich er eine Wirkung erhofft hatte. Langsam beruhigte er sich. Er hatte keine Kraft mehr, sich zurückzuverwandeln. Zuerst musste er etwas essen, trinken und ausruhen. Außerdem schätzte er das Risiko hoch ein, dass diese Biester zurückkamen. Maximal sieben Stunden blieben ihm, um sich in einen Menschen zurückverwandeln zu können. Überschritt er diese, müsste er für immer in dieser Gestalt bleiben.

Während er als Riesenameise Wasser trank und etwas Trockenfleisch knabberte, überlegte Zarko für einen Moment, ob er nicht die Gelegenheit nutzen sollte, auch seinem realen Körper Flüssigkeit und einen kleinen Imbiss einzuverleiben. Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Dazu ist später noch Zeit.

Zarko spürte, dass er kurz vor Abschluss des Levels stand. Sobald er es vollendet hatte, würde er sich um seinen realen Körper kümmern und auch diesem einige Stunden Schlaf gönnen. Gerade aber war es viel zu spannend, das Spiel zu unterbrechen.

Zarko schleppte sich weiter Richtung Tor.

In eine Ameise hatte er sich noch nie verwandelt. Mit jeder Bewegung konnte er besser mit seinem neuen, fremdartigen Körper umgehen. Gleichzeitig gewöhnte er sich an seine Ameisensinne. Gerade jetzt nahm er eine Duftbotschaft wahr, die er intuitiv verstand. Er wusste, was er als Nächstes tun musste.

Unmittelbar vor dem Tor ertasteten seine Beinpaare parallel angeordnete Vertiefungen im Boden, in die exakt seine sechs Gliedmaßen passten. Als das letzte seiner Beine die zugehörige Mulde berührte, sprangen aus dem Tor zwei Stiele hervor, die sich ihm entgegenstreckten. Instinktiv berührte er sie mit seinen Fühlern.

Das Tor teilte sich in sechs Segmente, die langsam in die Wand glitten und eine weitere Halle freigaben. Wenn eine Ameise lächeln könnte, hätte Zarko jetzt ein breites Ameisengrinsen gezeigt.

Doktor Simon trug beim Ärztekonsil den Fall Zarkowitzky vor: »Der Patient ist zur Zeit kreislaufstabil und kann selbständig atmen, Lunge ist frei. Die intravenöse Zufuhr von dreitausend Millilitern Flüssigkeit alle vierundzwanzig Stunden seit seiner Aufnahme und die künstliche Ernährung via PEG haben das physische Gesamtbild positiv verbessert.

Im MRT zeigte sich, dass die Vermutung des Notarztes korrekt war. Der Patient trägt einen dieser neuen CB-Chips im Gehirn, in seinen Augen die dazugehörigen Kontaktlinsen. Das heißt: Ungeachtet seines körperlichen Zustandes ist er weiterhin in seiner virtuellen Spielwelt unterwegs.

Allerdings ist die Situation aus wirtschaftlicher Sicht besorgniserregend. Das Problem, das sich uns bietet, kann ihnen Professor Doktor Karlow, die ich auf Anraten des Leiters der hiesigen Neurologie und Psychiatrie um Hilfe gebeten habe, besser als ich darlegen. Danke, verehrte Kollegen.«

»Danke für ihre Aufmerksamkeit!«, übernahm Professor Doktor Belinda Karlow nahtlos. »Ich erspare Ihnen die Vorstellung meiner Vita; die können sie googeln.

Zur Sache: Weder Cerebrum-Bio-Chips noch die dazugehörigen Linsen lassen sich von außen abschalten. Würden wir dies gewaltsam versuchen oder den Chip im aktivierten Modus operativ entfernen, kann dies zu einer erheblichen Schädigung des Gehirns führen, inklusive massiver psychischer Beeinträchtigungen.

Im schlimmsten Fall könnte ein derartiger Eingriff zum Tod des Patienten führen. Die aktiven Linsen zu entfernen, hieße, das Erblinden des Patienten billigend in Kauf zu nehmen.

Beides, Chip und Linsen, sind mit einem Codewort steuerbar, das der Spieler sich selbst aussucht. Er muss nur an das Codewort denken, um sich in seine Spielwelt ein- oder auszuloggen.

Wie Sie sicherlich wissen, ist dies kein Einzelfall. Weltweit sind aktuell ungefähr eintausendachthundert Menschen akut gefährdet und bereits über fünfhundert von ihnen an Dehydrierung und Unterernährung gestorben, nur weil sie sich nicht aus der virtuellen Welt lösen wollten. Tendenz steigend.«

Sie machte eine Pause, um die Worte wirken zu lassen, und fuhr dann fort: »Selbst wenn wir den Patienten künstlich am Leben erhalten, was theoretisch möglich ist, stellt sich irgendwann die Frage: Wie lange wollen und können wir uns das als soziale Gemeinschaft leisten?

Wenn wir monatliche Kosten von bis zu dreißigtausend Euro für die Pflege auf einer Intensivstation zugrunde legen – und selbst in einem Alten- und Pflegeheim liegen die Kosten für einen Härtefall noch bei circa sechstausend Euro, wovon die Krankenkassen derzeit etwa zweitausend Euro finanzieren –, kann man sich ausrechnen, dass dies nicht unbegrenzt toleriert wird, nur damit der Patient weiterhin zockt. Es ist eine Frage der Zeit, bis uns Ämter und Krankenkassen den Geldhahn zudrehen.«

Einige Konferenzteilnehmer nickten bestätigend.

»Eventuell gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma. Gemeinsam mit Doktor Ismael Asmov arbeite ich derzeit in unserem neurotronischen Labor an einem Projekt, das die Auswirkungen implantierter Chips, wie wir sie im Fall Zarkowitzky sehen, erforscht.

Inzwischen haben wir eine Technik entwickelt, die uns vielversprechend erscheint und nicht nur die Gesundheit des Patienten, sondern auch die gesellschaftlichen Kosten schont. In theoretischen Simulationen, speziell abgestimmt auf den CBC, führte der Einsatz dieser Methode zu neunzig Prozent zum gewünschten Erfolg.«

Sie erläuterte den anwesenden Medizinern detailliert, wie sie vorgehen würden.

»In vivo, also am lebenden Menschen, konnten wir das bislang nicht testen. Im Fall Zarkowitzky stellt dieses Verfahren aufgrund der Dringlichkeit zumindest eine reelle Chance für ihn dar. Zugegebenermaßen auch für uns und unsere Forschungsarbeit.«

Belinda Karlow sah die hoffnungsvollen Blicke der Kollegen und beendete zufrieden ihre Rede mit den Worten: »Dazu müsste Zarkowitzky in unser Labor verlegt und während unserer – ich sag mal: Behandlung – von einem Mediziner betreut werden. Am besten von jemandem wie Doktor Simon, der mit der Sachlage vertraut ist. Aber das können weder ich allein noch wir hier zusammen entscheiden.«

Der medizinische Leiter des Krankenhauses ergriff das Wort: »Ich denke, wir sind einer Meinung, wenn ich sage, dass wir das neuartige Verfahren ausprobieren sollten. Da wir das richtigerweise weder verantworten noch entscheiden können, schlage ich vor, das zuständige Amtsgericht über die spezielle Situation mit der gebotenen Dringlichkeit zu informieren und zur Entscheidungsfindung hinzuzuziehen. Solange gilt es, den Patienten am Leben zu erhalten.

Danke, Frau Professor, danke auch Ihnen, Doktor Simon.« Er wies mit ausgestreckter Hand auf die Angesprochenen. »Ich werde Sie über den gerichtlichen Entscheid umgehend in Kenntnis setzen und gegebenenfalls die notwendigen Schritte einer Verlegung einleiten.

In der Hoffnung auf eine baldige Bewilligung bitte ich Sie, Frau Professor, die notwendigen Maßnahmen für die Behandlung vorzubereiten, um keine weitere Zeit zu verlieren, selbst wenn das Gericht negativ entscheidet und Ihre Mühe umsonst sein sollte.«

Zarko, der nicht nur wie eine Riesenameise aussah, sondern auch über das Wissen dieser Spezies verfügte, passierte das Tor.

Eine weitere Halle tat sich vor ihm auf. In den Wänden waren Tausende von Nischen eingelassen, aus denen fauliger Geruch drang. Er näherte sich ihnen. Halb vertrocknete Ameiseneier lagerten darin. Als hätten sie vergebens darauf gewartet, von Arbeiterinnen versorgt zu werden, vermutete Zarko.

In der Mitte der Halle lag der mumifizierte Körper einer Ameise, die mehr als doppelt so groß war wie die Arbeiterinnen. Das muss die Ameisenkönigin dieses untergegangenen Volkes gewesen sein, dachte Zarko, die täglich bis zu hundert Eier gelegt hat.

Amtsrichter Tollmann war ratlos. So einen Fall hatte er noch nie.

Der medizinische Leiter des Krankenhauses hatte ihn über die besondere Problematik der einzig erfolgversprechenden Behandlungsmethode wie auch über den kritischen Gesundheitszustand von Marko Zarkowitzky informiert.

Tollmann sprach mit dem Leiter der hiesigen Krankenkasse, der ihm unmissverständlich die wirtschaftlichen Restriktionen im Allgemeinen und bei diesem Fall im Besonderen darlegte.

Um sich zusätzlich abzusichern, setzte er sich per Videoanruf mit dem Vorsitzenden des Landgerichts in Verbindung, wurde an das Oberlandesgericht verwiesen und landete schließlich, nach fünfundzwanzig Minuten, beim Justizminister.

Manchmal funktioniert der Weg durch die Instanzen überraschend schnell, stellte Tollmann fest.

Der Justizminister zuckte bedauernd mit den Schultern und gab ihm zu verstehen, dass die Entscheidung im Kompetenzbereich des zuständigen Amtsrichters lag und nicht in seinem. Elegant hatte ihm der Minister den schwarzen Verantwortungspeter zurückgegeben und ihn gleichzeitig zum Sündenbock gemacht, falls etwas schiefgehen würde.

Tollmann fluchte lang und ausgiebig und traf seine einsame Entscheidung.

Marko Zarkowitzky lag fixiert auf einer Pritsche im neurotronischen Labor von Professor Doktor Karlow und Doktor Asmov. Eine Haube, aus der über ein Dutzend farbiger Kabel zu einem schrankgroßen Gerät führte, bedeckte seinen rasierten Schädel.

Doktor Simon überzeugte sich vom Funktionieren des lebenserhaltenden Systems und überwachte die Monitore mit den Vitalzeichenanzeigen, während ein EEG kontinuierlich Auskunft über die aktuellen Hirnaktivitäten seines Patienten gab.

Doktor Asmov schaute ununterbrochen auf sein holografisches Kontrolldisplay und verfolgte die Fortschritte der Behandlung. »Kontakt zum CBC erfolgreich hergestellt. Integration derzeit bei sechsundfünfzig Prozent, weiter steigend.«

Kurz darauf ertönte ein akustisches Signal, gleichzeitig blinkte das Display. Beides kündigte einen neuen Behandlungsabschnitt an. »Jetzt bei einhundert Prozent«, sagte Asmov zufrieden. »Prozess abgeschlossen. Integration erfolgt. Phase zwei initiiert und … läuft!« Er legte einen Schalter um. »Was nun hoffentlich gleich folgen wird, können wir über den großen Monitor in Wort, Bild und Echtzeit mitverfolgen. Sie werden staunen, Doktor Simon!«

»Patient stabil!«, verkündete dieser. »Wie funktioniert das Ganze? Bitte in einfachen Worten – ich bin weder Neurologe noch Elektroniker.«

Belinda Karlow kam ihrem Kollegen zuvor: »Wir haben eine speziell für solche Aufgaben programmierte künstliche Intelligenz entwickelt. Diese KI schleicht sich in den Chip ein, sodass dieser sie nicht als Fremdprogramm identifiziert. Sie nutzt die neuronalen Wege über dieselben Synapsen, die auch der CBC benutzt, und dringt so in die virtuelle Welt des Spielers ein. Sobald wir die KI gestartet haben, arbeitet sie völlig autark, unabhängig von einer direkten Eingriffsmöglichkeit durch uns.

Wir haben zudem das unwahrscheinliche Szenario simuliert, dass der Chip unsere KI als Fremdkörper identifiziert und versucht, sie rauszuschmeißen. Dabei überhitzte der Chip stark und brach abrupt sämtliche Funktionen ab. Für den Chipträger war dies gleichbedeutend mit einer operativen Entfernung – und deren Konsequenzen sind Ihnen ja hinlänglich bekannt. Wir haben für diesen Fall eine Art Notbremse eingebaut, die wir hoffentlich nicht ziehen müssen.«

»Und wie funktioniert diese Notbremse?«, fragte Doktor Simon, während Doktor Asmov einige Feinjustierungen am holografischen Kontrolldisplay vornahm.

»Nun, die KI registriert in einer Subroutine die Betriebstemperatur des Chips.« Belinda Karlow lächelte matt. »Steigt diese über einen bestimmten Wert, schaltet sich die KI selbständig ab, da sonst der Patient Schaden nähme.«

Asmov beendete seine Einstellungen. »Von jetzt an können wir nichts mehr tun, außer den Patienten am Leben zu erhalten und zu beobachten, was passiert. Entsprechend unserer Simulationen kann der gesamte Prozess einige Stunden in Anspruch nehmen. Kaffee und Brötchen stehen am Tisch hinten bereit.«

Etwas erregte die Aufmerksamkeit von Zarko-Riesenameise. Da waren Fußspuren. Frische, menschliche Fußspuren, die tiefer in die Halle wiesen. Von wem die wohl sind, fragte er sich. Und wo kommen sie so plötzlich her? Weder vor noch in der Höhle habe ich Hinweise auf Menschen gesehen.

Soweit Zarko es erkennen konnte, führten die Fußspuren zu einer dunkleren Nebenhöhle. Nur ein zartbuntes Schimmern drang aus ihr. Neugierig trippelte er sechsbeinig weiter. Je näher er kam, desto mehr konnte er erkennen.

Das musste die Schatzkammer des Ameisenvolkes gewesen sein. Berge von funkelnden Edelsteinen, nach Farben geordnet, bedeckten den Boden der Höhle.

Ich hab’s geschafft! Ich bin am Ziel!

Während Zarko den Raum erkundete, dachte er nur noch daran, wie reich er sein würde, wenn er es heil aus der Höhle schaffte.

Er achtete nicht weiter auf die Spuren. Eine vage, äußerst interessante Duftspur führte ihn hinter die Edelsteinberge. Stapelweise lagerten dort eiserne Platten, in die die gleichen Zeichen eingestanzt waren, wie er sie auf dem Tor hinter den Statuen vorgefunden hatte. Der schwache Duft ging von diesen Platten aus.

Als Ameise konnte Zarko die Duftbotschaft und die Schriftzeichen interpretieren. Vor mir liegt das gesammelte Wissen des Ameisenvolkes, konserviert in Wort und Duft, wurde Zarko intuitiv bewusst. Das ist der wahre Schatz!

Vergeblich bemühte er sich, die Platten anzuheben. Fuck! Die sind zu schwer, um sie mitzunehmen! Selbst für eine Riesenameise wie mich.

Aber es gab vielleicht eine Möglichkeit: Gierig sog er den Duft der Platten ein, bestrebt, soviel Wissen wie möglich aufzusaugen, bis sein Ameisenhirn schmerzte. Er konnte nur hoffen, dass er sich als Mensch daran erinnern würde.

»Schau, schau, wenn das nicht Zarko, der Polymorph, ist.« Eine kratzige Stimme kicherte aus dem Dunkeln. »Wieder mal auf Schatzsuche?«

Zarko fuhr erschrocken herum. Aus den Schatten trat eine Frauengestalt, eingehüllt in einen weißen Mantel, der mit Reihen aus blauen Nullen und Einsen übersät war. Über die Schulter trug die Gestalt mehrere große Lederbeutel. Ihr Gesicht lag unter einer riesigen Kapuze verborgen.

Schritt für Schritt näherte sie sich, während Zarko sie wie angewurzelt anstarrte. Behutsam legte sie ihre knöcherne Hand auf sein zweites Körpersegment und streichelte ihn beruhigend. Mit der anderen Hand schlug sie ihre Kapuze zurück.

Zarko sah in das verschmitzt lächelnde Gesicht einer weißhaarigen Frau, die die Sechzig überschritten hatte, die aber gut und gerne auch doppelt so alt sein konnte. Sie strahlte etwas Vertrautes, fast Mütterliches aus.

Eine Zauberin, eine weiße Hexe! Vielleicht auch eine Heilerin?, fragte sich Zarko. Auf jeden Fall niemand, der mir Böses will.

Zarko wollte die Alte ansprechen, doch er brachte kein Wort heraus. Nur ein leises Zirpen.

»Respekt, da hat unsere KI aber eine tolle Figur generiert! Zarkowitzky ist sichtlich beeindruckt!« Doktor Asmov grinste.

»Ja, das sehe ich auch so«, erwiderte seine Kollegin. »Bin gespannt, wie sich das weiterentwickelt.«

»Hm, Puls erhöht, Blutdruck angestiegen, aber im toleranten Bereich«, stellte Doktor Simon mit Blick auf seine Überwachungsmonitore fest. »Atemfrequenz beschleunigt. Typische Schreckreaktion. Intervention nicht nötig – das wird sich wieder normalisieren.«

»Okay, bessere Voraussetzungen können wir uns nicht wünschen«, kommentierte die Professorin trocken.

»Stimmt, bislang läuft alles gut. Es ist immer wieder interessant zu beobachten, wie Körper und Geist auf virtuelle Situationen reagieren, selbst wenn sich der Spieler bewusst ist, dass kein reales Risiko besteht.«

»Jetzt ist keine Gelegenheit zum Quatschen, Zarko! Dir läuft die Zeit davon, du weißt es nur noch nicht! Da du ohne den Schatz nicht gehen wirst, werde ich dir helfen. Lass uns also so viele Edelsteine zusammenraffen, wie wir tragen können – und dann nichts wie raus hier! Okay?«

Zarko gab zirpende Laute von sich.

»Lass gut sein, Zarko«, raunte sie. »Natürlich kannst du als Ameise nicht sprechen, zumindest nicht in menschlicher Sprache.«

Zarko versteifte sich.

»Nein, nein! Lass das, Zarko! Bitte verwandle dich jetzt noch nicht. Als Ameise kannst du hier unten besser überleben als in menschlicher Gestalt. Denk nur an deine kleineren Artgenossen in der Vorhalle. Also, ich packe in meine Beutel, was geht, verschnür sie, häng sie dir um, und du bringst sie ans Tageslicht. Draußen rasten wir. Dort kannst du transformieren, erneut ausruhen und dich stärken. Dann reden wir. Einverstanden?«

Zarko schwenkte seine Fühler hin und her, in der Hoffnung, dass sie dies als Zustimmung verstand.

Fasziniert beobachteten die drei Ärzte das Geschehen auf dem großen Monitor.

»Vertrauensbildung erfolgreich!«, freute sich Doktor Asmov, während er die Anzeigen seines holografischen Kontrolldisplays beobachtete.

»Ja, so weit, so gut!«, erwiderte Belinda Karlow. »Du weißt aber: Der schwerste Teil steht uns noch bevor! Wie geht’s unserem Patienten, Herr Kollege?«

»Alle Werte erhöht, aber derzeit noch im tolerablen Bereich. Habe ihm zur Sicherheit eine geringe Dosis Betablocker zur Blutdruckstabilisierung injiziert! Im EEG zeigt sich ebenfalls eine gesteigerte Aktivität, das heißt, Zarkowitzky ist zwar sehr angespannt, aber ich sehe keinen akuten Handlungsbedarf.«

Eine Stunde später verließen sie das Höhlensystem und traten ins Freie.

Die Alte hatte bemerkt, wie anstrengend der Weg für Zarko gewesen war. Die kleineren Artgenossen Zarkos hatten kurz aus ihren Tunneln gelugt, sich aber sofort wieder zurückgezogen, nachdem sie Zarko-Riesenameise wahrgenommen hatten.

Draußen dämmerte bereits der Abend, die zwei Monde Virtuls gingen am nördlichen Himmel auf.

»Bergab, nicht weit von hier, ist ein geschützter Lagerplatz, direkt neben einem Bach. Das sind gut zwei Kilometer. Schaffst du das?«

Zarko wackelte bestätigend mit seinen Fühlern. Ich würde zu gerne wissen, wer die Alte ist.

»Du hast jetzt noch eine, höchstens eineinhalb Stunden Zeit, bis du dich zurückverwandeln musst«, sagte diese, während sie die Führung übernahm und sich geschickt durch das Unterholz kämpfte.

Nach einer Dreiviertelstunde erreichten sie den von ihr beschriebenen Rastplatz. Zum Gebirge hin ragte eine hohe Felswand auf, davor drängten sich Bäume und dichtes, teils dorniges Buschwerk. Mittendrin gab es eine kleine, uneinsehbare Lichtung. Jeder, der zu ihnen vordringen wollte, würde bemerkt werden. Am Rande der Lichtung verlief ein Bach, der an einer Stelle breit und tief war.

»Hier kannst du dich in Ruhe zurückverwandeln, Zarko. Ich nehm dir zuerst einmal die Säcke ab und hole uns dann frisches Wasser.«

Als die Alte vom Bach zurückkam, lag Zarko wieder in seiner ursprünglichen Gestalt im Gras und kämpfte gegen die Müdigkeit. Er konnte sich nicht mehr aufrichten und bekam nur am Rande seines Bewusstseins mit, wie sie Holz sammelte, ein kleines, rauchloses Feuer entfachte und wartete. Dann schlief er ein.

Frühmorgens erwachte Zarko ausgeruht und fast wieder bei Kräften. »Jetzt noch was zu essen und alles ist gut!«

»Glaubst du! Nichts ist gut!«

»Ah, ich verstehe, Lady Unbekannt. Entschuldigung!« Zarko erhob und verbeugte sich übertrieben galant, nach höfischer Manier. »Ich danke dir für deine Hilfe. Ohne dich hätte ich es vermutlich nicht geschafft. Wie darf ich mich erkenntlich zeigen, aber vor allem: Wie darf ich dich anreden?«

»Du kannst mich K’Ia nennen, aber lass den Quatsch! Was ich getan habe, war Teil meines Auftrags.«

»K’Ia … seltsamer Name, passt aber irgendwie zu dir. Mir zu helfen war also Teil eines Auftrags? Wie komme ich zu der Ehre?«

»Ich soll dir raushelfen, weil du in großer Gefahr bist. Eine tödliche Bedrohung lauert auf dich, und du merkst es nicht einmal!«

Professor Belinda Karlow wie auch die Doktoren Asmov und Simon bewegten sich aufgeregt.

»Jetzt wird’s spannend, meine Herren! Wir treten in die entscheidende Phase ein!«

Keiner von ihnen konnte den Blick vom großen Monitor nehmen, so sehr beeindruckte sie das Geschehen.

»Unsere KI ist geschickt«, fuhr die Professorin fort. »Sie hat ihn neugierig gemacht, und das ist die ideale Voraussetzung dafür, dass er ihr zuhört!«

»Ja, er scheint nachzudenken. Wahrscheinlich überlegt er, was er übersehen, verdrängt oder vergessen haben könnte«, kommentierte Doktor Asmov. »Wie steht es um ihn, Doktor Simon?«

»Sein EEG zeigt eine deutlich erhöhte Aktivität, was Ihre Annahme zu bestätigen scheint«, antwortete dieser, während er Zarkowitzkys Vitalwerte auf seinen Überwachungsmonitoren ablas. »Er ist noch nervöser, aufgeregter und, wie Sie sagten, auch neugieriger geworden. Das wirkt sich auf seinen Blutdruck aus, aber ich habe es im Griff.«

»Ich schätze, bis zum entscheidenden Moment wird es nicht mehr lange dauern. Das könnte ein Schock für ihn sein!«, warnte Doktor Asmov. »Achten Sie auf seine körperlichen Reaktionen, vor allem auf sein EEG, und versuchen Sie weiterhin, ihn stabil zu halten, Doktor Simon!«

Zarko nahm einen großen Schluck Wasser aus dem gefüllten Lederbeutel.

»In welcher Gefahr soll ich denn, bitteschön, sein? Wir haben es geschafft! In der nächsten Stadt verticke ich die Edelsteine und lebe von da an wie der König von Cho-Morandi.«

»Du wirst nicht allzu lange ein König sein!«

»Jetzt langt es aber, K’Ia! Spuck’s aus! Was geht hier ab? Wer oder was bist du? Für wen arbeitest du, und welche Gefahr soll mich bedrohen?«

»Super, das ist Teil zwei meines Auftrages.«

Zarko schaute sie lediglich an.

»Lass mich erklären! In dieser Welt nenne ich mich K’Ia. In der realen Welt, die du leider ignorierst, bin ich eine künstliche Intelligenz, programmiert mit dem Auftrag, dich zu retten. Nach meinen Berechnungen gelingt dies jedoch nur, indem ich dir die Realität vor Augen halte. Anders ausgedrückt, ich handele ausschließlich in deinem Interesse.

Hier die Fakten: Dein Vermieter fand dich vor vier Tagen, nicht ansprechbar, völlig dehydriert und unterernährt, auf dem Boden deines Appartements liegend. Ärzte mussten dir dein Leben retten.«

Zarkos Augen weiteten sich.

»Du wurdest auf einer Intensivstation künstlich ernährt. Dir wurde Flüssigkeit zugeführt, du wurdest kreislaufstabilisiert. Derzeit wirst du künstlich am Leben erhalten und befindest dich im neurotronischen Labor von Professor Doktor Karlow und Doktor Asmov. Doktor Simon betreut dich medizinisch.«

Zarko lief es sprichwörtlich eiskalt über den Rücken. Er war erschüttert.

»Ich wurde speziell für solche Situationen konstruiert, in denen der Spieler den Bezug zur Realität verloren hat und der Chip abgeschaltet oder entfernt werden muss, dies aber von außen nicht geht. Versucht man, den Chip chirurgisch zu entfernen, wirst du ein geistiger Krüppel oder stirbst.

Ich bin so konstruiert, dass ich mich in das vom CBC generierte Programm einschleusen und seine neuronalen Verbindungen nutzen kann, um mich in der Welt des betroffenen Spielers zu materialisieren und so mit ihm Kontakt aufzunehmen. Kannst du mir bis hierhin folgen?«

Zarko versuchte, das Gehörte zu verarbeiten, und nickte schließlich stockend.

»Gut! Dann kommen wir zum dritten und letzten Teil meiner Aufgabe. Das Vormundschaftsgericht, die Ärzte – alle Verantwortlichen sind bereit, dich aufzugeben. Deinen aktivierten CBC, wie du weißt, kannst nur du selbst abschalten, da außer dir niemand dein mentales Passwort kennt.

Erhält man dich künstlich am Leben, damit du dich in Virtul weiterhin amüsieren kannst, ist dies wirtschaftlich auf Dauer nicht zu rechtfertigen. Du könntest jahrelang künstlich am Leben gehalten werden, was in die Millionen ginge, die du nicht auf deinem Konto hast. Und die du leider der Gesellschaft auch nicht wert bist!

Sobald die Lebenserhaltungssysteme abgeschaltet werden, wirst du innerhalb einiger Tage sowohl in Virtul als auch in der Realität sterben.«

Ich stecke sowas von bis über die Ohren in der Scheiße …, erkannte Zarko, dem die Bedrohlichkeit seiner Lage immer klarer wurde.

»Noch was muss ich dir sagen. Vielleicht ahnst du es inzwischen schon: Du bist hochgradig spielsüchtig. Voll drauf, wie ein echter Junkie. Du kannst ohne deine virtuelle Welt nicht mehr leben. Sie ist deine Droge!

Wenn du den Chip jetzt abschaltest, wirst du ihn zwangsläufig irgendwann wieder einschalten. Und dann immer wieder. Du kennst das ja, und wohin das schließlich führt, wird dir hoffentlich gerade klar! Irgendwann wirst du, wie jetzt, den Weg in die Realität nicht mehr finden. Und ich stehe dir dann nicht mehr zur Seite. Das ist deine letzte Chance!«

»Klasse Strategie, Zarkowitzky unverblümt mit der Realität zu konfrontieren und ihm zu sagen: so oder gar nicht!«, rief Professor Karlow. »Riskant, aber konsequent und schonungslos.«

»Na ja, welche Möglichkeiten hätte die KI noch?«, erwiderte Doktor Asmov. »Das ist die einzige Sprache, die der Typ versteht, und das weiß sie! Unsere KI funktioniert besser, als wir dachten.«

Doktor Simon meldete sich: »Zarkowitzkys Vitalzeichen sind jetzt im oberen Grenzbereich. Das EEG zeigt deutliche Übererregung. Ich sollte ihn leicht sedieren, damit er wieder ruhiger wird, sonst droht ein Nervenzusammenbruch, und das könnte in dieser Situation fatale Folgen haben.«

»Warten Sie noch etwas, Doktor Simon! Ich sehe das Risiko, aber unsere KI hat ihn gleich soweit, er ist schon fast davon überzeugt, dass sie recht hat und dies wirklich seine einzige Chance ist!«

Zarko war mehr als verunsichert. Er brachte kein Wort heraus.

»Du hast nur diese Alternative, wenn du leben willst. Klink dich aus, und bevor man dich aus dem Koma holt, wird dir der Chip entfernt. Wenn du das willst!

Die Ärzte, die sich gerade um dich kümmern, werden registrieren, wenn du dich ausloggst. Mit deiner Zustimmung können sie den CBC-Chip auflösen. Dazu injizieren sie dir eine eigens dafür entwickelte, biochemische Lösung. Wenn du das nicht willst, okay, dann bleib eingeloggt. Das ist dann deine Art, dich aus dem realen Leben zu verabschieden.

Du weißt auch: Wenn du dich ausklinkst, wird das kein leichter Weg für dich werden. Du wirst Schmerzen haben. Du wirst zurück nach Virtul wollen. Das Leben wird dir nicht mehr lebenswert erscheinen. Du wirst Depressionen haben. Du wirst den Tag verfluchen, an dem du mir begegnet bist.«

Zarko versuchte zu schlucken, aber sein Rachen war staubtrocken.

»Auf der anderen Seite hast du hier in Virtul bewiesen, dass du ein Kämpfer bist. Einer, der nicht so leicht aufgibt. Einer, der bis an seine Grenzen geht und, wenn es sein muss, sogar darüber hinaus.« Sie machte eine kurze Pause. »Damit ist mein Auftrag beendet! Darf ich dir zum Abschied noch etwas ganz Persönliches raten?«

Zarko, der seine Situation mit all ihren Konsequenzen nur allmählich realisierte, konnte wieder nur nicken.

»Zarkowitzky, wenn du ein wahrer Held sein willst, stell dich den Abenteuern deines realen Lebens. Das sind die einzigen Herausforderungen, die wirklich zählen und auf die du unzweifelhaft stolz sein kannst, wenn du sie meisterst. Auch in der Realität findest du Wegbegleiter und Freunde. Die Schätze, die du erobern kannst, sind Freundschaft, Liebe und Familie.«

K’Ia drehte sich um und ging davon, ohne zurückzublicken. Die Zahlenreihen, die ihren Mantel zierten, begannen zu leuchten. K’Ia wurde durchscheinend. Schließlich löste sie sich auf und verlies Virtul, als hätte es sie nie gegeben. Ihre Stimme hallte noch nach, bis auch diese verwehte: »Es ist ganz allein deine Entscheidung! Marko Zarkowitzky, triff die richtige Wahl!«

Diagnostischer Kommentar

Die vorläufige Verdachtsdiagnose des Notarztes, der Marko Zarkowitzky dehydriert und auf dem Boden in seiner Wohnung liegend vorfand, trifft es: hochgradige Spielsucht, kombiniert mit massiver körperlicher Vernachlässigung. Eben ein guter Notarzt.

In der ICD-10 ist die Computerspielsucht noch nicht erfasst; sie wird erst in der nächsten Ausgabe, in der ICD-11, codiert sein.

Zu den F-Diagnosen passt am ehesten die F63.0, das pathologische Spielen (bzw. die Kategorie Sonstiges, F63.8). Damit ist zwanghaftes Spielen gemeint, auch als Glücksspielsucht bekannt, also das Zocken an Glücksspielautomaten, in Spielhallen (oder -höllen?), aber auch das Verspielen von Geld in Wettbüros, etwa im Rahmen von Sportwetten, bis hin zum exzessiven Lottospielen und der wiederholten Teilnahme an (illegalen) Pokerrunden.

Dreht sich im Leben des Betroffenen alles nur noch ums Spielen, vernachlässigt er also seine sozialen Kontakte oder verschuldet sich immer mehr, um Einsätze machen zu können, kann er deswegen seinem Job nicht mehr nachgehen oder werden Ehe und Familie dadurch zerrüttet, liegt ein sehr ernstes Problem vor, das ähnlich schwer zu behandeln ist wie andere Süchte.

Interessanterweise wird das pathologische Spielen in der ICD-10 nicht den Abhängigkeitserkrankungen, sondern den Störungen der Impulskontrolle zugeordnet.

Online- bzw. Computerspielsucht weist ähnliche Charakteristika auf. In der kommenden ICD-11 wird sie als 6C51 diagnostiziert werden: »Gaming disorder«. Auf gut Deutsch: Computerspielsucht bzw. Internetabhängigkeit, also auch zwanghaftes Video- und Onlinespielen (vgl. hierzu auch den diagnostischen Kommentar zur Story »Game Over & Out« von Aiki Mira).

Monika Niehaus: Der Fall Häwelmann

»Hohes Gericht! Ich werde scheußlicher Verbrechen beschuldigt, und ich gebe freimütig zu, dass ich sie begangen habe, aber bin ich deshalb auch schuldig?«

Der Angeklagte mochte Mitte zwanzig sein, wirkte aber noch immer recht kindlich mit seinem blonden Haarschopf und den großen blauen Augen, die ein wenig verwundert in die Welt zu blicken schienen.

»Sie sind mir entgegengekommen und haben die Verhandlung in die Nacht verlegt, und im Gegenzug habe ich Ihnen völlige Offenheit versprochen. Schaut aus dem Fenster, Euer Ehren. Seht Ihr den guten alten Mond, wie Ihr ihn nennt, mit seinem freundlichen Gesicht? Nun, ich habe seine andere, ich habe die böse Seite des Mondes kennengelernt. Meine Mondhörigkeit, hohes Gericht, wurzelt in meiner Kindheit.

Damals, ich war kaum drei Jahre alt, entführte mich der Mond auf einem Strahl, den er durchs Schlüsselloch schickte, aus meinem Zimmer. Er lotste mich aus eitler Lust quer durch die Stadt, den Wald und schließlich bis in den Himmel, wo ich mich nur dadurch aus seinem Bann befreien konnte, dass ich ihm quer übers Gesicht fuhr, was, das gebe ich freimütig zu, einige Narben hinterließ. Daraufhin schleuderte er mich voll Zorn ins Meer.

Schaut aus dem Fenster, Euer Ehren, findet Ihr nicht, dass der Mond schon viel größer geworden ist, fast ein Viertel des Himmels einnimmt?

Ich wurde durch einen glücklichen Zufall gerettet, aber seitdem verfolgt mich der Mond, der gute alte Mond, wie Ihr ihn nennt, mit seiner Rache. Zunächst waren es Katzen, deren Augen bekanntlich im Mondlicht illuminieren, die er mich umzubringen zwang. Dann hetzte er mich auf größere Beute wie Mondkälber, noch feucht von der Milch ihrer Mutter. Schaut aus dem Fenster, Euer Ehren, findet Ihr nicht, dass der Mond jetzt gut die Hälfte des Himmels einnimmt?

Doch bald genügte ihm auch das nicht mehr, ihn gelüstete nach jungen Mädchen, und gehorsam schnitt ich ihnen mit einer Mondsichel die Kehle durch, sodass er ihr silbernes Blut trinken konnte. Ihr müsst mir glauben, Euer Ehren, es war nicht mein freier Wille, der gute alte Mond, wie ihr ihn nennt, hat mich dazu gezwungen. Schaut aus dem Fenster, Euer Ehren, findet Ihr nicht, dass der Mond noch viel größer geworden ist und nun den ganzen Himmel einnimmt?

Die Männer dort mit der Zwangsjacke werdet Ihr nicht brauchen, Euer Ehren. Seht Ihr denn nicht, dass der gute alte Mond im Begriff ist, sich auf die Erde zu stürzen … stürzen … stürzen … stürzen … stürzen …«

Diagnostischer Kommentar

Wer hätte gedacht, dass die kürzeste Story den längsten diagnostischen Kommentar hervorbringt? Aber so ist es!

Die Geschichte ist eine Neuinterpretation des Märchens »Der kleine Häwelmann« von Theodor Storm. Sie weist fantastische Elemente auf, die streng genommen nicht der Science-Fiction zuzuordnen sind, obwohl eine Mondfahrt vorliegt.

Dieser diagnostische Kommentar stellt eine Ausnahme dar, die sich vor allem auf seine Länge bezieht, aber auch darauf, dass hier deutlich mehr Experten ihre Einschätzung abgegeben haben. Mir war es wichtig, anhand des Falls Häwelmann den Leser daran teilhaben zu lassen, wie schwierig sich die Differenzialdiagnostik zuweilen gestalten kann.

Fangen wir an!

Wir haben in der Story einen Protagonisten, Häwelmann, der behauptet, er verübe Morde, weil er sich vom Mond seit seiner Kindheit verfolgt fühlt und dieser ihm die Morde befohlen hat. Ich gehe zunächst von einem einfachen Wahn, einem Beeinflussungswahn, und visuellen Halluzinationen aus und ziehe als infrage kommende Diagnosen F22.0, die wahnhafte Störung, und F20.0, die paranoide Schizophrenie, in Betracht. Aber fachliche Zweifel nagen an mir. Deshalb ziehe ich Kollegen zurate.

Ein psychotherapeutischer Kollege antwortet mir bestätigend: »Wegen des Beeinflussungswahns würde ich eher auf F22.0 tippen.« Klingt einleuchtend, denke ich mir. Dann ist die Sache wohl geritzt. Von wegen!

Ein anderer Kollege, Jan Cernohorsky, Oberarzt in einer Psychiatrie, antwortet ungleich ausführlicher: »Die F22, also eine anhaltende wahnhafte Störung, wäre es nur dann, wenn Herr Häwelmann in anderen Lebensbereichen relativ strukturiert und beieinander ist. Abgesehen von dem Wahn, der zu den Morden führt, weist Häwelmann jedoch kaum Auffälligkeiten auf, erst recht keine Bizarrheit im Verhalten, wie es wiederum bei einer Schizophrenie zu erwarten wäre.

Die anhaltende wahnhafte Störung ist ein Zustand, der nach einer langsamen psychotischen Entwicklung, typischerweise um das vierzigste Lebensjahr herum, erreicht wird.

Außerdem muss Wahn von Halluzinationen unterschieden werden. Wenn Häwelmann tatsächlich imperative, also befehlende Stimmen hört, ist die Diagnose F22 wiederum eher unwahrscheinlich, denn bei ihr treten meist keine Halluzinationen auf, auch keine visuellen.

Solche imperativen Halluzinationen, wie sie in der Geschichte beschrieben werden, habe ich jedoch bisher noch nie gehört. In aller Regel entstammen die Befehle einer oder mehrerer Stimmen im Kopf des Betroffenen. Hier den Mond als Stimmengeber zu benennen, erscheint mir in der Funktion, belastende Emotionen abzuwehren, als zu lasch.

Eine Gedankeneingebung als weiteres mögliches Wahnsymptom ist für die F22 ebenso unwahrscheinlich wie die Behauptung, das hätte schon in der Kindheit seinen Anfang genommen.

Die innere Denkstruktur bei einem Patienten mit der Diagnose F22 versucht man, als Diagnostiker zu verstehen. Meist gelingt das auch nach einiger Zeit – im Gegensatz zur F20, zur Schizophrenie, wo sogar jedem Laien meist sofort klar wird, dass vernünftige Gespräche unmöglich sind und der Erkrankte sofortige psychiatrische Hilfe benötigt. Die F20 fängt allerdings abrupt an, passt also ebenfalls nicht zu den Beschreibungen in der Geschichte.

Dass Häwelmann fünfundzwanzig Jahre alt ist, spricht gegen die F22, die anhaltende wahnhafte Störung. Die Geschichte ist zu abenteuerlich.

Und jemand mit dieser Störung würde wahrscheinlich keine Morde verüben, schon gar nicht ritualisiert, wie es in der Geschichte mit der Reihenfolge Katze – Kalb – Mädchen angedeutet wird. Das ergibt keinen Sinn und entspricht auch nicht der inneren Wahnlogik. Personen mit F22 haben einen fixen Wahn, der sich nicht entwickelt.«

Das ist viel Input. Ich höre heraus, dass sich Cernohorsky mehr gegen die F22.0 als gegen die F20, eine Schizophrenie, ausspricht. Oder?

»In der Erzählung gibt es vier Punkte, die mich auch hinsichtlich einer endogenen Psychose, also einer Schizophrenie, stutzig machen. Erstens: Warum sollte Häwelmann Offenheit versprechen? Ein Schizophrener ist einfach offen, weil er die Wahrheit verkündet. Die Möglichkeit, jemand könnte das, was er erzählt, infrage stellen, existiert für ihn nicht.

Zweitens: Seine moralische Einschätzung ich gebe zu, ich habe scheußliche Verbrechen begangen passt ebenfalls nicht zum Symptombild. Beim Schizophrenen mit Wahn ist die Moral als Über-Ich-Struktur als Erstes ausgeblendet. Außerdem erinnert sich ein Schizophrener nicht an seine Taten, die er während der psychotischen Phase verübt hat. Dieses Bekenntnis würde ich als Zeichen seiner Zurechnungsfähigkeit betrachten.

Drittens: Seine Aussage Sie sind mir entgegengekommen als spontanes Zeichen der Dankbarkeit ist bei Schizophrenie und bei als real erlebter Verfolgung ebenfalls Unsinn.

Viertens: Warum behauptet Häwelmann, die Männer dort mit der Zwangsjacke werdet Ihr nicht brauchen?

Wenn er wirklich solch eine Vernichtungsangst hätte, dass der Mond auf die Erde stürzt, würde er sich anders ausdrücken. Sicher würde er sich nicht mit seinen Gedanken bei den nichtigen Männern aufhalten, die regungslos und gelangweilt dastehen und irgendwo eine Zwangsjacke versteckt haben. Seine Gedanken würden sich vielmehr mit etwas Großem, wie dem Mond, beschäftigen, denn jeder Wahn hat etwas Überwertiges.«

Jetzt habe ich den diagnostischen Salat, denke ich. Es wird immer komplizierter. Die analytischen Begrifflichkeiten erschaffen zudem eine ganz eigene Vorstellungswelt. Aber es kommt noch überraschender. Cernohorsky fährt fort:

»Wäre ich Beisitzer bei dieser Gerichtsverhandlung, müsste ich in der Gegenübertragung schmunzeln, nach dem Motto: Meint Häwelmann das ernst, oder möchte er uns verarschen? Ein Patient mit F20, einer Schizophrenie, wäre im Auftreten gröber, mit viel mehr Unruhe und Aggressivität. Dann müsste in der Gegenübertragung bei mir aber ein Gefühl entstehen, dass das, was er erzählt, wirr und destruktiv ist. Stattdessen beschleicht mich das Gefühl, dass er gezielt und manipulativ berichtet.«

Nun gut, denke ich, ich benötige jetzt eine Komplexitätsreduktion. Ich vereinfache für mich selbst: Gegen F22 sprechen Häwelmanns Alter und das Groteske in seiner vorgetragenen Geschichte. Gegen F20 sprechen sogar noch mehr Punkte. Sollte ich mich als Mitherausgeber und Psychotherapeut nun für die F22 entscheiden, sozusagen als das kleinere Übel?

Cernohorskys nüchterne Antwort: »Anhand der Angaben in der Erzählung lässt sich das nicht entscheiden.« Na toll!

Er setzt sogar noch einen drauf und bringt eine weitere mögliche Diagnose ins Spiel: »Da ist ja auch noch die Beobachtung, wie Häwelmann mit Worten (und Menschen) spielt. Allein schon die Ansprache Euer Ehren. Alles, was er sagt, spricht er wohlüberlegt aus, vorwegnehmend, wie seine Worte auf andere wirken werden.

Da zudem keine formale Denkstörung vorliegt, würde ich zur Diagnose einer Psychopathie neigen, also zur F60.2, der dissozialen Persönlichkeitsstörung, mit psychogen bedingter psychotischer Distorsion der Realität, die – rein psychopathologisch – den Ausdruck in einem Verfolgungswahn findet.

Streng genommen liegt keine Gedankeneingebung vor, Häwelmann kommuniziert mit dem Mond nicht, es liegen auch keine visuellen Halluzinationen vor, nur eine Wahnwahrnehmung, nämlich dass der Mond immer größer wird, was jedoch eine inhaltliche Denkstörung im Sinne des Verfolgungswahns ist.

Häwelmann erlebt die Verfolgung nicht seit seiner Kindheit. Diese Behauptung ist unbewusst erfunden, er bettet sie erst später in seine Erzählung ein.

So gefragt sehe ich vor Augen einen Serienmörder mit Verhaltensstörungen in der Kindheit, in der er bereits Katzen tötete.«

Diese Diagnose stellt eine überraschende Wendung dar. Soweit Kollege Cernohorsky.

Wenn Sie, lieber Leser, die diagnostische Odyssee weiterverfolgen möchten, bietet die Autorin Nora Hein, tätig in einer forensischen Psychiatrie und Psychologische Psychotherapeutin in Ausbildung, eine Fortsetzung an.

Ihre Notizen zum Fall Häwelmann lauten wie folgt: »Gedanklich geordneter Mitte-20-Jähriger. Störungsbeginn im Alter von drei Jahren. Wahnhaft (Verfolgungswahn), optische Halluzination (Wachstum des Mondes), selbsterhöhend (agiert Narzissmus sogar vor Gericht aus, ist dabei sehr manipulativ – Gericht tagt wegen ihm nachts).

In seiner Sprechart selbstdarstellerisch, dabei stringente, gebildete Sprache, gedanklich nicht zerfahren, keine Gedankensprünge. Zwar keine verwaschene Sprache, gleichwohl kataton anmutende Wiederholung des Wortes stürzen.

Kein Schuldbewusstsein, Selbstverständnis von Opferrolle (eigene vermeintliche Entführung als Kind im Zusammenhang mit späteren Morden), Abwendung der eigenen Schuld auf Wahnidee, Abwertung der Opfer (mit Mondkalb könnte ein dummer, einfältiger Mensch gemeint sein).

Die vorgenannten ICD-10-Diagnosen F20 und F22 sind für mich ebenfalls fraglich, allerdings auch die F60.2 mit psychotischer Distorsion. In weiten Teilen schließe ich mich dem Kollegen Cernohorsky an. Für die F20 ist das gesamte Funktionsniveau zu hoch und die offenkundigen persönlichkeitsstilistischen Probleme wären hierbei nicht abgedeckt. Auch die Taten (Töten mit einem sichelförmigen Messer) sind symbolisch zu durchdacht und geordnet (nachts losgehen, um zu töten) für eine übliche Tat eines an F20 Erkrankten.

F22, die wahnhafte Störung, ist bei Halluzinationen auszuschließen. Häwelmann berichtet imperative Verhaltensaufforderungen (unklar bleibt, ob optisch oder akustisch) durch den Mond.«

Hein favorisiert die F21, die schizotype (Persönlichkeits-)Störung. Wörtlich steht in der ICD-10: »Eine Störung mit exzentrischem Verhalten und Anomalien des Denkens und der Stimmung, die schizophren wirken, obwohl nie eindeutige und charakteristische schizophrene Symptome aufgetreten sind. Es kommen vor: ein kalter Affekt, Anhedonie und seltsames und exzentrisches Verhalten, Tendenz zu sozialem Rückzug, paranoische oder bizarre Ideen, die aber nicht bis zu eigentlichen Wahnvorstellungen gehen, zwanghaftes Grübeln, Denk- und Wahrnehmungsstörungen, gelegentlich vorübergehende, quasipsychotische Episoden mit intensiven Illusionen, akustischen oder anderen Halluzinationen und wahnähnlichen Ideen, meist ohne äußere Veranlassung. Es lässt sich kein klarer Beginn feststellen; Entwicklung und Verlauf entsprechen gewöhnlich einer Persönlichkeitsstörung.«

Nora Hein sieht bei Häwelmann viele dieser Beschreibungen als zutreffend an. Sie argumentiert weiter: »Es ist wie eine Pseudoschizophrenie. Oder auch eine pseudopsychopathische Schizophrenie, die gekünstelte, pathetische Sprechweise, seine ungewöhnlichen Überzeugungen, das ganze, exzentrische Sonderlingsverhalten … Kurz: Wir haben bei der genauen Beschreibung dieser Diagnose ganz klar die Aspekte, die Cernohorsky mit der F60.2 und der psychotischen Distorsion hervorheben wollte.«

Ihrer Meinung nach werden vor allem die frühkindliche Entstehungsgeschichte und das klinische Bild, das ein Zusammenspiel aus affektiver Kühle, gekünstelter Sprechweise, manierierten Äußerungen sowie paranoiden Wahnideen präsentiert, am ehesten durch die F21-Diagnose gespiegelt.

Ich bin sprachlos über diese Wendung. Aber die Herleitung klingt nachvollziehbar. Also spricht mehr für die Diagnose einer schizotypen Störung (F21) als für eine dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2)?

Geben wir Jan Cernohorsky die Möglichkeit, zu Frau Heins Ausführungen Stellung zu beziehen. In vielen Punkten stimmt er ihrer Einschätzung zu: »Richtigstellen möchte ich allerdings, dass die von Häwelmann beschriebene Wahrnehmung des Mondes keine Halluzinationen sind, sondern inhaltliche Denkstörungen beziehungsweise Wahnwahrnehmungen. Die Mondwahrnehmung ist eine stark narzisstisch gesättigte Beziehungsfantasie, nahe einem Größenwahn, die die Größe und Bedeutsamkeit des Gedankenautors spiegelt.

Zwar wird die F21 selten vergeben, aber sie könnte tatsächlich gut passen. Auch Häwelmanns Pseudophilosophieren über Moral würde hierzu besser passen; für eine F60.2 wäre dieses Verhalten tatsächlich zu bizarr.

Psychodynamisch gesehen, also ohne Beschränkung auf eine deskriptive ICD- oder DSM-Diagnose, könnte man über einen malignen Narzissmus nach Kernberg sprechen, der nah einer atypischen Psychose ist. Bestimmt wird Häwelmann in jungen Jahren frühkindliche Traumatisierungen erfahren haben, vielleicht eine Bindungsstörung nach Bowlby.

Gut ist die Beobachtung der Kollegin hinsichtlich der Wiederholung des Wortes stürzen, als wäre Häwelmann in Trance und abgekoppelt von der Realität. Auch das ist wieder etwas Bizarres, Rituelles, Magisches …

Wenn ich mir den Vergleich mit Hannibal Lecter in der Filmreihe, gespielt von Anthony Hopkins, erlaube, so fällt mir auf, dass dessen Augen kalt, leer und gefährlich aussehen. Die von Häwelmann hingegen blicken verwundert; er wirkt kindlich. Wir wissen nicht genau, wie Häwelmann das Morden erlebt, also ob das, was er erzählt, eher seiner Selbstdarstellung zuzuschreiben ist oder ob er tatsächlich emotionslos ist. Ist die Verwendung des Begriffs Mondkälber verachtend gemeint?

Ich denke, die Diagnosen F60.2 und F21 liegen nicht allzu weit auseinander. Im DSM-V (siehe Vorwort) gehört die F21 wie die F60.2 zu den Persönlichkeitsstörungen: die schizotype oder schizotypische Persönlichkeitsstörung.

Legt man diagnostisch den Schwerpunkt auf das Bizarre, die Exzentrik, das magische Denken und die vage, gekünstelte Sprache, würde ich tatsächlich ebenfalls die F21 in Erwägung ziehen.«

Ich bin erfreut und endlich zufrieden: Zwei Psychoseexperten nähern sich in ihrer Einschätzung an und einigen sich zu guter Letzt auf eine Diagnose.

Wie schon im Vorwort erwähnt, liegt bei einigen Erzählungen dieser Anthologie das Hauptproblem der Diagnosefindung natürlich in den wenigen zur Verfügung stehenden diagnostischen Informationen, die wir ausschließlich dem geschriebenen Wort der Geschichte entnehmen müssen. Und diese Story ist zudem besonders kurz. Man könnte sagen: Je weniger Informationen vorliegen, desto schwieriger ist es, eine sichere Diagnose zu stellen, und desto mehr interpretativen Spielraum gibt es.

Eine Klarheit bringende diagnostische Befragung des Patienten Häwelmann ist uns leider nicht möglich, ebenso nicht, Rückschlüsse aus weiteren Beobachtungen seines Verhaltens zu ziehen oder Auffälligkeiten in der Interaktion mit ihm zu erkennen. Insofern stehen uns Psychotherapeuten, Psychiatern etc. im Behandlungszimmer deutlich bessere Möglichkeiten einer verlässlichen Diagnostik zur Verfügung.

Monika Niehaus, die Autorin von »Der Fall Häwelmann«, verfolgte den Entstehungsprozess dieses diagnostischen Kommentars. »Mon dieu, was habe ich dir und euch mit dem Häwelmann angetan! Für mich stand die literarische Figur, die Story, im Vordergrund.