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Das Leben des Menschen zu erleichtern ist die einzige Aufgabe der Wissenschaft, und sie hat sich ihrer angenommen. Dabei ist diese andere Leichtigkeit des Seins zustande gekommen, von der die Generationen ab dem frühen 17. Jahrhundert nachhaltig profitiert haben.Heutiger Wohlstand, Mobilität, Gesellschaften und individuelle Freiheit wären ohne die Gedanken und Taten von Wissenschaftlern und Technikern nicht denkbar.Ernst Peter Fischer, Jahrgang 1947, bettet sein Leben in die Entwicklungsgeschichte der Naturwissenschaften der vergangenen Jahrzehnte ein. Transistor, Quantenmechanik, Computer, Internet, die Doppelhelix der DNA sind nur einige der Meilensteine, die unser aller Leben heute bestimmen.Ernst Peter Fischer: "Die meisten wissenschaftlichen Errungenschaften bleiben unverstanden und unvermittelt. Selbst gebildete Zeitgenossen verstehen die wirksamsten Kräfte, die unser aller Leben bestimmen, weniger als ein mittelalterlicher Bauer die Theologie seiner Zeit".Fischer ist der Überzeugung, dass die vornehmste Aufgabe des wissenschaftlichen Forschens darin besteht, die menschliche Existenz zu erleichtern. Eben die andere Leichtigkeit des Seins zu schaffen, die Neugier, Staunen und Verantwortlichkeit jedes Einzelnen mit einschließt.www.der-wissens-verlag.deBest.-Nr. 10388ISBN 978-3-8312-0388-8Lasche links:Foto (Ausschnitt nehmen: Portrait vom Fischer-Bild IMG_5829) und darunter:Prof. Ernst Peter Fischerdiplomierter Physiker, promovierter Biologe, habilitierter Wissenschaftshistorikerapl. Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität in Konstanz;freie Tätigkeiten als Wissenschaftsvermittler und Berater, unter anderem für die Stiftung Forum für Verantwortung; in dieser Funktion Herausgeber (gemeinsam mit Klaus Wiegandt) von "Mensch und Kosmos" (2004) und "Die Zukunft der Erde" (2006). Autor zahlreicher Bücher: Werner Heisenberg - Das selbstvergessene Genie, (2001), Die andere Bildung (2001), Das Genom (2002), Einstein, Hawking, Singh und Co. (2004), Die Bildung des Menschen (2004), Einstein für die Westentasche (2005), Einstein trifft Picasso und geht mit ihm ins Kino (2005), Schrödingers Katze auf dem Mandelbrotbaum (2006)
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Seitenzahl: 460
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© Verlag KOMPLETT-MEDIA GmbH
2012, München / Grünwald
www.der-wissens-verlag.de
ISBN 978-3-8312-0388-8
Lektorat: Veronika Mayer, München
Design Cover: Heike Collip, Pfronten
Satz: Schulz Bild & Text, Mainz
eBook-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbHwww.herold-va.de
Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.
Ernst Peter Fischer
Die andere Leichtigkeit des Seins
Eine persönliche Geschichte als
Hausmann und Hochschullehrer.
Ein Leben mit Familie und Wissenschaft
2012
Ein Prolog
Ein Vorsatz
Das Geschenk eines zweiten Lebens
Am Anfang meines ersten Lebens – Ernst und Peter
1) Nachkriegszeit (1947–1956)
2) Schulzeit (1957–1966)
3) Lehrzeit (1967–1976)
4) Wendezeit (1977–1986)
5) Familienzeit (1987–1996)
6) Bildungszeit (1997–2006)
7) Altersteilzeit (2007–2012)
Aller Anfang ist schwer – die Mühen meines zweiten Lebens
Ein Prolog
Ich weiß, früher oder später erfindet jeder Mensch die Geschichte, die er für sein Leben hält. Ein schöner Gedanke, der sich ausprobieren lässt.
Ein Vorsatz
Ich erzähle gern, und in diesem Buch vor allem aus meinem Leben. Es begann 1947, im selben Jahr, in dem der Transistor erfunden wurde. Jeder Versuch, die Gegenwart im frühen 21. Jahrhundert und den Weg zu ihr darzustellen, muss in meinen Augen scheitern und als irrelevant gelten, der nicht wenigstens zweimal auf Transistoren eingeht. Ein erstes Mal, um zu erläutern, warum sich Menschen überhaupt um elektronische Bauteile dieser Art bemüht haben. Ein zweites Mal, um die immense Zahl der Transistoren bewusst zu machen, die heute zu Trillionen produziert werden. Sie tun ihren Dienst in Milliarden Geräten, auf die viele Menschen nicht mehr verzichten wollen und einige nicht mehr verzichten können.
Unsere erlebte Gegenwart steckt nicht nur auf diese transistorische, sondern noch auf vielfältige andere Weise voller Konsequenzen aus Erkenntnissen über die Natur, die wir den dazugehörigen Wissenschaften – etwa der Chemie und der Physik – verdanken. Es wundert mich immer wieder, wie gerne und großzügig Geschichtsbücher und soziologische und politische Analysen über diesen Tatbestand hinwegsehen, obwohl er den Geisteswissenschaften gar nicht verborgen geblieben ist.
In meinem Geburtsjahr hat zum Beispiel Ernst Robert Curtius sein Buch über „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“ mit dem Hinweis begonnen, dass das Voranschreiten der Naturforschung in jüngster Zeit massiv „die Formen des Daseins verändert“ hat. Das dabei gewonnene Wissen eröffnet den Menschen „neue Möglichkeiten, deren Tragweite nicht zu ermessen ist“, wie Curtius weiter ausführt und wie es unverändert in der 11. Auflage aus dem Jahre 1993 zu lesen ist, ohne dass Historiker darauf angemessen reagiert hätten. Sie haben zwar fleißig politische und militärische Entwicklungen verfolgt, sich bislang aber nicht oder nur sehr zögerlich die Mühe gemacht, den Einfluss der Wissenschaften und ihrer fortschreitenden Erkenntnisse auf das Werden des Gegenwärtigen darzustellen.
Dadurch verhindern sie die Verbreitung der Einsicht, die Bildungsministerin Annette Schavan im September 2011 im Berliner Wissenschaftsforum ausgesprochen hat, als sie sagte, „Nichts verändert die Gesellschaft so sehr wie die Erkenntnisse von Wissenschaften und Forschung“. Frau Schavan fügte noch hinzu, dass sich dies zu ihrem Bedauern nicht gerade herumgesprochen und beispielsweise kaum Einfluss auf das Angebot hat, das uns in den Hauptnachrichten des Fernsehens zugemutet wird.
Hier steckt offensichtlich eine wunderbare Aufgabe für Historiker, wenn sie verstehen und erläutern wollen, wie sich „unsere heutigen Lebensweisen durchgesetzt haben“, so heißt es bei Michel Serres, der im letzten Jahrhundert wenigstens erste „Elemente einer Geschichte der Wissenschaften“ vorgelegt hat. Der französische Philosoph zeigt sich in seinem Buch – wie auch der Autor dieser Zeilen – davon überzeugt, dass das genannte Ziel ohne eine Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Entwicklung und den dabei entstehenden Techniken nicht gelingen kann. Der eingangs vorgestellte Transistor ist ein zentrales Beispiel hierfür. Natürlich lässt sich die hiermit gestellte Aufgabe keinesfalls nebenbei lösen, aber bekanntlich beginnt selbst die längste und komplizierteste Reise mit einem ersten Schritt, und um den soll es hier gehen.
In diesem autobiografischen Buch wird das eigene Leben unter diesem Aspekt betrachtet und von seinen Wendungen erzählt. Es ist ein persönlich gefärbter Blick auf die Rolle der Wissenschaft in unserem gegenwärtigen Alltag.
Ich möchte aus meinem Leben und von den es begleitenden Wissenschaften erzählen. Beides mache ich nämlich leidenschaftlich gerne.
Das Geschenk eines zweiten Lebens
„Ich hab’ mein Herz in Heidelberg verloren“, heißt es in einem schönen Lied aus den 1920er Jahren, das ich seit kurzem anders singen darf und möchte, auch wenn es anatomisch nicht ganz korrekt ist. Mein Text lautet, „Ich hab’ mein Herz in Heidelberg bekommen“, aber nicht in einer sanften Sommernacht, sondern in einer kühlen Klinik, in die mich ein Notarztwagen gebracht hatte, nachdem sich an einem schönen Morgen im September 2011 meine Hauptschlagader als gründlich gerissen präsentierte und niemand mehr mit meinem Weiter- oder Überleben rechnete. Den traditionellen Wahrscheinlichkeitsvermutungen zum Trotz gelang es einem Operationsteam der Heidelberger Herzklinik in sicher mühevollen acht Stunden, meine Aorta und mehr zu ersetzen und mir so im Alter von fast 65 Jahren ein zweites Leben zu schenken, an dessen Beginn ich jetzt stehe und diese Worte schreibe. Mein neues Dasein bereitet mir auch Monate nach dem rettenden Eingriff noch seine liebe Mühe, es fordert zähe Geduld und verlangt ziemliche Disziplin und eine Menge Rücksicht auf viele körperliche Kleinigkeiten. Aber die damit verbundenen Einschränkungen verblassen rasch und locker neben der Chance, die ich tatsächlich durch eine mutige und geistesgegenwärtige Chirurgin, ihr wunderbar eingespieltes Team und äußerst hilfreiche Menschen auf der Intensivstation bekommen habe. Oftmals wundere ich mich voller Dankbarkeit in stillen Stunden über mein Glück und mir scheint manchmal, dass ich bis heute noch nicht fassen kann, was da mit mir passiert ist.
„Aller Anfang ist schwer“, wie ich in meinem ersten Leben auf der Schule lesen und lernen konnte, als es im Deutschunterricht auf dem Gymnasium um Goethes „Hermann und Dorothea“ ging, und diese Erfahrung bestimmt meinen neuen Alltag durchgehend. Es wird noch viele Anstrengungen kosten, wieder in das normale Leben zurück zu finden, das mir gut gefallen hat, bis die Aorta es nicht mehr aushielt. Ich werde lernen müssen, was es dem Wort nach heißt, ein Patient zu sein, nämlich Geduld zu zeigen. Trotz dieser Bedingung darf sich ein Mensch Ziele setzen und ich habe mir vorgenommen, eines von ihnen mit meinem 65. Geburtstag zu verknüpfen, wobei dieses Alter in meinem ersten Leben den klassischen Zeitpunkt des Renteneintritts markierte.
Während viele Menschen mit 65 Jahren aufhören und ihr Arbeiten einstellen, möchte ich in diesem Alter angemessen wieder damit anfangen, etwas zu tun und weiter zu schreiben, um das mir großzügig geschenkte zweite Leben mit seinen Möglichkeiten und Chancen zu nutzen. Darauf gilt es, sich vorzubereiten:
Ein Weg dazu scheint mir das Nachdenken über das erste Leben zu sein, das mir bislang gegönnt war. Ich möchte es auf den folgenden Seiten beschreiben, weil ich es zum einen gerne geführt habe und weil es zum zweiten dabei um eine Epoche geht, die in meinem Verständnis der Dinge ihre eigenwilligen und lohnenden Besonderheiten aufweist und mit ihnen etwas über die Bedeutung von Wissenschaft zu erkennen gibt.
Die Nachkriegswelt voller Wissenschaft
Es geht – zeitlich grob gesprochen – um die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, die politisch und historisch zwar vielfach dokumentiert worden sind – etwa in Hinblick auf die deutsche Teilung und ihre Überwindung oder mit der Betonung auf Bemühungen um eine europäische Einheit und ihrer dazugehörigen Währung. Allerdings konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die amtlichen Historiker fundamentale Strömungen in der Sphäre des Geistigen übersehen haben.
Sein und Bewusstsein
Die Debatte um die Frage, ob sich Überzeugungen und Erkenntnisse auf ökonomische Ergebnisse und das alltägliche Dasein auswirken, geht mindestens bis auf Karl Marx zurück, der sich in einer berühmten Formulierung – „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ – gegen einen derartigen Einfluss aussprach. John Maynard Keynes hingegen fand in seinen Schriften, dass Ideen sehr wohl in der Lage sind, ökonomische Entwicklungen und damit das Sein zu beeinflussen. Einem Historiker der Wissenschaft kommt kaum ein anderer Gedanke.
Gemeint ist der stetig zunehmende Einfluss wissenschaftlich-technischer Entwicklungen auf das Leben der Menschen und die Aufgaben von Staaten. Inzwischen werden sie etwa unter den Stichworten Gentechnik, Atomkraft und Internet leidenschaftlich diskutiert und unterschiedlich akzeptiert. Niemand kann sich jedoch mehr den dazugehörigen Realitäten im Alltag entziehen.
Ein Tag im Leben
Wer sich verdeutlichen will, wie sehr sein Leben mit wissenschaftlich-technischen Entwicklungen geführt wird, braucht nur seinen Tagesablauf anzuschauen, der vielleicht mit einem Radiowecker beginnt, der zum Frühstück Kaffee aus einer Vakuumverpackung brüht und dazu pasteurisierte Milch aus dem Kühlschrank holt, der dabei schon telefoniert, seinen Laptop einschaltet, der bald mit dem Auto aus der mit Fernbedienung geöffneten Garage ins Büro fährt, zwischendurch sicher einige Medikamente einnimmt oder den Blutdruck misst und so weiter macht, bis es endlich beim abendlichen Fernsehen – in Farbe und mit einer Direktschaltung nach Washington – oder vor der Stereoanlage mit einer CD bei einem Mozart Klavierkonzert etwas ruhiger wird, bis das Telefon klingelt und die Kinder aus den USA anrufen, wo sie gerade mit dem Flugzeug gelandet sind.
Ich bin der Ansicht, dass Menschen meiner Generation in ihrem täglichen Treiben inzwischen mehr von wissenschaftlich-technischen Entwicklungen – zum Beispiel von mobilen Telefonen, Computern und Überwachungskameras – als von politisch-sozialen Reformen beeinflusst werden. In einer umfassenden Geschichte unserer Kultur muss nicht nur erwähnt werden, wie unglaublich rasch etwa die Zahl der Transistoren und Chips in der von uns erlebten und überschaubaren Zeit zugenommen hat –
Kleine Anfänge, große Mengen
Unser heutiges Leben ist ohne die Konstruktion undenkbar, die als Transistor bereits erwähnt ist (und weiter unten im Text genauer vorgestellt wird). Der erste Transistor konnte 1947 gebaut werden, und heute stellen elektronische Unternehmen Millionen von ihnen pro Minute her, so dass derzeit insgesamt 1020 Transistoren auf der Welt ihren Dienst tun, und zwar in 1012 Chips, wobei diese gigantische Zahl wenigstens einen bekannten Namen hat. 1012 meint nämlich eine Billion, und auf den Billionen Chips sind jeweils 100 Millionen Transitoren im Einsatz, um die elektronischen Geräte funktionieren zu lassen, die wir alle so lieben. Ein Geschichtsbuch, das den Transistor und seine Verbreitung nicht erwähnt, kann die Gegenwart, die wir erleben, ebenso wenig verständlich machen wie ein historischer Text, der das wissenschaftliche Treiben nicht erwähnt, das zum Beispiel einen Transistor hervorbringt.
–, sondern die gelehrten Autoren, die beschreiben wollen, „wie es eigentlich gewesen“ ist, auch aufzeigen sollten, was Menschen dazu bringt, sich so intensiv um solche Fortschritte zu bemühen. Sie tragen in meinen Augen mehr und intensiver zu der Geschichte des Westens bei, als die Historiker meinen.
Mit diesem Buch möchte ich den Versuch unternehmen, dem Einfluss der Wissenschaft und der Forscher, die sie praktizieren, auf die in unserem Kulturkreis erlebte Gegenwart mehr Aufmerksamkeit als bisher zukommen zu lassen. Dies soll in dem bescheidenen Rahmen der eigenen Biographie geschehen, in der an vielen kleinen Stellen zu spüren war, was in der großen Welt der Wissenschaft passierte. Mir hat dies meistens gefallen, und ich habe stets davon voller Begeisterung im Kreis von Freunden erzählt. In diesem Buch möchte ich eigentlich nichts anders tun, nur dass es ab und zu ganz privat wird – auch am Anfang.
Ich wurde am 18. Januar 1947 geboren und damit noch in den Tagen, die einen Menschen selbst in unseren aufgeklärten Tagen zu einem Steinbock machen. Mein Rufname lautete Ernst, wie deutlich unterstrichen im Familienstammbuch steht. Tatsächlich angesprochen hat mich aber niemand so. Gerufen haben mich alle „Dicker“, als ich im Kindergarten meine Ohren zu spitzen hatte, und bei diesem Namen ist es geblieben, bis sich auf der Schule „Peter“ durchsetzte. Das war der zweite Vorname, den meine Eltern mir laut Taufregister gegeben hatten, wobei ich als Kind gerne der Erläuterung meiner Mutter Glauben schenkte, dass sie ihren dauernd grinsenden und fröhlich dreinschauenden Säugling nicht habe Ernst nennen können. Das heitere Gegenstück sei ihr angemessener erschienen, und dafür bekam sie die Zustimmung von zahlreichen Tanten, die den Knaben noch lange mit Vergnügen knuffelten und knutschten.
So riefen mich alle „Peter“. Besonders laut – und drohend deutlich die erste Silbe hinziehend – tat dies meine erste Lehrerin auf der Volksschule, ein Fräulein mit Namen Leckebusch, um mich so zu ihr her zu kommandieren. Es galt dann, meine gefürchtete Ohrfeige abzuholen, die ich offenbar unentwegt verdient hatte, weil ich viel zu selten ernst und oft ziemlich gelangweilt war. Trotzdem vermerkte mein erstes Zeugnis mit lauter netten Noten, „Peter hat einen guten Anfang gemacht“.
Es ging dann recht und schlecht mit diesem Namen weiter. Bis zu meinem 18. Geburtstag beantwortete ich die Frage, wie ich heiße, mit „Peter“, und der „Ernst“ kam mir weder in den Sinn noch über die Lippen. Er war fast vergessen, als die Zeit des Führerscheins heranrückte und es galt, die dazugehörige Prüfung abzulegen. Nachdem es mir gelungen war, das Automobil nach den amtlichen Vorschriften und den Vorgaben des zuständigen Beamten durch den Verkehr zu lenken und auf einem Parkplatz abzustellen, sah ich voller Erwartung auf das begehrte Dokument, das ich rasch unterschreiben und an mich nehmen wollte. „Bitte nur einen Vornamen, also Ihren Rufnamen“, sagte der Prüfer, „Sie heißen doch Ernst, oder?“ Ich schaute ihn an und erklärte den Peter. „Der Peter ist vorbei“, sagte er, „von jetzt ab sind Sie Ernst“, was ich so verstand, dass nun der Ernst des Lebens beginnen sollte.
Ich reagierte daher verwirrt, schrieb aber mit Mühe unter zitterndem Zögern „Ernst“ in den Führerschein und ließ mir vom dem Tag an den Bart wachsen. Mit ihm kann man sich schmücken und spielen, und so trage ich meinen Bart bis heute in der Hoffnung, dass der Satz des gestrengen Beamten nur die Hälfte von mir erfasst. Ich bin Ernst und Peter geblieben, ohne jemals genau sagen zu können, wer gerade an der Reihe ist. Der Gedanke gefällt mir. Er teilt mein Leben und das Ganze mit mir.
Nachkriegszeit
Aus meinem Leben
In meiner konkreten ersten Erinnerung unternehme ich einen Wettlauf mit meiner Mutter. Sie lacht dabei fröhlich und ermutigt mich, wie so oft. Es ist Sonntag, es geht bergauf, und wir spurten gemeinsam mit meinem älteren Bruder durch einen Wald, um zu dem Parkplatz zu kommen, an dem unser Auto – ein beigefarbener Zweitakter der Marke Goliath – steht. Zu meiner Überraschung habe ich bei dem Rennen keine Chance. Meine Mutter kommt vor mir an dem Wagen an, in dem mein Vater auf uns wartet. Er ist stark behindert und ständig auf Unterstützung angewiesen. Wir müssen ihm zu dritt helfen, wenn er das Auto verlassen will, um ein wenig spazieren zu gehen. Leider richten an diesem Tag – wie so oft – viele Gaffer ihren Blick auf ihn und seine Mühen. Mein Vater will aber nicht angestarrt werden. Er verliert die Lust und will nur noch abfahren. Dabei wollte ich ihm doch zeigen, wie schnell ich inzwischen laufen konnte.
Meine zweite Einzelerinnerung lässt sich zeitlich genauer festlegen. Es ist wieder ein Sonntag. Meine Mutter geht mit ihren beiden Söhnen durch merkwürdig leere Straßen. Es ist still, aber es bleibt nicht lange so. Plötzlich vernehmen wir von überall her Lärm und Jubel, wenn auch nur kurz. Die Menschen feiern fröhlich einen Sieg. Deutschland ist Fußballweltmeister geworden. „Wir haben 3:2 gegen die Ungarn gewonnen“, wie mein Vater uns zuruft, ohne ganz zufrieden zu sein. Er streitet sich bei aller Begeisterung mit einem Onkel um einen Spieler, der nicht dabei war. Es geht um Bernie Klodt vom FC Schalke 04. Er musste Helmut Rahn weichen, dem Torschützen des Siegtores. Dieser Erfolg lässt zwar jede Diskussion überflüssig erscheinen, doch mein Vater will sich nicht damit abfinden. Er liebt doch den FC Schalke 04, und außerdem konnte Klodt besser mit dem Ball am Fuß dribbeln, wie mein Vater meinte und ausdrückte und so den Kinderohren ein schönes Wort schenkte.
Mein Vater
Mit dem Tag des Triumphes im (jetzt leider abgerissenen) Berner Wankdorf-Stadion rückte der Fußball für lange Zeit in den Mittelpunkt meines Lebens, wobei es besser heißen sollte, dass mein Vater den Fußball dorthin rückte. Er gehörte zwar selbst nie einer Mannschaft an, überlebte aber mit dem Geld, das er schwierig genug auf Sportplätzen mit einem Bauchladen voller Zigaretten und Zigarren verdiente. Mit seinen Waren kämpfte er sich durch die Reihen der Zuschauer, die oft erregt und vielfach fluchend den Verlauf von Fußballspielen verfolgten. In dieser bei aller Anspannung meist stimmungsvollen Umgebung fühlte sich mein Vater trotz seiner körperlichen Einschränkungen und Mühen zu Hause, und hierher wollte er seine Söhne mitnehmen.
Freiwillig gewählt hatte er diese als „selbstständig“ titulierte Arbeit und diesen Weg über die Straßen und Plätze nicht. Mein Vater – er hieß Alfred und gehörte zum Jahrgang 1903 – hatte ursprünglich Schriftsetzer gelernt, dann aber bei einem Eisenbahnunfall den rechten – seinen starken – Arm verloren. Er war noch keine 30 Jahre alt, als er mit nur einer Hand und leeren Händen dastand, denn das soziale Netz, in das mein Vater hätte fallen können, war damals noch nicht geknüpft. Betteln wollte er nicht, und so blieb ihm nicht viel anderes übrig, als sich einen Bauchladen umzuschnallen.
Ein Junge aus Barmen
Die Stadt, in der sich dies abspielte und in der auch ich geboren worden bin, heißt in den Büchern und auf den Landkarten Wuppertal. Auf die Frage, wo er wohne, hätte mein Vater aber mit „Barmen“ geantwortet, wenn er nicht noch genauer den Stadtteil „Wichlinghausen“ genannt hätte, in dem wir zu Hause waren. Mit der Auskunft „Barmen“ bekannte er sich zu dem bis 1929 selbstständigen östlichen Teil der Stadt und distanzierte sich zugleich von dessen westlichem Gegenstück, Elberfeld.
In dem Weltbild meines durch und durch sozialdemokratisch eingestellten Vaters blieb die Trennung zwischen dem näher am protestantischen Westfalen liegenden Barmen (mit seinen zahlreichen Armen) und dem direkter zum katholischen Rheinland sich hinziehenden Elberfeld (mit seinem vielen Geld) bestehen, auch wenn eine Verwaltungsreform dies ignorierte, und es kostete stets große Mühe, ihn zu einem Ausflug etwa in den Zoo zu überreden, der ganz weit im Westen von Wuppertal lag (und liegt).
Vielleicht erinnern sich einige noch daran: Wuppertal war einmal mit einer Fußballmannschaft in der Bundesliga vertreten, aber dieser Wuppertaler SV spielte in Elberfeld. Das interessierte meinen Vater überhaupt nicht – und mich dann auch kaum. Wir liefen lieber auf den Sportplätzen in Barmen herum – am liebsten auf dem Mallack, wo der lokale Lieblingsverein meines Vaters, „Schwarz Weiß“, spielte. Hier meldete er bald auch seine Söhne an, damit sie das Kicken lernen konnten – mit anfänglich umjubeltem, dann aber immer mehr nachlassendem Erfolg und zuletzt ganz ohne ihn.
Als ich noch siegreich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre voller Stolz das Trikot seines Clubs trug, war mein Vater zu einem richtigen Kaufmann aufgestiegen. Er verdiente seinen und unseren Lebensunterhalt mit einem Kiosk, den er sich noch als Junggeselle aus seinen Bauchladengeschäften abgespart hatte. Dieser Schritt war ihm gerade rechtzeitig gelungen, bevor ihn weiteres Unheil traf, und erneut ziemlich schlimm. Eines Tages stürzte er von einer Leiter und kam dabei so unglücklich auf einem Betonboden auf, dass beide Kniescheiben zerschmettert wurden. Ich kenne meinen Vater nur in diesem Zustand – als einen Mann mit zwei steifen Beinen und ohne rechten Arm.
Wer die endlose Mühe verstehen will, die solch ein Leben mit sich bringt, braucht sich nur die Frage zu stellen, wie man mit diesen Behinderungen zum Beispiel zur Toilette geht, wie man sich anzieht, wie man in ein Auto steigt oder wieder herauskommt. Meine Kindertage bestanden zu einem großen Teil darin, meinem Vater bei alltäglichen Verrichtungen aller Art zu helfen, die den meisten Mitmenschen keine Mühe machen und an die sie keinen Gedanken verschwenden. Zusätzlich musste jemand wie ich all die anderen Aufgaben im Haushalt übernehmen – etwa die Kohlen oder die Badewanne aus dem Keller holen –, die damals im Allgemeinen Vätern vorbehalten waren.
Dreimal Glück
Neben dem vielen Pech hatte mein Vater aber auch Glück, und zwar dreimal. Für sein erstes Glück war die Stadt Wuppertal verantwortlich, die eine Bushaltestelle genau dorthin – an den Wichlinghauser Markt in Barmen – verlegte, wo sich der Kiosk meines Vaters befand, in dem es auch Zeitungen zu kaufen gab. Jetzt ging das Geschäft zwar schon in aller Frühe los, aber es gab dadurch regelmäßig Umsatz, und das zählte.
Für das zweite Glück sorgte die Lottogesellschaft, die nach Läden suchte, denen sie die Annahme von Lottoscheinen anvertrauen konnte, und sie wählte den meines Vaters. Jetzt lief das Geschäft nicht nur morgens gut, wenn die Menschen mit dem Bus zur Arbeit fuhren, jetzt lief das Geschäft den ganzen Freitag gut, wenn „Annahmeschluss“ war, wie das Zauberwort lautete, das die Kunden mit ihren Scheinen scharenweise herbeiführte. Es gab so viel zu tun, dass mein Vater die Arbeit nicht mehr allein meistern konnte. Er hatte längst einige Angestellte, die ihm zur Hand gingen. Vor allen Dingen hatte er aber meine Mutter.
Mit ihr hatte er sein drittes und größtes Glück gefunden, wobei ich mir nicht so recht vorstellen kann (und nie gefragt habe), wie die Verbindung begonnen hat. Mein Vater liebte meine Mutter, keine Frage, und er nannte sie zärtlich „mein Goldfasänchen“, aber er erzählte immer nur von Fußballspielen und Männerabenden, und der erste Merksatz, den er seinen Söhnen eintrichterte, lautete: „Mensch sei helle, bleib Junggeselle.“
Meine Mutter
Mein Vater war über 40 Jahre alt, als er meine Mutter heiratete. Sie hieß Else und war 1916 in Barmen geboren worden. Der Ernst in meinem Namen kommt von ihrem Vater her. Er hieß Ernst Lang, konnte – leider als letzter der Familie – gut singen und gehörte einem Männergesangsverein an, der in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in einer für ihn schwierigen Zeit eine Reise nach Berlin unternommen hatte. Ernst Lang war nämlich gerade Witwer geworden, und er musste sich dringend Gedanken machen, wie seine vier Töchter zu versorgen waren, die alle noch in seinem kleinen Häuschen lebten.
Das Problem wurde durch ein junges Mädchen aus Polen mit Namen Rosalie Jamrosche gelöst, die meine Großmutter geworden ist und deren Geburtstag im Dreikaiserjahr ich früh gelernt und immer behalten habe – den 28.8.1888. Das war keine zwei Wochen nach dem Tod von Kaiser Friederich, wie mir später im Geschichtsunterricht beigebracht wurde.
In dem polnischen Dorf, in dem meine Großmutter zur Welt gekommen ist, gab es nicht viel zu tun. Viele Einwohner gingen nach Berlin oder wurden in die große Stadt verfrachtet oder geschickt, um es freundlich auszudrücken. Zu ihnen gehörten auch Rosalie und ihre Schwestern, von denen eine gleich schwanger wurde, was eine nette Nebengeschichte für das nächste Kapitel ergibt. Meine Großmutter hielt sich bei Männern bedeckt und landete in dem, was sie ein „herrschaftliches Haus“ nannte. Hier putzte und kochte sie, bis der Männerchor aus Barmen kam und Ernst Lang sich singend in sie verliebte. Er nahm sie mit in seine Heimat, und sie schenkte ihm hier zwei weitere Kinder, einen Sohn und eine Tochter, meine Mutter.
Meine Großmutter ging mit den insgesamt sechs Kindern so um, wie man mit ihr umgegangen war, das heißt, sie schickte sie zur Arbeit, sobald das möglich wurde, und so landete meine Mutter im Vorzimmer eines Rechtsanwaltes und bediente dort eine Schreibmaschine. Sie tat dies offenbar so geschickt, dass der Jurist sie zu Hause besuchte, um ihren Eltern zu empfehlen, die begabte Tochter auf die höhere Schule zu schicken. Doch meine Großmutter musste mit Bedauern ablehnen – dazu reiche einfach das Einkommen nicht, das Schulgeld sei zu hoch und unerschwinglich. Meine Mutter hätte in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre bei ihren Kindern ähnlich antworten müssen, wenn sich bis dahin nichts an dieser Zahlungsverpflichtung geändert und das Gymnasium nur nach Nehmen dieser Hürde offen gestanden hätte.
Doch so leicht meiner Mutter der Beruf fiel, so schwer tat sie sich bei der Suche nach einem Mann, was unter anderem mit ihrer – mir offenbar direkt vererbten – Abneigung gegenüber Uniformen zu tun hatte. Als sie ein Teenager war – in den Jahren der nationalsozialistischen Regierung –, schienen alle Männer nur militärisch verkleidet durch die Gegend zu laufen. Meine Mutter fand das nicht schick, sondern albern, und so dauerte es etwas, bis jemand in Zivil auf sie aufmerksam wurde und das Fräulein Else Lang erst umwarb und dann heiratete. Sie hatte schon ein wenig Angst bekommen, als Mauerblümchen zu vertrocknen.
Auf der Schule
Den ersten ihrer beiden Söhne – meinen Bruder – nannten meine Eltern Alfred. Er war dreizehn Monate älter als ich und kam ein Jahr vor mir auf die Volksschule, die in der Liegnitzer Straße in Barmen lag. Es war kein vornehmes Viertel. Wer hier lebte, dachte mehr an Brotverdienen als an Bildung. So gab es viele unruhige und unaufmerksame Schülerinnen und Schüler, und die Lehrerinnen und Lehrer waren eher mit disziplinarischen Übungen als mit Lernstoff beschäftigt. Mich regte das viele Strammstehen mit dem dauernden Abzählen auf, weshalb ich häufig in Raufereien verwickelt war, mit der Folge, dass mir täglich Backpfeifen verabreicht wurden.
Was mich unter anderem ärgerte, waren die eintönigen religiösen Unterweisungen, die jeden Morgen abgehalten wurden – statt dass man Rechnen übte, wie mein Vater schimpfte, der mir in diesem Zusammenhang das Wortspiel mit einer Scherzfrage beibrachte: „Was ist flüssiger als Wasser?“, wollte er von mir wissen, um zu antworten: „Dieser Religionsunterricht, er ist nämlich überflüssig.“ Er konnte nicht wissen, dass mir dieser Spruch so gut gefiel, dass ich ihn in der Schule mit den Lehrern ausprobierte – leider nicht zu meinem Vorteil, wie ich dann physisch zu spüren bekam.
Unabhängig davon hatte mein Vater seinen Kindern unverhohlen deutlich gemacht, wie wenig ihm das Christliche bedeutete – meine Mutter hielt sich bei seinen entsprechenden Predigten zurück. „Glauben heißt nichts wissen“, dozierte Alfred senior, bis es mir aus den Ohren heraus kam, aber ich verstand seine Wut. Da saß er mit steifen Knien und einem Armstumpf, der sich bei jedem Wetterwechsel schmerzhaft bemerkbar machte, und wurde mehr und mehr verbittert, weil ihm so viele Dinge verwehrt blieben. Und dann tauchte eines Tages noch ein Vikar bei uns auf, der ihm seelsorgerischen Trost versprach und sich zu sagen erdreistete, dass Gott meinen Vater besonders lieb habe, denn warum sonst hätte er ihm so viele Zeichen gegeben. Ich habe das mit eigenen Ohren anhören müssen und die Blumenvase fliegen gesehen, die mein Vater mit seinem gesunden Arm gegriffen hatte und nach dem unglücklichen Gottesmann schleuderte.
Eine Kiste Zigarren
Jeden Morgen Gotteslob in der Volksschule, jede Wahl durch eine christliche Partei gewonnen und jedes Mal mit höherem Vorsprung. Die frühen 1950er Jahre – meine ersten Schuljahre – hatten für meinen Vater wenig Erfreuliches zu bieten, trotz des Gewinns der Fußballweltmeisterschaft. Am Tag nach dem Sieg übten wir den ganzen Tag, das Wort „elf“ zu schreiben, und bald bekam ich auch mein erstes Buch – das „3:2“ von Fritz Walter. Es blieb lange Zeit das einzige in unserem Haushalt – abgesehen von einem Briefratgeber, dem man entnehmen konnte, wann man „Werte Dame“ oder „Liebe Frau“ zu schreiben hatte und ob man sich „hochachtungsvoll“ oder „mit besten Grüßen“ verabschiedete.
Die Langeweile auf der Volksschule wurde einmal unterbrochen, als ich eines Tages mitten aus dem Unterricht heraus zum Rektor gerufen wurde. Zwar grübelte ich auf dem Weg zu seinem Büro, was ich wohl angestellt haben könnte, um diese Vorladung zu verdienen, aber das war gar nicht nötig. Der Rektor wollte mich nicht beschimpfen. Er hatte vielmehr einen Wunsch, nämlich den, dass ich ihm Zigarren aus dem Laden meiner Eltern holen sollte – jetzt gleich. Ihn verlange danach.
Die Geschichte wäre trotz der ungewöhnlichen Form und Zeit des Einkaufs nicht erwähnenswert, wenn nicht noch etwas dazukommen wäre. Dieses Extra hat damit zu tun, dass der Rektor eine Kiste Zigarren namens „Handelsgold“ haben wollte, und ausgerechnet die fehlte in unserem Laden, wie mein Vater mir zu seinem Bedauern erklärte, nachdem er sich von dem Schrecken erholt hatte, der durch mein Auftauchen während der Schulzeit ausgelöst worden war.
Was tun? Mein Vater zögerte keine Sekunde. Er hatte eine leere Kiste, auf der „Handelsgold“ stand, füllte sie mit Zigarren aus einer vollen Schachtel, auf der „Weißer Rabe“ zu lesen war, und schickte mich zur Schule zurück. „Das merkt der Rektor nicht“, erklärte er mir. „Die meisten Leute können beim Probieren überhaupt keine Sorten unterscheiden“, fügte er hinzu, „ihr Geschmack ist nicht so fein, alles Angeberei, wenn sie so tun, als ob.“
Zwar war mir nicht besonders wohl zumute, als ich die Kiste „Handelsgold“ dem Rektor übergab, und meine Bauchschmerzen nahmen nicht ab, als er sich gleich eine Zigarre ansteckte und den Qualm genüsslich an die Decke blies. Doch tatsächlich – er reagierte genau so, wie es mein Vater vorhergesagt hatte. „Ah, die gute Handelsgold“, lobte er, was er da rauchte, „da merkt man sofort die Qualität.“ Wenn heute jemand in einem Lokal von einem Kellner einen Schluck Wein mit der Bitte kredenzt bekommt, ihn zu probieren, und dann mit Kennerblick und allem möglichen Getue ein wenig schmatzend und mit den Augen rollend sein Einverständnis signalisiert, dann fällt mir bei vielen Leuten sofort der paffende Rektor mit seiner unverwechselbaren Handelsgold ein, und ich werde ganz vergnüglich.
Kinder und Krankheiten
Eines Tages blieb der Platz in der Schulbank neben mir leer. Er blieb für den Rest der Schulzeit leer, denn mein Freund, der dort gesessen hatte, war tot. Er war – plötzlich und unerwartet – an einem geplatzten Blinddarm gestorben, wie man der Klasse damals mitteilte, ohne dass diese Information uns etwas sagte oder bedeutete.
Bald darauf – kurz nach Weihnachten – bekam ich Schmerzen an der Stelle meines Körpers, die meine Eltern als rechtes Schlüsselbein bezeichneten, und niemand wusste Rat. Ich weinte so viel, dass mein Vater mich zu unserem Hausarzt brachte, in dessen Wartezimmer ich lange herumsitzen musste, bis ich an die Reihe kam. Dies gab mir Gelegenheit, den Satz auswendig zu lernen, der dort an der Wand zu lesen stand:
„Gott ist der Arzt, ich bin sein Knecht,
so er es will, heil’ ich Dich recht.“
Leider schien es, dass Gott nicht wollte, denn dem Doktor fiel nichts ein, und die Schmerzen blieben. Allmählich breitete sich Unruhe aus. Mein Leiden sprach sich bei den Nachbarn herum, und die Nachricht kam auch bis zu unserem Metzgermeister mit Namen Hallenscheidt (bei dem ich freitags die Lottoscheine abholte). Er wollte und konnte helfen, denn sein Sohn war Arzt in Freiburg und über die Feiertage nach Wuppertal gekommen.
Dr. Hallenscheidt konnte nicht vor dem Silvestermorgen, dann aber kam er und entschied nach kurzer Prüfung, dass der Schmerz über komplizierte Umwege durch eine Blinddarmreizung zustande komme. Aus der Dauer meines Zustandes schloss er auf höchste Eile. Er rief den Notarztwagen, der mich – mit lautem Tatütata – sofort in ein Krankenhaus brachte, wo ich knapp vor dem Jahreswechsel operiert wurde. Nicht nur dies sei äußerst knapp gewesen, wie der Chirurg meinte, den ich erst am Tag meiner Entlassung sah und der mir dabei eine kleine Lektion erteilte. Als ich nämlich etwas voreilig fragte (weil sich meine Eltern darüber unterhalten hatten), was wir für seine Hilfe bezahlen müssten, meinte er lächelnd, „Den Eingriff habe ich Dir zuliebe umsonst gemacht; ich werde nur dafür bezahlt, dass ich weiß, wo ich schneiden muss.“ Wie viel es dafür geben sollte, erwähnte er aber trotzdem nicht.
Übrigens, Gott hatte doch noch ein Einsehen, denn der zuerst konsultierte Arzt konnte den kleinen, leidenden Patienten nicht aus seinem Kopf bekommen, und plötzlich verstand er, was mit ihm sein könnte. Kurz nachdem die Ambulanz mit mir abgefahren war, rief unser Hausarzt bei meinen Eltern an, um dringend eine Prüfung des Blinddarms vornehmen zu lassen. So vertrauten wir ihm wieder, was vor allem heißt, dass meine Eltern genau hinhörten, als er etwas später anfing, vor den Gefahren der Kinderlähmung (Polio) zu warnen, die sich damals wieder zeigte.
Heute gehört die von Viren bedingte Infektionskrankheit, bei der zahlreiche zur Muskelsteuerung dienende Nervenzellen des Rückenmarks befallen werden, der Vergangenheit an. Aber die dazu nötigen Impfstoffe konnten erst in den frühen 1960er Jahren entwickelt werden. (Ich erinnere mich noch gut an die Schlangen, in denen wir damals anstanden, um das Stückchen Zucker zu bekommen, mit dem der segensreiche Stoff verabreicht wurde).
Meine Eltern dachten nicht an künftige Schluckimpfungen, sondern an den großen Ausbruch der Kinderlähmung, der Deutschland 1932 – also zu ihren Lebzeiten – heimgesucht hatte, und sie reagierten zum ersten Mal mit einem Verbot. Mir war nicht mehr erlaubt, mit dem Sohn des Bäckers zu spielen, dessen Laden dem Geschäft meiner Eltern gegenüber lag. Nach Auskunft von Passanten krabbelten ab und zu Lebewesen durch das Schaufenster, die nicht nur dort nicht hingehörten. Das beeinträchtigte zwar nicht unbedingt den Verkauf – die Menschen waren in den Nachkriegsjahren Schlimmeres gewöhnt –, bedeutete aber striktes Besuchsverbot für mich.
Da hatte ich wieder Glück, denn der Sohn des Bäckers bekam die Kinderlähmung tatsächlich und konnte sich nur noch auf Krücken bewegen. Wir sind Freunde geblieben, aber das gemeinsame Spielen machte mehr Mühe. Wenn ich draußen herumrennen wollte, kam er nicht mit. Er rächte sich dafür bei Ringkämpfen auf seinem Bett. Mit seinen starken Armen konnte ich nicht konkurrieren.
Vertraute Menschen
Der Wichlinghauser Markt, an dem meine Eltern ihren Laden führten – und in dessen Nachbarschaft sie anfangs wohnten und ich aufgewachsen bin –, stellte eine in sich geschlossene und autark scheinende Welt dar. Man konnte alles bekommen, was man für den Lebensalltag brauchte. Da waren unter anderem eine Metzgerei, ein Obst- und Gemüsehändler, eine Apotheke, eine Kneipe, ein Frisör und – tatsächlich damals schon – ein italienischer Eissalon mit dem freundlichen Herrn Zampolli, der das beste Zitroneneis der Welt anbot. Natürlich gab es eine Tankstelle, eine Bank, einen Schuhladen und ein Schmuckgeschäft. Ich habe sie alle noch vor Augen und sehe mich, wenn ich dort Lottoscheine abhole oder Zigaretten hinbringe. Die Besitzer kauften rundum gegenseitig bei sich ein, und man bestaunte untereinander besondere Neuigkeiten. Ich erinnere mich noch, als die ersten Hosen oder Jacken mit Reißverschlüssen auf den Markt kamen, wie da gelobt oder geschimpft wurde, je nachdem, ob es der Mechanismus tat oder klemmte. Dann stand der Tankwart in unserem Laden und versuchte, seine Jacke zu öffnen, oder meine Mutter ärgerte sich in der Bank darüber, dass ihr Pullover nicht schließen wollte.
Die Menschen um diesen Markt herum waren so miteinander vertraut, dass sie auch den Tod öffentlich behandelten. Ich habe in diesem jungen Alter mehr – aufgebahrte – Tote gesehen als in den vielen Jahren, die danach kamen. Damals war der Tod öffentlich und die Sexualität privat; heute ist es umgekehrt, und es gibt Leute, die halten diesen Wechsel in die Pornographie für einen Fortschritt der Kultur. Sie möchte ich auf keinen Fall nackt sehen.
Die Tochter meiner Mutter
Wie gesagt, meine Mutter hat zwei Söhne zur Welt gebracht, wobei ich der jüngere war. Nun hatte sie sich nach dem erstgeborenen Stammhalter eine Tochter gewünscht, und ich habe manchmal den Eindruck, ich bin das auch geworden. Sie hat mich jedenfalls dazu in dem Sinne gemacht, dass ich alle Aufgaben bekam, die man sonst – damals jedenfalls – Mädchen auftrug. Während mein Bruder nicht für den Abwasch in Frage kam und auch nicht zum Einkaufen geschickt wurde, rief sie mich dauernd zu diesen Pflichten. Ich musste natürlich auch die Briketts aus dem Keller holen, mit denen damals noch geheizt wurde, und diese Liste ließe sich fortsetzen. Dass jemand diese Aufgaben in der Familie übernehmen musste, war klar. Mein Vater kam dafür nicht in Frage, und meine Mutter hatte genug mit dem Laden zu tun, den sie immer mehr alleine führen musste. Wie mein Bruder sich darum gedrückt hat, habe ich nie herausbekommen. Mich ärgerte nur manchmal die Art, mit der meine Mutter ihre Bitte um Hilfe einleitete: „Wollest Du nicht mit dem Sohn vom Obsthändler spielen?“, „Wolltest Du nicht gerade zum Milchladen?“, „Wolltest Du nicht sowieso in die Stadt gehen?“ So oder so ähnlich fragte sie, wenn Besorgungen zu erledigen waren. Ich merkte die Absicht und war verstimmt, aber nicht lange. Dann wollte ich, was sie wollte. Das konnte ich auf jeden Fall jetzt schneller als sie, und so freute sie sich und ich mich dann auch.
Von anderen Dingen und der Wissenschaft
Jedes Leben spielt sich im Rahmen der Möglichkeiten ab, die mit einem Menschen entstehen und sich mit ihm verändern. Auch von ihnen soll erzählt werden. Was jetzt aus meinen Kindertagen verhandelt wird, ist natürlich lange Zeit hindurch kaum an mein Ohr und erst recht nicht in mein Bewußtsein gedrungen – also etwa die Montage der ersten Großrechner, die Konzeption von speicherbaren Programmen, die Erfindung des Transistors oder das Aufkommen einer neuen Lebenswissenschaft namens Molekularbiologie. Alles Entwicklungen, die im Verlauf des Weltkrieges bis 1945 ihre ersten noch vagen Formen angenommen hatten und nach dessen Ende in Schwung kamen, um den Rahmen neu zu prägen, in dem Menschen ihr Leben entwerfen können. Mir erscheint es lohnend, sich über die großen Dinge klar zu werden, die aufkamen und sich entfalteten, während man selbst heran und in die Welt hinein wuchs.
Damit sollen an dieser Stelle nicht die politischen oder die gesellschaftlichen Ereignisse gemeint sein, über die durchschnittliche Geschichtsbücher durchschnittlich viel berichten und die an durchschnittlichen Schulen durchschnittlich gründlich vermittelt werden, auf das wir alle einigermaßen gut über unsere Geschichte informiert seien – etwa über den Marshall-Plan, der ab 1947 den Wiederaufbau West-Europas ermöglichte, über die Währungsreform der Westzonen in Deutschland von 1948, über die Gründung der NATO und das Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 mit der fast gleichzeitig stattfindenden Gründung der inzwischen abhanden gekommenen Deutschen Demokratischen Republik.
Hier soll mehr über Ereignisse und Vorkommnisse berichtet werden, die nicht unbedingt in den Geschichtsbüchern stehen, die aber unser modernes Gewordensein mehr beeinflusst haben, als die Historiker normalerweise zur Kenntnis nehmen oder sich träumen lassen. Natürlich darf an dieser Stelle nicht der Hinweis auf die Bücher von Thomas Nipperdey fehlen, der etwa in seiner Darstellung der „Deutschen Geschichte 1866–1918“ (München 1990) mit dem Untertitel „Arbeitswelt und Bürgergeist“ besondere Abschnitte über „Das Bildungswesen“ und „Die Wissenschaften“ anführt. Dieses gewichtige Werk ist mir allein deshalb nicht entgangen, weil auf seinem Schutzumschlag die Wuppertaler Schwebebahn zu sehen ist, wie sie Adolf Erbslöh 1912 gemalt hat (wobei mir dieser Künstler wiederum deshalb gut vertraut ist, weil mein Schulweg durch die Erbslöhstrasse führte).
Aber Nipperdey bleibt eher eine Ausnahme. Nach ihm sind erneut dicke Bände zur deutschen oder europäischen Geschichte erschienen, bei denen man zum Beispiel Hinweise auf die Chemie und ihren Beitrag zu Technik und Industrie vergeblich sucht. Selbst die Versorgung der Menschen mit Energie und die Erzeugung von Strom scheint den Historikern und anderen Gesellschaftsforschern belanglos zu sein. Sie erwähnen die dazugehörigen Entwicklungen mit keinem Wort – mit der Folge, dass wir jetzt alle überrascht und unvorbereitet vor der Tatsache stehen, dass das Betreiben von Kraftwerken bedrohliche Auswirkungen in Form eines Klimawandels mit sich bringt, auf die es zu reagieren gilt.
Offenbar merken viele Historiker nicht oder wollen nicht zur Kenntnis nehmen, was der französische Philosoph Michel Serres 1994 in seinem Vorwort zu den schon erwähnten „Elementen einer Geschichte der Wissenschaften“ so beschrieben hat: „Weder die Wechselfälle der politischen oder militärischen Verhältnisse noch die Ökonomie können – für sich genommen – hinreichend erklären, wie sich unsere heutigen Lebensweisen durchgesetzt haben; dazu bedarf es einer „Geschichte der Wissenschaften und Techniken“ – oder mindestens eines Interesse der professionellen Historiker an den entsprechenden Verläufen. Wer die Geschichte ohne die der Wissenschaften erzählt, kommt nie in der Welt an, in der wir leben. Er bleibt der Gegenwart fremd und entfremdet die Menschen von ihr.
Dies lässt sich kinderleicht an dem Maß erkennen, mit dem die anzuführenden Entwicklungen unsere Gegenwart prägen – eine Gegenwart mit ständig leistungsfähiger werdenden Computern, mit unabsehbar an Raffinement gewinnenden elektronischen Medien und Kommunikationsgeräten, mit einer weit auszugreifen beginnenden Biomedizin, die mit Stammzellen und Genomdaten operiert, und vielen anderen Entwicklungen der technisch-wissenschaftlichen Art.
Solche Dinge fallen nicht vom Himmel. Solche Dinge fallen Menschen ein, und vielleicht lohnt es sich, dem Geschehen dabei ein wenig zuzuschauen und mit ihm und seinen Mitspielern vertraut zu werden. Es schafft den Rahmen unserer Möglichkeiten, in dem wir werden, was wir sind.
Der Transistor
Beginnen wir kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als der aus Ungarn stammende Mathematiker John von Neumann (1903-1957), der zuvor eine Spieltheorie zum besseren Verständnis ökonomischer Prozesse formuliert hat, das Prinzip eines programmierbaren universellen Rechners vorstellt, was man auch als Geburtsstunde des modernen Computers bezeichnen kann. Von Neumann lebte damals in den USA, in dem Land, in dem zur gleichen Zeit ein Monstrum namens ENIAC aufgestellt wurde – eine elektronische Rechenanlage, wie der nicht abgekürzte Name zu erkennen gibt, der „Electronic Numerical Integrator and Calculator“ lautet. ENIAC war mit 18.000 Elektronenröhren ausgestattet, die gesamte Konstruktion wog rund 30 Tonnen und nahm eine Standfläche von 140 m² ein. Die Maschine hätte also nicht annähernd in die Wohnung von 85 m² gepasst, in der ich aufgewachsen bin. ENIAC war 1000mal schneller als alle anderen Rechenmaschinen ihrer Zeit – auch im Vergleich zu dem berühmten Prototyp Z3 des Ingenieurs Konrad Zuse –, aber die stolzen 5000 Additionen und 300 Multiplikationen, die ENIAC pro Sekunde zustande brachte, lassen uns heute nicht einmal mehr milde lächeln, sondern nur noch traurig und mitleidvoll blicken, was natürlich unfair und unangemessen ist.
Wer ENIAC so spöttisch betrachtet, sollte sich fragen, was die rasante Entwicklung der Rechen- und Speicherkapazitäten bei gleichzeitiger erstaunlicher Miniaturisierung bis in unsere Tage hinein möglich gemacht hat. Wieso kann der kleine Laptop auf meinem schmalen Schreibtisch heute so unendlich viel mehr als das Riesending ENIAC damals in seinem großen Haus?
Eine Antwort liegt darin, dass die Aufgabe der sowohl voluminösen als auch reparaturanfälligen Elektronenröhren in den Rechenmaschinen durch Transistoren abgelöst werden konnte. Wer dieses Wort hört, nickt verständnisvoll, denn als in den späten 1950er Jahren die ersten Radioapparate auf den Markt kamen, die statt der schwerfälligen Röhren die soliden und leichten Transistoren benutzten, wurde das Wort eines Bauteils für das Ganze genommen, wie ich mich erinnere.
Was haben wir den Sohn des Gemüsehändlers bestaunt, der am Wichlinghauser Markt als erster ein Transistorradio sein eigen nannte und mit diesem Gerät – dem Transistor – nun besser und störungsfreier Musik empfangen konnte als die Söhne des Tabakhändlers gegenüber.
Transistoren haben die Nachkriegsgeschichte der Menschen durchgehend und stark beeinflusst, auch wenn viele Intellektuelle dies nicht bemerken. Erfunden worden ist dieses Wunderding im Dezember 1947, und zwar in den Bell Laboratorien in New York. Hier versuchten drei später mit dem Nobelpreis für ihr Fach ausgezeichnete Physiker – William Shockley, John Bardeen und Walter Brattain – systematisch zu erforschen, was in den Jahren des Zweiten Weltkriegs eher nebenbei beobachtet worden war, nämlich die Eigenschaften von Kristallen, die man Halbleiter nannte. Was in der Geschichte der Physik erst nur Langeweile hervorgerufen hatte – was sollte man auch mit Elementen wie Silizium und Germanium anfangen, die manchmal elektrischen Strom leiteten und manchmal nicht? –, war im Rahmen von Arbeiten zur Radartechnik in den Blickpunkt des Interesses gerückt. Hier benötigte man möglichst empfindliche Empfänger (Detektoren) für schwache Signale, und jemand erinnerte sich daran, dass Halbleiter genau dazu dienen konnten. Die Verwandlung vom Isolator zum Leiter setzt nämlich bei einigen Kristallen dieser Qualität höchst plötzlich ein, also schon bei geringsten Änderungen der äußeren Bedingungen, die man ja gerade erkunden wollte.
Nach ersten tastenden Bemühungen vor 1945 nahmen die – vom amerikanischen Militär finanzierten – Bell Laboratorien die Aufgabe systematisch in Angriff, und als das Jahr 1947 endete und 1948 begann, gab es den ersten Transistor, wobei die Bezeichnung ein englisches Kunstwort darstellt, das sich aus zwei Teilen zusammensetzt, aus Transfer (Übertragung) und Resistance (Widerstand). So ein „Übertragungswiderstand“ konnte – bei geeigneter Bauweise – Strom abblocken oder verstärken. Er lieferte nicht nur das, was eine alte Elektronenröhre konnte. Der neue Transistor tat dies besser und zuverlässiger, und er war darüber hinaus sehr viel kleiner und billiger herzustellen.
Was wollte man mehr? Mit diesen Qualitäten dauerte es nicht lange, bis der Siegeszug der Transistoren einsetzte, die es bereits 1951 in Hörgeräten gab und mit denen seit 1958 die integrierten Schaltkreise gezimmert werden, die wir als Mikrochips kennen und nutzen. Im Jahre 2002 wurden rund eine Trillion Transistoren produziert, was man zwar als tausend Billiarden, also millionen Billionen oder milliarden Milliarden umbenennen kann, was aber trotzdem – mit seinem Kometenschweif von Nullen – unbegreiflich groß bleibt und denjenigen zu einer überraschenden Einsicht führt, der ausrechnet, wie viele Transistoren man pro Sekunden herstellen muss, um diese immense Menge zu erreichen.
Übrigens – wer im Detail verstehen will, wie Halbleiter zu Transistoren zusammengesetzt werden, ist gut beraten, sich ganz allgemein die Frage zu stellen, wie die Physik die Leitfähigkeit oder das Gegenteil (die Isolierfähigkeit) von Metallen und anderen Materialien versteht.
Mehr zum Transistor
Ein Transistor funktioniert als elektronisches Bauelement, das einen Schaltvorgang erlaubt, der nicht von Hand, sondern mit elektrischer Hilfe durchgeführt wird. Er besteht zum Beispiel aus drei Schichten, in denen Halbleiter zusammentreffen, die unterschiedlich dotiert sind, wie man sagt. Dotieren heißt, dass einem Halbleiter wie Silizium ein anderes Element – etwa Phosphor – beigegeben wird. Da Siliziumatome mit vier Außenelektronen eines weniger haben als Phosphor, kann das fünfte Phosporelektron sich gut bewegen. Man spricht bei dieser Kombination wegen der negativen Ladung von Elektronen von einem „n-dotierten“ Halbleiter und unterscheidet sie von ihren „p-dotierten“ Gegenstücken, bei denen dem Silizium ein Element mit drei Außenelektronen – zum Beispiel Aluminium – beigemischt worden ist. Hierdurch entstehen Löcher, die anders als die Elektronen wie eine positive (daher das p) Ladung agieren und beweglich sind. Wenn jetzt n-dotiertes Silizium erst mit dem p-dotierten Halbleiter und dann erneut mit einer n-dotierten Schicht zusammengebracht wird und so ein „npn-Bausatz“ entsteht, hält man das analoge Stück in Händen, das als Triode in den frühen Elektronenröhren seinen Dienst tat, indem sie den fließenden Strom nach Wunsch steuern – anhalten oder verstärken – konnte. Die Halbleiterkombination – der npn-Transistor – ist nur wesentlich zuverlässiger und kann extrem viel kleiner gehalten werden.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubte man noch, dazu genüge es, die Atome regelmäßig als Gitter anzuordnen und es einigen ihrer Elektronen zu erlauben, sich innerhalb dieses Strukturrahmens frei – als eine Art Elektronenwolke – zu bewegen.
Dieses hübsche Bild taugt leider nicht viel. Wie die Geschichte der Physik zeigt, kann nur derjenige sinnvolle Auskünfte über die Leitmechanismen von festen Körpern – Kristallen aus Halbleitern zum Beispiel – geben, der sich auf die grundlegende Theorie der Physik namens Quantenmechanik einlässt. Mit deren Hilfe gelingt es, ein Konzept mit dem anschaulichen Namen „Leitungsband“ erst zu ersinnen und dann zu präzisieren. In solchen Leitungsbändern können Elektronen mit geeigneter Energie einen Festkörper durcheilen und dabei zu dem Strom werden, auf den es ankommt.
Die eben skizzierte Idee der Dotierung von Halbleitern, ohne die es keine Transistoren geben kann, kann nur jemand haben, der die moderne Physik beherrscht und versteht, wie sie die elektrische Leitfähigkeit von Stoffen wie Metallen erklärt. Dies gelingt in einem sogenannten „Bändermodell“. Unter einem Bändermodell versteht man die Idee, dass Elektronen in Festkörpern (Kristallen) sogenannten Bändern zugeordnet werden können, und zwar abhängig von ihrer Energie. Dabei lässt sich ein Band mit hoher von einem Band mit geringer Energie unterscheiden. Die beiden heißen in der Fachwelt Leitungsband bzw. Valenzband, wobei der erste Name leichter verständlich ist. Wenn sich nämlich Elektronen im Leitungsband befinden, können sie sich bewegen, und somit leitet der Festkörper Strom, sonst nicht. Zwischen den Bändern können Elektronen nicht existieren.
Ein Metall (wie Kupfer) ist nun dadurch charakterisiert, dass Elektronen leicht aus dem Valenzband, das ihrem gebundenen Grundzustand entspricht, in das Leitungsband springen können, das ihrem beweglichen angeregten Zustand entspricht. Bei einem Isolator (wie Glas) ist die Lücke zu groß, um unter normalen Umständen überwunden zu werden. So halten sich die Elektronen überwiegend im Valenzband auf. Zwischen diesen beiden genannten Festkörperarten stehen die sogenannten Halbleiter, deren Name korrekt ausdrückt, was sie können, nämlich manchmal einen Strom leiten und manchmal nicht. Bei ihnen hängt die Lücke – die Größe des Quantensprungs – zwischen Leitungs- und Valenzband stark von äußeren Bedingungen (etwa der Temperatur) ab, was zunächst eher störend wirkte, bis man bemerkte, dass diese Flexibilität im Gegenteil einen Glücksfall darstellte, der bald genutzt werden konnte – vor allem in den Transistoren.
Diese Skizzen sind nicht der Ort, das Entstehen und Verstehen solcher Leitungsbänder genauer zu erfassen, als es in dem obigen Kasten passiert ist. Hier soll und muss aber darauf hingewiesen werden, dass auch die drei Erfinder des Transistors sich bei ihren Bemühungen an der Quantenmechanik zu orientieren hatten. Ohne diese neuartige Wissenschaft ging gar nichts!
Im 18. Jahrhundert hatte noch jemand eine Dampfmaschine konstruieren und im 19. Jahrhundert noch jemand eine Eisenbahn bauen können, ohne die Gesetze der Thermodynamik zu kennen oder zur Verfügung zu haben. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging dies nicht mehr.
Jetzt reichte es nicht, etwas zu wollen, jetzt musste man zunächst etwas wissen, um etwas grundlegend Neues bauen oder konstruieren zu können, wie die Erfindung des Transistors zeigt. Wer dieses erste kleine Beispiel in einen großen Trend umwandeln will, könnte sagen, dass sich hier die Transformation zu erkennen gibt, die heute als ausgemacht und zukunftsweisend gilt, nämlich die Wandlung einer Industrie- in eine Wissensgesellschaft.
Merkwürdigerweise kümmern sich die Soziologen und Historiker, die diese Trends beschreiben, nicht im Geringsten um die wissenschaftliche Basis des Geschehens, so dass sie in meinen Augen gar nicht oder nur oberflächlich wissen, wovon sie reden.
Die Entzauberung der Welt findet nicht statt
Zu den vielen Irrtümern, die sich in gelehrten Kreisen über die Naturwissenschaften halten, gehört die Idee, dass es dank ihrer Erklärungen – etwa von Bremsmechanismen in Eisenbahnen oder des Abhebens von Flugzeugen – zu einer Entzauberung der Welt kommt, wie es der berühmte Soziologe Max Weber zum ersten Mal 1917 ausgedrückt hat. Selbst wer nicht versteht, wie ein Transistor funktioniert, weiß doch, dass er dies nachlesen oder nachfragen kann. So denkt man jedenfalls, ohne zu merken, wie falsch dies ist.
Wer zum Beispiel konkret wissen will, wie ein Transistor seine Aufgabe erfüllt, wird zwar von einem Fachmann etwas von Halbleitern hören, die geeignet dotiert sein müssen, was alles noch einfach klingt und zumindest dem Experten vertraut ist. Wenn der aber weiter erzählt, kommt irgendwann der Hinweis, dass Kristalle aus Halbleitern deshalb zu Transistoren werden können, weil in ihnen für die Abwesenheit von Elektronen an bestimmten Stellen gesorgt werden kann.
Die Physiker sprechen von Löchern, die sich bewegen können, und an dieser Stelle wird es auch für den Fachmann undurchschaubar. Er kann immer noch berechnen, was in seinem Kristall passiert, aber das Loch kann nicht ein Nichts sein. Es muss ein Etwas sein, an dem die Physik noch herumrätselt, was zum einen schön für die Wissenschaftler ist, die nicht arbeitslos werden, was aber zum zweiten zeigt, wie sehr sich Weber mit seiner Entzauberung irrt.
Der wissenschaftliche Zugriff zu einem rätselhaften Phänomen lässt das Mysterium nicht verschwinden, er steigert vielmehr das Geheimnisvolle. Die Erklärung – etwa mit dem Löchern in den Halbleitern – ist wundersamer als das Phänomen. Wissenschaft entzaubert die Welt nicht. Sie verzaubert sie vielmehr durch ihre Erklärung. Und das kann Menschen nur gefallen.)
Wer in einer Wissensgesellschaft etwas erreichen will, muss nicht nur mit den Händen etwas leisten, er muss auch etwas wissen, und wer sich heute gebildet nennt, sollte nicht nur dies wissen, sondern auch davon eine Ahnung haben, was die Menschen wissen mussten, denen wir die Erfindungen verdanken, die zu unserem Leben und zu unserer Geschichte gehören. Gemeint ist zum Beispiel so etwas wie die Quantenmechanik, die nur scheinbar nichts mit unserem täglichen Leben zu tun hat, während sie uns tatsächlich dauernd bedient.
Sehr viele Arbeitsplätze hängen höchst konkret davon ab, dass diese Theorie der Physik funktioniert und entwickelt werden konnte. Wie wäre es, wenn Jobs im Management nur dann angetreten werden dürften, wenn jemand wenigstens ungefähr weiß, wie diese Theorie der Physik funktioniert und zustande gekommen ist? Angebote – im Sinne von Büchern – gibt es genug. In ihnen kann man auch lernen, dass es unsinnig ist, Quantensprünge zu versprechen. Sie sind das Kleinste, was die Natur anzubieten hat, und gehen meist in einen Grundzustand über, in dem dann nichts weiter passiert.
Eine Welt voller Informationen
„Der Krieg ist Vater aller Dinge“, soll der als merkwürdig dunkel bekannte Philosoph der Antike namens Heraklit gesagt haben, und die Nähe zum Zweiten Weltkrieg gibt uns die Gelegenheit, diese Behauptung empirisch zu prüfen. Bei den Transistoren haben wir dabei schon Glück gehabt, und beim nächsten Thema wird dies noch deutlicher. Es geht um eine neue Wissenschaft namens „Kybernetik“, die durch das Erscheinen eines Buches mit diesem Titel im Jahre 1948 begründet wurde.
Geschrieben hat das Buch der am berühmten Massachusetts Institute for Technology (MIT) in Boston tätige amerikanische Mathematiker Norbert Wiener, der in den frühen 1940er Jahren mit der Frage beschäftigt gewesen war, wie man eine Rakete sicher ihrem Ziel zuführen könne. Seine inzwischen eher als banal geltende, damals aber grundlegende Idee kennt man heute als „Rückkopplung“ oder mittlerweile auch bei uns mit dem englischen Originalwort „Feedback“. Damit ist gemeint, dass etwas, das mit einem Ziel unterwegs ist und betrieben wird, prüft oder prüfen lässt, ob und wie nahe es dem Ziel gekommen ist, um danach den weiteren Verlauf des Vorgehens einzustellen bzw. zu regeln. Das klassische Beispiel aus dem Haushalt ist der Thermostat, der zum Beispiel auf 20 Grad eingestellt ist und die Heizung ein- oder abschaltet, je nachdem, ob die Temperaturmessung einen tieferen oder einen höheren als den gewünschten Wert anzeigt.
Kybernetik – gebildet nach dem griechischen Wort für Steuermann – handelt von den Regelungsmechanismen sowohl in Organismen als auch in Maschinen. Durch deren Erkundung und Anwendung konnte ein neuer Begriff als ein unverbrauchter Gedanke sowohl in die Wissenschaft als auch in den Alltag gelangen, ohne den zu leben wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können. Gemeint ist die Idee der Information, mit der wir heute so umgehen, als ob es sie immer schon gegeben hätte.
Wir wissen längst, wie sie zu messen ist, wenn wir lässig die Megabits oder Gigabytes unserer Festplatten auf dem Laptop erwähnen oder unseren iPod auswählen. Wir verhalten uns bei der Information so, als ob wir von Äpfeln und Birnen sprächen, also von Dingen, die es einfach gibt und für die man nur einen Namen braucht. Vielleicht stimmt das ja auch, und möglicherweise werden wir viele Aspekte der Realität erst dann durchgreifend verstehen, wenn die grundlegende Wissenschaft von der äußeren Wirklichkeit, die Physik, die Information zu ihrer zentralen Variablen macht – woran sie inzwischen zwar arbeitet, worauf wir aber noch warten.
Erste Anfänge in dieser Richtung fallen in das Jahr 1948, als der ebenfalls an den Bell Laboratorien tätige Mathematiker Claude Shannon verstehen wollte, wie die Übertragung von Nachrichten erst besser erklärt und dann besser bewerkstelligt werden könne. Um definieren und messen zu können, was „besser“ heißt, schlug Shannon vor, alle Zeichen in binärer Form darzustellen – also als Folge von 0 und 1 – und die Information einer solchen Zahlengruppe durch die Menge der benötigten Stellen festzulegen. Er sprach von „binary digits“, was als Bit abgekürzt wurde und Einzug in den Alltag der Menschen und deren Sprache hielt.
Die Idee mit der binären – zweiwertigen – Darstellung ist uralter Stoff für Mathematiker und war immer schon für den Bau von Rechenmaschinen im Gespräch. Bereits im 17. Jahrhundert hat der große Leibniz über binäre Codes nachgedacht, was hier nicht näher ausgeführt werden kann und nur den Hinweis ermöglicht, dass Shannons Idee nicht vom Himmel gefallen ist, sondern der Wissenschaftsgeschichte entstammt, die – wie erneut und gerne betont wird – zur Kenntnis zu nehmen sich mindestens ebenso lohnt wie die Niederlagen Napoleons, die Schlesischen Kriege der Preußen gegen die Österreicher oder andere militärische Aktionen von sich stark fühlenden Fürsten und höheren Rängen.
Zu den Entwicklungen der Wissenschaft im Verlauf der 1950er Jahre gehört übrigens nicht nur die rasante Verbesserung von Rechenmaschinen gegenüber den Vorkriegsmodellen, sondern auch der Mut, das Können dieser Apparate mit den Fähigkeiten des menschlichen Gehirns zu vergleichen. Der britische Mathematiker Alan Turing fragte 1950, ob und wie man einen Menschen von einem Computer unterscheiden könne, wenn man beide Fragen stellt und die Antworten schriftlich („als Ausdruck auf einem Blatt Papier“) entgegennimmt. Wenn wir dabei beide verwechseln, dann müssen wir – so Turing – einräumen, dass Maschinen über Geist verfügen und folglich denken.
Was ist Leben?