Diagnose Seelenkrebs - Mike Almara - E-Book

Diagnose Seelenkrebs E-Book

Mike Almara

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Beschreibung

Die Geschichte vom Überleben des Robert Winterkorn ist eine spannende - in vielen Situationen tragikomische - Geschichte, die mitreißt in ein von Robert seelisch als grau empfundenes und trotzdem in all seinen Facetten buntes Leben. Sie zeigt, dass Robert trotz seines Leidens niemals aufgibt. Nicht zuletzt ist es eine Geschichte, die einige skurrile Auswüchse der letzten zwanzig Jahre in psychiatrischen und alternativen Therapien karikiert, ohne dabei die bemühten Therapeuten anzugreifen. In dem Tagebuch des Überlebens werden alle Begegnungen genau beobachtet und in allen absurden Details geschildert. Auf Roberts Psyche wachsen eines Tages »Geschwüre« des »Seelenkrebses«, wie er selbst seine Erkrankung im Laufe der Jahre nennt. Die Schilderung seines Lebens zwischen Alltag und Therapien zeigt eine andere Welt, die neben der sogenannten »Normalität« existiert, eine Welt der Hilflosigkeit Roberts und seiner Therapeuten sowie des weitgehenden Unverständnisses seines Umfeldes. Robert begegnet seinem schwierigen Alltag trotz aller Qualen und seiner Verzweiflung mit seinem unerschütterlichen ironischem Humor und seinem festen Glauben an Gottes Sohn, Jesus Christus. Dies hält ihn am Leben, während alle Medikamente nur eine geringe Linderung bringen. Er leidet unter starken körperlichen Schmerzen, Schwächezuständen, Schlaflosigkeit und quälenden Angstattacken. Bekommt Robert die Chance zur Heilung? Strategien zum Bewahren der Hoffnung werden aus der Not geboren mit der Kraft einer höheren Macht, denn die Hoffnung stirbt immer zuletzt. Ein wichtiges Buch für Betroffene, Angehörige und Therapeuten.

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Gewidmet

Jesus von Nazareth,

Manfred, Werner und Gertraut Matern,

Hans Endres

sowie

stellvertretend für alle Mitmenschen,

die die Qualen des »Seelenkrebses«

nicht mehr ertragen konnten,

die uns vorangegangen sind

und nun mehr wissen, als die Klügsten unter uns:

Eugenia »Jenny« Hana

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Der Blitz aus heiterem Himmel

Abgestempelt

Liquor bringt Klarheit

Psycho und Therapie

Weg zu Jesus mit der großen Liebe

Der Palladium-Professor

Zahnlos verloren

Elektrok(r)ampf

Zwischen innerer Heilung und Befreiungsdienst

Kampf mit Pfunden und Befunden

Vor Gott verheiratet

Jesus heilt, wenn er will

Mobil mit Einschränkung

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Am Ende ein neuer Anfang

Zurück im Reich der Weißkittelträger

Abschiede

Zwanzig Jahre Seelenkrebs

Epilog

Wissenschaftlicher Anhang

Prolog

Die Geschichte entsteht wie ein Tagebuch aus der Erinnerung. Ich schreibe sie mit meinem alten Schulfreund Roger, denn ich alleine hätte nicht mehr die Kraft dafür.

In meiner - vielmehr unserer - Geschichte heiße ich Robert Winterkorn. Ich bin Langzeitüberlebender einer sehr schweren Erkrankung. Manchmal sehe ich mich als Baum. Wenn ich mich so sehe, dann kann ich mich noch genau daran erinnern, wie ich mich gefühlt habe, als ich klein war. Ich war ein winziges Pflänzchen. Als ich eingepflanzt wurde, musste man mich mit Stäben stützen, damit ich nicht umfalle und gerade wachse. Mit den Jahren wurde ich immer größer. In meiner Vision bin ich mittlerweile schon über hundert Jahre alt. Die Menschen nennen mich eine Eiche. Ich habe unzählige Frühjahre, Sommer, Herbste und Winter erlebt. Es ist immer wieder schön, wenn meine Äste im Frühling Knospen bekommen, wenn sie im Sommer in voller Blüte stehen und die Vögel ihre Nester darin bauen. Im Herbst haben meine Blätter schöne Farben und fallen langsam ab. Es schmerzt etwas, wenn ich sie zu Boden schweben sehe und Abschied von ihnen nehmen muss. Im Winter trage ich ein dürres Kleid. Meine Äste werden dann vom Schnee bedeckt und von seiner schweren Last zu Boden gedrückt.

Mein Stamm ist ziemlich dick. Viele Liebespaare haben ein Herz und ihre Initialen in meine feste Rinde eingeritzt. Auch sonst habe ich schon viele schöne Dinge erlebt. Ich stehe hier so ziemlich alleine, weit weg von den anderen Bäumen, die auf der großen Wiese weit verstreut stehen. Man hat sogar eine Bank an meinen Stamm gestellt, damit sich die Wanderer auf ihren langen Wegen in meinem kühlen Schatten etwas ausruhen können und in diesem kühlen Schatten etwas Erfrischung und Erholung für ihren weiteren Wanderweg finden.

Doch heute sehe ich, der Baum, plötzlich diese unbekannten Tiere aus Eisen in meine Nähe kommen. Einige meiner Freunde haben sie schon umgehauen und ich habe Angst, dass sie mich auch umlegen. Diese »Eisentiere« bauen eine Straße, direkt ein paar Meter von mir entfernt. Seit diese Straße fertig geworden ist, fahren unzählige Autos an mir vorbei. Sie stoßen ihren Dreck in den Himmel und gegen mich. Es ist Abend geworden und es regnet sehr stark. Da kommt dieses Auto mit den drei jungen Leuten. Sie knallen mit ihrem Wagen voll in mich hinein.

Ein Teil meiner Rinde ist jetzt kaputt. Aber was ist das schon, gegen die drei jungen Menschenleben. Ich kann doch nicht ausweichen. Ich sehe sie nur auf mich zukommen und in mich hinein knallen. Ich werde durch den Aufprall regelrecht durchgeschüttelt, aber meine starken Wurzeln halten mich fest. Es tut mir sehr, sehr leid, aber ich kann einfach nichts machen! Kann mich keinen Millimeter bewegen, um auf die Seite zu gehen, auszuweichen, um das Leben dieser drei jungen Menschen zu retten. Ich bin sehr traurig. Ich bin ein Mörder und wünsche mir, dass jetzt diese unbekannten Stahltiere der Menschen kommen, um mich umzulegen.

So fühle ich mich, wenn ich mich als Baum fühle, wenn ich das Leben wieder nicht aushalte. Doch was ist die Alternative, wenn man das Leben nicht mehr aushält? Ich bin ein Mensch und ich will überleben. Viele boten mir schon Lösungen an, doch ich habe noch nicht die geeigneten Probleme dazu gefunden.

Robert im 47. Lebensjahr

Tag 7306

Das Ende ist immer auch der Anfang.

»Sie müssen wissen: mir ist grad eingefallen, dass sich der Freitag, an dem alles begann, heute das zwanzigste Mal jährt. Das ist doch ein seltsamer Zufall, nicht wahr, Herr Elia?« Robert dreht seinen Kopf dem Anästhesisten zu, der sich gerade anschickt, ihn vor dem Eingriff in das Land der Träume zu schicken.

»In der Tat, wenn das mal kein gutes Omen ist. In sechs Wochen haben wir schon wieder Ostern. Die Zeit vergeht.«

»Ja und spätestens sechs Wochen nach der OP, sagten Sie, kann man sehen, ob das Ganze Erfolg hatte, nicht wahr? Das wird wie eine Auferstehung sein. Ich bete jeden Tag dafür, dass alles gut klappt mit dem Eingriff.«

Der Chirurg beugt sich über Robert, zieht das grüne OP-Tuch zurecht, streicht über die grünen Schnittmarkierungen am Hals und beruhigt ihn.

»Wird schon schiefgehen!«

Der Blitz aus heiterem Himmel

Tag 1

Ein Freitag, wie jeder andere der Freitage vorher. So scheint es für Robert Winterkorn, jedenfalls bis zu seinem Feierabend. Freuen auf das Wochenende. Robert hat wieder 11 Stunden anstrengende Büroarbeit beim Ministerium hinter sich, da er derzeit bereits um 6.00 Uhr freiwillig den Dienst antritt. Krankheitsvertretung in der Beschwerdestelle und aufreibende Auseinandersetzungen mit den Kollegen, wieder mal. Bald ist er zehn Jahre dabei. Mit 17 hat er seine Beamtenlaufbahn im mittleren nichttechnischen Verwaltungsdienst - wie es in der trockenen Amtssprache heißt - begonnen.

Die fünf Treppenstufen zum Hochparterre nimmt der hagere Freizeitsportler mit zwei Schritten. Es ist bereits 18.00 Uhr, als er den Schlüssel in das Türschloss des Genossenschaftshauses in Augsburg-Oberhausen steckt und sein 35-qm-Single-Appartement betritt. Robert streicht sich durch das dichte schwarze Haar und schaltet das Fernsehgerät an. Während der Nachrichtensprecher von der »Organisation Wiedergeburt« der Russlanddeutschen berichtet, die eine Wiederherstellung der autonomen Wolgarepublik verlangt, zieht er sich um. Beim Hochziehen der Jogginghose stolpert er, kann sich aber noch am Wohnzimmertisch abfangen.

Nachdem er mit der Fernbedienung die Lautstärke des Fernsehers erhöht hat, schaltet er das Licht in der Küche an und öffnet den Kühlschrank. Der Tagesschausprecher fährt fort: »Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erklärt das in Deutschland geltende Namensrecht, nach dem die Frau bei der Heirat den Nachnamen des Mannes annehmen muss, wenn sich beide nicht auf einen Namen einigen, für verfassungswidrig.«

Auf dem Tisch liegt der umgefallene Bilderrahmen mit dem Foto seiner Freundin Angela, die seit zweieinhalb Jahren die kleine Einzimmerwohnung mit ihm teilt, was natürlich immer wieder zu Spannungen führt. Robert richtet das Bild wieder auf und betrachtet es sinnierend.

»Ich werde auf jeden Fall meinen Namen behalten, sollte ich dich denn wirklich einmal heiraten, irgendwann! Ach, wo du nur wieder bleibst, müsstest eigentlich schon seit einer halben Stunde da sein. So was von unzuverlässig, diese Frau! Egal, dann mache ich mir eben alleine mein Abendbrot. Hab schon einen Mordshunger!«

Während der Sprecher verkündet, dass der am 12. September letzten Jahres von der DDR und der Bundesrepublik Deutschland sowie Frankreich, Großbritannien, der Sowjetunion und den USA abgeschlossene Zwei-plus-Vier-Vertrag heute in Kraft trete und damit der Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands endlich frei sei, achtelt Robert eine Tomate und bestreicht zwei Scheiben Vollkornbrot mit Streichkäse. Mit dem Teller und einer Flasche Cola setzt er sich auf das Sofa und isst. In den Nachrichten wird ein Foto des ehemaligen Staatschefs der DDR eingeblendet.

Der Fernsehsprecher kommentiert: »Erich Honecker wird aus dem sowjetischen Militärhospital Beelitz nach Moskau gebracht, um seine Verhaftung zu verhindern. Ihm wird vorgeworfen, an der Errichtung und am Ausbau der innerdeutschen Grenze beteiligt und für die Tötung von Menschen an der innerdeutschen Grenze verantwortlich zu sein.«

Robert wird wütend. »Recht so, dieses Arschloch! Mein Chef ist genauso ein Typ. Könnte auch bei der Stasi gewesen sein!« Robert legt sich nach der Mahlzeit und einem kräftigen Schluck Cola auf das Sofa. Er schließt die Augen und döst vor sich hin. Seit Wochen ist er ziemlich müde und abgeschlagen, sieht Doppelbilder und hat auch immer wieder Durchfall. Die ständigen persönlichen Angriffe der Kollegen in seiner Arbeitsgruppe schlagen ihm auf die Verdauung.

»Vielleicht doch wieder so ´ne blöde Grippe ...«, murmelt er, bevor er einnickt. Kurz darauf wird er von der Türglocke aus dem Halbschlaf gerissen. Er schaut auf seine silberne Armbanduhr, einem Geschenk seiner Eltern zu seinem letzten Geburtstag.

»Schon zehn vor Sieben, hat sie wieder ihren Schlüssel nicht dabei!«, seufzt er gähnend, macht die Tür auf und legt sich wieder hin. Angela kommt herein, schließt die Tür und schüttelt einige Schneeflocken aus ihren langen schwarzen Haaren.

»Hallo Schatz! Ein richtiges Aprilwetter ist das heut wieder, erst Sonne, dann Schnee. Hab dich wohl geweckt?«

»Nein .., ja .., ist schon ok. Wollte ja Herzblatt anschauen.« Robert gähnt.

»Ich hab ganz schön Hunger, seit Mittag nichts gegessen. Hast du schon was gegessen?« Angela geht in die Küche.

»Ja, es ist noch Thunfisch da und Tomaten!« Robert gähnt fortwährend und zappt dabei mit der Fernbedienung durch das Programm. Angela stürzt die Dose Thunfisch auf ihren Teller, legt die Tomate dazu, gießt sich eine Apfelschorle in ein Weißbierglas und setzt sich in den Sessel.

»Ich hab heut einen Termin beim Architekten ausgemacht für Freitag nächste Woche, wegen dem Speicherausbau bei Mama und Papa!«, sagt sie kauend. »Meine Eltern haben mir die Zehntausend schon zugesichert, dann brauchen wir nur noch dreißigtausend Mark aufzunehmen. Lass uns morgen früh gleich nach Herrgottsruh fahren, um die Zimmer unserer Wohnung auszumessen.«

»Wieso pressiert es dir denn so, wir werden noch früh genug nach Niederbayern ziehen. Ich muss das mit der Versetzung doch erst noch mit meinem Dienstherrn abklären und außerdem fahre ich morgen nirgendwo hin, sondern ruhe mich aus.« Angela fixiert Robert über 10 Sekunden lang und presst die Lippen aufeinander.

»Okay, dann nimmst du halt am nächsten Freitag frei und wir fahren gleich in der Früh los, damit wir möglichst viel erledigen können. Wenn meine Eltern schon mal so großzügig sind, müssen wir das doch auch nützen, gell?«

»Ausnützen, wolltest du wohl sagen?«

Angela zuckt mit den Schultern und schaut auf die Wanduhr.

»Oh, es ist schon nach Sieben, ich muss Mama noch anrufen.« Während Robert das Sweatshirt auszieht, da er zu schwitzen beginnt, greift Angela zum Telefon und wählt. Gleich darauf geht sie in die Küche und spricht mit ihrer Mutter. Robert kauert sich auf dem Sofa zusammen und zapt weiter durch das Programm. Nach zehn Minuten bilden sich auf seiner Stirn Schweißperlen und rinnen über das bleiche Gesicht. Er versucht aufzustehen, schafft es aber nicht. Plötzlich verdreht er die Augen, greift sich ans Herz und stöhnt.

»Mir ist auf einmal so schwindlig!« Wortfetzen aus dem Fernsehprogramm mischen sich mit den entsetzten Schreien Angelas, die ihn heftig rüttelt.

»Was ist mit dir, Robert? Was hast du plötzlich?«

»Ich weiß nicht, was los ist ..., das hatte ich noch nie ... der Kreislauf ... Schmerzen ... wird schon wieder gehen ... Meine Devise ist, was mich nicht tötet, macht mich nur härter!«, murmelt Robert matt.

»Nichts da, ich ruf gleich den Arzt. Mit dem Herz ist nicht zu spaßen!« Angela wählt die Nummer des ärztlichen Notdienstes. Robert klagt nun über Herzrasen, zunehmende Schmerzen, erst in der Brust dann im rechten Arm und schließlich überall. Während beide ungeduldig auf den Arzt warten, verschlimmern sich die Beschwerden, es kommen Krämpfe in der Brust hinzu und der Puls rast.

Es ist bereits 22.10 Uhr und Angela ist gerade im Begriff, den Notarzt der Feuerwehr zu rufen, als endlich die diensthabende Medizinerin des ärztlichen Notdienstes eintrifft. Die korpulente Frau entschuldigt sich schwer schnaufend damit, dass sie die Hausnummer nicht gleich gefunden habe und die Beleuchtung an den Hausschildern unzureichend sei. Sie macht ein EKG, um die Herzfunktion zu kontrollieren. Robert starrt auf das Gerät. Dann legt sie die Armmanschette des Blutdruckmessgeräts an und pumpt sie auf. Robert beobachtet ängstlich das Geschehen. Schweiß steht ihm auf der Stirn. Die Augenlider flackern nervös. Plötzlich bäumt er sich kurz auf und verkrampft, während die Luft langsam wieder aus der Manschette entweicht.

»Das Trousseau-Zeichen«, murmelt die nun ebenfalls stark transpirierende Ärztin und schaut sich das EKG an, bis sie mit triumphierendem Blick geradezu aufjuchzt. »Und eine QT-Verlängerung, da haben wir's ja. Bingo! Jetzt noch den Chvostek-Test.« Robert schaut Angela fragend an. Die schüttelt nur den Kopf und beobachtet das seltsame Verhalten der Medizinerin kritisch. Die Ärztin tätschelt Robert nun die Wangen, bis seine Lippen zu zittern beginnen.

Angela schreit sie entgeistert an: »Was machen Sie da mit ihm, sehen Sie nicht, dass er Schmerzen hat, geben Sie ihm nicht eine Spritze? Ist es ein Infarkt? Sagen Sie doch was!«

»Ein Herzinfarkt? Ach woher, machen Sie sich keine Sorgen, ich gebe Ihrem Mann eine Kalziumspritze, dann geht es ihm gleich wieder besser. Hat er das öfters? Nein? Dann sollten Sie regelmäßig Ihren Kalziumspiegel und Ihre Schilddrüsenwerte kontrollieren lassen, Herr Winterkorn. Denn Sie hatten gerade einen tetanischen Anfall aufgrund eines ausgewachsenen Hypoparathyreoidismus.«

»Hypo ..., was?«, keucht Robert.

»Hypoparathyreoidismus ... sorry, Kalziummangel. Eine Schilddrüsen-OP hatten Sie aber noch nicht, oder?«

»Nein, es ist noch alles drin bei mir. Was bedeutet das jetzt? Kann ich morgen wieder arbeiten? Geht das wieder weg?«

»Ja klar, kommt bei ihnen sicher vom Stress und Sie sollten sich mal gründlich durchchecken lassen. Haben Sie denn manchmal auch Angstgefühle?«

»Angst? Na ja .., Höhenangst halt ... Wieso?«, antwortet Robert, während die Ärztin das Kalzium aus der Spritze langsam in seine Vene drückt. Kurz darauf zieht sie die Spritze aus dem Arm.

»Ha, das war´s!«, lacht sie kurz und trocken auf, klappt ihre Tasche zu und überreicht Angela die privatärztliche Quittung für ihren Einsatz.

»Gute Besserung und auf ... Nichtwiedersehen«, ruft sie noch, und ist auch schon zur Tür hinaus.

»Bitte die Rechnung innerhalb der nächsten 14 Tage begleichen«, hallt es noch aus dem Flur.

Der Freitag geht zu Ende. Er hat begonnen wie kein Freitag, ja kein Tag, mehr beginnen soll.

Tag 2

Robert wacht um 5.30 Uhr nach einer unruhigen Nacht mit maximal zwei Stunden Schlaf auf.

»Die Krämpfe!«, flüstert er.

»Ja, die Krämpfe sind tatsächlich weg nach der Spritze. Wie ist es mit den Augen?« Robert knipst die Nachttischlampe an und schaut auf die Uhr.

»Ich erkenne deutlich die Ziffern!«, sagt er sich laut vor. Eigentlich müsste er nun beruhigt sein. Nur das Kalzium, eine Spritze, und alle Symptome verschwinden. Doch ist es wirklich so einfach? Robert versucht aufzustehen, doch er schafft es kaum.

»Verdammt, was ist das nur? Ich fühle mich so schwach, wie nach einem Boxkampf oder einem Marathonlauf!«, ruft er verzweifelt und legt sich wieder auf das Bett. Angela wacht auf und schaut Robert verschlafen an.

»Was ist los? Wie geht es dir?« Robert beginnt unvermittelt an zu weinen.

»Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich kann nicht aufstehen, in meinem Kopf summt es wie in einer Hochspannungsleitung und es knackt immer so komisch. Ich hab Angst, hörst du, unbeschreibliche Angst und ich spüre eine undefinierbare Qual in mir. Diese Ärztin ..! Wer weiß, was die mir gespritzt hat!«

»Ruh´ dich das Wochenende über richtig aus. Wenn es am Montag nicht besser ist, gehst du zu Doc Verdi und lässt dich für die Woche krankschreiben. Wenn es was Ernstes wäre, hätte dich doch die Ärztin in die Klinik eingewiesen.«

»Ich kann mich doch nicht krankschreiben lassen, wer macht dann meine Arbeit?«

Angela versucht ihren Freund zu beruhigen, doch es gelingt ihr nicht. Seine Glieder seien so schwer wie schmiedeeiserne Ketten, beklagt er sich. Er habe sie nicht mehr unter Kontrolle. Er könne nur mühsam von seinem Stuhl aufstehen. Wenn er aufstehe, schleiche er so langsam dahin, dass selbst eine Schnecke ihn überholen könne. Er habe so wenig Kraft, dass er nicht mal das kleine Glas Wasser vom Tisch nehmen könne.

Tag 4

»Was führt Sie zu mir, Herr Winterkorn?«, beginnt Roberts Hausarzt, Dr. Egmond Verdi, seine Untersuchung.

»Hat Sie etwa auch die Grippe erwischt?« Der grauhaarige Mediziner löst den Schal, den er um den Hals gewickelt hat und schnäuzt sich umständlich die rot angeschwollene Nase.

»Nein, Herr Doktor, schlimmer! Erst dachte ich an einen Infekt, dann war es so was wie ein Herzinfarkt. Plötzlich am Freitagabend, wie aus heiterem Himmel. Ich dachte, ich muss sterben.«

»Immer langsam, Herr Winterkorn, so schnell stirbt man nicht!«

»Ich möchte nicht jammern, aber so was hab ich noch nie erlebt, solche Krämpfe, Angst, Herzrasen, Schmerzen, alles zusammen. Die Notärztin hat aber gemeint, es sei nur ein Kalziummangel und kein Infarkt.«

»So so, ein Kalziummangel ... Nun, das kann durchaus solche ... Symptome verursachen. Ist auch gar nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Ich werde Ihnen erstmal ein paar Röhrchen Blut abzapfen lassen, dann sehen wir weiter. Die Schilddrüsenwerte machen wir auch gleich mit. Warten Sie draußen auf meine Assistentin und lassen Sie sich sich anschließend gleich einen Termin für morgen Nachmittag geben. Ich schreib sie erstmal bis nächsten Montag krank. Gute ... Ha ... Haaa ... Hatschiii ... Besserung!«

»Danke, gleichfalls!«

Doc Verdi schnäuzt sich lautstark und reicht Robert die Krankschreibung. Nach der Blutentnahme sieht Robert die Sprechstundenhilfe völlig ermattet an.

»Bitte rufen Sie mir ein Taxi, ich bin nicht in der Lage, alleine zum Bus zu laufen. Jede Bewegung strengt mich an, ich fühle mich wie ferngesteuert, als ob ich überhaupt nicht in meinem Körper wäre. Es ist ... einfach grausam!« Robert sinkt ächzend auf der Couch des Wartezimmers in sich zusammen. Vom bald darauf eintreffenden Taxifahrer lässt er sich hinausführen, nach Augsburg-Oberhausen fahren und direkt vor der Haustür absetzen. Er gibt ihm noch drei Mark Trinkgeld und legt sich, kaum in seinem Appartement angekommen, gleich ins Bett. Er findet keinen Schlaf, da ihn die Angstzustände zittern lassen.

Tag 8

Robert liegt seit Stunden wach im Bett. Um 9.15 Uhr läutet es an der Tür.

Der Postbote meldet von der Haustüre aus: »Einschreiben für Herrn Winterkorn.« Angela öffnet.

»Schatz, du musst selber kommen, unterschreiben, es ist ein Einschreiben für dich, steh bitte auf!«

»Komme gleich, eine Sekunde.« Mühsam rappelt sich Robert hoch, streift sich seine alte löchrige Jogginghose über und schlurft wie ein alter Mann schwer atmend zur Tür. Er quittiert den Empfang des Schreibens, setzt sich auf den Küchenstuhl und reißt mit einem Finger mühsam das Kuvert auf.

Nachdem er den Inhalt des Schreibens kurz überflogen hat, hält er es Angela vor die Nase.

»Du kannst mir gratulieren, Schatz, ich hab nicht nur Geburtstag heut, sondern bin ab jetzt auch Lebenszeitbeamter. Hier ist meine Urkunde!«

»Na, dann kann dir ja jetzt nichts mehr ›passieren‹. Gratuliere, Schatz!«

Angela gibt Robert einen Kuss und schaut ihn strahlend an. »Hab ´ übrigens noch was für dich, das kannst du gleich ausprobieren, dann wirst du sicher bald wieder fit.«

Robert schaut sie müde an und antwortet gequält: »Hoffentlich keine Skier, die kriege ich schon von meinen Eltern. Wir müssen auch noch unser geplantes Skifahren am Wochenende absagen, fällt mir grad ein, Schatz, das schaffe ich beim besten Willen nicht.« Angela greift nach dem Schlüssel am Sideboard.

»Nix Skifahren, ich hab das heute morgen schon storniert. Mit deinen Drogen, die dir der Doc verschrieben hat, dürftest du eh nicht auf die Piste, in dem Zustand, nee, keine Chance. Hab was viel Besseres. Bin kurz im Keller ...« Schon schlägt die Tür zu und Robert schiebt seine Ernennungsurkunde in die unterste Schublade. Kurz darauf schließt Angela die Haustür auf und stellt ein neues neongelbes Mountainbike in das kleine Appartement. Robert schaut desinteressiert auf das Rad.

»Schön!«

Angela drückt die Tür ins Schloss.

»Schön? Das ist alles? Freust du dich denn gar nicht? Das ist das neueste Modell mit 21-Gang-Shimano-Schaltung.«

»Und, was soll ich jetzt in meinem Zustand damit anfangen?«, fragt Robert gequält.

»Na ja, wir wollten doch, wenn du wieder gesund bist, zusammen Touren machen bei meinen Eltern in Herrgottsruh, oder nicht? Probier es halt gleich mal aus, wenn es nicht passen sollte, kann ich es diese Woche noch umtauschen.« Robert steht wortlos auf, zieht seine Winterstiefel an, streift sich den Daunenparka über und packt das Rad. Er schleift es mit Getöse die Treppe hinunter und fährt damit einige Male durch die vom Tauwetter aufgeweichte und matschige Parkanlage vor dem Haus, bis das Rad, seine Stiefel, die Hose und der Parka hinten völlig verschlammt sind. Schwer atmend und schweißnass schleift er das Bike zurück in seine Wohnung, schmeißt es auf den Boden, wirft seine Kleidung darüber, legt sich ins Bett, zieht die Decke hoch bis zur Nase und schließt die Augen. Angela starrt ihn wortlos an, zündet sich eine Zigarette an und öffnet das Küchenfenster. Die Regentropfen sammeln sich im Vorhof auf dem Asphalt zu kleinen Bächen, bis sie sich im Gulli verlieren. Sie beobachtet die Szene gedankenverloren und bläst den Rauch gegen die Scheibe.

»Happy Birthday, Robert!«, flüstert sie frustriert.

Tag 9

Robert sitzt den ganzen Vormittag apathisch vor dem Fernsehgerät und starrt auf die Mattscheibe. Plötzlich schlägt der Arm aus, dann das Bein und es zuckt am ganzen Körper. Er leidet an unkontrollierbaren Muskelbewegungen, die laut Auskunft seines Hausarztes auf das probeweise verabreichte Medikament zurückzuführen seien, das er nun absetzen soll. Nachmittags schleppt sich Robert wieder völlig erschöpft zu Doc Verdi in die Sprechstunde.

»Ich wusste gar nicht, wie viele Muskeln ich besitze und wo diese sich befinden. Ich fühle mich in meinem Körper total gefangen und ausgeliefert. Diese verdammte haushohe Angst lässt mich nicht mehr schlafen. Bitte verschreiben Sie mir etwas dagegen, sonst dreh ich noch völlig durch!« Der Arzt zückt seinen Rezeptblock.

»Gut, ich verschreibe Ihnen nun diese fünf Präparate. Bitte seien Sie vorsichtig bei der Einnahme und richten Sie sich genau an meine Dosierungsvorgabe.«

»Klar Doc, ich halte mich doch immer penibel an Ihre Vorgaben. Bis zum nächsten Mal dann.« Das Taxi wartet bereits vor der Praxis.

Tag 11

Robert sitzt mit Angela im Garten der Genossenschaftsanlage und starrt das vor ihm stehende Glas mit Apfelschorle an. Die Frühjahrssonne hat den Matsch rasch getrocknet. Robert beklagt sich, dass ihm die 23 Grad in der Sonne bereits zu viel seien. Er setzt sich in den Schatten und nuschelt etwas Unverständliches. Angela beugt sich über ihn.

»Ich kann dich kaum verstehen, Schatz! Kannst du etwas deutlicher sprechen?« Robert bemüht sich sichtlich, deutlicher zu artikulieren. Es ist ihm kaum möglich, in seinem Zustand, der nicht nur wegen der Medikamente dem eines Drogensüchtigen ähnelt.

»Ich fühle mich wie total bekifft, Manno!«, murmelt er leise.

»Was? Gift?«, fragt Angela.

»Nein bekifft!«

»Versifft?«

»Nein, bekifft, BEKIFFT , oh Mann!« Die Skurrilität der Situation lässt Robert verzweifelt auflachen.

»Ich kann nich deutlicher sprechen, Schatz. Mein Hirn will trinken, aber mein Körper braucht zehn Minuten, bis er sich aufrappelt und es endlich schafft, das Glas zu greifen.« Angela nickt und gibt damit zumindest vor, ihn verstanden zu haben. Es ist erst 15.00 Uhr und Robert kann sich vor lauter Müdigkeit fast nicht mehr auf dem Stuhl halten. Die Augenlider versagen ihren Dienst und fallen immer wieder zu.

Abgestempelt

Tag 43

Nachdem ihn Doc Verdi in das Krankenhaus eingewiesen hat, liegt Robert nun in einem Zweibettzimmer der internistischen Klinik Dr. Maier in München. Angela hat ihn dort hingefahren und übernimmt die Aufnahmeformalitäten, da Robert dazu nicht mehr in der Lage ist. Sie verabschieden sich und Angela wünscht ihm gute Besserung. Am ersten Tag passiert außer dem üblichen Blutdruckmessen und der Blutsenkung gar nichts.

Am Abend schaut er die TV-Sendung »Verstehen Sie Spaß«. Dagmar Berghoff lockt brave Handwerker in die Spaßfalle. Sein Bettnachbar amüsiert sich lautstark. Robert kann nicht lachen. Er gibt ihm zu verstehen, dass er beunruhigt sei, weil er in der folgenden Woche gründlich untersucht werden solle und nicht wisse, was alles auf ihn zukomme.

Tag 44

Kurz nach Mitternacht drückt Robert in Panik auf den roten Alarmknopf. Eine vermeintliche Herzattacke beschäftigt die Stationsärzte. Angesichts des anscheinend lebensbedrohenden Zustands ihres neuen Patienten schreiben die diensthabenden Ärzte ein EKG und messen den Blutdruck. Sie können nichts Auffälliges finden. Robert sagt ihnen schließlich, es tue ihm leid, aber er gebe sich mit ihrer Auskunft zufrieden, dass offenbar keine Lebensgefahr bestehe. Er hat wieder einmal eine schlaflose Nacht hinter sich und schaut auf die Uhr. Es ist 5.10 Uhr. Von der Straßenlampe fällt diffuses Licht in das Zimmer. Robert starrt auf die weiß getünchte Decke. Eine kleine Spinne beginnt gerade, sich von der Stuckdecke abzuseilen. Seit drei Tagen liegt er schon hier und es ist noch nichts passiert. Die Angstzustände lassen ihn nicht schlafen. Bei der Morgenvisite schüttet er dem Chefarzt sein Herz aus.

»Sie müssen endlich was finden, Sie müssen einfach, Doktor! Warum untersuchen Sie mich nicht endlich gründlicher? EKG ohne Befund, das war doch wohl ein Scherz, ich habe weiterhin das Gefühl, einen Herzinfarkt zu haben! Die Angst, mein Gott, diese Angst! Sie ist letzte Nacht wieder hoch gestiegen von den Zehenspitzen über den Magen bis in die Haarspitzen! Sie kam aus den Knochen gekrochen. Sie können sich das einfach nicht vorstellen! Nur wer einmal wirklich solche grausamen Angstzustände hatte, der weiß ein Stück weit, wie die Hölle sein muss! Ich fühle mich wie in das Bett gepresst. Die Schweißperlen stehen auf meiner Stirn, bis sie sich in einer Sturzflut über mein Gesicht ergießen! Es ist keine bestimmte Angst, es ist eine diffuse Angst, denn vor wem oder vor was sollte ich Angst haben?«

»Ich habe eine gute Nachricht und eine schlechte. Welche wollen Sie zuerst hören?«, unterbricht der Arzt Roberts Redeschwall.

»Ja? Wie? Ich weiß nicht .., das ist mir eigentlich egal!«

»Gut, dann erst mal die gute Nachricht! Wir haben Ihren Stoffwechsel untersucht und in der Endokrinologie - also der Abteilung, die Hormone analysiert - hat man gefunden, was Ihre Angstzustände auslöst! Sie schütten Unmengen von Adrenalin aus! Jeder kennt das ja, wenn Adrenalin im Körper ausgestoßen wird! Da läuft alles auf Hochtouren.«

»Aha, das klingt plausibel. Und was ist nun die schlechte Nachricht?«

»Man kann beim derzeitigen Stand der medizinischen Forschung leider noch nichts dagegen tun.«

»Toll!«, antwortet Robert, dreht sich auf die Seite und schließt die Augen.

Kurz darauf fängt er an zu zittern und ruft nach der Schwester. Er bekommt eine Infusion mit einem Schlafmittel und schläft endlich ein.

»Hallo Robert, aufwachen. Es ist schon nach 16 Uhr! Wir wollten doch heut´ in den Tierpark spazieren gehen. Musst dich schon ein bisschen bewegen, sonst macht der Kreislauf ganz schlapp. Komm schon, die Sonne scheint so schön.« Robert schlägt die Augen auf und schaut auf Angela, die gerade zwei Flaschen Traubensaft auf seinen weißen Rolltisch stellt.

»Guten Morgen, Schatz!«, begrüßt er seine Freundin gähnend, setzt sich langsam auf und drückt ihr eine Kuss auf die Wange.

»Ich hab keinen Bock aufzustehen, bin so wahnsinnig kaputt. Geschlafen hab´ ich die Nacht, mit vielen Unterbrechungen, höchstens zwei Stunden. Wenn überhaupt. Aber vielleicht hast du ja recht, hier starre ich auch nur die Wände an.« Wie in Zeitlupe zieht sich Robert die Infusionskanüle aus dem Arm, was eigentlich Aufgabe der Schwester wäre, doch das scheint ihm egal zu sein. Das Blut rinnt langsam aus der Einstichstelle. Robert ist etwas benommen und schaut wie hypnotisiert auf das Blut, das auf dem Boden eine kleine Lache bildet.

Der Schrei von Angela: »Robert, was machst du da?«, reißt ihn aus der Starre. Er nimmt sich einen der Tupfer vom Nachtisch, den die Schwester liegen ließ, und drückt ihn auf die Wunde, um die Blutung zu stillen. Angela klebt ihm noch ein Pflaster darauf. Müde schaut er sie an. Er greift nach der Hose, die ihm seine Freundin hinhält und schlüpft schnaufend hinein.

»Mir geht es so Scheiße, ich kann´s dir gar nicht sagen. Letzte Nacht hatte ich wieder so eine Herzattacke, dass ich gemeint hab, es ist aus mit mir. Ich hab dann den roten Knopf gedrückt, da sind sie gleich angerannt gekommen, die Nachtschwester mit dem diensthabenden Stationsarzt und ihrem Rollwagen, wo das EKG drauf steht. Die haben mich dann gleich angedockt. Mir ging es so hundeelend, aber es war alles normal, kannst du dir das vorstellen? Das EKG war im Großen und Ganzen unauffällig! Ich spinne doch nicht! Was soll ich denn machen? Ich muss mich jedesmal mühsam vom zweiten Stock in den Garten schleppen, um Eine zu rauchen und mich dann ebenso mühsam wieder auf mein Zimmer quälen. Du weißt doch noch, wie wir letztes Jahr mit den alten Bikes die Bergtour gemacht haben und sechzig Kilometer am Stück gefahren sind, da war ich doch noch topfit. Und heute? Ich fühle mich wie ein Achtzigjähriger!«, schluchzt er. »Ich werd noch ersticken in diesem Käfig der ganzen Symptome.«

Angela legt tröstend den Arm um Robert.

»Jetzt kommt der Frühling, Schatz, schau die Sonne scheint, da wird es dir bald besser gehen. Und sicher wirken die Tabletten auch bald. Das dauert eben seine Zeit. Lass uns gehen, ja?«

Robert geht schlurfend zur Tür und schleppt sich dann mit seiner Freundin teilnahmslos durch den Tierpark. Seine Apathie zeigt Angela, dass er weder die Geräusche der frühlingserwachten Tierwelt noch die Blicke der Tierparkbesucher wahrnimmt. Die mustern ihn teils aus besorgter Neugier und teils mit offensichtlicher Geringschätzung, da er wie ein Betrunkener torkelt, sich den Kopf hält, stöhnt und immer wieder in sich zusammensackt. Er scheint froh, als es nach eineinhalb Stunden wieder zurück geht auf seine Station.

»Es ist ein ewiger Kampf, Angela, und ich weiß nicht, ob ich diesen Kampf gewinnen kann. Ich habe niemals vorher so etwas erlebt und ich wünsche das meinem ärgsten Feind nicht. Mein Wille sitzt in einem Käfig, der so fest verschlossen ist, so fest verschlossen! Ich versinke in der kleinen großen Welt meiner Symptome.« Robert ballt seine Hände zu Fäusten.

»Und die Wände, ja, die sind so dick und dicht und kommen immer näher auf mich zu, so dass nur noch die nötigste Luft bleibt zum Atmen, zum Überleben. Aber für mehr reicht es einfach nicht. Es reicht nicht, dann die grenzenlose Panik, wenn man keinen Fluchtweg mehr hat. Ich weiß nicht, wie das noch weitergehen soll, wenn die nichts finden. Ich würde alles dafür geben, hörst du, alles!« Robert zieht sich wieder aus und legt sich auf das Bett.

»Ich weiß, ich weiß. Aber du musst einfach noch Geduld haben. Die werden hier sicher was finden. Dein Doc Verdi hat uns die Klinik doch empfohlen.«

»Ja, ich bete dafür, inständig, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Ich komme mir vor, wie ein Verrückter, weil ich schon bete, dass sie was bei mir finden. Verstehst du, wie hoch mein Leidensdruck ist?«

»Ja, klar! Bis morgen, Schatz, ich ruf dich nach der Arbeit an, ja?« Angela gibt Robert einen Abschiedskuss und geht hinaus. Er ist allein und starrt wieder die Decke an.

Tag 46

Robert keucht und schnauft. Der Schweiß rinnt ihm die Stirn hinab und tropft stetig auf die Lenkerstange des Ergometers.

»Kommen Sie, Herr Winterkorn, noch drei Minuten. Sie haben erst zwei Minuten geschafft. Ein junger Mann, wie Sie ..! Sie machen doch Sport, haben Sie gesagt?« Die Assistenzärztin bindet sich die langen blonden Haare zu einem Zopf zusammen. Dabei lugt eine schwarze Lederkorsage unter ihrem weißen Arztkittel hervor.

»Zur Domina fehlt nur noch die Peitsche«, murmelt Robert fast unhörbar vor sich hin, bevor seine Arme weich werden.

»Wie bitte? Haben Sie etwas gesagt, Herr Winterkorn?«

Robert schnauft. Er kann den Oberkörper kaum mehr halten und fällt beinahe mit dem Kopf auf die Lenkerstange. Mit letzter Kraft fängt er sich mit den Unterarmen auf und rutscht mit dem gesamten Oberkörper auf die Stange, hyperventilierend. Sein Kopf hat die Farbe einer reifen Tomate. Die »Domina«-Ärztin ruft einen Assistenten und gemeinsam stützen sie den völlig Erschöpften.

»185 Umdrehungen nicht erreicht!«, ruft sie ihrer Kollegin zu, die den Wert des Belastungs-EKGs notiert.

»Hat die Schwalbe gemacht nach zwei Minuten. 280 zu 110, keine Extrasystolen, alles im grünen Bereich.« Die Ärztin hilft Robert mit starker Hand vom Ergometer.

»So, junger Mann, dann trocknen Sie sich erstmal ab und ziehen sich wieder an. Mit Triathlon kriegen Sie Ihr Trainingsdefizit in drei Monaten weg, mach´ ich seit Jahren.« Die Assistenzärztin krempelt den Ärmel ihres Kittels auf der rechten Seite hoch, so dass ihr mit einem Totenkopf tätowierter Oberarm frei gelegt wird, spannt diesen an und zeigt Robert stolz ihren ausgebildeten Trizeps.

»Schau´n Sie doch bei Gelegenheit mal vorbei in dem Studio von meinem Mann. Fitnessstudio Tom & Ina, gleich hier um die Ecke. Sport ist die beste Medizin. Sie werden schon sehen! Auf Wiederschaun!« Immer noch heftig schnaufend und gegen den zunehmenden Schwindel ankämpfend, trocknet sich Robert mit dem T-Shirt den Schweiß ab und zieht seinen Trainingsanzug an. Die Ärzte unterhalten sich lachend im Nebenraum.

Beim Hinausgehen stöhnt er: »Jetzt wirst du auch noch verspottet! Dabei war ich Sportler früher und topfit.«

Tag 47

»Dreh-, Schwank- oder Liftschwindel?« Robert sitzt in seinem Bett der Morgenvisite gegenüber und schaut erst die Oberärztin, dann die Assistenzärztin, den Assistenzarzt und schließlich die Krankenschwester verständnislos an.

Die Oberärztin wiederholt ihre Frage: »Haben Sie nun Dreh-, Schwank- oder Liftschwindel? Dreht es Sie, schwanken Sie oder fahren Sie immer auf und ab, rauf und runter, wenn es Ihnen schwindlig ist?«

»Jaaa .., ich weiß auch nicht, mir ist halt schwindlig, einfach schwindlig und dann der Kopfdruck ständig auf den Schläfen!«, antwortet Robert.

»Notieren Sie bei Mertens, Schläfendruck persistierend, Schwindel indifferent, Dosiserhöhung auf 200 mg Vertigoheel und 100 mg Novaminsulfon!«, diktiert die Oberärztin dem Assistenzarzt, gibt Robert die Hand und wendet sich seinem Zimmergenossen zu, einem Weinhändler mit Verdacht auf Herzinfarkt, der gerade mit einem der neuen Mobiltelefone hantiert, das annähernd die Größe einer Reiseschreibmaschine aufweist.

»Was tun Sie da?«, fährt die Oberärztin den Patienten an.

»Sie wissen doch, dass das Telefonieren mit Funktelefonen in meiner Klinik verboten ist. Haben Sie mein Informationsblatt nicht gelesen? Schalten Sie das Ding bitte sofort aus. Wenn Sie telefonieren wollen, beantragen Sie ein Zimmertelefon oder gehen Sie raus, Herr Winterkorn.«

»Mertens heiß´ ich, Mertens! Das ist Herr Winterkorn.« Mertens zeigt auf seinen Zimmernachbarn. Daraufhin fährt die Oberärztin die Krankenschwester an.

»Was ist Ihnen denn da wieder unterlaufen? Sie können doch nicht einfach die Namen ... Wissen Sie nicht, was das für Folgen haben kann?« Die Krankenschwester senkt den Blick und errötet. Die Oberärztin wendet sich wieder ihrem unbeeindruckt weiter telefonierenden Patienten zu und schwenkt ihre Patientenmappe.

»Tut mir leid, Herr Mertens, ich habe noch das Ergebnis der CT hier, wegen Ihrer Anisokorie. Es ist alles in Ordnung, kein Befund.«

»Anni ... Sockorie«?, fragt Mertens verwirrt.

»Ja, Ihre geweitete Pupille rechts .., das heißt ... Lassen Sie mich nochmal schauen ...« Die Oberärztin blickt in ihre Befunde.

»Ach nein, Quatsch, die Pupille waren ja Sie, Herr Winterkorn.« Sie wendet sich wieder Robert zu, der immer noch sehr ratlos schaut.

»Sind Sie eigentlich auf den Kopf gefallen ... äh, ich meine, hatten Sie mal einen Sturz, Gehirnerschütterung, Schädel-Hirn-Trauma, Herr Winterkorn?«

»Nein, nicht dass ich ... das heißt ... ja doch, ich hatte mal einen Sturz auf den Hinterkopf. Wann war das nochmal ... Ja, vor vier Jahren glaub ich. Aber da hatte ich nur ein paar Tage Kopfschmerzen, das war alles.«

»Sehen Sie, völlig harmlos. Das hätten wir auch gesehen beim CT, wenn da was wäre, und ein Tumor ist völlig auszuschließen. Also nur eine harmlose parasympathische Innervation des Nervus oculomotoricus ... Schreiben Sie eigentlich mit, Schwester Anette? Also alles harmlos, wie gesagt. Auch keine syphilitische Gehirnparalyse oder ähnlich Unangenehmes, ha ha, ha! Wird schon wieder, Herr Mert.., äh Winterkorn. Gute Besserung!« Der Visitetross verlässt nacheinander das Zimmer und Robert blickt noch ratloser als zuvor.

»Bin ich hier eigentlich in einer TV-Serie, oder wirklich in einer Klinik?«, fragt Robert seinen Zimmerkollegen.

»Ja, da kann man nur froh sein, dass das nicht die Chirurgische ist. Sonst würden die noch das falsche Bein abnehmen oder so. Ist alles schon passiert!« Robert dreht sich auf die Seite und zieht die Bettdecke über den Kopf. »Vorsichtshalber sollte man das gesunde Bein vorher beschriften mit: ›Nicht das, ihr Idioten!‹!«, murmelt Robert unter der Bettdecke.

Tag 48

Robert wacht auf. Die Ziffern seiner Armbanduhr zeigen auf 9.30 Uhr. Er muss sich erst orientieren und schließt die Augen wieder.

»Wo bin ich?«, murmelt er. »Ach ja richtig, die Maier-Klinik.« Robert gähnt. Sein Zimmernachbar schnarcht laut und Robert schlägt wieder die Augen auf. Da erkennt er seine Freundin, die ihn aus dem Halbdunkel ansieht und nun auf seinen Koffer in der Ecke zeigt.

»Guten Morgen, Schatz, ich hab deine Sachen schon gepackt, zieh dich an, gleich kommt die Ärztin mit den Entlassungspapieren, dann fahren wir heim.« Angela sitzt vor dem Bett und gibt Robert einen Kuss. Robert reibt sich die Augen.

»Heimfahren? Die müssen mit mir doch erst noch weitere Untersuchungen machen, ich hab doch noch gar keinen Befund!«

»Doch, Schatz! Ich hab gestern mit der Oberärztin telefoniert. Sie hat gesagt, dass sie dich heute entlassen. Organisch sei alles in Ordnung und den Befund kriegt Doc Verdi zugeschickt, hat sie mir gesagt.«

»Aber es geht mir noch nicht besser, ich hab Schmerzen, mein Kopf explodiert fast, das Kribbeln im ganzen Körper, so dass ich glaube, Millionen Ameisen laufen auf mir herum! Ich leide immer noch an Sehstörungen, sehe verschwommen und manchmal doppelt! Dann die Mattigkeit und extreme Antriebslosigkeit, so dass ich mich oft keinen Zentimeter bewegen kann! Die Taubheitsgefühle und Lähmungserscheinungen am ganzen Körper! Mir fallen immer wieder Dinge aus den Händen! Nicht zu vergessen, der ständig hohe Puls, der ja offenbar vom Adrenalin kommt, was sie ja mittlerweile zumindest gecheckt haben. Die müssen doch was finden! Die haben mich doch noch gar nicht richtig untersucht!«

»Aber Schatz, du warst über eine Woche hier und die haben alles gründlich gecheckt.« Angela liest aus den Laufzetteln vor, die Robert penibel nach Datum und Uhrzeit sortiert auf dem Beistelltisch abgelegt hat.

»Neurologisch, Labor, röntgen des Thorax, EKG, EEG, Fahrradergometrie im Sitzen, 24-Stunden-EKG, 2D-Echokardiographie, abdomineller Ultraschall und ein ärztliches Konsil mit dem HNO-Arzt. Mehr können die hier doch auch nicht tun.«

»Ich erinnere mich gar nicht an all das, was du sagst. Ich weiß nur, dass die mich im Rollstuhl durch die Gänge gefahren haben und ich immer ewig warten musste, bis sie mich wieder aufs Zimmer schoben.« Robert blickt resigniert auf die Spinne, die sich nach der letzten Putzaktion in die Zimmerecke verkrochen hat und nun wieder Morgenluft wittert. Die Oberärztin kommt herein und reicht Robert einen Umschlag.

»Hier sind Ihre Entlassungspapiere, Herr Mer.., ähm ... Herr Winterkorn. Gute Besserung.« Die Ärztin macht auf dem Absatz kehrt. Robert ruft ihr hinterher.

»Was kann man denn jetzt noch machen, Sie müssen doch noch was finden, Frau Doktor!?« Die Ärztin dreht sich um und antwortet schnippisch:

»Sollen wir Sie etwa noch in Scheibchen schneiden? Sie gehören nicht in eine internistische Klinik, sondern in die Neurologie, ich denke eher noch in die Psychiatrie. Ich muss jetzt zu meinen Patienten. Auf Wiedersehen und gute Besserung!« Mit energischem Niederdrücken der Klinke schließt sie lautstark die Tür hinter sich.

Tag 53

Robert sitzt wieder seinem Hausarzt, Doc Verdi, gegenüber. Der öffnet ein großes Kuvert und liest seinem Patienten den Befund der Maier-Klinik vor.

»Diagnose: Verdacht auf somatisierte psychische Störung mit vegetativer - also unbewusst gesteuerter - Symptomatik; Grenzwerthypertonie in Ruhe; Belastungshypertonie - also hoher Blutdruck bei Belastung-; Hypercholesterinämie mit erhöhtem LDL- und erniedrigten HDL-Anteil; Nikotinabusus – äh Missbrauch -, genau.« Doc Verdi steckt den Befund zu der Karteikarte.

»Das war Alles?« fragt Robert. Der Arzt schaut Robert über den Rand seiner Lesebrille prüfend an.

»Ja nun, Herr ... Winterkorn, das reicht ja auch schon für ein ganzes Leben, nicht wahr? Die Medikamente, die ich Ihnen bislang verschrieben habe, schlagen gar nicht an, was? Hmm, ich könnte Ihnen da allenfalls noch Benzodiazepine verschreiben. Allerdings .., wissen Sie, Herr Winterkorn, irgendwann kommen wir dann zu Mitteln, die dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen. Das ist so eine Sache. Nicht, dass ich sie Ihnen nicht verschreiben würde, aber ein Neurologe hat da einfach mehr Möglichkeiten, verstehen Sie? Am besten gehen Sie doch mal zu Doktor Nusser, das ist ein hervorragender Neurologe, gleich am Viktualienmarkt in München. Ich schreib Ihnen die Adresse auf. Robert nickt, nimmt den Zettel mit der Adresse des Neurologen und verabschiedet sich.

»Vielen Dank Doc, Sie haben mir schon viel geholfen. Auch wenn es die Tabletten nicht tun, ich gebe noch nicht auf.« Als Robert mit dem Taxi nach Hause kommt, ist Angela schon da und begrüßt ihn mit einem Kuss.

»Hallo Schatz, was hat der Doc gesagt? Wie schaut es aus?«

»Wie es ausschaut? Jetzt bin ich abgestempelt. Ein Psycho! Ist ja klar. Und Nikotinmissbrauch, so ein Blödsinn.« Robert zündet sich eine Zigarette an.

»Die wissen gar nichts diese ›Experten‹ in der Maier-Klinik! Die Woche hat nichts gebracht, überhaupt nichts, Null!« Angela schaut Robert betroffen an.

»Aber Robert, so kannst du das auch nicht sagen, die haben sich doch sehr bemüht da drin und jetzt weißt du doch immerhin, dass organisch nichts fehlt. Deine Dings .., äh Störung, kriegen wir schon wieder weg! Das ist nur ein Burnout bei dir von dem Stress, dem Ärger mit den blöden Kollegen und dem ganzen Mist, alles psychisch. Du wirst sehen, wenn du ein paar Wochen absolute Ruhe hast, in Niederbayern bei meinen Eltern, dann geht es dir bald besser.« Robert lacht bitter.

»Da kann ich mich ja gleich begraben lassen. Nein, du bitte lass mich jetzt allein, ich kann grad nicht mehr.« Angela zuckt mit den Schultern und greift nach dem Fahrradschlüssel.

»Ok, wenn du meinst, ich bike jetzt ´ne Stunde. Essen ist im Kühlschrank, Ciao.« Robert sucht in seiner Schreibtischschublade die Adresse von dem Second-Hand-Plattenladen seines Schulfreundes Tim, den dieser gerade aufgemacht hat. Danach ruft er seinen Bruder an.

»Du, ich möchte meine 300 LPs verkaufen. Ich kann sie eh nicht mitnehmen, wenn es vorbei ist mit mir. Willst du sie haben? Sonst soll sie die Angela dem Tim verkaufen.«

Robert schleppt sich langsam auf die Küchenbank und starrt eine geschlagene halbe Stunde auf den Küchentisch. Dutzende von Präparaten stehen dort aufgereiht. Der halbe Tisch ist vollgestellt. Angela kommt schon zurück von ihrer Tour. Nachdem sie die Schuhe ausgezogen hat, klingelt es an der Haustür. Sie öffnet und begrüßt Roberts Vater.

»Hallo Wolfgang, schön dass du vorbeischaust.‹

»Ja, Angela, grüß dich. Ich muss doch mal nach meinem Sohn schauen.« Roberts Vater geht schon auf die 70 zu. Er ist von kleiner gedrungener Gestalt und noch recht rüstig. Nachdem er seinen Sohn begrüßt, schaut er erstaunt auf den Tisch, auf dem die Tabletten liegen.

»Sag´ mal Robert, wie viel von diesen Tabletten musst du denn nehmen? Das kann doch nicht angehen, Junge!« Robert hebt den Kopf und lacht gequält.

»Ja, da brauch ich nichts anderes mehr zum Essen, jeden Tag hundert von den Tabletten, bis sie mir oben wieder raus kommen!« Wolfgang Winterkorn holt seinen alten Fotoapparat aus der Jackentasche und fotografiert die Medizinarmada.

»Da kannst du ja bald eine Apotheke aufmachen, sag mal. Was kostet denn das Zeug so?«

»Diesen Monat hab ich schon fast 2000 Mark ausgegeben. Die rollen mir in der Fugger-Apotheke schon den roten Teppich aus, wenn ich vorbeikomme.« Vater Winterkorn schnauft.

»Ja, das ist ja der Wahnsinn! Sei nur froh, dass du privat versichert bist.«

»Ja klar! Aber halt nur zur Hälfte. Die andere Hälfte zahlt bei mir als Beamter meine Beihilfestelle, aber das auch nicht immer. Erstmal muss ich das Geld ja immer vorstrecken. Doch das ist alles in Ordnung so. Ich halte diese Qualen nicht mehr aus, Vater! Ich kann nicht mehr! Mein Arzt weiß auch nicht mehr weiter, ich muss wohl doch in die Klinik gehen.« Robert bekommt einen Weinkrampf und sein Vater legt tröstend seinen Arm um ihn.

»Ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann, mein Junge.«

»Ich wünschte, ich könnte dir diesen Zustand verständlich machen. Du weißt doch, wie sehr ich die Musik immer geliebt habe und nun kann ich sie nicht mal mehr hören, da ich nichts dabei empfinde. Ich bin nicht verrückt, aber es ist zum Verrückt werden für mich. Es ist was Körperliches mit mir und nicht nur etwas Psychisches, davon bin ich überzeugt. Wenn ich den Zustand noch länger ertragen muss, wird mein Psyche ganz den Bach runtergehen!«

»Dabei bis du noch so jung! Sag´ mal, wie geht es denn eigentlich der Angela? Hält eure Beziehung diese Belastung aus? Das ist doch sicher nicht einfach für sie, oder?«

»Die Angela würde alles für mich tun. Ich weiß nicht, was ich ohne sie machen würde. Ansonsten vertraue ich dem Doc Verdi blind.«

»Es war doch ganz gut, dass du gleich nach der Schule die Ausbildung zum Beamten gemacht hast. Du wirst sehen, dass wird sich für dich noch auszahlen.«

Liquor bringt Klarheit

Tag 123

Robert und Angela stehen vor der neurologischen Klinik in Dettenheim im tiefsten Wald, dem Krankenhaus des Bezirks, gelegen im Südosten der Republik. Nachdem Angela ständig darauf gedrängt hat, hat Robert beschlossen, sich dort heute selbst einzuweisen. Es ist ein herrlicher Sommertag, die Vögel zwitschern und der Hirschberg – der mit seinen 384 Metern eigentlich den Namen Berg nicht verdient hat – zeichnet sich vor dem Horizont ab, als markanter Wegweiser. Angela begleitet Robert zur Aufnahme. Robert lässt die übliche Prozedur über sich ergehen. Schnell kommt die Frage nach Privat oder Kasse, dessen Beantwortung oftmals über das Entgegenkommen bei den weiteren Formalitäten entscheidet. Er bekommt ein schönes sonniges Zweibettzimmer. Der Klinikleiter, Professor Doktor Berkel, begrüßt den Neuankömmling herzlich. Robert reicht ihm die Hand.

»Grüß Gott, Herr Professor, Sie wissen ja, warum ich hier bin, ja? Ich leide seit Monaten an Beschwerden, die ich kaum beschreiben kann. Es ist so quälend und zerfressend, wie ein Krebs der Seele.«

»Seelenkrebs! Das ist eine sehr gute Beschreibung, Herr Winterkorn, wirklich sehr treffend! Wir haben natürlich eine andere Bezeichnung für Ihre Erkrankung, das wissen Sie ja. Sie ist eigentlich aus dem Französischen entlehnt und bedeutet wörtlich übersetzt lediglich »Niederdrückung«. Damit ist jedoch ursprünglich nur ein Zustand psychischer Störung beschrieben und nicht neuropsychiatrische Auswirkungen der Störungen eines Hirnstoffwechsels. Insofern gefällt mir der Begriff, den Sie verwenden. Schön, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben, Herr Winterkorn. Herzlich willkommen in der Bayernwaldklinik! Ich bin zuversichtlich, dass wir Ihnen hier helfen können.« Er fährt fort mit der Vorstellung seiner Arbeit und der Erfolge der Klinik. Robert bemüht sich dem Professor geistig zu folgen, aber sein Zustand macht es ihm fast unmöglich, Interesse zu zeigen. Nachdem der Professor gegangen ist, begleitet er Angela noch zur Pforte:

»Du, ich finde den Professor auf Anhieb sehr sympathisch. Ich glaube, ich beginne gerade wieder etwas Hoffnung zu schöpfen.«

»Das freut mich, Schatz! Ich hoffe inständig, dass man dir hier endlich helfen kann! Mach´s gut!« Robert verabschiedet sich.

Tag 125

Der Morgen beginnt mit warmen Sonnenstrahlen, die durch das offene Fenster in den Raum fallen, Roberts Bettdecke hinauf wandern bis zum Kopf und ihn schließlich wecken. Seit Wochen hat er erstmals wieder mehr als zwei Stunden am Stück geschlafen. Kurz nach dem Frühstück kommt der Professor mit seinem Weißkittelgefolge von sechs Ärzten und Krankenschwestern in Roberts Zimmer.

»Guten Morgen, Herr Winterkorn! Hatten Sie eine angenehme Nacht?«

»Guten Morgen, Herr Professor! Danke, ich habe nach dem ganzen Zeug, das ich gestern Abend bekommen habe, endlich mal wieder fast durchgeschlafen.«

»Prima! Sind Sie bereit für die besprochene Lumbalpunktion?«

»Sie wollen also mein Hirnwasser abzapfen? Hab´ mich schon kundig gemacht. Na gut, nur zu, ich hab´ eh gerade nichts Besseres zu tun. Unangenehme Dinge des Lebens, soll man schnell hinter sich bringen, sagt meine Mutter immer.« Robert mimt einen gut aufgelegten Patienten, obwohl es ihm eigentlich zum Heulen zumute ist. Professor Berkel nickt und gibt einer der Krankenschwestern das Desinfektionsspray in die Hand. Dann wendet er sich wieder seinem Patienten zu.

»Das ist schön. Solche Patienten wünscht man sich. Setzen Sie sich einfach auf den Bettrand und lassen Sie die Beine herunterbaumeln, ja? Genau, sehr schön. Jetzt beugen Sie den Oberkörper mal nach vorne und machen einen Katzenbuckel. Und Sie, Schwester Daniela, desinfizieren bitte die Einstichstelle.« Robert krümmt sich, wie ihm geheißen wurde, und zuckt nur unmerklich zusammen, als das kühle Spray seinen Rücken benetzt. Die junge Blondine sprüht eine volle Ladung über den gesamten Rücken, tupft die herunterlaufende Flüssigkeit hektisch ab, tritt zur Seite und schaut den Professor fragend an.

»Ist es ok so?« Robert lächelt und zwinkert ihr aus den Augenwinkeln heraus zu.

»Da es an diesem Morgen bereits 28 Grad warm ist, nehme ich es als willkommene Erfrischung, danke!« Der Professor kommentiert nun die Untersuchung für seine Gefolgsleute.

»Die Lumbalpunktion ist die häufigste Form der Liquorentnahme. Der Einstichort liegt im Duralsack zwischen den Dornfortsätzen des zweiten bis fünften Lendenwirbels, also deutlich tiefer als das untere Ende des Rückenmarkes.« Der Arzt sticht unvermittelt und ohne Betäubung die Nadel in den unteren Teil des Rückens. Schweißtropfen lösen sich daraufhin in steter Folge von Roberts Stirn und benetzen den Linoleumboden. Robert fixiert mit starrem Blick konzentriert die entstehende Lache.

»Spüren Sie das, Herr Winterkorn, tut das weh?«

»Es geht. Ich bin froh, dass es nicht besonders schmerzt. Es beginnt nur ein bisschen zu brennen.«

»O´zapft is!« Der Professor lacht kurz auf und hält gleich darauf inne.

»Oh, oh! Das müssen wir leider noch mal machen.« Er präsentiert das gefüllte Röhrchen theatralisch seiner Gefolgschaft wie der Bischof von Neapel das Blut des heiligen San Gennaro und doziert weiter.

»Wie Sie sehen, ist etwas Blut in die Probe gekommen und das kann man leider nicht mehr gebrauchen.« Schon setzt er wieder an und zieht Robert nochmals etwas von der kostbaren Flüssigkeit aus dem Duralsack. Nach einer Weile ist die Spritze gefüllt. Professor Berkel hält sie gegen das Sonnenlicht und scheint diesmal hocherfreut.

»Das ist klar! Klar, wie ein in den Bergen entsprungenes Quellwasser. Ein gutes Zeichen, meine Damen und Herren! Wir können somit schon mal ausschließen, dass es sich um eine Gehirnhautentzündung handelt, denn dann wäre der Liquor stark getrübt.«

»Der Liquor ist klar, nichts ist klar! Mist, dass sich wieder nichts Greifbares ergeben hat, dann hätte ich endlich richtig behandelt werden können!«, stöhnt Robert leise und richtet sich langsam wieder auf.

»Das hab ich schon verstanden, was Sie gerade gesagt haben, Herr Winterkorn!«, tadelt der Professor mit einem leichten Schmunzeln.

»Aber wir sind ja auch erst am Anfang unserer Untersuchungen. Kopf hoch! Auf Wiedersehen und gute Besserung!« Mit seinem Gefolge im Schlepptau marschiert der großgewachsene Mediziner aus dem Zimmer. Nur Schwester Daniela bleibt und richtet das Bett, was Robert aufgrund ihrer attraktiven Erscheinung mit gefälligen Blicken begleitet. Bevor sie geht, weist sie ihren Patienten in die Verhaltensregeln nach der Punktion ein.

»Herr Winterkorn, Sie müssen sich die nächsten acht Stunden hinlegen, den Kopf völlig flach lagern und mindestens zwei Liter Flüssigkeit in Form von Tee oder Wasser zu sich nehmen, um das Risiko eines sogenannten Postpunktionssyndroms mit eintretenden Kopfschmerzen, eventuell sogar Übelkeit und Erbrechen, möglichst zu minimieren!« Das erweist sich jedoch als nicht so einfach für Robert, zumal Professor Berkel ihm ja durch seinen Fehlversuch die doppelte Menge an Gehirnwasser entnommen hat. Er trinkt so lange, bis er auf etwa einen Liter kommt. Am Vormittag kann er es nicht mehr aushalten und klingelt nach Schwester Daniela. Er muss den Druck auf seiner Blase loswerden. Er soll ja noch sechs Stunden liegen und darf nicht auf die Toilette, hat man ihm gesagt. Doch die Blondine erscheint nicht. Stattdessen kommt nach fünf Minuten endlich ein Pfleger.

»Bitte bringen Sie mir möglichst schnell eine Ente, da ich sonst ins Bett machen werde und dann würde ich Sie wohl dafür erwürgen!«, presst Robert angespannt zwischen den Lippen hervor. »Rein theoretisch kann ich ja einen Knoten in mein Ding machen, aber wahrscheinlich würde ich durch den entstehenden Druck explodieren.« Der Schweiß steht ihm bereits auf der Stirn. Endlich, nach weiteren drei qualvollen Minuten, bringt der Pfleger den Plastikbehälter, der die Bezeichnung eines Geflügels trägt. Sofort setzt Robert das Prachtstück unter der Bettdecke an und lässt seinem Bedürfnis freien Lauf. Eine Stunde später, nachdem er die insgesamt verordneten zwei Liter Flüssigkeit zu sich genommen hat, erscheint der Pfleger wieder.

»Herr Winterkorn, Sie sollen jetzt zum EKG und EEG gehen!«

»Ich liege aber erst zwei Stunden flach und mir wurde gesagt, dass ich mindestens acht Stunden liegen bleiben soll!«

»Das macht überhaupt nichts, Sie können ruhig gehen. Außerdem ist in drei Stunden noch ein EEG fällig, das muss ja auch gehen!«, meint der Pfleger ungerührt.

Vier Stunden später sitzt Robert mit hochrotem Kopf vor dem EEG, mit dem Schwester Elke seine Gehirnströme messen soll. Er muss hecheln und hyperventilieren, damit der Sauerstoffgehalt im Blut steigt. Das fällt ihm immer schwerer, so dass er es jedesmal maximal ein paar Sekunden aushält, bevor er pausieren muss.

»Schwester Elke, ich komme mir vor wie ein Hund. Mir ist so schwindlig und schwarz vor den Augen! Wie lange dauert denn das noch?«

»Gleich haben Sie es geschafft, Herr Winterkorn, nur noch zwei Minuten!«

Nachdem er die Untersuchung hinter sich hat, richtet der Pfleger für Robert einen Stuhl auf der Terrasse in der Sonne her und meint: »Bei diesem schönen Wetter muss man doch auf der Terrasse sitzen und die Sonne genießen, nicht wahr, Herr Winterkorn?«

»Gern, wenn Sie mir Gesellschaft leisten. Nicht, dass ich hier vom Stuhl kippe mit meinem Schwindel!«

»Ich habe zu tun! In einer Stunde hole ich Sie wieder ab.« Robert döst in der prallen Sonne vor sich hin und schleppt sich schließlich zwei Stunden später wieder auf sein Zimmer, da ihn der Pfleger offensichtlich vergessen hat. Sein Bettnachbar schaut gerade Nachrichten im TV. Es geht um Doping von Schwimmern der ehemaligen DDR. Funktionäre hatten Informationen über Doping unterdrückt. Wegen Strafvereitlung sollen sie jetzt vor Gericht. »Die ehemalige Nationalschwimmerin der DDR, Renate Bauer, bricht ihr Schweigen!«, ist vom Kommentator zu vernehmen. Den fünf Mitgliedern der »ad-hoc-Kommission« des Deutschen Sportbundes, berichtete Frau Bauer detailliert über die alltägliche Pillenmast im ostdeutschen Sport. »Es wurde viel mit uns experimentiert«, sagt die 36jährige den DSB-Vertretern; manchmal sei sie sich wie ein Versuchskaninchen vorgekommen.

»Kann ich total verstehen, bin auch Versuchskaninchen und vollgedopt!«, ruft Robert seinem etwas schwerhörigen Bettnachbarn zu. Anschließend nannte die Olympia-Zweite von 1972 die verantwortlichen Ärzte und Betreuer. Der Heidelberger Rechtsanwalt Michael Lehner, habe in der vergangenen Woche drei Mitglieder der Kommission wegen des Verdachts der Strafvereitlung, Begünstigung und unterlassenen Hilfeleistung angezeigt - an der Spitze Manfred von Richthofen, den Präsidenten des DSB. Der Dopingausschuss hätte erkennen müssen, so argumentiert Lehner, dass die Hormon-Experimente den Tatbestand der Körperverletzung erfüllten. Bis heute wurde kein mit Hormonen vollgepumpter Sportler medizinisch beraten oder gar entschädigt.

»Wer weiß, was die mir noch alles reinpumpen. Ich brauch auch einen Dopingausschuss!« Robert fallen die Augen zu und er nimmt den Kommentar seines Bettnachbarn nicht mehr wahr.

Tag 126

Robert erwacht nach unruhigem Schlaf. Während Schwester Daniela das Tablett mit dem Frühstück in das Zimmer schiebt, berichtet er ihr von seinen nächtlichen Erlebnissen und dass er stark Kopfschmerzen habe.

»Ich habe mehrmals in der Nacht eine Frau im Nebenzimmer schreien gehört.« Die Schwester lacht kurz auf.

»Ja, das ist die Frau Luginger, die hat vor vierzehn Tagen auch eine Lumbalpunktion genossen und leidet seitdem unter extremsten Kopfschmerzen, sobald sie den Kopf nur ein bisschen bewegt. Nachtschwester Adelheid hat ihr unwissenderweise zwei Morphiumpflaster draufgepappt, damit sie Ruhe hat. Jetzt schläft sie wie eine Tote und ich hab den Ärger mit dem Aufwecken.« Als das Frühstück serviert wird, setzt sich Robert in seinem Bett auf und fällt mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder zurück.

»Mist, mein Kopf!« Sofort ruft er wieder nach seiner Lieblingsschwester und klagt ihr sein Problem.

»Wenn ich liegen bleibe, wird der Schmerz ja schon langsam erträglicher. Aber jedesmal, wenn ich mich wieder aufsetze, entwickeln sich die Schmerzen zur vollen Pracht. Jetzt weiß ich jedenfalls, dass ich voraussichtlich die nächsten Tage im Bett verbringen werde und der gestrige Nachmittag in der Sonne wohl ein fataler Fehler war. Da kann man wohl nichts machen, oder?«

»Nein, da kann man nichts machen, das vergeht von selbst wieder in spätestens zehn Tagen, Herr Winterkorn!« Schwester Daniela bringt Robert ein Glas Wasser mit zwei Tabletten und stellt sich direkt neben sein Bett, so dass er von seiner Perspektive aus einen guten Blick auf ihre vom zu knappen Schwesternkittel nur unzureichend verdeckten weiblichen Attribute erheischen kann. Langsam greift Robert nach dem Glas und den Tabletten, ohne den Blick vom prallen Ausschnitt abwenden zu können.

»Sie warten jetzt, bis ich das geschluckt habe, nicht wahr?«

»Nein, ich warte nicht! Ich habe schließlich noch andere Patienten. Bis später, Herr Winterkorn! Gute Besserung!« Schwester Daniela macht auf ihren - für eine Krankenschwester doch sehr deplatziert wirkenden - High-Heels kehrt und Robert schaut ihr verträumt hinterher. Er schluckt die Tabletten und trinkt das Glas in einem Zug leer.

Tag 130

Der Professor kommt zur Visite und fragt: »Wie geht es Ihnen heute?«

»Nicht gut! Die Kopfschmerzen von der Punktion sind immer noch nicht weg.«

»Ja, das kann durchaus noch eine Woche dauern. Gut Ding will Weile haben. Dann bis morgen.« Die Visite ist heute schnell beendet. Trotz der Schmerzen beginnt Robert, wie jeden Tag, wieder eisern und mit letzter Kraft seine zwanzig Bahnen im Pool zu schwimmen, absolviert anschließend die Wassergymnastikstunde, dessen einziger Teilnehmer er ist, und tritt verbissen seine fünf bis zehn Kilometer auf dem Ergometer. Anschließend berichtet er seinem Zimmernachbarn von seinem Zustand.

»Die Schmerzen beim Sport sind fast unerträglich. Ich habe das Gefühl, mein Gehirn stößt im Schädel überall an. Bisher habe ich immer wieder versucht, den Ärzten zu erklären, wie es mir geht. Aber da sie das offenbar nicht interessiert, tue ich nun genau das, was sie mir immer gesagt haben, da dies ja angeblich meinen Zustand bessern sollte. Doch bis jetzt ist genau das Gegenteil der Fall. Wenn ich nicht dem Berkel so sehr vertrauen würde ... Der behandelt mich wie einen Sohn. Er hat mir versprochen, dass er mich wieder gesund bekommt!«

Als er am Abend erschöpft im Bett liegt und Schwester Daniela ihn wieder etwas ungehalten anspricht, weil er nicht zum Abendessen aufsteht, schiebt Robert wortlos die Schublade des Nachtkastens auf und holt einen Zettel heraus. Es ist das Attest eines Psychiaters. Er reicht ihn der Schwester.

Die liest vor: »Nicht aus schlechtem Willen, sondern aus Krankheitsgründen ist Herr Winterkorn nicht in der Lage und hat auch nicht die Initiative, selbst die einfacheren Dinge des alltäglichen Lebens selber zu erledigen.«

Sie reicht den Zettel zurück und murmelt resigniert: »Tut mir leid, ich lasse Sie dann halt wieder allein.«

»Mir tut es leid, ich wollte Sie nicht persönlich angreifen. Wissen Sie, Schwester, die Ärzte verstehen mich offensichtlich nicht richtig. Mein Hausarzt, Doc Verdi, ist einer der wenigen, die meinen Kampf erkannt haben und mich nicht mit blöden Sprüchen behandeln. Diese Sprüche von meiner Freundin Angela und ihrer buckligen Verwandtschaft, wie ›Reiß dich doch zusammen!‹, ich kann sie nicht mehr hören. Sie sind pures Gift für mich! Ich reiße mich ja zusammen und möchte Dinge machen, wie zum Beispiel spazieren gehen, Kino, lesen, meinen Hobbys nachgehen, ja mehr als alles andere wieder alles machen können. Leider fehlt mir die Kraft dazu und das macht mich zusätzlich noch fertiger. Ich will so gerne und kann nicht mehr. Manche Betroffene finden gerade noch die Kraft, ihrem Leben - ja ihrem Dahinvegetieren - ein Ende zu setzen, weil sie sich ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen nicht mehr gewachsen fühlen. Doch ich will überleben, Schwester. Noch gibt es Hoffnung. Bald komme ich hier raus.«

Auf seine Eltern und Geschwister kann sich Robert verlassen. Obwohl er versucht, alles selber zu machen, gibt es jedoch manchmal Verrichtungen, bei denen er Hilfe braucht und dann kann er sich an sie wenden. Von ihnen kommen niemals blöde Sprüche oder gute Ratschläge. Sie sind einfach für ihn da und nehmen ihn so wie er ist, auch wenn er durch seine schwere Krankheit öfters ungeduldig klagend und selbstbezogen erscheint.

Tag 133

Gegen seine enormen Schlafstörungen bekommt Robert seit zwei Tagen am Abend zwei starke Schlaftabletten. Eine der Tabletten ist eigentlich keine Schlaftablette. Es ist eine orange Filmtablette, ein Neuroleptikum, das man wegen seiner müde machenden Nebenwirkung als Schlaftablette einsetzt. Seit Beginn seiner Erkrankung, an diesem unsäglichen Freitag vor fünf Monaten, schläft er nur wenige Stunden und auch diese nur mit Unterbrechungen. Oft schreit er sofort nach dem Aufwachen. Er könne diesen Zustand nicht mehr über so lange Zeit ertragen, sagt er zu seinem Zimmerkollegen vor der Morgenvisite.

Professor Berkel nimmt sich heute bei der Visite mehr Zeit für seinen Patienten als sonst.

»Wie geht es uns denn heute, Herr Winterkorn?«

»Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, mir geht es immer gleich, immer gleich schlecht. Aber ich bin froh, dass Sie mir jetzt diese Schlaftabletten gegeben haben. Ich hatte sie ja erst abgelehnt.«