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"Ich diene nicht mehr mir selbst, sondern dem Land und allen, die in ihm leben. Ein Leben für viele. Für alle Zeiten." So lautet der Eid der Beschützer von Dekar. Auch die Kämpfergilde Schwarze Allianz hat sich dies zur Aufgabe gemacht – bis zu dem Tag, als ihr Anführer Lichtfels in einer Nacht-und-Nebel-Aktion seine Gefährten verlässt, um im Alleingang eine geheime Mission zu erfüllen. Als Lichtfels fünf Jahre später nach Dekar zurückkehrt, ist nichts mehr so, wie es war. Seine Gildenmitglieder sind in alle Himmelsrichtungen verstreut und auf dem Thron sitzt ein König, der das Volk tyrannisiert. Jegliche Prinzipien und Werte, für die einst die Schwarze Allianz stand, wurden zerschlagen. Der ehemalige Gildenanführer versucht seine Kampfgefährten wieder zu vereinen, um den Machenschaften des Tyrannen Einhalt zu gebieten und dem Volk von Dekar zu zeigen, dass seine Gilde es immer noch beschützt. Ziele, die schier unerreichbar erscheinen, denn ihm läuft nicht nur die Zeit davon, sondern er deckt auch noch ein Geheimnis um den König auf, das niemals hätte ans Licht kommen dürfen.
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Seitenzahl: 585
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Landkarte
Zitat Lichtfels
Prolog
Kapitel 1 - Licht
Kapitel 2 - Alte Bekannte
Kapitel 3 - Kampf in den Wäldern
Kapitel 4 - Feinde
Kapitel 5 - Schild der Heiler
Kapitel 6 - Hinter den Mauern
Kapitel 7 - Lichtfels’ Erinnerung: Auf der Suche nach Kämpfern
Kapitel 8 - Elfenmagie
Kapitel 9 - Wunsch nach Rache
Kapitel 10 - Lichtfels’ Erinnerung: Vor dem Wettkampffinale
Kapitel 11 - Erinnerungsruf
Kapitel 12 - Neue Allianz
Kapitel 13 - Lichtfels’ Erinnerung: In den Katakomben
Kapitel 14 - In der Dunkelheit der Nacht
Kapitel 15 - Peitsche und Schwert
Kapitel 16 - Flucht
Kapitel 17 - Lichtfels’ Erinnerung: In der Schmiede
Kapitel 18 - Aufbruch gen Südosten
Kapitel 19 - In der Tiefe
Kapitel 20 - Lichtfels’ Erinnerung: In dem Wirtshaus
Kapitel 21 - Weg durch die Dunkelheit
Kapitel 22 - Am Abgrund
Kapitel 23 - Brücke der Täuschung
Kapitel 24 - Die Katakomben von Brayken
Kapitel 25 - Im Nest der Echsen
Kapitel 26 - Königsblut
Kapitel 27 - Lichtfels’ Erinnerung: An dem Sterbebett
Kapitel 28 - Getrennte Wege
Kapitel 29 - Wo sie das Kämpfen lernten
Kapitel 30 - Feuer und Blut
Kapitel 31 - Als Brayken fiel
Kapitel 32 - Duell der Anführer
Kapitel 33 - Ein Wiedersehen
Kapitel 34 - Letzter Widerstand
Kapitel 35 - Lichtfels’ Erinnerung: In der Wasser-Arena
Kapitel 36 - Eidbrecher
Kapitel 37 - Gebrochener Wille
Kapitel 38 - Neues Leben
Kapitel 39 - Abschied
Kapitel 40 - Lichtfels’ Erinnerung: Auf der Suche nach Erben
Kapitel 41 - Tanz mit dem Feuer
Kapitel 42 - Der Schwur
Dank
Glossar
Namensverzeichnis
Stefanie Karau
Die Allianz der Sonne
Band 1
Fantasy
Die Allianz der Sonne (Band 1)
»Ich diene nicht mehr mir selbst, sondern dem Land und allen, die in ihm leben. Ein Leben für viele. Für alle Zeiten.«
So lautet der Eid der Beschützer von Dekar. Auch die Kämpfergilde Schwarze Allianz hat sich dies zur Aufgabe gemacht – bis zu dem Tag, als ihr Anführer Lichtfels in einer Nacht-und-Nebel-Aktion seine Gefährten verlässt, um im Alleingang eine geheime Mission zu erfüllen.
Als Lichtfels fünf Jahre später nach Dekar zurückkehrt, ist nichts mehr so, wie es war. Seine Gildenmitglieder sind in alle Himmelsrichtungen verstreut und auf dem Thron sitzt ein König, der das Volk tyrannisiert. Jegliche Prinzipien und Werte, für die einst die Schwarze Allianz stand, wurden zerschlagen.
Der ehemalige Gildenanführer versucht seine Kampfgefährten wieder zu vereinen, um den Machenschaften des Tyrannen Einhalt zu gebieten und dem Volk von Dekar zu zeigen, dass seine Gilde es immer noch beschützt. Ziele, die schier unerreichbar erscheinen, denn ihm läuft nicht nur die Zeit davon, sondern er deckt auch noch ein Geheimnis um den König auf, das niemals hätte ans Licht kommen dürfen.
Die Autorin
Stefanie Karau, geboren im April 1990 in Torgau, lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in der Literatur- und Buchstadt Leipzig.
Während sie sich hauptberuflich mit Zahlen beschäftigt, ist sie in ihrer Freizeit von Büchern und fantastischen Geschichten umgeben. So betreibt sie einen Bücherblog, besucht gerne Buchmessen oder trifft sich mit anderen Autoren.
Schreiben ist ihre Leidenschaft, ihre Fantasie kennt keine Grenzen, daher möchte sie jeden einladen, auch in ihre magischen Welten einzutauchen. Wenn sie nicht gerade schreibt, ist sie häufig im Kino anzutreffen, verwandelt sich in Online-Rollenspielen in eine Heldin oder unternimmt etwas mit Familie und Freunden.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Juni 2021
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2021
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski
Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig
Korrektorat 2: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-185-7
ISBN (epub): 978-3-03896-186-4
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für alle,
die an mich geglaubt haben.
Einst verbündeten wir unszu mutigen Kämpfern des Landes.
Einst kämpften wir zusammen
ohne Aussicht auf Erfolg.
Einst trennten sich die Wege,
nur die Erinnerungen blieben.
Einst ist nunmehr vergangen,
ich trete aus dem Schatten.
Einst galt ich als gebrochen,
vereint mit euch bin ich wieder eins.
(Lichtfels)
Lichtfels’ Erinnerung
5 Jahre zuvor …
Ich lief durch die Gänge der Kämpferakademie, deren schmale Fenster ein wenig Licht spendeten. Heruntergebrannte Fackeln hingen an den Wänden, Vorhänge, die sich durch den Wind bewegten, waren locker aufgezogen und der lange Läufer wies die Fußabdrücke des gestrigen Tages auf.
»Wir müssen noch den Teppich ausklopfen«, hörte ich einen Jungen an der nächsten Ecke zu seinem Kameraden murmeln.
»Du musst das. Hättest du deinen Lehrmeister nicht belogen, könntest du …« Der zweite Schüler schwieg, als er mich erblickte.
Sie stellten sich stramm am Rand auf und nickten mir beim Vorübergehen zu.
Ich erwiderte ihren Gruß und schmunzelte, da ich mich selbst in ihnen wiedererkannte. Auch ich hatte mich das ein oder andere Mal überschätzt, war zu spät zum Unterricht gekommen oder hatte die Übungskämpfe geschwänzt. Zur Strafe musste ich jedoch Waffen polieren oder Staub von Rüstungen wischen.
Die Ausbildung zum dekarischen Kämpfer war nicht einfach, aber danach standen einem alle Tore offen. Wie bei mir, der eine eigene Kämpfergilde gegründet hatte, die sich Schwarze Allianz nannte.
»Irgendwann werden wir auch so sein«, vernahm ich das Flüstern von einem der beiden Schüler.
»Das werden wir«, stimmte der andere ihm zu.
Ich drehte mich zu ihnen um und räusperte mich auffällig laut, sodass sie sich aus ihrer Starre lösten und den Teppich aufrollten.
Ja, genau das dachte ich damals als Junge auch.
Ich folgte einer breiten Wendeltreppe nach oben, betrat einen weiteren Korridor und lief an ein paar Rüstungen vorbei, die den Weg säumten, bis ich mich in einem größeren Raum wiederfand, dessen Kassettendecke mit dunklem Holz geschmückt war.
Das Parkett quietschte unter meinen Füßen, sodass ich augenblicklich stehen blieb, während mich vier Augenpaare anschauten.
Die Mundwinkel der Heilerin namens Lara zuckten, ehe sie sich wieder ihren drei Schülern widmete. »In jedem schlummert Magie, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger«, fuhr sie ihre Ansprache fort, die durch mein Erscheinen unterbrochen worden war. »Oft zeigt sie sich sehr zeitig, manchmal ruht sie aber auch bis ins hohe Alter. Es gibt verschiedene Arten, wie sie sich in euch entfaltet. Manche Menschen sind überaus schnell und sehen sehr scharf, andere tragen viel Stärke in sich und bringen den Boden zum Beben.« Sie warf einen kurzen Blick zu mir, während ich mich langsam näherte. »Wieder andere tragen die Elemente in sich, die sie entfalten können.«
»Wie die Magier!«, meldete sich ein Junge, nicht älter als zehn Sommer.
»Genau. Und wir beherrschen das heilende Feuer«, erklärte sie weiter und ließ eine blaue Flamme in ihrer Handfläche auflodern.
»Woher weiß ich, dass ich eine dekarische und keine gewöhnliche Heilerin bin?«, hakte ein Mädchen nach, das kaum älter als der Junge war und dessen langes braunes Haar als geflochtener Zopf über der Schulter hing.
»Wie lautet der Grund, warum du hier bist?«, fragte Lara, anstatt ihr eine Antwort zu geben, und löschte die kleine Flamme wieder.
Während ich neugierig der Unterrichtsstunde lauschte, lehnte ich mich nahe einem Fenster an die Wand. Lara war die geborene Lehrmeisterin, aber ich konnte mir nicht vorstellen, junge Schüler anzulernen.
»Ich habe mich verletzt und als ich die Schmerzen nicht mehr ausgehalten habe, heilte ich die Wunde«, erzählte das Mädchen. »Dann habe ich mich um eine Verletzung meines Bruders gekümmert und verschloss auch diese.«
»Mit einem blauen Licht?« Laras schmale Augenbrauen hoben sich, woraufhin das Mädchen rasch nickte und seine Finger betrachtete. »Verdächtig.« Die Lehrmeisterin schmunzelte und faltete ihre Hände vor dem Bauch. »Diese Fähigkeit beherrscht kein gewöhnlicher, sondern nur ein dekarischer Heiler. Er hat die Fähigkeit, mithilfe des blauen Feuers Wunden zu verschließen oder Blutungen zu stoppen. Gewöhnliche Heiler können sich nur mit Verbänden und Tinkturen um Verletzungen kümmern, dort dauert die Genesung auch länger.«
Der Arm des Jungen schnellte in die Höhe, woraufhin Lara ihm zunickte.
»Warum dürfen wir Heiler nur mit einer Peitsche kämpfen? Ich würde viel lieber ein Schwert tragen«, sagte er resigniert.
Ich grinste, da mir auch diese Frage nicht fremd war.
»Das …« Lara warf einen Blick zu mir. »… ist zurückzuführen auf die uralten Lehren der Akademie.«
Oh, diese Geschichte liebte ich, seit ich hierhergekommen war.
»Lichtfels, möchtest du es ihnen erzählen?«, erkundigte sie sich bei mir.
Innerlich stöhnte ich und lehnte sogleich ab. »Du machst das ganz wunderbar, Lehrmeisterin.«
Ein Geschichtenerzähler war ich noch nie gewesen und mit Sicherheit konnte sie es viel treffender vortragen als ich.
Lara nickte mir schmunzelnd zu, dann wandte sie sich an ihre Schüler. »Einst schenkte die Natur den Menschen die Magie, um die Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen«, begann sie. »Wie die Elfen mit langem Leben gesegnet waren oder andere Völker verschiedene Gaben besaßen, sollten die Menschen sich das Leben mit Magie vereinfachen. Anfangs lebten alle im Einklang, aber die Magie geriet außer Kontrolle, verführte die Menschen zu schrecklichen Taten, und die Natur entschied sich, sie wieder von ihnen zu nehmen. Was zu großer Missgunst führte, denn erneut hatten die Menschen keine besondere Gabe. Auch wenn es der Natur schwerfiel, trennte sie das Volk von den anderen, um ihnen Zeit zu geben, die Magie abermals zu vergessen. Ein einsames und trostloses Leben erwartete die Menschen.«
Die Gesichter der Schüler veränderten sich von aufmerksam zu traurig, als Lara kurz innehielt.
»Eines Tages entschieden sechs junge Männer, die Natur aufzusuchen und sie davon zu überzeugen, dass der Magie nur Grenzen gesetzt werden müssen. Sechs Brüder mit verschiedenen Fähigkeiten.« Wieder schnellte der Arm des Jungen hoch, doch Lara winkte ab und fuhr fort. »Die Gebrüder Braykion schworen der Natur, die Magie an ihre Fähigkeiten und ihre Kampfkünste zu binden, was dazu führte, dass jeder Kampfkunst eine Waffe und eine entsprechende Aufgabe zugeordnet wurde. Wir Heiler schützen, heilen und kämpfen mit einer Peitsche. Die Schützen sind schnell, stark auf hohen Distanzen und nutzen Bogen oder Armbrust. Sie sind zusätzlich mit Jagdmessern ausgerüstet. Die Magier beherrschen vollständig die Elemente und kämpfen meist mit Zauberstäben, während die Beschwörer schnell sind, eines der fünf Wesen heraufbeschwören können und mit ihren zwei Schwertern den Nahkampf unterstützen. Bei ihnen müsst ihr achtsam sein, denn sie dürfen Dolche bei sich tragen, die sie mit Gift tränken können.«
Lara zeigte auf mich. »Die Faustkämpfer sind groß, kräftig und kämpfen mit ihren Fäusten, wogegen die Schwertkämpfer, die ebenfalls groß und kräftig sind, ihr Schwert schwingen.«
»Ich möchte aber mit einem Schwert kämpfen«, sagte der Junge und verzog das Gesicht.
Mein Blick wanderte zu Lara, die ihn ernst anschaute. Er hatte sie unterbrochen und das war einem Schüler nicht erlaubt.
»Du musst herausfinden, für welche Kampfkunst dein Herz schlägt«, erwiderte sie und zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine feine Falte. »Manch ein Beschwörer träumte von einem der Wesen, ein anderer trainierte mit einem Bogen und traf mehrfach hintereinander ins Schwarze. Probier es aus. Du trägst einen Funken des heilenden Feuers in dir, aber im Laufe der Zeit haben sich die Gaben vermischt, daher kann ich nicht ausschließen, ob nicht auch ein Schwertkämpfer in dir steckt. Such Lehrmeister Mescal auf, dass er dich prüfen soll.« Strenge schwang in ihren letzten Worten mit.
»Jetzt?«, hakte er vorsichtig nach.
»Jetzt«, antwortete Lara kühl.
»Ja, Lehrmeisterin.« Er verabschiedete sich und eilte zum Korridor zurück.
Keine Bestrafung? Meine Kämpferfreundin war eindeutig zu nett.
Ein kurzes Schweigen legte sich über alle, ehe sich ihre beiden übrig gebliebenen Schülerinnen anschauten.
Vorsichtig meldete sich das blonde Mädchen mit Sommersprossen, das bisher geschwiegen hatte.
»Ja, Mildred?«, sprach Lara sie an.
Sie wischte sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Kann ich zwei Kampfkünste erlernen?«
Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf.
»Unmöglich ist es nicht, aber du schwächst deine bereits erlernte Kampfkunst«, erklärte Lara. »Niemand soll sie alle beherrschen, das schworen die Brüder der Natur, um die Magie immer in einem Gleichgewicht zu halten.«
Die beiden Schülerinnen nickten, woraufhin die Lehrmeisterin sie entließ. »Nutzt die restliche Zeit heute und übt an eurem heilenden Feuer.«
»Ja, Lehrmeisterin«, sagten sie im Chor und rannten freudestrahlend aus dem Raum hinaus.
Während ich mich von der Wand abdrückte, schaute Lara mich mit schmalen Augen an. »Sag nichts.«
»Du bist eindeutig zu gut zu ihnen«, ignorierte ich ihre Worte und grinste sie an. »Wenn ich daran zurückdenke, wie oft wir bestraft wurden.«
»Wir haben auch viel mehr Unfug gemacht.« Lara näherte sich mir und fuhr sich durch die lange, blonde Lockenmähne. »Danke, dass du so schnell gekommen bist.«
»Keine Frage.« Gleichgültig wer, wenn jemand aus meiner Gilde Hilfe brauchte, kümmerte ich mich darum.
Lara ging zum Fenster und betrachtete die ziegelroten Dächer von Brayken, der zweitgrößten Stadt des Landes, die einst den Namen Braykonia getragen hatte. Dass Lara so still blieb, ließ meine Sorge rasch heranwachsen. Irgendetwas lag ihr schwer auf dem Herzen.
»Was hast du?«, fragte ich leise.
»Ich weiß, das kommt ungelegen, gerade weil der Wettkampf in vier Wochen stattfindet, aber ich bin besorgt wegen …« Sie holte tief Luft.
Geduldig wartete ich und schluckte trocken.
»Chronos.« Sie traute sich kaum, mich anzusehen, was ich von ihr nicht kannte. Wir hatten immer offen über alles geredet und uns nie belogen.
Warum war sie wegen ihm besorgt? Natürlich, Chronos war ein Mitglied meiner Gilde, das oft für Probleme sorgte, aber das stellte nichts Neues dar. Obwohl er seinen eigenen Kopf hatte, war er bisher der Schwarzen Allianz immer treu ergeben gewesen.
»Was ist mit ihm?«, hakte ich sogleich nach.
»Ich will wirklich keine Unruhe stiften oder Ärger aufkommen lass…«
»Lara«, unterbrach ich sie. »Du kennst mich lange genug, dass du mit mir reden kannst. Habe ich dich jemals für irgendetwas verurteilt?«
»Nein, natürlich nicht.« Sie räusperte sich und sagte schließlich: »Chronos sympathisiert mit der Gilde Relikt.«
Einen Herzschlag lang hielt ich die Luft an, atmete schließlich erleichtert aus und ließ die angespannten Schultern fallen. »Das bedrückt dich?«
Sie nickte und schaute wieder hinaus auf die Stadt Brayken. »So kurz vor dem Wettkampf finde ich das bedenklich, gerade weil Relikt unsere härteste Konkurrenz ist.«
Es gefiel mir zwar nicht, aber Freundschaften und Bekanntschaften zu anderen Gilden konnte ich nicht verbieten. Auch ich hatte zu einigen Mitgliedern aus anderen Gilden guten Kontakt, war mit vielen befreundet, denen ich im Wettkampf gegenüberstehen würde. Letztendlich waren wir alle dekarische Kämpfer und standen im Falle eines Krieges Seite an Seite.
»Chronos ist seit einem Jahr bei uns, denkst du nicht, wir hätten es schon eher gemerkt, wenn er sich einer anderen Gilde zugehörig fühlt?«
Lara bewegte ihren Kopf hin und her. »Ich bin mir nicht sicher.«
»Ich weiß, er ist manchmal etwas grob zu euch«, merkte ich an und vergrub meine Hände in den Taschen.
Spöttisch hob sie die Augenbrauen. »Manchmal?«
»Hat er sich mit der Zeit gebessert oder untergräbt er immer noch eure Autorität?«
Chronos hatte schon immer ein Problem damit, dass mit Lara und Aliya zwei Kämpferinnen zu meinen engsten Vertrauten gehörten und in meiner Abwesenheit Entscheidungen übernahmen. Das konnte ich nicht abstreiten.
»Ja, gebessert schon, aber er belächelt Aliya und mich immer noch sehr oft.« Lara verschränkte die Arme vor der Brust.
Alle waren angespannt vor diesem Wettkampf. Ihn zur Rede zu stellen, könnte die Stimmung noch mehr trüben, was mir im Moment gerade noch gefehlt hätte. Ich war froh, genug Kämpfer gefunden zu haben, um am Wettkampf teilnehmen zu dürfen. Jede Kämpfergilde wollte dem König unmittelbar dienen und zu seiner Sonderarmee ernannt werden. Mit eigenen Befugnissen ausgestattet, einem Ehrenplatz am Hofe des Königs und festem Lohn handelte es sich um den Traum eines jeden dekarischen Kämpfers.
»Mach dir keine Gedanken, er kennt viele von Relikt aus der Ausbildung, dennoch hat er sich für uns entschieden.«
Und daran glaubte ich.
Lara verzog die Lippen zu einer schmalen Linie. »Wie du meinst.«
Lichtfels
Gegenwart
Lange hatte Lichtfels mit sich gerungen, ob das, was er plante, eine gute Entscheidung war. Er wollte alles vergessen, nie wieder in sein Heimatland zurückkehren, doch die Entwicklung der Welt und der Verrat, der an ihm begangen worden war, nagten an ihm.
Das war der Grund, wieso er in der einbrechenden Dunkelheit auf einer Landstraße entlanglief.
»Die dekarischen Kämpfer? Sie sind schon lange nicht mehr unsere Beschützer«, erzählte ihm eine alte Frau am Wegesrand, die er angesprochen hatte, um herauszufinden, welche Stimmung im Land herrschte.
Um sie herum beendeten die Bauern ihre Arbeiten auf den Feldern und brachten die Ernten in die Scheunen, die nahe einem kleinen Dorfe gelegen waren.
»Statt zu beschützen, beobachten und kontrollieren sie uns«, fuhr sie fort und strich sich mit dem Handrücken ein paar Schweißperlen von der Stirn. »Sicher, sie helfen auch, das hat aber seinen Preis.«
»Wie meint Ihr das?«, fragte Lichtfels, als in der Nähe grelle Blitze aufleuchteten, die ein Unwetter ankündeten.
»Unsere Kinder. Niemand weiß, was aus ihnen geworden ist.« Trauer schwang in ihrer Stimme mit und während sie einen Moment schwieg, begleitete er sie zur nächsten Hütte. »Wir hoffen nur, dass wir sie eines Tages wiedersehen.«
Worte, die ihm die Sprache verschlugen und sich in sein Gedächtnis einbrannten.
Lichtfels spähte hinauf zum Himmel, wo die heranziehenden Wolken den sichelförmigen Mond verschleierten, der als einziger heller Fleck auf dem schwarzen Tuch der Nacht zu sehen war.
»Geht nun«, sagte sie und verschloss die Fensterläden ihrer Hütte. »Bevor die Kämpfer des Königs auf Euch aufmerksam werden. Es ist unüblich, nachts hier herumzuschleichen und seltsame Fragen zu stellen – und das auch noch bei diesem Wetter. Ihr solltet Euch ein Zimmer im Gasthaus nehmen.«
Lichtfels dankte ihr und verabschiedete sich. Aber anstatt eine Unterkunft zu suchen, wartete er, bis die Magier die vielen Feuerkugeln, die bis vor Kurzem noch Felder und Straßen beleuchtet hatten, innerhalb eines Atemzuges auslöschten.
Ohne noch mehr Zeit verstreichen zu lassen, wagte er sich in die Dunkelheit.
Der Wind hatte aufgefrischt und sich zu stürmischen Böen erhoben, die Sand, Staub und Blätter aufwirbelten, Zweige und Äste dazu brachten, sich zu verbiegen oder gar abzubrechen, und an seiner Kleidung zerrten.
Vielleicht, dachte Lichtfels, sollte ich die Vergangenheit ruhen lassen und mit ihr abschließen.
Doch die Gedanken in seinem Kopf wirbelten ebenso hin und her wie der Sturm um ihn herum.
Während er das Dorf zurückließ und Richtung Wald lief, fragte er sich, ob alles hätte anders kommen können. Ob die Welt durch seine Kämpfergilde besser geworden und das Volk von Dekar mit seinem Schutz zufrieden gewesen wäre, hätte er sich gegen den Verrat gewehrt.
Lichtfels war der Einzige, der zu dieser Zeit noch unterwegs war. Das Unwetter hinderte ihn nicht, im Gegenteil, es war eine einmalige Chance für ihn, seine ehemaligen Gefährten zu rufen, ohne dass es die Menschen von Dekar sofort merkten.
Wenn es eine Rückkehr gibt, dann soll es eine Überraschung sein.
Der Marsch durch den Wald hinauf ins Gebirge war die letzte Etappe seiner langen Reise. Er hatte das Land vor fünf Jahren verlassen und genau vor einem Monat war er aufgebrochen, um zurückzukehren.
Es blitzte auf und wenige Sekunden später folgte ein langes, tiefes Grollen, welches die Erde erbeben ließ. Als ein heftiger Windstoß durch den Wald peitschte, verfehlte ein größerer Ast ihn nur knapp.
Mit klopfendem Herzen blieb Lichtfels stehen und zog seinen Umhang fester um den Leib, ehe er tief durchatmete und den Weg fortführte.
Die Anstrengung, gegen den Wind und bergauf zu laufen, spürte er nach einer Weile nicht mehr. Er rutschte auf dem feuchten Laub aus und fiel auf den durchweichten Waldboden, aber er stemmte sich sofort wieder hoch. Schnellstens musste er zum Plateau des Nordens, das sich zwischen den zwei größten Bergen des Grenzgebirges mit dem Namen Bairappa-Kalyani, genannt Wolkenbrecher, befand, am Rande eines Talkessels, der dort versteckt lag.
Es stellte den Treffpunkt seiner ehemaligen Kämpfergilde dar, wo Pläne geschmiedet, Beschlüsse gefasst und Entscheidungen getroffen worden waren. Dort hatte das Leben der Schwarzen Allianz stattgefunden und genau dort, hoffte er, würden seine Kämpfer ihn finden und zu ihm zurückkehren.
Ein geheimer Ort, dessen Eingang einst von einem magischen Schild geschützt worden war, den seine Heiler errichtet hatten. Nur er und seine Gefährten konnten ihn sehen, für Fremde und Feinde sah er aus wie eine geschlossene Felswand.
Steil ging es in das Gebirge hinauf. Lichtfels hielt den rechten Arm auf Kopfhöhe, um sein Gesicht vor den Zweigen und Blättern zu schützen, die ihm entgegenschlugen. Neben ihm knackte es, als ein Baum umstürzte. Er sprang zur Seite und landete dabei erneut auf dem Boden, wo sich ein abgebrochenes spitzes Stück Holz in seinen Unterarm bohrte.
Er fluchte vor Schmerz, während er sich wieder aufrichtete. Mit zitternden Fingern zog er es heraus, und augenblicklich lief Blut an seinem Arm herunter, über die Hände bis zu den Fingerspitzen. Eilig riss er ein Stück des Umhangs ab und wickelte es sich grob um den Arm. Er hatte keine Zeit, die Wunde zu säubern, denn er musste weiter.
Der Wald öffnete sich, und der grüne Teppich aus Moos und Gräsern wechselte zu einem rauen Steinboden. Die Bäume wurden kahler, einige ragten nur noch als tote Pfähle in den Himmel oder lagen abgebrochen und verloren zwischen den Felsen, bis er keine mehr sehen konnte.
Der Wind war inzwischen zu einem regelrechten Orkan geworden, drückte gegen Lichtfels, bremste ihn aus, sodass er immer wieder in die Knie gehen musste. Durch die Blitze erkannte er das weitreichende Gebirge, davor die vielen Felsen, die einem wahren Labyrinth glichen.
Wenig später erreichte er eine Anhöhe, weit über dem Boden, von der aus er über die Waldkronen hätte hinwegschauen können. Doch es war zu dunkel und zu stürmisch, um den Blick schweifen zu lassen.
Er wandte sich dem Berg zu und näherte sich der Steilwand, die vor ihm in den Himmel ragte. Aus seiner Erinnerung wusste er noch, dass der Eingang zum Tal in der Nähe war, denn den Weg war er schon oft gegangen.
Während ihm die Blitze ein wenig Licht spendeten, suchte er das Gestein nach einer Felsspalte ab und erblickte nicht weit von ihm einen Schatten in der Felswand, der in den Berg hineinreichte.
Er berührte mit der Hand das kalte, raue Gestein und fuhr die Kanten entlang, als ihm ein altes Gedicht aus Kindheitstagen einfiel.
Von Natur erschaffen, geschliffen von ihr,
trägst Hunderte Jahre Geschichte in dir.
Bei voller Größe hältst du dem Wetter stand,
ganz klein fällst du aber schon durch eine Hand.
Lichtfels schluckte bei der Erinnerung, die er lange verdrängt hatte. Seiner Vergangenheit konnte er nicht mehr entkommen, immer mehr fiel ihm ein, während er sich weiter nach rechts bewegte.
Wachsam lief er an einem kleineren Felsen vorbei, bis er schließlich eine Felsspalte erreichte, in der es so schwarz war, dass er seine eigenen Hände kaum noch vor Augen sah.
Vorsichtig tastete er sich voran. Er roch Regen in der Luft und hoffte, dass er es trockenen Fußes durch die Felsspalte schaffte, denn nasses, rutschiges Gestein wollte er nicht auch noch passieren.
Beim nächsten Donnerschlag bebte der Boden erneut, und Lichtfels duckte sich, da kleine Steine von den Felswänden herunterrieselten. Sein Atem ging stoßweise und Schweißperlen liefen an den Schläfen herunter, während er voranschritt.
Nach endlosen Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, erreichte er endlich den Ausgang. Er stützte sich kurz an der Wand ab und gestattete sich einen Moment, um erleichtert auszuatmen.
Während er aus der Felsspalte hinaustrat, fegte ihm der Sturm das kinnlange braune Haar ins Gesicht und er strich es mit einer raschen Bewegung nach hinten. Eilig lief er einen Pfad entlang, dessen Untergrund nicht mehr nur von Stein, sondern auch von Sand und Kies bedeckt war.
Als er sich an einem Abhang wiederfand, von dem aus er auf das kleine Tal niederschauen konnte, setzte der Regen ein.
Der Ort, der vor ihm lag, war von grauen in den Himmel ragenden steinernen Wänden und Mauern umgeben, einst erschaffen von der feurigen Kraft der Natur, isoliert von der Außenwelt, wo seine Gilde mitten in der Natur hatte leben können.
Er blieb stehen und fasste mit einer Hand an sein Herz, während Donnerhall die Luft zum Vibrieren brachte.
Das Tal gibt es noch.
Genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Im Westen konnte er das Plateau aufgrund der Dunkelheit nur erahnen, doch in der Ferne leuchteten die Steinskulpturen, die aus der Nacht hervorschimmerten wie ein Mond zwischen Wolkenfetzen.
Da sind sie, aber warum leuchten sie?
Er starrte sie einen Moment an, bis er weitereilte, den Steinskulpturen entgegen.
Das Gewitter behinderte seine Sicht, dennoch folgte er linkerseits dem Abhang, der ihn am Rande des Tals entlang zwischen den Felsen hindurchführte. Der Pfad war kaum sichtbar, denn Steinschläge hatten den Hang zerklüftet und uneben gemacht. Mehrere Felsbrocken, über die er hinwegklettern musste, erschwerten sein Vorankommen.
Mit Bedacht lief er den brüchigen Weg entlang, um nicht den Abhang hinunterzustürzen. Eine Unaufmerksamkeit, und alles wäre vorbei.
Schließlich erreichte er das Ende des Pfades und steuerte das Plateau an, das nur noch wenige Stufen nach oben entfernt lag. Kurz darauf betrat er endlich den Kreis mit den Skulpturen.
Es waren sechs aus Kalkstein gemeißelte Figuren von Kämpfern, doppelt so groß wie er, die in einem Kreis angeordnet waren und grünlich schimmerten. Flechten hatten sich im Laufe der Jahre wie eine zweite Haut über sie gelegt.
Fasziniert blickte Lichtfels sie an, denn so hatte er sie noch nie gesehen.
Der Faustkämpfer, groß und kräftig, mit Stahlhandschuhen an den Händen, dessen eine Faust gen Himmel zeigte, während die andere locker in die Hüfte gestemmt war.
Der Schütze, schlank und flink, in der Hand einen eleganten Bogen, dessen Pfeil gen Nachthimmel gerichtet war.
Der Heiler, klein und zierlich, bewaffnet mit einer Peitsche, deren Schnur sich wie eine Schlange um den Körper legte.
Der Magier, schmal und unscheinbar, mit einem langen Stab in der rechten Hand, in der linken eine faustgroße Kugel.
Der Beschwörer, groß und gelenkig, bewaffnet mit zwei langen, gebogenen Schwertern, die vor seinem Körper gekreuzt waren.
Der Schwertkämpfer, kräftig und auffällig, in der Hand ein breites, langes Schwert, das er nach oben hielt.
Es waren die sechs Urväter der Kampfkünste, die Gebrüder Braykion, die die Kämpferakademie in Brayken gegründet hatten und die Vorbilder der dekarischen Kämpfer darstellten. Figuren, bekannt als Symbol der Stärke und des Zusammenhalts.
Sie beschützten den Felsen, der sich in der Mitte vor ihnen befand, und genau diesem galt Lichtfels’ Aufmerksamkeit. Ein schwarzer rauer Stein, so unscheinbar und unauffällig, dass ein Fremder ihn nicht weiter beachtet hätte. Doch für Lichtfels strahlte er etwas Mystisches aus, ein Geheimnis, älter als alle Menschen auf der Welt. In ihm schlummerte etwas, was die Kämpferfiguren bewachten.
Er hatte das Plateau lange nicht gesehen, und nun stand er an diesem Ort, der unverändert wie eh und je vor ihm lag.
Lichtfels schluckte und langsam umrundete er den Felsen.
Der Boden des Plateaus bestand ebenfalls aus Kalkstein, und magische Zeichen waren darin eingeritzt, die nach der langen Zeit kaum noch zu erkennen waren. Moos hatte die Linien überwuchert, Sand, Kies und Schlamm sich in den feinen Rillen und Furchen angesammelt. Herbstlaub dämpfte seine Schritte auf dem Boden.
Er und seine Gefährten hatten das Plateau angelegt und die Figuren der dekarischen Kämpfer aufgestellt. In mühseliger Arbeit war es ihnen gelungen, die Symbole der Waffen, die Runen des Himmels und die Schutzzeichen der Elfen in den Boden zu schlagen. Allerdings erkannte er nichts mehr davon.
Die magische Kraft durchfloss jede Ader seines Körpers. Hier war die Vergangenheit näher, als er erwartet hätte.
Längst vergessene Erinnerungen kehrten in die Gedanken zurück.
Duelle, die er gefochten, Freundschaften, die er geschlossen, Kämpfer, die ihm die Treue geschworen hatten.
Mit zögernden Schritten trat er an den Felsen heran, während er seinen Atem zu beruhigen versuchte. Obwohl der Regen ihn unablässig durchnässte, schien er innerlich zu brennen, da er es nicht mehr schaffte, die Aufregung zu unterdrücken. Er ballte die Hände zu Fäusten und presste die Kiefer zusammen, doch ehe er die Finger auf den Felsen legte, hielt er inne.
Lichtfels war angekommen, hatte diesen Ort erreicht. Den Ort, den er vor fünf Jahren verlassen hatte. Noch hätte er gehen, alles dabei belassen können, wie es war. Er konnte ins Exil flüchten und für immer verschwinden.
Nein, dachte er. Ich habe den Menschen geschworen, sie zu beschützen. Dieses Land ist meine Heimat. Ich gehöre hierher.
Er schloss die Augen, atmete tief durch und drückte die Hände auf das kalte, nasse Gestein.
Ein kurzer Blitzschlag fuhr ihm durch alle Knochen und er fing an leise zu murmeln.
»Licht in dir erwach, vertreib die Dunkelheit, weise mir den Weg in dieser finst’ren Zeit.«
Um sich herum vergaß er alles, konzentrierte sich nur auf seine magischen Kräfte, das Kribbeln in den Fingern und auf die gesprochenen Worte. Er erinnerte sich noch genau an sie, obwohl das letzte Mal sehr lange her war.
Seine Muskeln spannten sich an, während sich ein Kraftfeld um ihn und den Felsen legte. Langsam begann der Stein aus dem Inneren heraus zu leuchten. Erst kaum erkennbar, dann immer heller und heller.
Seine Hände zitterten und verkrampften sich. Er konnte der Kraft kaum noch standhalten. Blitze brachen aus der Wolkendecke, die Erde erbebte. Von einem lauten Donnerschlag begleitet flog er rückwärts aus dem Kreis.
Hart prallte er auf dem Boden auf und stöhnte. In seinen Ohren pfiff es und die Wunde am Arm pochte. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und blickte erschöpft auf. Nichts geschah.
Der Regen prasselte auf ihn nieder und hatte ihn bereits bis auf die Knochen durchnässt. Mit der Faust schlug er auf den Boden.
Hatte er sich versprochen? Hatte er die Worte verwechselt oder welche vergessen?
Er legte den Kopf auf den nassen Boden und sog scharf die Luft ein. Seine Augen schauten zum schwarzen Himmel hinauf, als es hell vor ihm wurde.
Die Zeichen auf dem Boden begannen zu leuchten, das Moos sowie die Flechten verbrannten augenblicklich, der Schlamm wurde weggespült und das Licht pulsierte wie ein Herz, das soeben zum Leben erwacht war.
Trotz der Nässe kroch die Wärme vom Boden in seinen Körper. Wieder bebte es. Ein ohrenbetäubender Knall dröhnte durch das Tal, den er nur dumpf wahrnahm, da es immer noch in seinen Ohren pfiff.
Er richtete sich auf und kam wackelig auf die Beine, hielt jedoch eine Hand vor die Augen, da das grelle Licht ihn blendete. Als er zum Felsen sah, betrachtete er durch seine Finger die Lichtsäule, die so hell wie die Sonne emporloderte, höher als alle Gebirge der Welt.
Lichtfels lachte auf. Er hatte daran gezweifelt, ob es funktionierte, doch er stand leibhaftig davor. Dies war seine Bestimmung, dessen war er sich sicher. Er musste nur noch warten, darauf, dass irgendwo seine Kämpfer der Schwarzen Allianz das Licht sahen und es erkannten – seinen Ruf, sein Zeichen.
Er war zurückgekehrt.
Aliya
Aliya öffnete die Augen. Sie stand auf, betrachtete das vor sich hin lodernde Lagerfeuer und dann die Lichtung, die dunkel vor ihr lag und nur durch die Flammen erhellt wurde.
Etwas war anders.
Sie hatte deutlich die Erschütterung gespürt, und auch die Bäume flüsterten wirr durcheinander wie eine in Panik verfallene Menschenansammlung, sodass sie kein Wort verstehen konnte.
Flink zog die Halbelfe ihren Umhang an, legte sich den Riemen ihrer Tasche um die Schulter und löschte daraufhin das Feuer mit Erde. Sie lief los, ohne zu wissen, wo ihre Füße sie hintragen würden.
Während sie sich einen Weg durch die Dunkelheit bahnte, lauschte sie den Wäldern. Noch immer verstand sie nichts. Sie hielt an, ging zum nächstgelegenen Baum und berührte mit ihrer Hand die raue Rinde. Den Zeigefinger der anderen Hand legte sie an die Lippen.
»Pssst, beruhigt euch«, flüsterte sie.
Die Bäume verstummten nacheinander und murmelten ihr die Worte zu, die weitergetragen wurden. Begriffe wie ›Angst‹ und ›Furcht‹, aber auch ›Hoffnung‹ und ›Veränderung‹ fielen.
Aliya war irritiert.
Was redet ihr da?
Der aufkommende Wind umspielte ihr schmales Gesicht, das schwarze lange Haar und entblößte ihre spitzen Ohren. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Bäume, als ein Wort fiel, das ihr den Atem raubte.
»Licht?«, wiederholte sie es flüsternd.
Suchend blickte sie sich um, erst im Wald, in dem die Nacht jegliches Licht verbannt hatte, dann schaute sie in den Himmel, der von den herbstfarbenen Baumkronen verdeckt wurde, bis sie schließlich auf einen der Bäume zulief. Mit Kraft sprang sie vom Boden ab und klammerte sich an einem Ast fest.
Sie zog sich an ihm hinauf und kletterte zum nächsten Ast weiter, blieb jedoch an einigen Zweigen hängen und schürfte sich die Hand auf. Kurz fluchte sie, aber sie beachtete die Wunde nicht länger. Sie musste nach oben, sie musste wissen, welches Licht die Bäume meinten.
Immer höher tauchte sie in die Krone hinein, schob die orangeroten sowie braunen Blätter beiseite, hielt sich an der Baumrinde fest und stieg nach oben. Je weiter sie kam, desto heller wurde es. Endlich durchbrach sie die letzten Zweige.
Aliya stockte der Atem.
Über den Wald hinweg, zwischen den zwei größten Bergen des Grenzgebirges, da, wo das Plateau des Nordens lag, ragte eine gewaltige Lichtsäule in den Himmel.
Lange betrachtete sie das Licht, welches das Gebirge und deren weiße Gipfel erleuchtete. Die Blitze links und rechts von der Säule fielen kaum noch auf und sahen aus wie schmale Rinnsale.
Lichtfels? Bist du das?
Sie schaute auf ihre Hand, wo sich mehrere dunkle Kratzer auf der hellen Haut gebildet und zu brennen begonnen hatten. Um einen Traum handelte es sich nicht, der Schmerz war echt, aber ihr fiel es schwer, es zu glauben.
Konnte es Lichtfels, ihr Freund und ehemaliger Anführer der Schwarzen Allianz, sein? Oder hatte die verfeindete Gilde Relikt eine Möglichkeit gefunden, den Felsen zum Leuchten zu bringen?
Nein, unmöglich, dachte sie.
Oder? Vielleicht hatten sie ihn in ihrer Gewalt und wollten seine übrig gebliebenen Kämpfer fassen.
Aliya schluckte und schüttelte den Kopf. Ihre Gedanken überschlugen sich wie die vom Wind geformten Wellen des Blättermeeres, ehe sie zurück in die Baumkrone eintauchte und sich vorsichtig nach unten hangelte.
Nein, er ist in Sicherheit … irgendwo.
Nachdem sie auf einem Ast kurz innegehalten hatte, ließ sie sich auf den nächsten nach unten fallen. Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren, fand aber noch Halt am Baumstamm, während das Laub um sie herum raschelte, das Holz knarzte und die Zweige sich den immer stärker werdenden Windböen beugten. Als sie dem Boden nahe genug war, sprang sie hinunter und federte sich mit einer Hocke ab.
Nur einer konnte eine solch riesige Lichtsäule beschwören. Nur bei ihm war das Licht gleißend hell wie das der Sonne. Er, der von einer Nacht zur anderen verschwunden und nicht wieder zurückgekehrt war.
Aliya rannte los. Sie musste herausfinden, ob ihre Vermutung stimmte.
Als das Unwetter sich langsam legte und die Sonne im Osten ihre ersten Strahlen zeigte, verblasste die Lichtsäule und verschwand. Tiere wagten sich aus dem Unterholz, hier und da fiel ein Blatt zu Boden.
Aliya kletterte unter der Wurzel eines umgekippten Baumes hervor, wo sie ein paar Stunden verbracht hatte, als das Unwetter über sie hereingebrochen war. In ihrem feuchten Haar hatten sich Zweige und Rindenstücke verfangen, Schlamm klebte an ihren Händen und an der Kleidung.
Sie ging abseits der Wege, um nicht anderen Menschen, Händlern oder sogar Kämpfern von Relikt zu begegnen. Immer wieder stieg sie über umgekippte Baumstämme und lief an hohen Sträuchern vorbei. Manche Bäume standen durch den Sturm so schief, dass sie jeden Moment umkippen könnten. Auch Blätter und abgebrochene Äste lagen überall verteilt auf dem Boden.
Während sie zwischen den Bäumen entlangwanderte, lauschte sie ihnen und dem Wind abwechselnd. Ab und an drehte sie sich um, beobachtete die Umgebung und verwischte ihre Spuren. Sie konnte nicht vorsichtig genug sein.
Auf einer kleinen Lichtung, durch die ein Bach floss, hielt sie an, trank einen Schluck kühles klares Wasser und tauchte ihr Gesicht hinein, bevor sie sich die Schlammspritzer abwischte. Auch die Zweige und Rindenstücke zog sie mühsam aus ihrem Haar heraus, ehe sie ihre spitzen Ohren unter ein paar Strähnen versteckte, denn dass sie eine Halbelfe war, sollten Fremde und Feinde nicht sehen.
Zu oft wurden Elfen und Halbwesen gefangen genommen, weil sie besondere magische Künste besaßen. Wie die Fähigkeit, mit den Bäumen zu sprechen.
Sie nahm einen weiteren Schluck Wasser, als der Schorf an ihrer Hand sich löste und der Schnitt erneut blutete.
Verflucht.
Es ging nicht anders, sie musste die Wunde verbinden.
Bis zum Plateau war es zwar nicht mehr weit, aber ein halber Tagesmarsch lag mindestens noch vor ihr.
In ihrer Tasche suchte sie nach einem Verband, ein schmales Stück Leinen, das sie bei ihrem letzten Aufenthalt in einem Dorf erhalten hatte. Ein Müller war auf der Suche nach einem Heiler gewesen, weil er sich den Rücken verrenkt hatte und kaum noch aufrecht gehen konnte. Sie hatte sich seiner angenommen, ihm beim Strecken und Biegen des Rückens geholfen, bis sich seine Blockade gelöst hatte. Als Dank hatte sie eine Nacht in seiner Mühle übernachten und ihre Vorräte auffüllen dürfen.
Fünf Tage waren seitdem vergangen, doch Aliya hatte das Gefühl, als wäre es erst gestern gewesen.
Jetzt zog sie den Verbandsstoff heraus, tupfte vorsichtig das Blut in ihrer Hand ab und wickelte sorgfältig das Leinen herum. Erst als es straff genug saß und das Brennen nachließ, trennte sie das übrige Stück mit einem Messer ab, legte beides beiseite und befestigte den Verband am Handrücken mit einem Knoten.
Viel besser.
Sie bewegte ihre Finger, ballte ein paar Mal die Hand zu einer Faust und verstaute dann den Rest ihrer Utensilien wieder in der Tasche, als es hinter ihr knackte. Dennoch tat sie so, als hätte sie es nicht wahrgenommen. Wer auch immer es war, sollte denken, sie wäre nur eine einfache Reisende ohne Fähigkeiten.
Während Aliya ihre Hände am Umhang abwischte und langsam aufstand, bildete sie einen magischen Schutzschild um ihren Körper, der sich wie eine zweite Haut um sie legte. Ihre rechte Hand glitt vorsichtig an den Gürtel, an dem die Peitsche hing.
Erneut knackte es, dieses Mal links neben ihr.
Aliyas Blick wanderte zur Seite, wo sie im Schatten der Bäume einen Umriss erkannte. Wer sich an sie heranschlich, konnte nichts Gutes von ihr wollen.
Sie bückte sich und wischte sich getrockneten Schlamm von ihren Schuhen, ehe sie blitzschnell einen Rückwärtssalto machte und im Flug einen Zauber zu dem linken Gegner warf, der ihn für einen Moment lähmte.
Steh still!
Auf ihren Füßen gelandet, drehte sie sich um, zog ihre Peitsche und wandte sich dem zweiten Gegner zu, der aus dem Schatten trat und die Armbrust auf sie richtete. Er war ein Kämpfer, eingehüllt in einen Umhang und eine lederne Uniform. Ein dunkelblaues Tuch bedeckte bis auf die Augen sein Gesicht, sodass sie nicht sehen konnte, mit wem sie es zu tun hatte.
»Was wollt Ihr?«, rief sie.
Doch anstelle einer Antwort schoss der Kämpfer einen Bolzen in ihre Richtung.
Geschickt wich Aliya aus und rannte auf ihn zu, während er nachlud. Sie schwang ihre Peitsche und ließ die Schnur auf ihn niedersausen, aber er wich zurück und entzog sich ihrem Angriff.
Als er erneut die Waffe hochnahm, bildete sich unter Aliya ein silberfarbener, leuchtender Kreis.
Verflucht, der Schütze beherrscht Magie! Nein!
Der einfache Schutzzauber reichte nicht, um sie vor dem Zauber zu bewahren, dem sie gleich ausgesetzt sein würde. Sie hob beide Hände gen Himmel und konzentrierte sich auf einen neuen fast unsichtbaren Schild, welchen sie über sich wie eine Kuppel entstehen ließ. Ein stärkerer Zauber als zuvor, den sie brauchte, als der rasante Bolzenhagel des Fremden auf sie niederprasselte. Aus Magie entstanden und umgeben von Blitzen, wollten die Geschosse ihren Schutzschild durchbrechen.
Nur sie sah die feinen hellblauen Risse, die sich von oben nach unten durch ihren Schild zogen. Um Kräfte zu sparen, löste sie den lähmenden Zauber, während die Bolzen, die an ihrem Schutz vorbeiflogen, sich in die Erde rammten und diese aufwühlten.
Aliya sackte auf die Knie, bis sie den Angriff überstanden hatte.
Neben ihr stürzte jetzt ein roter Drache aus dem Schatten der Bäume heraus, viele Köpfe größer als sie, und ließ den Boden erbeben.
Oh nein, der andere ist auch noch ein Beschwörer.
Schnell richtete sie sich wieder auf und ließ ein magisches Giftfeld unter dem Tier entstehen. Das Moos verdorrte augenblicklich, Blätter färbten sich grau und welkten, bis der violette Schimmer auf dem Erdboden sichtbar wurde.
Der Drache blieb stehen, als seine Haut Blasen warf. Er schnaubte wütend und spie Flammen, welche jedoch von Aliyas Schutzschild abprallten.
Schweiß rann ihr von der Stirn, als die Hitze sie traf. Auch wenn der Drache nur heraufbeschworen wurde – die Glut in ihm war genauso heiß wie bei einem echten.
Das Feuer erlosch und mit ihm der Schutzzauber.
Sie hörte das Zischen eines weiteren Bolzens und duckte sich, den nächsten wehrte sie mit ihrer Peitsche ab, indem sie die Peitschenschnur nach oben schwang, um das Geschoss aus der Flugbahn zu lenken.
Aliya rang nach Luft. Sie musste schleunigst hier weg. Gegen einen Gegner konnte sie es schaffen, aber nicht gegen beide.
Wenn ich den Schützen entwaffne …
Sie versuchte ihn mit mehreren Peitschenhieben zu treffen, doch er war einfach zu schnell. Zwei Klingen wurden hinter ihr aus Schwertscheiden gezogen. Der Beschwörer hatte sich bewaffnet.
Sie lief zu einem Baumstamm, nahm Anlauf, nutzte einen abgebrochenen Ast als Sprungbrett und sprang über den Beschwörer hinweg. Flink drehte er sich um und holte mit beiden Schwertern gleichzeitig aus.
Aliya kam auf dem Boden auf und rollte unter den schnellen Hieben hinweg, ein weiterer Bolzen flog knapp an ihr vorbei, wie sie am Windhauch an ihrer Wange spürte.
Sie hechtete zur Seite, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Ehe sie sichs versah, befand sich ein Schwert an ihrer Kehle.
Aliyas Puls raste. Ihr Herz klopfte so stark, als ob jemand mit einem Hammer auf ihren Brustkorb schlagen würde.
Das war’s, dachte sie.
Das Schwert war nur einen Fingerbreit von ihrer Halsschlagader entfernt. Sie presste die Kiefer zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Auf keinen Fall durfte sie sich bewegen.
Abwechselnd schaute sie ihre beiden Gegner an, die sich über sie gebeugt hatten. Aliya konnte die Gesichter allerdings nicht erkennen, da sie diese immer noch unter einem Tuch und einer Kapuze verbargen. Doch ihre Umhänge deuteten darauf hin, dass sie eine lange Reise hinter sich hatten. Der Stoff war an vielen Stellen eingerissen und schmutzig.
»Du bist ganz schön aus der Übung«, sagte derjenige, der ihr das Schwert an die Kehle hielt.
»Aber der Schutzschild ist besser geworden«, meinte der Mann mit der Armbrust.
Aliya atmete erleichtert aus, als sie die beiden Stimmen erkannte. »Ist das etwa die feine Art, wie man eine alte Freundin begrüßt?«, rief sie gespielt erbost. Dann lachte sie und strich sich das verschwitzte Haar aus der Stirn. »Schön, euch zu sehen, Wibatem und Gerri!«
Wibatem schob nun endlich das Tuch von seinem schmalen blassen Gesicht herunter. Grinsend steckte ihr ehemaliger Gildengefährte sein Schwert weg, streckte ihr die Hand entgegen und half ihr auf beide Beine.
Sie musterte die verschiedenfarbigen Augen, das eine blau, das andere grün, und das kurze braune Haar. Obwohl sie mit ihren Beinen inzwischen wieder fest auf dem Boden stand, hielt Wibatem ihre Hand immer noch fest. Doch auch sie wollte ihn nicht freigeben und erwiderte sein schiefes Lächeln.
Erst als Gerri sich räusperte, ließ sie Wibatem los.
Sie wischte sich den Schmutz von ihrer Kleidung und verzog das Gesicht. »Ich hatte mir ein Wiedersehen mit der Schwarzen Allianz etwas ruhiger vorgestellt, aber so ist es auch in Ordnung. Erinnert an alte Zeiten.«
Wibatem lachte auf und wandte sich dem Drachen zu. Mit einer Handbewegung beruhigte sich das Tier, löste sich auf und verschwand vollständig. »Man weiß nie, wen man hier trifft.«
Gerri warf die Kapuze zurück und lockerte das Tuch, sodass es nur noch um seinen Hals lag. »Das war nur eine Übung«, meinte er lachend, während er sich über den braunen Bart strich. Wie Wibatem trug er sein welliges Haar kurz geschnitten.
»War es das? Und ich dachte schon, ihr habt mich verwechselt«, bemerkte Aliya und schaute den Schützen, der lange Zeit an ihrer Seite gekämpft hatte, an. Erste Fältchen zeichneten sich auf seiner Stirn und um die Augen ab.
»Du kennst uns. Wir greifen gerne an.« Zuerst imitierte er einen Bogenschützen, als Nächstes schwang er ein Luftschwert.
»Ah ja, die alte Wibatem-Gerri-Taktik.« Aliya schüttelte lachend den Kopf.
Gerri zwinkerte ihr zu, streckte sich und dehnte die Beine.
»Was ist mit Kilian? War er nicht immer bei euch?«, fragte sie.
Die beiden Kämpfer schauten sich ernst an.
Was hat das zu bedeuten? Er ist doch nicht etwa …
»Wir wissen nicht, wo er ist«, antwortete Wibatem knapp.
»Nicht einmal, ob er lebt?« Aliya biss sich auf die Unterlippe.
Wibatem verneinte und wandte sich ab.
Sie wickelte ihre Peitsche zusammen und steckte sie wieder an den Gürtel, während der Beschwörer zum Bach ging und sich etwas abkühlte.
Ein schlechtes Thema.
»Er könnte gefangen sein oder ist untergetaucht«, ergänzte Gerri leise.
»Verstehe.«
Viele ihrer ehemaligen Gildenfreunde waren unauffindbar. Schon vor Jahren hatte Aliya sich damit abgefunden, niemanden von ihnen jemals wiederzusehen. Sie hoffte nur, dass ihr Magierfreund wohlauf und nicht in Gefangenschaft geraten war. Die Sorge, er könnte schwer verletzt in einem Kerker liegen oder müsste als Sklave arbeiten, wuchs heran, sodass sie weitere Gedanken so schnell wie möglich wieder verdrängte. Stattdessen versuchte sie, den Moment der Freude zu genießen, wenigstens ihre beiden alten Kampfgefährten getroffen zu haben.
Ihr Blick glitt zu Wibatem, der immer noch am Bach kniete und sich wusch. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. Er hatte sich kaum verändert, sah immer noch aus wie in ihrer Erinnerung. Ein Gefühl der Erleichterung beruhigte ihr schnell klopfendes Herz. Ob er sich auch freute, sie wiederzusehen?
Nicht jetzt, dachte Aliya. Kein guter Zeitpunkt für alte Erinnerungen.
Um sich abzulenken, betrachtete sie die Spuren, die ihr Kampf hinterlassen hatte.
»Ihr habt die Lichtsäule auch gesehen, nehme ich an«, bemerkte sie mit ruhiger Stimme. »Was meint ihr, ist es eine Falle?«
»Undenkbar.« Wibatem kehrte zu den beiden zurück, während er das restliche Wasser von den Händen schüttelte. »Wenn der Schutzschild durchbrochen worden wäre und wenn unsere lieben Freunde von Relikt das Tal gefunden hätten, würden wir es wissen.«
»Der Schutzschild ist nach all den Jahren niemals mehr intakt«, merkte Aliya an. »Und kein anderer außer Lichtfels kann eine Lichtsäule in dem Maße errichten. Aber … er kann es unmöglich gewesen sein.« Aliya ließ die Schultern hängen.
»Woher willst du das wissen?«, hakte Wibatem nach. »Bist du so fest davon überzeugt, dass er tot ist?«
Ihr blieb der Mund offen stehen, denn das könnte sie nie glauben. »Nein, nur …«
»Ach, Ali, du hast dich nicht verändert. Du bist noch genauso nachdenklich wie früher«, unterbrach Wibatem sie und lächelte. Sie spürte, wie ihre Wangen warm wurden, als sie zum ersten Mal seit Jahren ihren Kosenamen wieder hörte.
»Und ihr stürzt euch noch genauso wie früher gedankenlos in den Kampf«, sagte sie und blickte ihre Freunde schief an.
»Das macht ihn interessanter«, warf Gerri ein.
Aliya schmunzelte. »Zum Glück bin ich jetzt bei euch, um euch zu retten.«
»Sehr gut. Wie weit ist die nächste Handelsroute entfernt?« Gerri warf sich die Armbrust über die Schulter.
»Nicht weit«, antwortete Wibatem und schob sein Tuch über den Mund.
»Wenn wir uns beeilen, können wir noch eine Patrouille erwischen.« Gerri rieb die Hände aneinander. »Ein bisschen Gold und etwas zum Essen schadet nicht.«
»Dann ziehen wir weiter!«, entschied Wibatem und deutete mit der Hand gen Norden.
»Jetzt wird es aufregend«, rief Gerri zu Aliya. »Es wird Zeit für weiteres Frischfleisch! Gib zu, das hast du doch vermisst.«
Aliya lachte, straffte ihren Umhang, zog die Kapuze ins Gesicht und lief mit ihren Kämpferfreunden los. Zum ersten Mal seit Langem freute sie sich wieder über etwas.
Aliya
Der Schütze eilte voraus, dicht gefolgt von Wibatem und Aliya.
»Wo habt ihr euch die ganzen Jahre herumgetrieben?«, fragte sie und wich einem schief gewachsenen Ast aus.
»Lange Zeit haben wir uns in Syderia aufgehalten, danach in Thraken. Wir waren sogar einige Monate in Makhena«, antwortete Wibatem mit einer Spur Stolz in der Stimme.
»Thraken, die große Meeresstadt?« Aliya schaute ihn erstaunt an, denn diesen Ort wollte sie schon immer einmal sehen. Er war bekannt für seine weiße Burg und den schwarzen Sandstrand, was sie als Kind fasziniert hatte.
Wibatem nickte und drückte einen Strauch beiseite, um ihr den Weg frei zu halten.
Mit einem Lächeln bedankte sie sich und fuhr fort: »Und wie seid ihr nach Makhena gekommen? Sind die Grenzen nicht mehr bewacht?«
»Doch, schon, aber …« Der Beschwörer zögerte einen Moment. »Es gibt genug Stellen, die du passieren kannst, um dorthin zu gelangen. Aber glaub mir, es ist zu heiß dort.«
»Nein, nicht dein Ernst!«, rief Aliya und hob ihre Hände zum Himmel. »Makhena, das Land des Sandes, soll zu heiß sein?«
»Ja, ja!« Wibatem grinste wie ein Schelm.
»Hey, nicht so laut«, ermahnte Gerri die beiden, lief weiter voraus und verschwand immer wieder hinter den Bäumen.
Aliya hielt sich erschrocken den Mund zu, während Wibatem einen Lachanfall unterdrückte.
»Hast du den anderen nie dabei zugehört, wenn sie von Makhena gesprochen haben? Von den Wüsten und Oasen, der Sonne und Hitze?«, fragte sie nun eine Spur leiser.
»Ja, schon, aber wirklich geglaubt habe ich es erst, als ich dort gewesen bin.«
»Beeindruckend, ihr seid wirklich viel herumgekommen«, stellte sie fest und stieg über eine Wurzel, die wie eine in sich verknotete Schlange aussah.
»Du nicht?«, hakte Wibatem nach, blieb jedoch stehen und schaute sich um. »Wo ist Gerri?«
Aliya hielt inne und betrachtete den von Herbstlaub bedeckten Boden, das Moos und Dickicht. Jeder hinterließ Spuren, auch Gerri, der Flinkeste ihrer Gilde. »Gerri?«
»Da ist er.« Der Beschwörer zeigte vor sich, wo auch Aliya ihren Kampfgefährten entdeckte, halb versteckt hinter einem Baumstamm.
Die beiden liefen zu ihm, aber als Pferde zu hören waren, verlangsamten sie ihre Schritte und schlichen zwischen dem Unterholz entlang, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
»Dort vorne«, flüsterte Gerri und rüstete seine Armbrust. »Ziel erfasst.«
Aliya wartete einige Schritte hinter ihm und errichtete zwei unsichtbare Schutzschilde um ihre beiden Freunde. »Wie viele?«
»Vier«, antwortete Wibatem leise, der sich neben den Schützen gehockt hatte. »Zwei haben Bögen dabei, einer trägt ein Schwert und der vierte mit langem Stab ist vermutlich ein Magier.«
»Es muss einer sein. Ein Wanderer sieht nicht so grimmig aus. Außerdem …« Gerri schlich noch ein Stück nach vorn. »… trägt er, wenn ich das richtig sehe, das Wappen Relikts auf seiner Brust.«
»Ein Grund mehr, sie anzugreifen«, sagte Wibatem ernst und befreite langsam das erste Schwert aus der Scheide.
»Bei drei?«, fragte der Schütze.
Wibatem nickte und zog die zweite Klinge heraus, während Aliya sich tief im Inneren sammelte und schließlich auch um ihren Körper einen Schutzschild errichtete.
»Eins«, begann Gerri zu zählen, während Aliyas Herz immer schneller klopfte. »Zwei … drei … Angriff!«
Mit lautem Kampfgeschrei stürzte er aus dem Schatten hervor, erfasste die vier Feinde und beschoss sie mit Bolzen. Ohne zu zögern, folgte Wibatem ihm und ließ hinter sich den Drachen wiederauferstehen, der mit lautem Gebrüll die Pferde aufschreckte.
Aliya blieb im Schatten zurück, blendete das Pferdewiehern und die aufgeregten Rufe der Feinde vollständig aus, konzentrierte sich nur auf den Schutz. Jeden Schlag gegen die Schilde spürte sie, wenn es auch nur ein kurzes Ziehen in ihrem Körper war. Sie lief zwischen den Baumstämmen entlang, um ihre Freunde im Blick zu behalten, als der Magier sie entdeckte.
Feine hellblaue Blitze züngelten erst an der Spitze seines Zauberstabes, ehe sie direkt auf sie zuflogen. Aliya rollte sich nach vorne ab und spürte für einen Moment die Kälte hinter sich, welche die Erde und die Rinde des Baumes mit Eis überzogen hatte.
Steh still, Eiszauberer. Steh still!
Sie warf ihre Magie wie einen unsichtbaren Ball in seine Richtung, sodass er augenblicklich gelähmt wurde.
Schnell verließ sie ihr Versteck und wandte sich ihren Freunden zu.
Wibatem kämpfte mit den beiden Bogenschützen, die nur mit viel Mühe den Schwerthieben auswichen. Der Versuch der Gegner, den Beschwörer mit ihren Pfeilen zu treffen, scheiterte. Sie glitten an seinem Schutzschild ab, als wäre er aus massivem Gestein.
Gerri kümmerte sich währenddessen um den Schwertkämpfer, der vom Pferd gesprungen war und das Breitschwert gezogen hatte. Er bewegte sich schwerfällig und langsam, da die Rüstung, die er trug, keine schnellen Hiebe zuließ. Der Schütze legte den Bolzen an und schoss ab, traf aber nur das metallene Schulterblatt.
»Du musst schon genauer zielen!«, schrie der Feind ihn an.
Oh, das mag er gar nicht, dachte Aliya, während sie ihre Peitsche fest umklammerte.
Gerri lud nach, legte die Waffe an und stand still wie zu einer Säule erstarrt. Das Einzige, was sich bewegte, war der Umhang im Wind.
Der Schwertkämpfer lachte, ehe er das Schwert hob und auf ihn zulief. »Du wirst mir eine Menge Gold bringen.«
Wie bitte, Gold? Wovon redet er?
Unsicher beobachtete sie den Feind, als Gerris Armbrust sich endlich mit einem lauten Knacken entriegelte. Zischend traf der Bolzen den Hals des Schwertkämpfers, sodass er blutüberströmt zu Boden krachte.
Einen Moment zu lange starrte Aliya den Sterbenden an, bevor sie zu dem Magier herumwirbelte, der sich inzwischen aus der Lähmung befreit hatte. Er rammte seinen Zauberstab in den Boden und errichtete ein leuchtendes Kraftfeld.
»Gerri, pass auf!«, schrie sie.
Der Armbrustschütze lud nach und zielte, während er einige Worte murmelte, woraufhin seine Waffe glühte wie flüssiger Stahl. Die Magie knisterte in der Luft und bescherte Aliya eine Gänsehaut. Viel zu lange war es her, dass sie das letzte Mal Schutzschilde, die über Leben und Tod entschieden, um andere gelegt hatte. In diesem Moment wünschte sie sich, sie hätte mehr Übung gehabt und sich mehr darauf vorbereiten können.
Der Boden unter dem gegnerischen Magier leuchtete auf, zeitgleich vergrößerte sich sein Kraftfeld, das sich wie eine Kugel um ihn herum verschloss.
Einer der beiden Bogenschützen hatte es auf Gerri abgesehen und zielte auf ihn, aber Aliya war schneller. Sie zog ihre Peitsche und ließ diese auf ihn zuschnellen. Die Schlinge wickelte sich um den Hals des Gegners, sodass sie ihn mit voller Gewalt zu sich reißen konnte. Er wollte sich von der Peitschenschnur befreien, verlor das Gleichgewicht und prallte an einem Baum ab. Das Brechen seines Genicks ließ Aliya erschaudern.
Sie schluckte beim Anblick des nächsten Toten, während sie versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen.
Als sie erneut zum Magier schaute, war dessen Kraftfeld zu einer übergroßen Kugel herangewachsen, die den Baumkronen Konkurrenz machte. Sie erneuerte den Schutz ihrer Freunde, da die Schilde mit der Zeit brüchig wurden und stabilisiert werden mussten, doch das funktionierte nur, wenn sie Blickkontakt zu ihren Gefährten hielt.
Wibatem rannte an ihr vorbei, rammte seine Schwerter in den Boden und begann genau wie Gerri Worte zu flüstern. Um ihn herum bildete sich ein Gewirr aus Blitzen, die immer greller aufleuchteten. Dann schleuderten die beiden und der Magier gleichzeitig ihre Zauber aufeinander.
Aliya blieben nur Augenblicke, um sich wieder zu fassen. Die Härte und die Macht der Explosion trafen auf ihre Schutzschilde wie Wasser auf Stein. Die Erde bebte, Kieselsteine, Sand, Blätter und Gras flogen an ihr vorüber und verschleierten ihre Sicht. Die Luft roch nach verbranntem Holz.
Bange Sekunden verstrichen, in denen Aliya nichts erkennen konnte. Als die Sandwolke sich legte, folgte Stille.
Ein Stechen zog sich durch Aliyas Kopf, und ihre Hände zitterten. Erleichtert atmete sie auf, als sie Wibatem und Gerri unversehrt entdeckte. Ihre Schilde hatten gehalten, sie aber auch Kraft gekostet.
Der gegnerische Magier allerdings war von den Zaubern ihrer Gefährten vollständig verbrannt. Eine schwarze Stelle auf der Erde war der einzige Beweis, dass er dort gestanden hatte.
Den vierten und letzten Gegner hatte es durch die Wucht der Magie in den Wald hineingeschleudert. Er war gerade dabei, sich hochzukämpfen, warf jedoch den Bogen weg und fiel auf die Knie, als sich Wibatem und Gerri ihm näherten.
»Lasst mich leben«, bettelte er. »Ich habe mit alldem nichts zu tun!«
»Natürlich nicht.« Gerris Grinsen glich dem Zähnefletschen eines Wolfes. »Ihr wart nur auf einem Spaziergang unterwegs, um bewaffnet und hoch wachsam den Vögeln zu lauschen, die mittlerweile auf den Weg in den Süden sind.«
»Es sind Anweisungen, die wir befolgen müssen«, erklärte der Bogenschütze. Schweiß lief ihm an der Stirn herunter und sein Körper zitterte.
»Was für Anweisungen?« Wibatem betrachtete ihn misstrauisch. »Von wem?«
»V-von dem Kommandanten von Relikt…«, antwortete der Fremde. »Es soll noch einige F-Feinde geben … Wir sollen sie finden und v-versuchen, sie … lebend zu ihnen zu bringen.« Sein Kopf senkte sich immer tiefer und berührte fast den Erdboden.
Daher das Gold als Belohnung.
Die beiden Kämpfer blickten sich erstaunt an und auch Aliya verblüfften die Worte.
Relikt. Die Kämpfergilde, die sie am meisten hasste. Deren Anführer Diamantenseele war es, der das Land ins Chaos stürzte. Nach fünf langen Jahren suchte er immer noch nach ihr und ihren Freunden. Ob er das Licht auch gesehen hatte?
Aliya fuhr sich über die Schläfe, hinter der es pochte. Um das Stechen in ihrem Kopf in den Griff zu bekommen, ließ sie die Schutzschilde verschwinden. Augenblicklich verblassten die Schmerzen.
»Lebend? Wofür?«, fragte Gerri währenddessen.
Ihr Gegner blickte abwechselnd in die Gesichter der drei. Er war aschfahl geworden, wischte erneut den Schweiß von der Stirn. »Ich … ich w-weiß es nicht.«
»In Ordnung, ich gebe dir drei Atemzüge Zeit, dich von deinem Leben zu verabschieden«, drohte Gerri.
»Nein«, widersprach Aliya. »Es macht uns zu Mördern, zu solchen wie Relikt.«
»Hätte er dich auch leben lassen, wenn er an deiner Stelle stehen würde?« Gerri verschränkte die Arme vor der Brust.
»Würdest du an seiner Stelle nicht auch leben wollen?« Sie musste ihn überzeugen, genug hatten in den letzten Jahren ihre Leben gelassen. »Das gegenseitige Töten muss aufhören, fangen wir damit an.«
»Was ist, wenn er zu seinem Kommandanten zurückkehrt und ihm von uns erzählt? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es hier von ihnen wimmelt«, sagte Gerri gereizt.
Aliya suchte nach Worten. »Dann hast du wieder Arbeit oder willst du dich langweilen?«
»Hört auf damit«, unterbrach Wibatem die Diskussion, während sich Gerri von ihnen wegdrehte. »Wir verlieren zu viel Zeit. Ich bin auch der Meinung, dass er es nicht verdient hat, zu leben. Wer sich dem Feind anschließt, hat seine Entscheidung getroffen und muss mit den Konsequenzen leben.«
»Viele haben keine Wahl, sie werden gezwungen«, entgegnete Aliya entschlossen. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich … kann es euch zeigen.« Auch wenn sie sich unwohl dabei fühlte, noch einmal in ihre Erinnerungen einzutauchen – für den Fall, dass sie ihre Freunde damit überzeugen konnte, würde sie es tun.
»Es ist zu gefährlich, jemanden leben zu lassen. Wir müssen uns erst einmal alle zusammenfinden«, erklärte Wibatem ruhig. »Er könnte uns einen Pfeil in den Rücken jagen, wenn wir den Ort verlassen, oder uns sogar verfolgen.«
Aliya betrachtete den Bogenschützen, der am Boden kauerte und weinte. Das traute sie ihm niemals zu, so geschwächt, wie er war. Als ihr Blick zurück zu Wibatem wanderte, sah sie darin die gleiche eiserne Miene, die sie aufgesetzt hatte.
Das ist nicht gerecht, dachte sie, schüttelte den Kopf und als ob er es verstanden hätte, flüsterte er: »Es muss sein.«
Schließlich wandte sie sich ab und gab nach, da sie keine weiteren Worte mehr fand. Zu viele Fragen waren offen, die noch geklärt werden mussten.
Wenn es wirklich Lichtfels war, was bedeutete dies für Dekar? Was bedeutete es für die alte Gilde der Schwarzen Allianz?
Sie blickte auf, hielt noch während ihrer Bewegung erschrocken inne. »Gerri!«
Wibatem drehte sich ruckartig um und seine Miene gefror.
Als die Armbrust knackte, setzte Aliyas Herz einen Schlag aus. Der Bolzen flog knapp an ihrem Gesicht vorbei und bohrte sich in die Brust des feindlichen Bogenschützen. Dieser keuchte auf, spuckte Blut und versuchte mit letzter Kraft das Geschoss herauszuziehen, doch er schaffte es nicht.
»Was zum …«, wisperte Aliya und starrte Gerri fassungslos an. Sie berührte ihre Wange, an der sie eben noch den Windhauch gespürt hatte. Nur einen Fingerbreit daneben und er hätte sie getroffen.
»Wir leben in einer Zeit, in der es nicht sicher ist, wer Freund und Feind ist. Misstrauen kann dein Leben retten«, sagte Gerri ernst und senkte die Waffe.
»Mitleid … aber … auch«, erwiderte Aliya stockend und holte tief Luft. »Vielleicht hätte er uns nicht verraten und … wäre einfach nach Hause zurückgekehrt.«